Mahler
Wiener Gedenkrede
Wer aus Deutschland nach Wien kommt, um zu Gustav Mahlers hundertstem Geburtstag zu sprechen, muß fürchten, Eulen nach Athen zu tragen. Noch die Abweichungen, sein Wesen, sind nicht zu begreifen ohne Beziehung auf das, wovon er abwich und was selbst schon Abweichung ist, sein österreichisches Idiom, zugleich das der bestimmenden musikalischen Überlieferung von Europa. Der Wiener Oper schenkte er zehn Jahre, die als Ära Mahler nicht nur der Geschichte der Interpretation, sondern der der Musik selber unverlierbar sind. Fürs musikalische Gesamtbereich haben sie Maßstäbe gesetzt, die heute noch bis in die subtilsten Verästelungen des Komponierens hinein wirken. Im frühen Bewußtsein davon, daß die sogenannte Tradition ihre Verbindlichkeit verlor, hat er Deutlichkeit und Verantwortlichkeit bis in die letzte Note durchgesetzt und einer großherzigen und enthusiastischen Anschauung des Ganzen verbunden. Vom Österreichischen ererbte er den allem bloß mechanischen Ablauf widerstrebenden, verweilenden Instinkt fürs musikalisch Sinnvolle. Zugleich aber wurde er der Gefahr eines die geprägte Gestalt gefährdenden, bequem konzilianten laisser faire inne. Ihm opponierte er ähnlich wie der Verderbnis der Sprache durchs kultivierte Feuilleton sein Zeitgenosse Karl Kraus. Dadurch fällt Mahler bereits als Interpret in den Zusammenhang jener geistigen Bewegung der Epoche, die den herrschenden Konformismus kündigte. Das bewirkt paradox, daß die vergänglichen Aufführungen, die er einstudierte und leitete, unvergänglich auch denen sind, die sie nicht mehr hörten. Wie einer, dem ein geliebter Mensch gestorben ist, Spuren von dessen Sprache, Mimik, Gestik an solchen sucht, die ihn kannten oder wenigstens demselben Kreis angehörten, um aus der vielleicht ähnlichen Nuance eines Tonfalls den Trost zu ziehen, der Tote sei nicht gänzlich tot, so möchte man aus Details der Darstellungsweise solcher, die ihn kannten, rekonstruieren, wie es wohl unter ihm war. Manchmal meint man, die Züge seines Gesichts selber, die leidvoll zarten und machtvoll ernsten, wären unter seinen dirigierenden und komponierenden Nachfahren aufgeteilt.
Auch um den Komponisten Mahler recht zu hören, muß man an jenem Einverständnis teilhaben, das sich herstellt, wo Musik österreichisch gesprochen wird. Darin berührten sich noch Extreme wie Bruckner, der mit Mahler befreundet war, und Webern, vermutlich dessen authentischester Interpret. Mütterlich vertrautes Österreichisch reden Partien von Sätzen aus Mahlers Jugend wie das Trio der Ersten Symphonie, süß ohne Süßliches durch die reiche Differenziertheit der harmonischen Valeurs. Österreichisch ist die lange Ländlermelodie des Andantes der Zweiten Symphonie, die wohl jeden, der Mahler liebt, ursprünglich zu ihm führte. Sie allein reicht hin, den Vorwurf mangelnder melodischer Erfindungskraft zu widerlegen, falls der immer noch an ihn sich herantrauen sollte. Solcher melodischer Bögen war er fähig, wann immer er ihrer bedurfte, auch in der reifsten Periode, im ersten Trio der ersten Nachtmusik der Siebenten, im unvergleichlichen Fis-Dur-Thema des Adagio-Entwurfs der Zehnten. Daß er sparsam damit verfuhr, gründet nicht in Kargheit der Invention sondern in seiner noch die schönste Teilgestalt überflügelnden Idee des Symphonischen. Österreichisch endlich sind auch seine Kontrapunkte, das phantasievolle Dazusingen von Melodien zu den einmal gesetzten, Verdichtung nicht durch Zusammenziehen, sondern durchs gewährende Ausschütten von Fülle. Noch in den abgeblendeten Werken der Spätzeit kehrt der österreichische Ton wieder. Im Totentanz der Neunten werden Reminiszenzen eines Ländlers gefiedelt.
Aber etwas vom Zwielicht jenes letzten Scherzos liegt über dem gesamten œuvre. Die Heimat von Mahlers Musik ist nicht ganz ihre eigene. Stets befremdet ihr Vertrautes. Die traditionelle Sprache, die sie mehr respektierte als irgendeine andere der gleichen Ära, wird ihr uneigentlich, verstört und verstörend. An Mahlers Ruhm haftet Ärgernis, der Beigeschmack des Berüchtigten. Über ihn wird die Nase gerümpft, als frevelte er allzu menschlich gegen ein Tabu der Zivilisation. Voll des Ausdrucks, ohne Scham über die eigene Emotion, schockiert seine Musik doppelt, weil sie, weithin diatonisch, Vokabeln benutzt, die solchen unstilisierten Ausdrucks entwöhnt sind und unter seiner Anspannung zu zerreißen drohen. Darum wird Mahler abgewiesen, als Spätromantiker, als einer zwischen den Zeiten, als allzu subjektivistisch und als allzu monumental, kurz mit sämtlichen Formeln, die dem schlechten Gewissen der Versiertheit sich darbieten. Die mittlere, von Geschmack und gemäßigtem Fortschritt gezähmte Musikkultur, reaktionär auch gesellschaftlich, verdrängt Mahler.
Wenig taugt der Versuch, ihn gegen die längst standardisierten, automatisch hervorsprudelnden Einwände zu verteidigen, indem man ihm mit dreister Überlegenheit seine historische Nische zuweist. Auszusprechen wäre, warum die lebendige Erfahrung seiner kollektiv verdrängten Musik fällig ist. Die Rechtfertigung dafür ist das Verdrängte selber; wahr an Mahler und überlebend das Ärgernis. Wollte man ihn einfach in auch so einen großen Komponisten umwerten und durch bloße Beteuerung des Großartigen retten, das er fraglos vollbrachte, so akzeptierte man vorab den Maßstab des juste milieu und betröge Mahler ums Beste. Uneigentlich an ihm sind nicht nur die Bezüge auf die musikalische Volkssprache von Österreich und Böhmen, an denen man je nachdem entwurzelte Ironie oder schwächliche Sentimentalität bemängelt hat. Seine musikalische Sprache selber ist durch und durch gebrochen. Sie fordert jenes Convenu von der Musik als einer Kunst reiner Unmittelbarkeit heraus, an dem um so zäher festgehalten wird, je vermittelter die Beziehungen der Menschen sind, je mehr die Welt zur verwalteten geworden ist. Sagte Schönberg in seiner bedeutenden Abhandlung über Mahler, aus der Neunten Symphonie spräche nicht unmittelbar der Komponist, sondern ein Dritter, so hat er damit etwas getroffen, was mehr oder minder für alle seine Werke gilt und was das Unbehagen an ihm, als eines an Doppelbödigkeit, weithin erklärt. Kaum ein Thema, geschweige ein Satz von ihm, der buchstäblich als das genommen werden könnte, als was er auftritt; ein Meisterwerk wie die Vierte Symphonie ist ein Als-Ob von der ersten bis zur letzten Note. Musikalische Unmittelbarkeit und Natur wird von dem angeblich so naturseligen Komponisten bis in die Zellen der Erfindung hinein in Frage gestellt. Bei unverkennbarster Eigenart, äußerster Plastik fügt er sich nicht dem zumindest seit der frühen Romantik eingeschliffenen Ideal von Originalität. Die Themen, stets als mehr und anderes konzipiert denn das, was sie an Ort und Stelle sind, hat er vielfach entlehnt oder dem Einwand der Banalität exponiert. Gleichgültigkeit gegen die Normen wählerischer musikalischer Kultur, oder vielmehr Rebellion dagegen, durchherrscht wie die Prägung des Einzelnen so die Anlage des Ganzen. Während, bis zu den letzten Werken, die überlieferten Schemata einigermaßen in Geltung bleiben, werden sie von der konkreten Formgestaltung desavouiert. Nicht nur sind die Proportionen der einzelnen Teile innerhalb der Sätze mit dem überlieferten Sinn der Schemata unvereinbar. Die musikalische Fiber selbst widerspricht dem Sinn der Formkategorien aus dem Schema, zumal der Sonate, die Mahler gleichwohl bis zur Spätphase nicht ganz abschüttelt. Daraus resultiert für den nach vorgezeichneten Typen Hörenden zuweilen der Eindruck eines Chaotischen. Dem etablierten Begriff von musikalischer Kultur geht es ans Leben. Auf dem Höhepunkt des ersten Satzes der Ersten Symphonie durchschlägt eine Fanfare gleichsam die Wand der sicher gefügten Form. Sie will, wider alle Kunst, Kunst in den Schauplatz eines hineinbrechenden Unbedingten verwandeln. Mahlers Musik rüttelt an der selbstgewissen Ordnung des Ästhetischen, der in sich ruhenden Verendlichung des Unendlichen. Sie kennt Augenblicke des Durchbruchs, des in sich Zusammenstürzens, der Episode, die inmitten des Ganzen sich verselbständigt, schließlich der Desintegration in auseinanderstrebende Komplexe. In ihrer Formgesinnung ist sie, trotz des gegenüber Strauss und Reger eher konservativen harmonischen, melodischen und koloristischen Vorrats, waghalsig avanciert. Als Repräsentant des immanenten, geschlossenen Kulturwesens von Musik hat Debussy seinerzeit protestierend die Pariser Premiere der Zweiten Symphonie verlassen. Ihn schreckte das Monströse und nach den Kriterien des klar und deutlich Überschaubaren Überdimensionierte. Später ist man taub geworden dagegen, daß Mahler aufbegehrte gegen die bürgerlich private, konventionelle Verengung von Musik. Man hat ihn der Wilhelminischen und der Ringstraßenmonumentalität verglichen, ihm ästhetische Elefantiasis vorgeworfen. Damit wurde die alte, hämische Kritikerphrase, Wollen und Vollbringen klafften auseinander, gewissermaßen streamlined, dem Beckmesserschen Spott auf jenen, der's nicht nach der Regel anfängt, sondern von den Finken und Meisen seine Weisen lernte, die Weihe arrivierter Modernität verliehen.
