Zum Studium der Philosophie
1. Daß der Philosophie Studierende nicht weiß, womit er beginnen soll; daß er keinen geordneten Studienplan vorfindet; daß pädagogische Kategorien wie die von Anfängern und Fortgeschrittenen so wenig zur Orientierung helfen, ist Anzeichen nicht sowohl mangelnder Organisation und Disziplin des Sachgebiets als Ausdruck dessen, daß Philosophie eigentlich gar kein vorgegebenes Sachgebiet kennt, das aufzubereiten und fortschreitend zu kommunizieren wäre. Nicht nur weichen die historisch auseinanderliegenden und selbst die gleichzeitigen Philosophien derart voneinander ab, daß ihre Präsentation im Lehrsystem unmöglich ist oder auf die dünnste Abstraktion hinausläuft. Sondern die Begriffe selbst, die von der Forderung eines Fortschreitens vom Leichten zum Schwierigen stillschweigend angenommen werden, sind ausnahmslos problematisch: sie unterstehen der philosophischen Kritik. Leichte und schwere Philosophien gibt es überhaupt nicht; dem Ansatz nach leichte, im Vortrag der vertrauten Sprache ähnelnde verbergen zuweilen die äußerste Anstrengung des Gedankens, während umgekehrt gewisse terminologisch verschalte Texte dem leicht zufallen, der einmal das Prinzip begriffen hat. Darüber hinaus präjudiziert die Vorstellung, es müsse von einem Ersten, einfach Gewissen ausgegangen werden, auf dem alles Weitere durchsichtig sich aufbaue, bereits die Entscheidung von Fragen, die einzig in der Philosophie selbst geschlichtet werden können. Vollends der Begriff der Voraussetzungslosigkeit ist ein Phantasma und von keiner Philosophie je eingelöst. Wer sich mit der Philosophie einläßt, muß selbst die Voraussetzungslosigkeit draußen lassen. Scheinbar einleuchtende Maßstäbe wie Klarheit und Deutlichkeit, Lückenlosigkeit der Beweisführung, Zurückführung des Komplexen aufs Elementare, Vollständigkeit und deduktive Geschlossenheit sind nicht umsonst der Niederschlag einer historischen Philosophie, der Cartesianischen Methode. Verläßt man sich blind auf sie, so verbaut man sich bereits die Besinnung über das, worauf es ankäme. Verzicht auf jene Maßstäbe jedoch, die wilde Jagd nach dem Ursprung, verirrt sich erst recht in einer dogmatischen Situation. Alle plausiblen Desiderate, mit denen das unbefangene Bewußtsein in die Philosophie eintritt, gehen davon aus, daß ihr Gegenstand in seiner begrifflichen Ordnung sich erschöpft und daß darum seine Darstellung einer begrifflichen Hierarchie entspricht: eben darüber zu reflektieren ist Sache der Philosophie. Kurz, es geziemt der Philosophie gegenüber nichts anderes, als sich ihr zunächst ohne Autoritätsglauben, aber auch ohne ihr durch starre Ansprüche vorauszueilen, auszuliefern und dabei dennoch des eigenen Gedankens mächtig zu bleiben. Dafür gibt es keine Anweisung, nur allenfalls bescheidene Hinweise.
2. Wer eine Philosophie verstehen will, muß ihr zunächst etwas vorgeben. Bei den Einzelwissenschaften versteht sich das von selbst, unter Philosophie Studierenden neigt gerade der Redliche dazu, diesen Anspruch zu verweigern. Aber es findet sich überhaupt kein Denken, in dem nicht Elemente enthalten wären, die es keineswegs selbst zu begründen oder aufzulösen vermag, oder wenigstens: deren Legitimierung nicht erst am Ganzen und nicht am Eingang geleistet würde; und es ist fragwürdig, ob die Philosophien die wahrsten sind, bei denen die Rechnung am besten aufgeht, die von Widersprüchen freiesten. Konzediert man Kant nicht zunächst einmal, daß eigentliche Erkenntnis solche gesetzmäßiger Zusammenhänge sei und zum Kriterium Allgemeinheit und Notwendigkeit habe, und weiter, daß die mathematischen Naturwissenschaften solche Erkenntnis tatsächlich enthalten, wird man das System nicht erfassen; aber wer es einmal erfaßt hat, wird auch einsehen, warum der gesetzlichen Allgemeinheit jene zentrale Stelle darin zufällt. Das Studium der Philosophie erfordert also eine besondere Art von Geduld: sie öffnet sich nur einem Verständnis, das nicht in jedem Augenblick alles schon zu verstehen beansprucht.
