Altenberglieder
Mit den Fünf Orchesterliedern nach Ansichtskarten-Texten von Peter Altenberg, op. 4, die 1912 geschrieben wurden, beschäftigte sich in dem Bergbuch von 1937 Ernst Krenek. Sein Beitrag ist heute noch überaus lesenswert, sowohl wegen der Erfahrungen an den Kompositionen, die er spontan anmeldet, wie wegen mancher Modifikationen, zu denen jüngste Aufführungen der unterdessen wiederentdeckten Lieder nötigen. Sucht man nach einem drastischen Beleg für die These, daß in der Zeit Musik sich in sich selbst verändere, dann bietet ihn dies op. 4. Man wird dessen Genialität nicht herabmindern durch die Konstatierung, daß der Schock, der bei der Premiere Skandal verursachte und den noch Krenek hervorhob, in den Jahren seit Bergs Tod zerging, ähnlich übrigens wie bei Kreneks eigenen Jugendkompositionen. Dagegen ist die »Färbung von Klassizität«, auf die jener ebenfalls aufmerksam machte, als eine wahrer Sachautorität bestätigt worden. In einer Aufführung im Hessischen Rundfunk im Mai 1967, in der unter Michael Gielen Heather Harper die Lieder inmitten eines Programms späterer Komponisten sang, wirkten sie so zwingend wie sonst Stücke von Webern in der Umgebung von nach 1945 Entstandenem. Verantwortlich dafür ist sicherlich primär der Klang. Kaum vorstellbar, daß ein Komponist in seinem ersten Orchesterwerk, also ohne all das, was einem fatalen Kompliment Routine heißt, eine solche Perfektion und Ausgewogenheit der sinnlichen Erscheinung erreichte; die ehedem berüchtigten Extravaganzen waren damals schon mühelos dem Spiegel integriert. Kreneks Hinweis auf die »Zerstörung geordneter Tonbezirksgrenzen« durch Glissandi von Streicher-Flageoletts, solche der Posaunen, das später von Bartók ausgenutzte Herabstimmen der Pauken während eines Wirbels regten seinerzeit im ›Doktor Faustus‹ zur Beschreibung gewisser Eigentümlichkeiten des Leverkühnschen Stils an; erstaunlich, wie sehr all das heute der Totale sich einfügt, wie wenig es heraussticht. Der Satz Cocteaus, ein Künstler müsse wissen, wie weit er zu weit gehen dürfe, wird von dem Riesenorchester der Miniaturen verifiziert. Das ist in erster Linie Verdienst der außerordentlichen Genauigkeit der instrumentalen Imagination. Kein sei's noch so exponierter Mischklang steht in der Partitur, der nicht durchs innere Ohr hindurchgegangen wäre; nirgends wird experimentiert derart, daß das Erklingende der kompositorischen Kontrolle entliefe. Wenn die gegenwärtige Produktion vielfach diesem Verfahren absagt, so ist der Grund nicht stets, daß man ihm überlegen wäre, sondern häufig, daß man dem technischen Vermögen nach diesseits der Forderung jener Kontrolle sich befindet: sie so zu lockern legitimierte sich erst dort, wo sie einmal vorhanden und als negierte zu fühlen ist.
Weiter hilft den Liedern ein Verfahren, das man mit Technik der Vorbereitung bezeichnen könnte. So wie nach den Regeln des strengen Satzes aus dem sechzehnten Jahrhundert Dissonanzen nur unter rigorosen Bedingungen zugelassen waren, die alle auf die Motivation ihres Eintritts unterm Primat des reinen Dreiklangs sich beziehen, ergeht es in jener Phase Bergs den Klangdissonanzen und analog, bis zu einem gewissen Grad, auch den harmonischen. Zwar schreckt er damals schon vor keiner exzessiven Kombination zurück, aber er motiviert eine jede. Nichts wird einfach gesetzt, alles herbeigeführt, so als bereite der Moment, in dem ein ästhetisches Phänomen auftritt, als kritischer von ästhetischer Stilisierung überhaupt, unüberwindliche Schwierigkeiten. Gewachsen ist ihnen nur eine Behutsamkeit, die dem Exzeß gleichkommt. Prousts Prosa kannte dieselbe Schwierigkeit; heute hat sie sich zu der verstärkt, überhaupt mit Ästhetischem, einem Fiktiven, herauszurücken. Die Behutsamkeit Bergs überträgt in den Altenbergliedern den Vorrang des Werdens über das Sein auch auf die Klangdimension. Die Farben werden nicht wie Gegebenheiten hingepinselt sondern entwickelt; durch den Prozeß, in dem sie sich bilden, begründen sie sich erst. So wird der letzte Teil des ersten Liedes von einem liegenden Akkord des Harmoniums e-h-f definiert, der schon im ersten Takt im Klavier versteckt war und dann chromatisch weiterglitt. Muster wären in manchen etwa gleichzeitigen Stücken von Schönberg nachzuweisen. Aber der Akkord setzt im dritten Teil unter einem Tutti-Fortissimo unhörbar ein und gelangt erst durch Subtraktion, durchs Erlöschen aller anderen artikulierten Ereignisse in den Vordergrund. Dabei qualifiziert er sich doch als längst Vorhandenes. Zarteste Vorsicht ist in den Altenbergliedern Äquivalent der Verwegenheit.