Aber was Mahler die Echtheitsapostel ankreiden, das durch und durch Gebrochene, die Unidentität der musikalischen Erscheinung mit dem, was dahintersteht, entfaltet heute sich in seiner Notwendigkeit. Weltschmerz, der Bruch zwischen dem ästhetischen Subjekt und der Realität, war seit Schubert auch der Stand musikalischen Geistes. Die Voraussetzungen der Formensprache jedoch hatte er nicht angegriffen. Das geschah bei Mahler. Die auf sich selbst zurückgeworfene Seele findet sich in ihrem angestammten Idiom nicht mehr zurecht. Sie ist verstört darin, es reicht nicht mehr an die unmittelbare Gewalt ihres Leidens heran. Darin war Mahler, der vom Rand der Gesellschaft herkam und die Erfahrung seines Ursprungs nie verleugnete, gar nicht so verschieden von Hofmannsthals hochgeborenem Lord Chandos, dem die Worte zerbröckeln, weil sie nicht mehr sagen, was sie sollen. Nur hat er daraus nicht die Konsequenz des Verstummens gezogen. Indem er vielmehr in die überlieferten Worte und Sätze der Musik Intentionen einlegte, die jene schon nicht mehr trugen, hat er den Bruch einbekannt. Die Uneigentlichkeit der musikalischen Sprache wird zum Ausdruck des Gehalts. Die tonalen Akkorde Mahlers, die unstilisiert und unverschminkt den Schmerz des von der entfremdeten Gesellschaft eingefangenen Subjekts hinausschleudern und darüber explodieren, sind Kryptogramme der Moderne, Platzhalter der absoluten Dissonanz, die nach ihm zur Sprache der Musik geworden ist. Unstilisierte Ausbrüche des Entsetzens wie der im ersten Trio des Trauermarsches der Fünften Symphonie, wo der unmenschlich schneidende Befehl ins Geschrei von Opfern zu schallen scheint, waren mit der tonalen Sprache, und inmitten des abgezirkelten Marschschemas, eigentlich schon gar nicht mehr möglich. Daß er es dennoch vollbrachte, mit gewohntem Vokabular das wahrhaft Unerhörte aussprach, macht das Skandalon aus. Heute, da die Musik für solche Erfahrungen ein adäquates Material gefunden hat, ist man versucht zur Erwägung, ob durch solche Angemessenheit nicht die unsäglichen Erfahrungen abgeschwächt und harmonisiert werden, die Mahlers Musik durchzucken und die viel später erst real werden. Seine Banalitäten aber, Petrefakte des Überlieferten, heben dessen Unversöhnlichkeit mit dem Subjekt erst recht hervor. Unentbehrlich sind sie einem Bewußtsein, das rückhaltlos der geschichtlich heraufdämmernden Negativität sich überantwortet. Sie sind zugleich Allegorien des Unteren, Erniedrigten, gesellschaftlich Verstümmelten. Mit äußerster Kunst zieht Mahler, der passionierte Leser Dostojewskys, sie in die Kunstsprache hinein. Nirgends läßt er das Banale, das er zitiert, banal. Indem es beredt wird, wird es auch kompositorisch durchdrungen. Damit trachtet er etwas wiedergutzumachen von dem uralten Unrecht, das die musikalische Kunstsprache verüben mußte, als sie, um sich zu realisieren, alles aus sich ausschied, was ihrer gesellschaftlichen Voraussetzung, dem Bildungsprivileg, nicht sich einfügte.
Die Erfahrung metaphysischer Negativität, der Unmöglichkeit, durch Musik den Weltlauf derart als sinnvoll zu bestätigen, wie es zuvor, selbst in der tragischen Metaphysik Richard Wagners, sanktionierter Brauch war, der keine Ausnahme duldete, ist nach der Achten Symphonie in Mahlers Bewußtsein gedrungen. Davon gibt der berühmt gewordene Brief an Bruno Walter Rechenschaft, ein frühes Zeugnis dessen, daß aller Musik der Boden unter den Füßen schwankt, der expressionistischen Situation. Was an Mahler dem ordnungsfreudigen Ohr chaotisch dünkt, rührt daher. Weil seine Musik keinen verbürgten Sinn sich vorgibt; weil sie auch nicht, wie Beethoven, darauf hoffen darf, daß durch übergeordnete, dynamisch-architektonische Logik Sinn als gegenwärtiger sich entlade, muß er schutzlos, ungedeckt dem Einzelimpuls sich überantworten. Der das Untere als Schicht des Komponierens eingelassen hat, komponiert von unten nach oben. Keiner Totalität weiß diese Symphonik sich mächtig, es wäre denn die, welche aus der zeitlichen Schichtung ihrer einzelnen Felder aufsteigt. Könnte man das Musikideal des Wiener Klassizismus, in dem Totalität unangefochten den Vorrang behauptete, dem dramatischen vergleichen, so ist das Mahlerische episch, verwandt dem großen Roman. An ihn mahnen die Erhebungen der Leidenschaft; das Unerwartete, scheinbar Zufällige, gleichwohl Notwendige; die Umwege, die allein der Weg sind. Unter der erzitternden Hülle der alten, versöhnlichen Symmetrieverhältnisse reift jene musikalische Prosa heran, die dann zur Sprache von Musik überhaupt wurde. Mahler verstehen heißt darum, der Hörkrücken der herkömmlichen Typen soweit wie nur möglich sich zu entäußern, bei den vielfach sehr ausgedehnten Sätzen keine geringe Zumutung. Wie von unten nach oben komponiert ist, muß man von unten nach oben hören, dem Zug des Ganzen, von Kapitel zu Kapitel, sich überlassen wie bei einer Erzählung, bei der man nicht weiß, wie es ausgeht. Dann wird man einer zweiten und besseren Logik inne. Sie folgt aus der Geprägtheit und Bestimmtheit der einzelnen Charaktere, nicht aus einem abstrakt vorgeordneten Entwurf. In Mahlers Entwicklung hat sie immer mehr sich verstärkt. Die Kraft zur Organisation des Ganzen wurde eins mit der Fähigkeit, dies Ganze aus dem heraus zu entfalten, wohin das Einzelne will. Die Zufälligkeit bloßer Existenz, die er auf sich nahm, ist ihm ohne Anleihe beim nicht länger Verbürgten zum Verbindlichen gediehen. Das definiert den Rang Mahlers als den eines großen Komponisten: an Fähigkeit zur Objektivation des fessellos Subjektiven hat keiner der Neueren es ihm gleichgetan. Was ihn aber zum abenteuerlichen Komponieren bewog, war selber nicht privat-zufällig. Er trug illusionslos dem unaufhaltsamen Verfall von Formen Rechnung, die sich gebärden, als ob ihr bloßer Vollzug einen Sinn stifte, der im realen gesellschaftlichen Dasein nicht gegenwärtig ist. Aus solchem Zerfall hat er die objektive Tendenz herausgelesen und ihr gehorcht. Daher seine Gewalt.