3. Praktisch heißt das nichts anderes, als daß man am besten einmal einen philosophischen Text sich aussucht, zu dem man sich hingezogen fühlt, und ihn liest, auch wenn man zunächst darin nicht alles versteht. Manches erklärt sich durch Insistenz. Wo man liebt, versteht man. Intelligenz ist kein abgespaltenes Vermögen der Seele, sondern verflochten mit dem, was einen bewegt, was man will. Die Kraft des Beharrens vor dem Gedanken geht weit hinaus über das, was die sogenannte Bildung beistellt. Wenn der amerikanische Soziologe Veblen auf die Frage, wie er alle möglichen fremden Sprachen erlernt habe, antwortete, er hätte ein jedes Wort solange angeblickt, bis ihm seine Bedeutung aufgeblitzt wäre, so ist das ein Modell philosophischen Verhaltens: durch Versenkung ins Einzelne den ganzen Gedanken zu verstehen und nicht bloß den einzelnen Begriff. Der Anfänger verschanzt seinen Widerstand oft hinter dem Vorwurf der Geheimsprache. Aber die Zahl der Termini, die in der Philosophie gewußt werden müssen, ist bescheiden, über die wichtigsten unterrichtet jedes Wörterbuch, und ihre spezifische Differenz entnimmt man einzig aus dem je zu lesenden Text. Wo aber die Insistenz nicht genügt, soll man lieber weiter lesen: meist erhellt sich das Dunkle dem Zurückblickenden. Überhaupt soll man sich vor statischen Vorstellungen vom Verstehen hüten. Philosophische Texte haben keine dinghaft fixierten Bedeutungen, sondern sind, darin den Kunstwerken ähnlich, Kraftfelder und prinzipiell unerschöpflich; je besser man sie kennt, desto mehr geben sie her, und das wiederholte Lesen ist unabdingbar. Wenn Nietzsche, der sich die klügsten Leser wünschte, zugleich Wert auf solche legte, die des Wiederkäuens fähig sind, so ist das nicht einer jener Widersprüche, welche die Pedanterie ihm anzukreiden pflegt, sondern trifft genau die Spannung, in der man Philosophie sich aneignen kann: die zwischen der hellsten Konzentration im Augenblick und der langwierigen und oftmals gar nicht so bewußten Übung.
4. Gar nicht schlimm ist es, wenn man etwas nicht versteht, und keiner braucht sich dessen zu schämen in einer Welt, die von innen und außen die Kräfte der Konzentration einspart und unterhöhlt, auf welche Philosophie, darin ein archaisches Handwerk, nun einmal verwiesen ist. Schlimm aber ist es, wenn man nicht merkt, daß man etwas nicht versteht. Gerade die Philosophie verführt dazu, durch den magischen Effekt der Worte das Verständnis zu ersetzen. Äußerste Wachsamkeit ist geboten: das nicht Verstandene muß man sich notieren, darüber nachdenken, danach fragen, anstatt wolkige Stellen für Offenbarungen des wahren Ideenhimmels zu halten. Gut ist es, dergleichen Passagen einmal ein paar Tage liegen zu lassen, zu vergessen und dann wieder vorzunehmen. Oftmals zog man sie gewaltsam ins eigene Assoziationsfeld und hat sich dadurch dem versperrt, was sie von sich aus sagen, während sie, frisch betrachtet, sich anders und nun durchsichtig erweisen. Bei Kant etwa kommen die Schwierigkeiten zuweilen aus der Architektonik und nicht aus der Sache; davon soll man sich dann nicht terrorisieren lassen, sondern sich an dem großen Gedankengang orientieren. Es gibt in der Philosophie nicht nur die Gefahr des Vagen, Unbestimmten, vom spezifischen Gedanken zu weit Distanzierten, sondern auch eine des Zu nah. Wer lernen will, indem er die Sache nochmals hervorbringt, muß der Strenge stets ein Moment der Liberalität beigesellen. Denn in der Philosophie ist alles wörtlich und doch nicht ganz wörtlich.