Berg gemäß wäre es, die Ausgewogenheit der Lieder zusammenzudenken mit der Form des gesamten Zyklus; auf die Makrostruktur hat der mikrologische Komponist den größten Wert gelegt. Der Bau des Ganzen wird, wie in einem sonatenähnlichen Gebilde, von zwei etwas ausführlicheren und vor allem: in sich dynamisch entfalteten Sätzen am Anfang und am Ende zusammengehalten; beim früheren Webern gibt es Verwandtes, wie denn überhaupt die Altenberglieder in manchem dem Verfahren von Bergs Freund innerhalb seines oeuvres am dichtesten sich nähern.
Das erste Stück gehorcht rudimentär einem Formgesetz, das Berg dann häufiger befolgt: Kompositionen werden stetig aus dem Amorphen, bei gleichzeitiger dynamischer Steigerung, ins Artikulierte geleitet und dann wiederum, zuweilen mit Akten der Zertrümmerung, ins Unbestimmte zurück. Diese Verfahrungsweise enthält vor allen Reihenveranstaltungen die Idee des Krebsgängigen teleologisch in sich, so wenig im übrigen auch der dritte Teil jenes Lieds als tatsächliche krebsgängige Reprise beansprucht werden kann. – Das letzte Lied ist eine Passacaglia und bekennt sich, wie die ›Nacht‹ des Pierrot Lunaire, ausdrücklich als solche. Die gebundene Form, die Schönberg und Berg aus Freiheit wählten, veranlaßt im Satz und in der gesamten Faktur zu geschlossenerer, minder aufgelöster, auch vertrauterer Gestaltung. Daher jene schließende Kraft, die in der prinzipiell offenen neuen Musik stets wieder aufs neue erstrebt wird. Kaum ist das Schlußproblem ganz zu bewältigen, nirgends zu vernachlässigen. Der Preis, den die Passacaglia zu entrichten hat, ist ihr leiser Unterschied vom Stil der übrigen Lieder, analog etwa zum Verhältnis des letzten Liedes aus Weberns op. 3 zu den vorhergehenden. Die drei mittleren Stücke sind weit kürzer als die Ecklieder.
Die von Krenek betonte »Wirrnis« der langen Instrumentaleinleitung des ersten Liedes – es ist, als wollte ihr Umfang den außerordentlichen Aufwand an Orchestermitteln rechtfertigen – herrscht nach dreißig Jahren nicht länger. Sie erweist sich als gemeistert von allmählich sich erweiternden, aber durchgehaltenen Ostinato-Komplexen, die in der Vertikale metrisch differieren und mit der Takteinteilung nicht zusammenfallen. Vom neunten Takt an heben sich expressive Melodie-Ansätze ein wenig ab. Auffallend die Ähnlichkeit der Idee des Klangdessins mit der am Anfang des Vorspiels zu Schrekers ›Gezeichneten‹, nur daß das doch wohl früher geschriebene Stück Bergs im Gebrauch der Dissonanz viel weiter geht als Schreker mit seinen polytonal getrübten Dreiklängen; selten jedoch ist eine gewisse Affinität der beiden so greifbar wie hier1. Um so relevanter sind die Unterschiede. Hier wie dort handelt es sich um Mischklänge. Der Schrekersche tilgt in seiner irisierenden Totalität virtuell die Einzelfarben, nur wie momentane Reflexe innerhalb eines homogenen Klangs werden sie fühlbar. Der Bergsche Mischklang dagegen, dem Vorbild des Farbenstücks aus op. 16 von Schönberg verpflichtet, hat sein Wesen daran, daß die simultan gegeneinander gesetzten Farben zwar ebenfalls zur Totale verschmelzen, gleichzeitig indessen inhomogen, selbständig übereinander bestehen bleiben: Mischklang ohne Mischung. Schwerlich wäre es bloße Analogie zu Stufen der Malerei, das Schrekersche Verfahren spätimpressionistisch, das Bergsche frühexpressionistisch zu nennen. Weit tiefer ist die Introduktion des ersten Altenberglieds von kammermusikalischer Erfahrung tingiert als die Schrekersche Konzeption, bei der, nach Schrekers eigener Äußerung, das Orchester als einziges Instrument gelten soll. Demgegenüber zeigt sich die für Bergs kompositorische Verhaltensweise und Technik insgesamt entscheidende Dissoziationstendenz bis in die Instrumentation hinein, zumindest in der seiner früheren Werke. Der Klang möchte wie die motivisch-thematische Gestaltung in seine Elemente zurück. Planmäßige Desorganisation wird zur Organisation; solche distinkte Absicht macht jene achtzehn Instrumentaltakte zu etwas anderem als dem Chaotischen, als das sie zuerst erschienen.