Mahlers Musik ist kritisch, Kritik am ästhetischen Schein, Kritik auch an der Kultur, in der sie sich bewegt und aus deren bereits vernutzten Elementen sie sich fügt. Wo er unter der Kultur ist, ist er zugleich über ihr. Aus einem ins Leben glückvoll-unglücklich hinübergeretteten Fond von Kindheit heraus hat er die Verpflichtung zur erwachsenen Resignation, zur Selbsteinschränkung nicht unterzeichnet, den offiziellen Gesellschaftsvertrag der Musik. Sein Naturell war das eines Fauve, eines Wilden, aber eines, der nicht die Auferstehung der Barbarei meint, wie sie vom Druck der Zivilisation ausgebrütet wird, sondern eine Menschheit oberhalb der gefügten Ordnung und ihrer Versagungen, die sonst das Kunstwerk durch seine bloße Existenz nochmals wiederholt. Die Kunstwerke, die er produzierte, träumen von der Abschaffung der Kunst durch jenen erfüllten Zustand, den seine Symphonien unermüdlich abwandelnd beschwören. Darum ist sein Werk widerspruchsvoll geraten. Die Züge, die das Cliché der Differenz von Wollen und Vollbringen festnagelt, sind nicht solche ästhetischer Unzulänglichkeit sondern der Unzulänglichkeit des Ästhetischen selber. Nicht zu leugnen, daß das eine nicht ohne das andere sich haben läßt. Kunstwerke über der Kultur genügen ihr nie so recht. Gebilde obersten Anspruchs aber gelingen, indem sie ihre Schwächen in Stärke umschaffen. Wie Mahler subjektiv aus seiner Neurose oder vielmehr der realen Angst des armen Juden seit dem letzten Gesellenlied die Kraft eines Ausdrucks zog, dessen Ernst alle ästhetische Nachahmung, alle Fiktion des stile rapressentativo überstieg, so hat er den Mangel an Unmittelbarkeit, auch an primärem Geschick und kompositorischer Virtuosität, als Fermente seinem Komponieren zugebracht. Aus der unpolierten Kargheit seiner Anfänge wurde jene Deutlichkeit, jene schmucklose Ökonomie des Komponierens, die schon vor einem Menschenalter Erwin Stein mit Recht Mahlers Sachlichkeit nannte. Bei ihm wahrhaft ist, nach den Worten des Chorus Mysticus, die zu vertonen er nicht zurückschreckte, das Unzulängliche Ereignis geworden. Noch die Monumentalität, über die sich zu mokieren so bequem ist für jene, die vor ihm den Vorzug voraus haben, daß sie fünfzig Jahre später geboren wurden, drückt den Willen aus, bei jener mittlerweile zum genrehaften Schmuck verkommenen Intimität nicht sich zu bescheiden, in die gerade die kultiviertesten Komponisten, Brahms und Debussy, sich zurückgezogen hatten. Ist die Möglichkeit dieser Monumentalität, inmitten einer individualistischen Gesellschaft, problematisch, und hat Mahler dem seinen Zoll zu entrichten, so hat er dafür wiederum manchmal ein Desiderat erfüllt, das alle neuere Musik seit Bach anmeldete und das zumal in der österreichischen Symphonik überliefert war: die leer verlaufende, nicht länger überwölbte Zeit zu füllen, in glückvolle Dauer zu wandeln. Was man bei Schubert halb ironisch himmlische Längen genannt hat, was bei Bruckner durchschimmert, aber durch die unbewältigte Differenz der epischen Idee und der herkömmlichen Schemata scheiterte, ist in den heimatlosen und gebrochenen Symphonien Mahlers nach Hause gekommen. Sind alle bedeutenden Konzeptionen der Kunst in sich paradox, dann war es die Mahlersche darin, daß ihm große Symphonik gelang zu einer Stunde, die das Gelingen großer Symphonik bereits verbot.
In den Frühwerken, den vier ersten, untereinander eng verbundenen Symphonien, die man als Wunderhornsymphonien zusammengefaßt hat, sind die Mahlerschen Grundschichten, Weltlauf und Durchbruch, dialekthafte Nähe und leidvolle Gebrochenheit, noch kraß neben einander gelagert. Überdeutlich zuweilen bis zur programmusikalisch poetischen Absicht kommen sie zutage. Dem danken sie ihre Frische, das unauslöschliche Aroma der Charaktere. Nie wieder hat Mahler so weit sich vorgewagt wie im ersten Satz der Dritten Symphonie, die eben darum wohl heute vernachlässigt wird. Er ist das Mahlersche Urphänomen, mit den aus dem abgesteckten Klangraum wild hervorpreschenden Posaunen der langsamen Partien; mit der Folge der Märsche, die nicht von einem festen Bezugspunkt aus vernommen werden, sondern in panischem Zug das Ohr selber in die Bewegung reißen, das gleichsam aus immer wechselnden Stellungen zuhört; im Schlußabschnitt der Durchführung schon so undomestizierten Klanges wie dann das Orchester der heroischen Phase der neuen Musik. Mahler verzichtet darin auf die tradierte Idee des symphonischen Zielpunktes und wartet, ohne Regie zu führen, bis das Tosen sich erschöpft. Durch nichts anderes verknüpft er es mit der Wiederkehr des Anfangs als durch den Trommelrhythmus: kahle Zeit schimmert durch wie die Leinwand auf manchen Bildern aus der Frühzeit der Moderne. – Die Angst vor der eigenen Kühnheit, die Mahler danach muß ergriffen haben, ist produktiv geworden: in der Vierten Symphonie, dem Epilog der Dritten, werden alle Schichten gebändigt. Aber ihr Maß, das einer Verkleinerung auf die Kindheit, bleibt gebrochen. Nicht nur resultiert ein Gebilde, das den überlieferten Standards am ehesten Genüge tut und den Stumpfsinn zur prompten Nennung von Mozarts Namen anreizt. Zugleich ist es hintergründig wie nur das beschädigte Millennium von Kafkas Naturtheater von Oklahoma. Keine Symphonie Mahlers ist tiefer von der Trauer durchdrungen als die seraphische, und das gerade macht sie zum hommage à Mozart. In ihr erst hat der spät Reifende, keineswegs in der Selbstverständlichkeit seines Handwerks Geborgene, die volle Verfügung über die kompositorischen Mittel erworben. Die drei großen Instrumentalsymphonien danach sind Reflexionen auf die Bilderwelt der frühen. Mit dem Metier, das ihnen zugewachsen ist, wird jene freilich auch distanziert, in einen rein in sich selbst durchgestalteten musikalischen Zusammenhang aufgehoben; Wiederholung im dialektischen Verstande des Wortes. Vielleicht ist der vielberufene tragische Charakter der Sechsten Symphonie selber Ausdruck des Immanenzzusammenhangs, zu dem Mahlers Komposition sich intensivierte. So wie dieser keinen Ausweg duldet, so rauscht in dem großen Finale der Sechsten Leben, nicht um von außen ereilt zu werden von den Hammerschlägen, sondern um in sich selber zusammenzustürzen: der élan vital enthüllt sich als die Krankheit zum Tode. Der Satz verbindet die mächtigen Dimensionen eines episch sich ausbreitenden Musikideals, die schenkenden Elevationen des großen Romans mit der zwangvollen Dichte der thematischen Arbeit: Einlösung der symphonischen Idee in eins mit deren Suspension. Ebenbürtig der Sechsten ist der erste Satz der Siebenten. In ihm erweitert sich Mahlers Sprache und begibt sich jenes leise Anachronistischen, das bis dahin mit seiner Kühnheit sich verschränkte. Die Farbenskala des Orchesters schließt alles ein vom leuchtenden Überdur bis zum finstersten Schatten. Nicht minder reich ist die Harmonik. Die Quartenbildungen mögen unmittelbar Schönbergs ein Jahr später vollendete Kammersymphonie angeregt haben; erstaunlicher noch sind die perspektivischen, die Musik körperhaft herausmodellierenden akkordischen Eckpunkte des zweiten Themas. Retrospektiv dann erprobt in der Achten Symphonie die meisterliche Hand sich an dem, was Mahlers Jugend in der Zweiten Symphonie vorwegnehmen wollte. In dem Hymnus Veni Creator Spiritus gibt es Stellen, wo die Unmöglichkeit des Beginnens selber zur Gewalt wird, als wäre es wirklich gelungen. Kein stärkeres Argument aber spricht für Mahler, als daß es ihn bei der Affirmation des chef-d'œuvre nicht duldete. Ihm ist daran das affirmative Wesen selber verdächtig geworden. Die Idee des Durchbruchs, von der er nie abließ, hat er zur Erinnerung vergangenen Lebens als der Utopie eines nie Gewesenen sublimiert. Erstmals sprengt im Lied von der Erde der subjektive Ausdrucksdrang den zur symphonischen Objektivation. Es gab das Stichwort universaler Einsamkeit und ist damit Mahlers populärstes Stück geworden, bis heute die letzte Komposition, die trotz ihrer Autonomie, trotz der gänzlich durchgestalteten Faktur die Menschen bezwang. Rätselhaft daran aber ist ein Vermögen noch über die Meisterschaft hinaus, das kaum technisch angemessen zu beschreiben wäre. Einfachste Wendungen, Formeln zuweilen sind im Lied von der Erde so gesättigt mit Gehalt, wie die alltäglichen Worte eines erfahren Alternden, jenseits ihrer bloßen Bedeutung, dessen ganzes Leben bergen mögen. Geschrieben von einem noch nicht Fünfzigjährigen, ist das Werk, der inneren Form nach fragmentarisch, eines der größten Zeugnisse musikalischen Spätstils seit den letzten Quartetten. Überboten wird es womöglich vom ersten Satz der Neunten Symphonie. Er verweilt in der gleichen chinesischen Dolomitenlandschaft von Bach und Fichten, faßt aber die pralle, gedrängte Fülle des Vokalwerks in einer weit ausgreifenden symphonischen Objektivität, die endgültig von der Sonate sich scheidet. Zwei Themen, Dur und Moll, alternieren dialogisch. Sie holen weit aus zur erinnernden Erzählung von Vergangenem. Ihre Stimmen verflechten, übertönen sich, rauschen ineinander, bis, unterm Ansporn eines dritten Motivs, das Gebilde in leidenschaftliche Gegenwart sich verstrickt, um unter einem Schlag zusammenzubrechen, den man ahnt seit dem Rhythmus des ersten Takts. Nichts bleibt zurück als Bruchstücke und die Süße von schmeichelnd vergeblichem Trost. Das letzte Werk, das Mahler vollendete und dessen dritter Satz schon Partien einer vom Generalbaßschema wegstrebenden Polyphonie enthält, ist das erste der neuen Musik.