5. Ist es keine Schande, etwas nicht zu verstehen, soll man doch auch nicht stolz sein auf Unverständnis. Der Satz Lichtenbergs, daß, wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es einen hohlen Klang gibt, nicht immer das Buch die Schuld trage, gilt unverändert, während unterdessen die Neigung sich verbreitet hat, das, was man nicht versteht, für gerichtet zu halten. Kommunikation ist nicht ein Kriterium, sondern ein Thema der Philosophie. Begriffe wie die des Mystischen, der Intuition, der Irrationalität, wofern sie nicht das Unwahre, sondern bloß das Ungewohnte und Anstrengende abwerten, helfen nicht der Vernunft, sondern dem Obskurantismus, auch wenn sie auf ihre unbestechliche Wissenschaftlichkeit pochen. Aktuell sind die Formulierungen des alten Kant gegen die Popularphilosophie seiner Zeit, deren Erben sich heutzutage pharisäisch als Hüter der Redlichkeit und Besonnenheit aufspielen: »Die Buchmacherei ist kein unbedeutender Erwerbszweig in einem der Kultur nach schon weit fortgeschrittenen gemeinen Wesen: wo die Leserei zum beinahe unentbehrlichen und allgemeinen Bedürfnis geworden ist. – Dieser Teil der Industrie in einem Lande aber gewinnt dadurch ungemein: wenn jene fabrikmäßig getrieben wird; welches aber nicht anders als durch einen den Geschmack des Publikums und die Geschicklichkeit jedes dabei anzustellenden Fabrikanten zu beurteilen und zu bezahlen vermögender Verleger geschehen kann. – Dieser bedarf aber zur Belebung seiner Verlagshandlung eben nicht den inneren Gehalt und Wert der von ihm verlegten Ware in Betracht zu ziehen: wohl aber den Markt, worauf, und die Liebhaberei des Tages, wozu die allenfalls ephemerischen Produkte der Buchdruckerpresse in lebhaften Umlauf gebracht und, wenngleich nicht dauerhaften, doch geschwinden Abgang finden können.«
6. Seit nun bald 200 Jahren hat die große Philosophie das Diktat der verbalen Definitionen gebrochen, die, säkularisiertes scholastisches Erbe, noch die rationalistische Metaphysik beherrschten. Kritisches Philosophieren heißt wesentlich: nicht aus bloßen Begriffen schließen, sondern die tragenden Beziehungen zwischen Begriffen und dem durchdenken, worauf sie gehen. Die Kantische Kritik des ontologischen Gottesbeweises bezeichnet den Durchbruch dieser Intention in der deutschen Philosophie, und Hegel, in dem so viele Kantische Motive zu sich selbst kommen, hat im dritten Teil der Logik das definitorische Verfahren seiner Äußerlichkeit überführt (WW ed. Glockner, 5. Bd. S. 289ff., bes. S. 293). Die gängige Wissenschaftslogik hat daran vergessen: seit der verhängnisvollen Abspaltung der Einzelwissenschaften von der Philosophie ist in jenen der Glaube an Definitionen auferstanden und wird mit der Forderung nach Strenge und Lauterkeit verwechselt. Daher trägt denn der einzelwissenschaftlich Geschulte an die Philosophie vielfach ein Bedürfnis nach Definitionen heran, wie sie etwa vor 300 Jahren am Anfang von Spinozas Ethik standen, und ist enttäuscht, wenn sie ihm versagt werden. Ihn bestärken darin Tendenzen des zeitgenössischen Positivismus, welche die wissenschaftliche Verfahrungsweise ungebrochen auf die Philosophie übertragen, während gerade das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie Selbstbesinnung erheischt. Definitionen sind nicht umsonst in ›Sachgebieten‹ zu Hause. Sie beziehen sich allemal auf ein bereits Konstituiertes, auf den verdinglichten Abguß der