Besonderer Aufmerksamkeit wert ist, nach dem, was musikalisch seit 1945 geschah, der Eintritt der Singstimme. Ihr erster Ton ist mit leicht geschlossenen Lippen, ihr zweiter mit halb offenem Mund »wie ein Hauch an- und abzusetzen«; erst der dritte, auf den das erste Textwort fällt, wird im üblichen Sinn gesungen: rudimentäre, dreistufige Klangfarbenreihe, die spätere Einbeziehung des Farbparameters ins serielle Verfahren antezipierend. Veranlaßt wird die Farbenreihe durchs Prinzip des Differentials. Da Berg sich gleichsam schämt, die Singstimme anheben zu lassen, als dürfe Gesang nicht so umstandslos laut werden, muß er ihn wie aus einem vormusikalischen Bereich erst heraufholen. Das wiederum darf nicht gewaltsam geschehen, sondern unwillkürliche Kontinuität mit dem Artifiziellen ist zu wahren. Unter den Linien, die dann im Zwölfton- und im seriellen Verfahren konvergieren, ist jene für Berg spezifisch; schon am Anfang der Orchesterstücke op. 6 handhabt er sie nachdrücklich als Kunstmittel. Seine Kompositionsweise setzt sich zur Regel: musica non facit saltus; das veranlaßt in sämtlichen Dimensionen Reihungen ineinander übergehender Einzelereignisse. Wird einmal vom Infinitesimalprinzip abgesehen, so resultiert wie von selbst Serienähnliches. Auf dasselbe Phänomen bei der Behandlung der Klangfarben ist Kolisch in seiner Analyse der Bergschen Streichertechnik im Allegro misterioso der Lyrischen Suite aufmerksam geworden.
Die drei mittleren Lieder sind abermals untereinander in ein architektonisches Verhältnis gerückt. Das ganz kurze ›Siehst du nach dem Gewitterregen‹ kann drastische Gliederungen, außer der Fermate auf einem Akkord im Zentrum, entbehren; allerdings wird bei Takt 8 ein Motiv des zweiten Takts von der Singstimme aufgegriffen, von den Celli imitiert und dadurch eine rudimentäre Reprisenwirkung erzielt; auch das schließende f der Solokontrabässe erinnert an das f, mit dem im zweiten Takt die Instrumentalbegleitung beginnt. Die Gesamtstruktur des Lieds ist die der Schürzung eines Knotens, parallel zur Technik Weberns aus denselben Jahren. Im fünften Takt entfernt sich die Singstimme mit einem koloraturähnlichen Melisma vom Wagnerschen Gebot natürlicher Deklamation; erst der ›Marteau sans maître‹ von Boulez brachte wieder Ähnliches.