Mahler hat die Folgerung aus etwas gezogen, was heute erst ganz offenbar ward: daß die abendländische Idee einheitlicher, in sich geschlossener, gewissermaßen systematischer Musik, deren Zusammenschluß zur Einheit identisch sein soll mit dem Sinn, nicht mehr trägt. Sie ist unvereinbar geworden mit einem Zustand der Menschen, die keiner verpflichtenden Erfahrung solchen positiven Sinnes ihrer Existenz mehr mächtig sind; unvereinbar mit einer Welt, die ihnen keine Kategorien glücklicher Einheit mehr beistellt, sondern bloß noch die standardisierten Zwanges. Sachlich ist Mahler auch in dem obersten, metaphysischen Verstande, daß er den ästhetischen Schein eines sinnstiftenden Ganzen abwarf, das real nicht mehr besteht, wenn anders es je bestand. Er, der vom Hedonismus seiner Epoche, von Strauss und Debussy, durch rücksichtslose Vergeistigung sich unterschied; er, dessen Ingenium selbstvergessen vergegenwärtigen wollte, was mehr ist als bloßes Dasein, hat zugleich, indem er unbeirrbar seiner Intention nachhing, deren Unmöglichkeit aufgedeckt. Metaphysisch wie kein Komponist seit Beethoven, hat er zu seiner Metaphysik deren eigene Unmöglichkeit gemacht, buchstäblich am Unmöglichen den Kopf sich eingerannt. Seine Welt ist wie die seines Landsmanns Kafka eine mit unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns. Erglühend setzt sie alles auf das Absurde, es könne doch noch werden. Dieser Gehalt schwebt aber nicht abstrakt über seiner Musik, sondern durchsickert ihre Komplexion bis in die technische Verfahrungsweise hinein; sie ist konkret bestimmt zur Idee. Mahlers Technik ordnet sich um das Prinzip, ganz logisch, ohne Willkür, ohne Rücksicht auf Wirkungszusammenhänge zu komponieren und zugleich Logik zu übersteigen. Sehnsucht gilt dem Einstand von Konstruktion und Freiheit; diese wäre vergebliche Regung, wenn sie nicht an der Konstruktion sich erhärtete; die Konstruktion aber bliebe bloße Gewalttat des sich selbst setzenden Geistes, wenn sie nicht von einem Stofflichen erfüllt würde, das ihr nicht untertan ist, sondern mit ihr sich versöhnt. Man mag in dem seiner selbst unbewußten Ziel, das der Mahlerschen Musik vor Augen steht, die spirituelle, von aller Dumpfheit des Heimeligen gereinigte Wiederkehr des Österreichischen erkennen, etwas Passives, Ergebenes, den einströmenden Gestalten ohne Eingriff Vertrauendes. Die Geschichte der Musik nach Mahler, und gar ihre jüngste Phase, hat die Integrationstendenz bis zum Äußersten durchgesetzt. Sie hat das Bachische, Beethovensche, Brahmsische Prinzip der thematischen Arbeit bis zur vollkommenen Determination aller musikalischen Elemente aus einem latent Gemeinsamen getrieben. Virtuell hat sie dabei das Mannigfaltige ausgemerzt, das synthesiert werden soll; das musikalisch Einzelne ist ihr vorweg zur Funktion des Ganzen geworden und hat seine Substantialität eingebüßt. Einheit jedoch wird unterhöhlt, sobald sie aufhört, Einheit von etwas zu sein; ohne dialektischen Widerpart droht ihr die leere Tautologie. Was neuerdings im Namen von Zufall der Konstruktion eingebaut wird, reflektiert kritisch auf jenen Tatbestand. Mahler wäre dafür die stärkste Stütze. Er hat dem Komponieren eine Dimension gewonnen, die verdrängt wurde wie er selber und die heute als Bedingung der Möglichkeit von Musik überhaupt evident wird. Es ist die Dimension der Charaktere, deren Differenz in der unterschiedslosen Einheit der gegenwärtigen integralen Sprache so sehr verschwimmt. Alle einzelnen Felder sind bei ihm aufs bestimmteste, eindeutigste formuliert. Sie sagen: ich bin eine Fortsetzung, eine Überleitung, ein Danach, ein Abgesang. Durch diese Drastik der Charakterisierung aber, die jegliches Einzelne kraft seiner Funktion, seines Formsinns im Ganzen, zu dem macht, was es ist, wird wahrhaft das Einzelne auch mehr, als es für sich ist. Es öffnet sich einer Totalität, die daraus sich kristallisiert, ohne als Prinzip von außen her den Charakteren angeschafft zu werden. Darum bleiben diese bei Mahler trotz aller physiognomischen Unverwechselbarkeit nie im Verlauf mit sich identisch, sondern wandeln sich ohne Unterlaß. Mit Recht hat man einmal bemerkt, was einen zuerst an Mahler beeindrucke, sei, daß es immer anders weitergehe, als man erwarte. Gleichwohl ist dies romanhaft unschematische Wesen dem bloßen Belieben weit entrückt. Die Verfahrungsweise, die ihm dient, ist die der Variante. Die Charaktere sind gegenüber dem Ganzen zu selbständig, zu sehr Seiendes im Werden, um nach dem Gesetz traditioneller thematischer Arbeit sich aufzuspalten und bruchlos im Ganzen zu verschmelzen. In der Variante werden die einzelnen Charaktere wiedererkennbar festgehalten, die Struktur von Themen und Gestalten wird bewahrt. In Einzelzügen aber ändern sie sich; der Kunstmusik wird jenes Prinzip der mündlichen Tradition und des Volkslieds zugeführt, das in die Wiederholung der ursprünglichen Melodie Finten, kleine Unterschiede einlegt, das Identische zum Nichtidentischen macht; bis in die Technik hinein ist Mahler der Komponist der Abweichung. Die Variante selber jedoch, das Unerwartete, ist dabei Gegenteil jenes Effekts, als welchen die Schule von Berlioz, Liszt und Strauss das imprévu ausgenutzt hatte. Nirgends bringen die Mahlerschen Varianten Andersheit um der bloßen Abwechslung willen. Ihre Folge in der Zeit unterliegt, bei aller Regellosigkeit, einer gewissermaßen organischen, teleologischen Gesetzmäßigkeit, der bis ins letzte Intervall sich nachgehen läßt. Wo es anders geht, muß es anders gehen, weil Spannungen, Potentiale ausgetragen werden, die beim ersten Auftreten der Gestalt sich anmelden. Warum etwas früher so und später so ist, wird stets aufs genaueste motiviert. Etwa schon im ersten Satz der Vierten Symphonie kann man beobachten, daß ein Thema auf die Vergrößerung eines seiner Intervalle von Anbeginn wartet und erst nach langer Entwicklung dies große Intervall gewährt; in solchen Spannungen der Varianten realisiert sich Mahlers symphonischer Atem, der Übergang des Partikularen zur Totalität.