lebendig vollzogenen Einsicht, während es an der Philosophie ist, eben den Spielregeln verdinglichten Bewußtseins nicht zu folgen, sondern die geronnenen begrifflichen Formen aufs neue in Fluß zu bringen. Daß das nicht improvisatorische Willkür sanktioniert, vielmehr eine geistige Freiheit meint, welche die Begriffe festhält, ohne sich doch auf sie festnageln zu lassen, ist wohl am schwersten zu lernen: die Einheit von Strenge und Phantasie. Oberste Tugend der Philosophie ist intellektuelle Zivilcourage. Nie darf sie bei einem bereits Etablierten, wie es in den Definitionen sich niederschlägt, Deckung suchen. Der Verzicht darauf mag am Ende sogar mit Definitionen belohnt werden. Aber erst die entfaltete Philosophie bewegt sich der Lehre zu.
7. Die Forderung, etwas vorzugeben und Geduld zu haben, ist nicht bloß für den der Philosophie noch Fremden eine Zumutung, sondern hat in der Tat auch ihren fragwürdigen Aspekt. Sie kann dazu verleiten, die Philosophie selber als Spezialwissenschaft, als Branche zu betreiben und, durch Anerkennung ihres Sonderwesens, des kritischen Impulses, der eigenen Unbeirrtheit und Autonomie sich zu entäußern. Hält man sich einem Denkgebilde von der fast unwiderstehlichen Gewalt Hegels gegenüber wirklich daran, daß das Ganze das Wahre sei, und drängt man, um des Ganzen sich zu versichern, die ungezählten Einwände zurück, denen alles Einzelne darin sich aussetzt, so identifiziert man allzu leicht, sobald das Ganze einmal gegenwärtig ist, die Freude darüber mit der Wahrheit. Hegel stellt zunächst vor die Wahl zwischen Selbstpreisgabe und Unverständnis. Mit solchen Aporien fertig zu werden, bedarf es der Geistesgegenwart: man muß ans Ganze und an den Augenblick, an die Präzision der Aussage und ihren Stellenwert in der Konstruktion zugleich denken – ja man muß stets zugleich in der Sache, als ein ihr Hingegebener, und außerhalb der Sache, als ein kritisch Distanzierter sein. In diese Maxime läßt sich vielleicht die schockierende These der Hegelschen Phänomenologie, daß die dialektische Bewegung ebenso im Innern des Objekts wie im betrachtenden Bewußtsein stattfinde, übersetzen. Philosophische Bewegung heißt Beweglichkeit: sich nicht dumm machen lassen, sich nicht selbst verdummen. Heute wirkt die Denkkontrolle dahin, daß man mit der Miene der Verantwortung für jeden Satz die Spekulation sich verbietet und an eben der Stelle, an der sie fällig wäre, sich enger und beschränkter macht, als man es irgendwo in der empirischen Existenz wäre. Der philosophische Geist aber möchte, daß man noch in die Besinnung über die scheinbar speziellsten Gegenstände der Logik und Erkenntnistheorie all das an Kraft hineinwirft, was der lebendig Erfahrende jenseits der Arbeitsteilung weiß: in der Fähigkeit dazu beruht der unvergleichliche Rang Hegels wie Nietzsches, und wer sie sich verkümmern läßt, resigniert als Sachverständiger. Auch die philologische Treue bleibt bloßes Surrogat für jene Qualität. Die Frage nach der Wahrheit läßt sich nicht durch hermeneutische Vorbereitungen vertagen, wenn sie nicht vergessen werden soll. Der Philosophierende muß also nicht bloß der Philosophie alles vorgeben, sondern darf ihr doch wieder auch nichts vorgeben. Daß die unbedingte Aufgeschlossenheit des Gedankens mit der unbestechlichen Kraft des Urteils sich paare, schwang mit, als die Philosophen dem Geist die paradoxe Fähigkeit spontaner Rezeptivität zuschrieben.