Bergs Formgefühl beantwortet dies Lied im folgenden, dritten, mit etwas festerem Gefüge auf kleinstem Raum. Die Zwölftonkomplexe zu Anfang und Ende sind berühmt geworden. Instrumental bildet sich das Begleitsystem des äußerst knappen Mittelteils aus einem Rest, der Sext in einer Oboenmelodie. Die quasimelodische Zerlegung der zwölftönigen Anfangsharmonie am Ende visiert ein wesentliches Moment der Zwölftontechnik, die Identität von Vertikale und Horizontale. Dabei wird, vom Standpunkt der entwickelten Zwölftontechnik aus gesehen, recht einfach prozediert, wie denn überhaupt die Faktur der Lieder, im Widerspruch zur Instrumentation als dem Hauptereignis, einiger Simplizität sich befleißigt. Man sollte das jedoch nicht eilfertig damit erklären, daß das dritte Lied eine frühe Vorform der Zwölftonkomposition darstelle. Berg hat, auch als er dann mit voller Konsequenz zwölftönig schrieb, an der immanenten Verfeinerung des Reihenverfahrens sich nicht sonderlich interessiert. Gelegentlich, etwa in der Lyrischen Suite, hat man ihn des zwölftönigen Primitivismus bezichtigt. Zu Unrecht. Denn die Intention zumal des Dramatikers Berg ging dahin, zwar durch die Zwölftontechnik das Rohmaterial zu organisieren, aber es doch so frei zu halten, daß es dem Bedürfnis von Ausdruck und subjektiver Nuancierung völlig sich anschmiegte. Das hätte rücksichtslose zwölftönige Durchformung, hätte die Webernsche Präponderanz des Reihenverfahrens, gar der Versuch, aus der Reihe ihrerseits Zusammenhänge und Formen herauszulesen, schwerlich geduldet. Bergs Toleranz in der Reihendimension schafft Raum für äußerste Differenziertheit in allen anderen. Das wohl ist die eigentliche technische Divergenz zwischen ihm und den beiden anderen Wiener Meistern in ihrer reifen Zeit. Soweit Berg Fragen der Reihenstruktur seine Aufmerksamkeit zuwandte, trachtete er mehr nach ihrer Flexibilität zugunsten der kompositorischen Absicht, als daß er die Absicht nach der Reihenstruktur gerichtet hätte.
Das vierte Lied wiederum ist weniger durchkonstruiert, lockerer, improvisatorischer, doch so, als gedächte es der Bestimmtheit des dritten, im Gegensatz zum aphoristischen zweiten: Schulfall des äußerst dicht, chromatisch ineinander gearbeiteten, minimale Ansätze ausnützenden Stils Bergs. Es neigt zu kunstvoll verwischten Oktaven- oder Einklangsführungen. Das Mittel ist ursprünglich der asiatischen Musik entlehnt; Berg mochte es von Schönbergs ›Hängenden Gärten‹ kennen, dort dürfte es sich von den Chinoiserien des Lieds von der Erde herleiten. Ungemein subtil wird das vierte Lied zusammengeschlossen durch die Gestalt der Melodiebögen. Im ersten Teil, bis zum Ritardando vom fünfzehnten Takt, steigen die Kurven tendenziell an, dann senken sie sich, am Schluß deutlich in der Singstimme. Die Wirkung ist die einer Art Umkehrung des Ganzen, freilich nicht durch wörtlich-motivische Tatbestände sondern durch die Gesamtstruktur, prototypisch für spätere große Sätze Bergs wie das Adagio des Kammerkonzerts. Die Tendenz zur Selbstzurücknahme des Lieds wird schon im ersten Teil vorbereitet. Während noch die ansteigenden Phrasenansätze sich fortsetzen, wird im neunten Takt ein Ostinatoklang erreicht, der bis zur Wendestelle des Lieds beharrt, so daß schon sehr früh harmonisch eigentlich nichts mehr geschieht; der Fortgang ist suspendiert. Diese Wirkung hat ihre Konsequenz im zweiten Teil, dessen letzte Flötentöne offen Bezug auf den Anfang nehmen; sie variiert sich wiederholt. Unmöglich wäre es gewesen, in einem solchen Gebilde einmal den harmonischen Fortgang stillzustellen, ohne daß das im Verlauf weiterwirkte. Vom zweiundzwanzigsten Takt an gibt es abermals einen liegenden Klang oder, besser gesagt, einen Leitakkord, so wie Schönberg in der Periode der freien Atonalität gelegentlich verfuhr um der Synthesis von Harmonik und Formbildung willen. Insgesamt wären die mittleren Lieder als ein in sich dreigegliedertes Intermezzo aufzufassen, das von der reinen Improvisation über äußerste Strenge zu einem Gebilde führt, das beide Kompositionstypen andeutend zusammenbringt.
Die Passacaglia, in der die Kritik am überkommenen Idiom sich mildert, bezieht sich auch offener auf die Tonalität als die anderen Lieder, so als bedürfte das spezifisch expressive Element, das hier alles andere überwiegt, noch des Rückgriffs auf den tonalen Vorstellungsschatz. Dadurch formieren sich Takte, um Ziffer 8, die nach Komplexion und Ton den Durchblick auf die Alwamusik, den ersten Satz der Lulusymphonie öffnen.
Fußnoten
1 Auch an strukturellen Querverbindungen zu Schreker mangelt es nicht. In den großen duettierenden Partien von Alwa und Lulu kehren manche Motivkomplexe, Gleiches inmitten des Ungleichen, unersättlich fast wieder; ebenso in der Atelierszene der ›Gezeichneten‹.