An den Charakteren aber, den aufgehenden, sich erhaltenden, verschwindenden haftet Mahlers Gehalt. Sie sind nichts anderes als Ausdruck, der Funktion sowohl wie Konstituens der Form wird. Steht am Anfang der Mahlerschen Konzeption die Idee des Durchbruchs, dann vergegenständlicht sie sich kompositorisch in den Charakteren der Erfüllung. Unendlich viele Musik der Tradition verspricht etwas, das nie erfolgt; oftmals wird Versagung selber, die Zelebrierung ihres Zwangs, zum Ersatz dessen, was sie versprochen hatte. Bei Mahler aber kommt es; das ist sein Fascinosum. Stößt andererseits Mahlers Erfahrung in einer Gesellschaft, deren Bann nicht sich löst, darauf, daß das Bild von Durchbruch und Erfüllung selbst als Bild entstellt bleibt, so findet er noch solcher Erfahrung den Charakter, den des drastisch auskomponierten Zusammenbruchs. Schon an Stellen des ersten Satzes der Zweiten Symphonie ist er entworfen, dann in den beiden ersten Sätzen der Fünften und vollends in den Partien des Andantes der Neunten auskomponiert, die auf die Katastrophe folgen. Schrumpft ihm in der letzten Phase die Idee einer Musik der Vergegenwärtigung transzendenten Sinns zusammen zur wahrhaft Proustischen Suche nach der verlorenen Zeit, dem Pavillon der Freunde und der schlank blühenden Schönheit der jungen Mädchen, so schmiegt dem die Komposition sich an durch Charaktere des Zerfalls, durchs Fahrenlassen des Anspruchs von Integration. Ihren wahren Trost hat sie an der Kraft, der absoluten Verlorenheit ins Auge zu sehen, die Erde zu lieben, wenn keine Hoffnung mehr ist. Solche Charaktere sind die ohne den Trug von Einheit in Partikeln sich lösenden Abschiedssätze aus dem Lied von der Erde und der Neunten. Die gewaltlose Gewalt Mahlers, der solche Charaktere zuteil werden, ist die realer Humanität. Ihm hat Komponieren seine Größe nicht, wie nach Luthers Satz, indem es den Noten befiehlt, wohin sie sollen. Er folgt ihnen, wohin sie wollen, aus Identifikation mit dem von der ästhetischen Norm und im Grunde von der Zivilisation selber grausam Gebändigten und Zugerichteten, mit den Opfern. Am Ende wird Mahler gerade um dieser selbstentäußernden Identifikation mit dem Nicht-Ich willen subjektivistisch gescholten. Der Ausdruck des Leidens, des eigenen und derer, welche die Last zu schleppen haben, pariert in Mahler nicht länger dem herrschaftlichen Anspruch des Subjektes, der darauf beharrt, so und nicht anders müsse es sein. Das ist der Ursprung des Ärgernisses, das er bietet. In seiner Jugend hat er das Gedicht ›Zu Straßburg auf der Schanz‹ komponiert. Zeit seines Lebens hat seine Musik es mit denen gehalten, die aus dem Kollektiv herausfallen und zugrunde gehen, mit dem armen Tambourg'sell, der verlorenen Feldwacht, dem Soldaten, der als Toter weiter die Trommel schlagen muß. Ihm war der Tod selbst die Fortsetzung irdischen, blindwütig verstrickten Unheils. Die großen Symphonien aber, die Märsche, die durch sein gesamtes Werk hindurchdröhnen, schränken das selbstherrliche Individuum ein, das Glanz und Leben denen im Dunklen verdankt. In Mahlers Musik wird die beginnende Ohnmacht des Individuums ihrer selbst bewußt. In seinem Mißverhältnis zur Übermacht der Gesellschaft erwacht es zu seiner eigenen Nichtigkeit. Darauf antwortet Mahler, indem er die Form setzende Souveränität fahrenläßt, ohne doch einen Takt zu schreiben, den nicht das auf sich selbst zurückgeworfene Subjekt zu füllen und zu verantworten vermöchte. Er bequemt sich nicht der beginnenden Heteronomie des Zeitalters an, aber er verleugnet sie nicht, sondern sein starkes Ich hilft dem geschwächten, sprachlosen zum Ausdruck und errettet ästhetisch sein Bild. Die Objektivität seiner Lieder und Symphonien, die ihn so radikal von aller Kunst unterscheidet, die in der Privatperson häuslich und zufrieden sich einrichtet, ist, als Gleichnis der Unerreichbarkeit des versöhnten Ganzen, negativ. Seine Symphonien und Märsche sind keine des disziplinierenden Wesens, das triumphal alles Einzelne und alle Einzelnen sich unterjocht, sondern sammeln sie ein in einem Zug der Befreiten, der inmitten von Unfreiheit anders nicht zu tönen vermag denn als Geisterzug. Alle Musik Mahlers ist, wie die Volksetymologie eines seiner Liedertitel das Erweckende nennt, eine Rewelge.
Epilegomena
Gegen die Wiener Säkularausstellung 1960 mochte man einwenden, sie habe durch das Programm ›Mahler und seine Zeit‹ den Horizont zu weit abgesteckt, das Spezifische Mahlers in der Allgemeinheit der Periode verschwimmen lassen, wenn anders die Ausstellung von Visuellem davon überhaupt etwas erreichen kann. Aber gerade an der Beziehungslosigkeit des Ausgestellten zu dem Gefeierten ließ über diesen Erhebliches sich lernen. Die Zeit seiner Reife fällt etwa mit dem Jugendstil zusammen; Namen wie Roller und vor allem Moll, der Stiefvater seiner Frau, sind solche aus dessen Bereich. Was jedoch Mahler von seiner Umwelt, auch der literarischen, so sehr distanziert, ist der fast vollkommene Mangel an Jugendstilzügen in seiner Musik. Bei Richard Strauss herrschen sie vor, dem jungen Schönberg fehlen sie nicht, auch an Reger wären sie zu entdecken. Allenfalls könnte man den exotischen Einschlag von Mahlers letzten Werken jenem Stil zurechnen. Sonst aber muß er, nach dem Standard dessen, was damals für modern galt, geklungen haben, als wäre er dahinter zurückgeblieben gewesen. Weder Parolen noch Formsprache des Jugendstils haben seinem œuvre sich eingeprägt. Die Bilder, aus denen es lebt, sind eher spät – als neuromantisch, von jenem Typus, gegen den man damals gerade revoltierte. Das anachronistische Moment indessen, das nicht ganz Mitgekommensein, wurde bei ihm zur Kraft, die über die Epoche hinaustrieb. Es verlieh ihm eine Art Resistenz gegen den Subjektivierungsprozeß, ließ ihn naiv festhalten am Modell großer objektiver Symphonik, und das Unmögliche hat dann wirklich seinen Werken etwas von kollektiver Verbindlichkeit infiltriert, sobald sie technisch ihrer selbst ganz mächtig waren. Zuweilen ist die Zuflucht des Fortgeschrittensten in der Kunst der Rückstand des Vergangenen, den sie mitschleppt; dessen, was sie als unerledigt Aufgegebenes empfängt. Sie reicht über die Sphäre des up-to-date dadurch hinaus, daß sie aufgreift und umdenkt, was am Wege liegen blieb. Das nicht mit sich selbst, mit dem kompositorischen Subjekt Beschäftigtsein dieser Musik, das den zeitgenössischen Ohren wie ein Mangel an Differenziertheit muß geklungen haben, war potentiell schon die gewährende Selbstvergessenheit Mahlers. Sie legitimierte seine Symphonien als Sprache der Epoche, nachdem der Stil der einsamen Menschen, zu dem er es nicht brachte, als gleichgültig bereits veraltet war.