8. Unausrottbar scheint die Vorstellung, daß, da es nun einmal dem philosophischen Denken an eindeutigem und bündigem Fortschritt mangelt, wie ihn die Naturwissenschaften aufweisen, die Philosophie eine Musterkarte von Systemen präsentiere, deren jedes eine mehr oder minder einstimmige und befriedigende Welterklärung liefere, und aus der man sich das aussuchen könne, was dem eigenen geistigen Naturell am besten zusagt. Diese Vorstellung hat viel Schuld daran, daß die Philosophie zur neutralisierten, unverbindlichen Weltanschauung verkam. Die Spannung von Philosophie und Wissenschaft degeneriert zum Dispens von der Verpflichtung der Erkenntnis auf die Wahrheit; Philosophie soll sich dem je Erkennenden anpassen, der die Freiheit des Gedankens mit der Reservatssphäre unbekümmerten Drauflosdenkens verwechselt. Dies Verhalten der Philosophie gegenüber, das allein es ermöglichte, daß die nationalsozialistischen Pronunciamentos ihre Adepten fanden, ist relativistisch, auch wenn der Inhalt der jeweils bezogenen Standpunktsphilosophie absolutistisch ist. Aus kulturpolitischen Erwägungen für eine Philosophie mit Bindungen optieren, weil es heilsam sei, Bindungen zu haben, verstärkt eben den Subjektivismus, den der Entschlossene zu überwinden sich einbildet. Daß seit Kant, sicherlich seit Hegel, die Philosophen, die es waren, das Standpunktdenken nicht bloß verhöhnt, sondern seiner Beschränktheit und Einseitigkeit überführt, daß sie an der Geschichte der Philosophie die Einheit ihrer die einzelnen Systeme übersteigenden Probleme dargetan haben, prallt ohnmächtig von denen ab, die sich an etwas Handfestes halten wollen und sich nicht glücklich fühlen, wenn sie sich nicht in eine approbierte Schule einreihen können. Die neuerdings verstärkte Neigung zur Subsumtion alles Erscheinenden unter seinen Gattungsbegriff kommt dem entgegen; gern bestimmen sie sich selber als Exponenten einer bereits eingeschliffenen Parole und reden den erschütterten Jargon der Begegnung mit dem Nichts oder dem Sein. Das führt dann zu der im letzten Jahr ad nauseam wiedergekäuten Frage, ob Kant noch zeitgemäß sei, ob er uns, nämlich jenen, noch etwas zu sagen habe, als müßte er sich den intellektuellen Bedürfnissen einer vom Kino und den illustrierten Zeitungen präparierten Menschheit anpassen und als müßte nicht diese vielmehr erst einmal auf die ihnen aufgezwungenen lieben Gewohnheiten verzichten, ehe sie sich anmaßt, die Vitalität dessen zu begutachten, der den Traktat vom ewigen Frieden schrieb. Stets sind sie bereit zur Phrase ›von meinem Standpunkt aus‹. Indem diese konziliant die Möglichkeit eines anderen zugesteht, arrogiert sie zugleich unverschämt das Recht, jeglichen Unsinn vorzubringen, weil man nun einmal diesen Standpunkt habe und jeder auf dem seinen stehen dürfe: Parodie des liberalen Moments im Denken. Nicht mehr taugt der von geschäftigen Soziologen aus der Kunstgeschichte importierte Begriff des Denkstils. Er verlegt die geschichtliche Substanz Leibnizens in die angebliche Ähnlichkeit seiner Lehre mit den Allongeperücken und vernachlässigt darüber die Stellung des Gedankens zur Objektivität. Schon in der Kunst betrügt der Begriff des Stils meist über den immanenten Zwang der Sache; in der Philosophie aber kann zwar der sprachliche Stil eines Schriftstellers verraten, was es mit der Wahrheit seiner Lehre auf sich hat, nicht aber sein Denkstil, der vorweg die Wahrheit aufs subjektive Moment des Denkens herunterbringt. Aufgabe der Philosophie ist es, nicht einen Standpunkt einzunehmen, sondern die Standpunkte zu liquidieren.