»Die Lichter, die aus deinen Wunden strahlen« – der Vers Georges liest sich wie ein Motto zu Mahler, seinem älteren Zeitgenossen. Daß aber bei diesem die Narben des Mißlingens zu Trägern des Ausdrucks und damit zum Ferment eines zweiten Gelingens der Sache umgeschaffen wurden, ist keine bloß private Eigentümlichkeit. Seine Musik fragt, wie die Form der Sonate von innen her so zu reorganisieren sei, daß sie dem Leben der Details nicht mehr gewalttätig oktroyiert wird, sondern eins mit ihm. Das ist die Quadratur des Zirkels, vergleichbar der Sisyphusarbeit der Philosophie, Rationalismus und Empirismus zu vereinigen. Alle oberste Kunst hat etwas derart Paradoxales. Unlösbarkeit des objektiv gestellten Problems, nicht Unzulänglichkeit der Begabung gefährdet die Werke um so mehr, je tiefer sie angesetzt sind, je tapferer sie der eigenen Unmöglichkeit sich stellen. Oder vielmehr: authentischen Künstlern wird der subjektive Defekt zum Ort eines objektiv geschichtlichen Scheiterns. Nicht das schlechteste unter den Kriterien von Kunst ist, ob sie zufällig mißlingt oder durch die Zufälligkeit ihres Mißlingens hindurch ein Notwendiges ausspricht. Bei Mahler ist das zur individuellen Signatur geworden.
Die eigentümliche Präponderanz der Marschtypen bei Mahler ist besser zu erklären als bloß durch die Fixierung an Kindheitseindrücke. Was in den Märschen an Verhaltensweisen sich objektiviert, steht im engsten Verhältnis zur romanhaften Struktur der Mahlerschen Symphonie. Der Marsch ist eine kollektive Gestalt des Gehens. Er sammelt die ungebundene Zufälligkeit alltäglichen Verlaufs ein. Er suggeriert aber zugleich eine einsinnige, irreversible Bewegung auf ein Ziel zu. Zurücknahme, Umkehr und Wiederholung sind ihm fremd, mochten immer auch solche Elemente vom Tanz in den Marsch eindringen. Das Zeitbewußtsein des Marsches scheint das musikalische Äquivalent der Zeit des Erzählers. ›Time marches on‹ – das ist ebenso Gleichnis eines ungeschürzten, streckenhaften, auch bedrohlichen Zeitverlaufs wie des Bewegungsimpulses, der solchem Zeitverlauf entspricht, wenn das Gefühl von diesem nicht gar in jenem Gehimpuls entspringt. All das wollen Mahlers Märsche. Sein Ingenium hat sie aus der Kindheit ausgegraben als Urbilder einer Zeiterfahrung, die im illusionslos wachen Dasein um so mächtiger ist, je weniger sie mehr in der Motorik des Kunstwerkes sich manifestiert.
Dem Hauptthema der Sechsten Symphonie wäre der Vorwurf des Offiziellen zu machen. Es klingt etwa wie das Epitheton tragisch, das zu jener Zeit bereits, und nicht bloß in Musik, zur Bildungsreminiszenz herabgesunken war. Aber so emphatisch jenes Thema auch sich gebärdet, so sehr der genuin symphonische Gestus gerade als solcher etwas Theatralisches angenommen hat, es bleibt nicht bei der Draperie. Weil das Thema anfangs, wo es unmittelbar auftritt, seine Gewalt im Ton usurpiert, muß es sie dann gewinnen durch universale Vermittlung: Verarbeitung. Integral ist die Sechste derart, daß nichts Einzelnes bloß als Einzelnes zählt sondern erst als das, als was es im Ganzen sich enthüllt. Um solche Stücke zu verstehen, sollte man sich nicht besserwisserisch in die Themen festmachen, sondern sie zunächst einmal vorgeben und abwarten, was geschieht. Sogleich in der Fortsetzung wirft der Satz das Offizielle ab. Dort, wo erstmals der begleitende Marschrhythmus fehlt, wird der runde, geschlossene Klangkörper des Beginns aufgeschlitzt, als müßte er bluten. Das Hauptmotiv springt von den Geigen in die unmäßigen Posaunen, die Geigen spielen eine Gegenstimme dazu, sämtliche hohen Holzbläser eine Sechzehntelfigur, ohne harmonietragenden Baß. Erst nach der Störungsaktion dringt der Marsch mit den Viertelschlägen des Beginns und dann einer schrillen Oboenmelodie wieder durch. Schon mit ein paar Takten motivischen Eingriffs vergeht vor Mahlers herzbrechendem Ton alles schulgerechte Wesen.
Das Scherzo der Sechsten hat sein Sinistres nicht zuletzt daran, daß, durch eingelegte Crescendi und chromatische faux-bourdon-Gänge in den Mittelstimmen, das Orchester sich zu dehnen scheint wie ein Körper, der zu platzen und Unheil anzurichten droht. Die Dreidimensionalität des Orchesters, sein räumliches Volumen gleichsam, wird zum Ausdrucksträger. Vielleicht nimmt es diese Qualität gerade deshalb an, weil Mahlers mühsame Entwicklung den vollen, körperhaften Orchesterklang erst in den mittleren Instrumentalwerken sich eroberte, während zumindest die drei ersten Symphonien, durchs Bestreben, rein um der Deutlichkeit willen zu instrumentieren, im Klang eigentümlich flächenhaft, gewissermaßen ohne Raumtiefe bleiben. Diese ist erst dem polyphonen Orchesterdenken Mahlers zuteil geworden und wurde zugleich Moment des musikalischen Sinns, des Ausdrucks.
Das Trio desselben Satzes operiert, wie man weiß, mit dem häufigen Wechsel von Dreiachtel – und Vierachteltakt. Indem aber auch es polyphon gedacht wird, überschneiden sich im unregelmäßigen Metron die Einsätze der einmal definierten Gestalt derart, daß, was in der einen Stimme guter Taktteil ist, in der anderen schon schlechter wird. Dadurch stellt sich eine höchst eigentümliche rhythmische Interferenz her; im Zusammenhören ein schwankendes Gefühl der Schwerpunkte. Die Irregularität des Metrons beschränkt sich nicht auf die Außenfläche, die Folge der Zählzeiten, sondern reicht bis ins Innere, in die simultane Zusammensetzung der Musik hinein. Solche rhythmischen Innovationen sind dann, unter dem Bann dessen, was man seit Strawinsky und Bartók allein Rhythmus zu nennen sich gewöhnte, vergessen, kaum von den Komponisten weiter verfolgt worden. In keiner Dimension der Musik ist bis zur jüngsten Phase weniger geschehen als in der des Rhythmus, von der am meisten die Rede war; Mahler erinnert auch daran.
Dem Andante moderato der Sechsten läßt sich entnehmen, wie Mahlers Formgefühl, ohne offenbaren Bruch, die überkommenen Schemata aufzehrt. Es hebt an, als wäre es eines der Kindertotenlieder, mit einer singbaren Oberstimmenmelodie, auf die ein Alternativthema folgt. Zunächst wechseln die Komplexe regulär miteinander ab. Die Erhebung aber, zu der die Durchführung, oder, wenn man will, der letzte ›Gang‹ des Satzes geleitet, verleiht dieser Partie einen solchen Schwung, daß sie aus sich heraus auslaufen, allmählich abebben will. Ihre Intensität bedarf dazu eines längeren Zeitraums, damit keine Disproportion entsteht, die Entwicklung nicht jäh abbricht. Nach dem breiten Verströmen jedoch wäre für keine Reprise des Hauptthemen-Komplexes mehr Platz. Sie müßte akademisch, angestückt wirken, wie eine bloße Verdopplung des Formsinns jener fallenden Handlung, die das Auflösungsfeld der Durchführung okkupiert. Deren Ende wird deshalb so gewandt, daß es, unmerklich, unabgesetzt die Funktion der Coda des Ganzen übernimmt. Um der Balance willen wird ausgespart, was üblicherweise die Balance herstellen soll, die Reprise. So subtil und behutsam meldet in Mahlers reifer Symphonik die Erfahrung von der Nichtumkehrbarkeit der Zeit sich an. Das Mahlersche Prinzip der Variante, der Abweichung wird zur Ablenkung der Disposition der großen Formen; der gesamte Satz gelangt in seiner konkreten Bestimmtheit woanders hin, als der Komponist, oder vielmehr der tektonische Formplan wollte. Nach einer Theorie der zeitgenössischen Malerei ist das überhaupt der Wahrheitskern, der der meist clichéhaften Vorstellung von Originalität innewohnt. Diese ist ein Gewordenes; Goethe schon hat dem Maler Hackert in seiner Biographie nachgerühmt, daß er »allmählich zu eigenen Originalen hinaufstieg«. Die Bahn von Musik als eine der Ablenkung ist aber darum soviel zwingender als der Zwang ihrer offenen Logik, weil Ablenkung die reale Erfahrung zur ästhetischen Sprache bringt, daß ein jegliches Leben quer verläuft zu seinen eigenen Prämissen. Das Unentrinnbare ist die Ablenkung selber.
Mahlers Musik sei »konkret zur Idee bestimmt«. Damit das nicht kryptisch bleibt oder dem Verdacht sich aussetzt, es werde um die Alternative programmatischer und absoluter Musik mit einer leeren Gundolfischen Formel herumgeredet, wäre das zu belegen: kein Zug ist tiefer eingegraben in Mahlers Physiognomik. Im Finale der Sechsten, unmittelbar vor der letzten Wiederkehr des Einleitungsfeldes, die schon die Coda ist, intonieren die Blechbläser noch einmal eines der Hauptmotive des Satzes und sequenzieren es, vier Takte vor dem endlichen Schlag. In diesen Takten ist das Gefühl des Gleichviel, des Gelingens im Angesicht des Untergangs, über das dieser nichts mehr vermag, mit äußerster Sinnfälligkeit, so unmißverständlich wie je das gesprochene Wort präsent, doch ohne alles musikfremd Literarische, dem Formverlauf Äußerliche. Was gesagt ist, wird ganz in der Sprache der Musik gesagt, vermöge ihrer eigenen Sprachähnlichkeit, nicht durch Pseudomorphose an Bilder und Begriffe. Kein anderer Komponist hat das je so vermocht wie Mahler. Daher rührt seine utopische Farbe: als wäre er dicht ans Geheimnis herangerückt. Er verheißt, Musik, die das von Worten Unaussprechliche spricht, aber stets wieder es verliert, weil sie keine Worte hat, könne es doch buchstäblich sagen.
Aber daß die Fähigkeit dazu Mahler nicht willkürlich zugeschrieben werde, läßt an einer langen Vorgeschichte sich zeigen. Selbst was in seinen Symphonien, zuerst von Erwin Ratz, negatives Feld genannt wurde, ist, ganz unliterarisch, bis auf den Klassizismus zurückzudatieren. Ein eindringliches Modell enthält das Trio aus Beethovens Fünfter. Der grimmige Humor darin ist kein Ausdruckscharakter, über dessen Existenz sich streiten ließe. Eindeutig, objektiv zwangvoll wird er im Verhältnis der konkreten Musik zum Idiom. Nach dem Teilstrich setzt das Hauptmotiv an, ohne, wie zuvor, den guten Taktteil zu erreichen. Nach seinen Achteln gähnen, vorm nächsten Ansatz, zwei Viertelpausen. Das Idiom und die vorhergehende erste Triozeile läßt die Fortsetzung der Bewegung als selbstverständlich erwarten, und die Erwartung wird enttäuscht. Die Geste des Motivs, in den Bässen, fortissimo, suggeriert Stärke. Diese jedoch versagt. Der Felsblock wird zu kurz geschleudert, oder die täppische Riesenhand wagt es nicht, ihn überhaupt zu werfen, oder es ist überhaupt kein Felsblock. Daraus erhellt ganz unmittelbar, ohne daß Begriffe aufgeboten würden, das Vergebliche der Kraft, auch ihre Dummheit, solange sie sich nicht reflektiert. All das blitzt auf, ist nicht dingfest zu machen, sondern verschwindet so rasch wie das Phänomen im Allegro, und ist doch nicht weniger bestimmt als jenes. Man dürfte wohl sagen, daß Mahlers Musik insgesamt, und die negativen Felder zumal, das Modell solcher Beethovenschen Verfahrungsweise über alle erdenklichen Ausdruckscharaktere ausbreiten, daß sie bei ihm die gesamte Symphonik erobert. Wie sehr Mahler von jenem Trio muß beeindruckt gewesen sein, bezeugt das Scherzo seiner Zweiten Symphonie.
Zu den idiosynkratischen Zügen von Mahlers Rhythmik gehören einzelne Töne, unter Umständen auch Begleitmotive, in denen der Fluß stillsteht oder vielmehr in der Luft hängt. Das gibt es bereits im ›Urlicht‹ der Zweiten, wo unmittelbar vor der A-Dur-Rückung zu den Worten: »Da kam ein Engelein« eine nach dem Postulat dicht gefügten Fortgangs überflüssige halbe Note e komponiert ist. Besonders reich an solchen retardierenden Momenten das Finale »Wir genießen die himmlischen Freuden« aus der Vierten Symphonie; die Gesamtwirkung ist, als wäre es um zwei Viertel verschoben, als wäre die ganze Musik verspätet hinter sich zurück; zum Doppelbödigen der Empfindung trägt das sehr bei. Verwandte Wirkungen kennt noch der Satz ›Von der Schönheit‹ aus dem Lied von der Erde und der erste der Neunten Symphonie. Diese Stellen sind nicht etwa, wie manchmal expressiv überdehnte Töne bei Wagner oder gehaltene Akzentnoten Beethovens, Stauungen von Kraft, die deren Entladung motivieren, aber auch kein bloßes Innehalten, in dem die Bewegung sich beruhigt, sondern ein Drittes: Siegel der Dauer, des nicht von sich Loskommens der Musik. Die epische Formgesinnung der Mahlerschen Symphonik ist bis in die motivische Zelle gedrungen und weigert sich gewaltlos dem Weiterdrängen des dramatisch-symphonischen Wesens. Die Schwierigkeiten, solche Takte richtig zu interpretieren, so, daß sie ihren Sinn im symphonischen Verlauf gewinnen, ohne ihn von Formkategorien wie der der Spannung zu erborgen, die sie nicht meinen, sind außerordentlich. Fast könnte man denken, es sei die Probe auf Mahleraufführungen überhaupt, ob diese Momente gelingen.
Mahler hat, durch ihre Ausdehnung veranlaßt, ganze Symphonien im Großen nach dem Prinzip der Korrespondenz entworfen. So wird in der Fünften der Trauermarsch im zweiten Satz durchgeführt, ein Thema des Adagiettos im Finale, und zwischen den beiden insofern analog strukturierten Teilen ist das große Scherzo die Zäsur. Ähnlich sind durch den Marschrhythmus, durch die Harmoniefolge mit den Herdenglocken, durch einzelne Motivgestalten die Ecksätze der Sechsten weit inniger aufeinander bezogen als bloß in der Verwendung des Dur-Moll-Motivs. Motivisch-thematisch ist ein Hauptbestandteil vom ersten Thema sowohl wie der Einleitung und der Coda des Finales zugleich der Krebs des Kernmotivs des ersten Satzes: anstatt a-c-h-a: a-h-c-a. Schließlich teilen die beiden Sätze deutlich choralhafte Bläserstrophen in Halben, die zwar motivisch ganz voneinander verschieden sind, aber eben durchs Choralwesen doch einander entsprechen. Noch die Neunte arbeitet mit Symmetrie der großen Architektur. Erster und letzter Satz sind langsam; beide analog in der Dissoziation ihrer Schlußpartien. Die Entdeckung von filmähnlichen Techniken wie der des Zeitraffers – im Rondo der Fünften – und der Zeitlupe – in den Zitaten des Episodenthemas aus der Burleske der Neunten in deren Adagio – sind der Mahlerschen Komposition durch das Bedürfnis solcher Strukturierung im Großen zugute gekommen. Aber wie produktiv solche Funde auch später sich erwiesen, sie treten bei ihm zurück hinter dem Jetzt und Hier des Komponierten. Noch wird die Großarchitektur nicht vollends zur musikalischen Fiber, sondern umrahmt aufrißhaft die Details; die Korrespondenzen der Disposition freuen mehr den, der sie entdeckt, als daß sie gar zu viel Macht hätten über den lebendigen Sinn. An wenigem läßt die Differenz der optischen Künste von der Musik so scharf sich erkennen wie daran; über den Rang eines Malers, eines Architekten entscheiden eben die Maßnahmen, die bei Mahler gleichsam hinzugefügt waren. Lange noch in der neuen Musik haben Lehren, die man aus jenen Konstruktionen Mahlers zog, ein Nebengeräusch des Bastelnden behalten; erst in der jüngsten Phase wollen sie ganz eins werden mit der Komplexion der Musik selber. Das ist vielleicht das gewichtigste Zeugnis für die gegenwärtige Konvergenz von Malerei und Musik; Mahler aber war der erste, bei dem sie, nicht durch Klangmalerei, sondern durch den herrisch überschauenden Blick des Dirigenten auf die Leinwand der Komposition, sich ankündigte.