9. Zur Standpunktphilosophie gehört das Moment des Ausschließenden. Es steigert sich mit dem Bewußtsein der Zufälligkeit des je eigenen Standpunktes. Dies ist mein Standpunkt, das heißt immer auch: den anderen kann ich nicht tolerieren. Der Geist, der an die eigene Willkür und Zufälligkeit sich zu verlieren fürchtet, spreizt eben darum zur Totalität sich auf. Das greift das Verhältnis zur Philosophie an: der Gedanke, der reich und fruchtbar ist nach dem Maße, in dem er die Kräfte des Widersprechenden in sich selbst aufnimmt, verkümmert zur dürftigen Alternative des Für oder Gegen. Gespannt warten manche Studenten darauf, welche Partei nun der Dozent nimmt, geraten in Bewegung, wenn sie ein affirmatives oder polemisches Wort hören, und ziehen die Position der Reflexion vor. Äußerste Vorsicht ist geraten gegenüber jeglicher Verfälschung der philosophischen Nuance, in der meist das Wichtigste, die spezifische Differenz, sich versteckt. Das überwertige Bedürfnis des Mitschreibens etwa reduziert das Vorgetragene auf Thesen und läßt als schmückendes Beiwerk das weg, worin der Gedanke eigentlich lebt, wofern nicht gar Rancune gegen Überlegungen sich regt, welche die These versagen oder aufheben. Dialektik als Philosophenschule, das soll noch erlaubt sein, aber Denken, das im freien Vollzug tatsächlich dialektisch verfährt, wirkt als Irritation, zuweilen schlicht als erschwerend bei der Vorbereitung zum Examen. Aber gerade die Vereidigung auf die These; die Erwartung, daß einem nun bündig gesagt werde, was man zu denken und womöglich zu tun habe, ist das eigentlich Unphilosophische, ja das Geistfeindliche schlechthin. Denn Philosophie beruhigt sich bei keinem Heteronomen. Sie besteht auf der Vermittlung durch den denkenden Geist und akzeptiert nichts als fertiges Resultat. Die fatalste Schwierigkeit, die heute dem Philosophierenden sich entgegenstellt, wird damit umschrieben. Gesellschaftlich vorgezeichnete Veränderungen, die bis in die Anthropologie hinabreichen, erschüttern die Idee der Autonomie in den Menschen selbst; zu schwach, um überhaupt noch Ich zu sein, zu gewitzigt durch die Nachteile der von einem starken Ichbewußtsein Gehinderten, hungrig nach den Prämien, auf die ein schwaches Ich hoffen darf, sind Ungezählte bereit, das Beste zu vergessen, das sie erst zu Subjekten macht, und dem sich zu überantworten, was sich selbst mit Stolz als Ideologie einbekennt. Philosophie ist davor nicht sicher, mag immer ihr Programm aufs Gegenteil hinauslaufen. Stets noch sehen sie viele Arglose als das, wozu man sie in der Zeit der äußersten Erniedrigung degradierte, als Schulungskurs. Denen, die mehr suchen in ihr als Methode und Wissenschaftslogik, bietet sie sich als Religionsersatz an. Keinem der Unschlüssigen, denen eine Epoche keinen Führer mehr gewährt, die gezeigt hat, was es mit den Führern auf sich hat, ist ein Vorwurf aus Not und Bedürfnis ihres Geistes zu machen. Aber wer es mit der Philosophie versucht, muß endlich der autoritären Illusion sich entschlagen, die heute wie die Welt so auch die Gedanken verdunkelt.