Je vertrauter man mit dem Werk Mahlers wird, desto deutlicher der Ursprung der rückläufigen Form, und damit der eines der zentralen Formimpulse der neuen Musik in ihm. Die Krebsdispositionen wollen der Konstruktion etwas von der Kraft zurückerstatten, die der offene Marsch ihr raubte. Schon die Neigung der Dritten, in der Durchführung die Themen der Exposition in umgekehrter Reihenfolge zu verarbeiten – verursacht wohl durch den Widerwillen gegen mechanische Wiederholung auch nur der abstrakten Formstruktur, vielleicht auch, um zwischen Expositionsende und Durchführungsanfang unmittelbaren Kontakt zu gewinnen –, verweist darauf; weiter geht das Finale der Sechsten Symphonie, dessen Reprise die Anordnung des ersten und zweiten Themenkomplexes vertauscht und diesen mit der wiederkehrenden Einleitung verschmilzt. Bis zum Selbstbewußtsein ist die krebsgängige Disposition getrieben im Adagiofinale der Neunten, wo die letzte Reprise in heftigem Ausbruch mit der zweiten Themenhälfte einsetzt und erst nach einem Moment äußerster Anspannung mit der ersten antwortet. Die Idee der Rückläufigkeit, als eine der großen Struktur und nicht der Materialbehandlung im Kleinen, dürfte Berg von Mahler ebenso empfangen haben wie von Schönbergs ›Mondfleck‹. Sein Verfahren ähnelt dem Mahlerschen auch darin, daß es ihm nicht so sehr um tongetreue Krebse geht – obwohl auch die bei ihm ihre erhebliche Rolle spielen – sondern um die retrograde Wirkung als solche; was dabei an konstruktiver Verbindlichkeit mangeln mag, wird von der Drastik des Erscheinenden wettgemacht. Hinter Mahlers Konzeption des Verfahrens steht aber ein ganz anderes als der Wille, Statik herzustellen, in welcher die Zeit widerrufen wird. Die krebsähnlichen Partien sind Formen des Zurückschauens, des Übergangs der musikalischen Gegenwart an die Erinnerung. Eine Formintention, die dann in den technischen Vorrat gelangt wie früher harmonische und farbliche Einzelvaleurs, ist auch bei Mahler zunächst aus dem Ausdrucksbedürfnis erzeugt worden. Es fand sich freilich von Anbeginn mit jener Aversion gegen musikalische Architektonik zusammen, die nicht ertragen kann, daß das Gleiche gleich wiederkehrt, als wäre nichts geschehen, während Musik ihre Ordnung doch nur hat an der Konsequenz aus dem, was geschieht. Ob aber mit der Transposition von jener Erfahrung in die Schicht des Materials nicht Entscheidendes vergessen ward, ist bis heute nicht entschieden.
Sagt tatsächlich bei Mahler jeder Formteil, jede Gestalt, jede Frage präzis, ohne Spur des Gleichgültigen das, was sie ist und was sie im Ganzen soll, so nötigt das den Komponisten, den topoi der überlieferten Formsprache der Symphonik ein solches Licht von innen aufzustecken, sie durch die Weise ihrer Behandlung derart zu aktivieren, daß sie noch einmal aufwachen zu dem, was sie einst sollten und was sie als topoi vergessen haben. Eine Vorstellung davon ist zu gewinnen an gewissen Instrumentationsmanieren aus der Spätphase. Ein topos, durch orchestrale Farbe Spannung zu erregen, etwa auf der Dominante, war der Paukenwirbel; mittlerweile schon so vernutzt, daß die Spannung ausbleibt oder zum spaßhaften Nachbild verkümmert. Mahler bedarf jenes Charakters, muß ihn aber umdenken, über sich hinaus steigern, damit er als neuer noch einmal wird, was er vielleicht an seinem ersten Tag im Wiener Klassizismus war. Er bewältigt das so einfach wie ingeniös: indem er gelegentlich in der Neunten Symphonie den Wirbel von der Pauke in die große Trommel verlegt. Diese ähnelt jenem Wirbel genug, um in der Erinnerung daran zu wirken. Zugleich aber hat die große Trommel, unbestimmter Tonhöhe, in Affinität zum bloßen Geräusch, etwas Undomestiziertes, dem musikalischen Kulturbezirk Fremdes und damit viel mehr von der Angst, die aus dem Paukenwirbel verdampfte. Was Konvention ward, wird Ereignis. Nichts anderes widerfährt bei Mahler den Konventionen insgesamt.
Wo Mahler, der herkömmlichen Idee dramatischer Integration zuliebe, am treuesten nach Sonatenweise gliedert, setzt die spezifische Formintention, das Antischematische nachdrücklich sich durch. Der Sinn der vorgezeichneten Komplexe ändert sich. Im ersten Satz der Sechsten gibt es einen orthodoxen Überleitungssatz. Der aber ist als Choral angelegt, also statisch und nicht, wie das Schema es erwartet, eigentlich vorwärts treibend; dabei durch dissonante Zusammenstöße verfärbt. Das hat sogleich seine Konsequenz für Aufbau und Verlauf. Der Choral kann nicht irgendwohin führen. Das auf ihn folgende, brutal blendende Seitensatzthema wird nicht durch ihn vermittelt. Gerade weil die Überleitung, die doch an der gewohnten Stelle steht, nicht in es mündet, überrascht es abrupt; verstärkt dadurch, daß nicht in es hinein moduliert ist, sondern daß auf das Choralende, die Dominante von d-moll, als Trugfortschreitung die Tonika von F-Dur folgt. Das Schlagende des zweiten Themas, Sensation als Charakter, liegt nicht bloß in ihm selbst, sondern resultiert zugleich aus der Formorganisation. Diese wird dann weiter davon tangiert. Der Überraschungseffekt läßt sich nicht wiederholen. In der Reprise erscheint das zweite Thema bloß in Fragmenten. So verfährt Mahler nicht selten in solchen symphonischen Sätzen, wo Themen als ungebrochene Melodien überdeutlich, zu sehr Teilganze waren. Das Epatante des Seitensatzes wird ihm an Ort und Stelle entzogen und erst in der Coda nachgeholt. Der Satz ist wie zum Trotz sonatenhaft, aber er richtet sich nach dem musikalischen Inhalt.
Manchmal glaubt man, Mahlers Gehalt ließe ganz einfach sich nennen: daß das Absolute gedacht, gefühlt, ersehnt werde und doch nicht sei. Er glaubt nicht dem ontologischen Gottesbeweis, den fast jegliche Musik vor ihm nachbetet. Alles könnte richtig sein und ist doch verloren: darauf reagiert sein zuckender Gestus. Aber wie armselig, abstrakt und falsch darum bleibt der dürre Spruch vor seinem Werk. In Mahlers Musik ist, was die weltanschauliche Formel verfehlt, indem sie es festnagelt, entfaltet und zugeeignet im Ganzen einer Erfahrung, die sich nicht an das punktuelle Urteil verrät. Dadurch erst reicht sein Wahrheitsgehalt an das Gefühl heran, hinter dem das Urteil so ohnmächtig zurückbleibt wie die Phrase vom Sinn des Lebens hinter diesem.
Daß der Ausdruck von Totenmasken trügt, weiß ich wohl: wovon man sich vorspiegelt, es wäre das letzte, wozu ein Leben physiognomisch sich zusammenfaßt, sei nur muskularen Veränderungen zuzuschreiben. Aber die Totenmaske Mahlers, die ich auf der Wiener Gedächtnisausstellung zum erstenmal sah, macht einem solche naturwissenschaftlichen Erwägungen schwer. Auch andere Totenmasken scheinen zu lächeln. Dazu jedoch gesellt sich, in dem zugleich leidend-zarten und befehlenden Antlitz, ein listig Triumphales, als wollte es sprechen: nun habe ich euch doch alle hinters Licht geführt. Hinter welches Licht? Spekulation könnte einen darauf bringen, die abgründige Trauer der letzten Werke hätte alle Hoffnung unterboten, um alle Illusion zu vermeiden; so als wäre Hoffnung das, was der Aberglaube ›etwas berufen‹ nennt; als werde dadurch, daß man hofft, das Erhoffte verhindert. Dürfte man nicht die Bahn der Desillusion, die in ihrer Entwicklung Mahlers Musik beschreibt wie keine andere, als List verstehen, nur nicht als die der Vernunft sondern der Hoffnung? Hat nicht am Ende der Jude Mahler das Bilderverbot noch auf die Hoffnung ausgedehnt? Daß die beiden letzten Werke, die er abschloß, nicht schließen, sondern offen bleiben, übersetzt das Ungewisse zwischen der Vernichtung und dem Anderen in Musik.