Aktualität der Erwachsenenbildung
Zum Deutschen Volkshochschultag
Frankfurt am Main, 1956
Früher nannte man, was heute Erwachsenenbildung heißt, Volksbildung, und das Wort hatte einen herablassenden Klang, etwa wie die populären Konzerte der großen Sinfonieorchester. Man stellte sich Bildung für die Ungebildeten darunter vor. Diese Einschätzung wurde von der wahrscheinlich damals bereits fragwürdigen Vorstellung eines festen Bildungsgefüges getragen, dessen Monopol die Höheren Schulen und die Universitäten hüteten. Es galt als von vornherein dem verschlossen, der nicht aus jenen Institutionen kam. Was dann für die Volksbildung übrig blieb, bestand oft aus Gleichgültigem und Peripherem, hatte den Charakter des Tropfens auf den heißen Stein. Das Lückenbüßerische, das der Volksbildung trotz allem guten Willen anhaftete, ihre eigene Qualität, entsprach recht genau der Funktion, die ihr die offiziellen Mächte zubilligten.
Zu dem Hochmut der Volksbildung gegenüber, der aus dieser Ära überlebt, ist kein Anlaß mehr. Gerade der akademische Lehrer, der Gelegenheit hat, in Volkshochschulen Vorlesungen zu halten, und dort, ohne Konzessionen zu machen, die lebendigste Teilnahme findet, wird der erste sein zu erkennen, wie muffig und kleinbürgerlich das selbstgerechte Gefühl von Überlegenheit ihr gegenüber ist. Denn die Fragwürdigkeit des traditionellen Bildungsbegriffs, deren schon Nietzsche inneward, liegt heute wirklich allen zutage. Längst existiert keine ›substantielle‹ Bildung, keine Volkskultur, mehr. Die Kulturgüter aber, deren sich die glücklichen Besitzer als Konsumenten erfreuen, sind mittlerweile so gründlich auf den Kulturbetrieb heruntergekommen, daß man niemandem mehr einreden sollte, es werde ihm etwas Gutes damit angetan, daß man ihm die sogenannten geistigen Voraussetzungen zum Mitmachen verschafft.
Die alte Bildungsidee hat sich nicht retten lassen, indem man sie, wie die Lehre Wilhelm von Humboldts es möchte, auf die Persönlichkeit zentrierte. In der verwalteten Welt, in der die Tugenden der Persönlichkeit: unabhängiges Urteil, allseitige Entfaltung der Kräfte, Widerstand gegen das bloß von außen Aufgezwungene, geduldige Selbstversenkung nicht mehr honoriert werden, erscheinen jene Tugenden als Sand in der Maschinerie. Der Funktionszusammenhang der Gesellschaft hat jedem einzelnen gegenüber so überwältigende Übermacht angenommen, daß es läppisch und ideologisch wäre, jemanden zur Persönlichkeit erziehen zu wollen; der modische Begriff des ganzen Menschen klingt nicht umsonst kunstgewerblich verblasen. Persönlichkeitsbildung ist zur schlecht ästhetischen Pflege gewisser historisch überkommener Eigenschaften geworden. In dem gleichen Augenblick, in dem sie einzig noch um ihrer selbst willen gepflegt werden, ohne die Wirklichkeit mehr eingreifend bestimmen zu können, verkümmern sie in sich selber. Persönlichkeit ist tendenziell schon nichts Besseres mehr als die Suggestionskraft von ›Menschenführern‹, wenn nicht gar die Fähigkeit, bei geschäftlichen Verhandlungen auch über Rilke und Sartre mitreden zu können.
Die Universitäten als Bildungsanstalten haben es schwer. Was man aber unter dem Namen Universitätskrise beredet – welcher Lebensbereich heute möchte nicht seine eigene Krise haben – ist nichts anderes als Ausdruck der gesamtgesellschaftlichen Krise von Bildung überhaupt. Der Anspruch fachlicher, berufsgerechter Ausbildung und der traditionelle, humanistische der Bildung treten an den Universitäten unterm gesellschaftlichen Druck immer unversöhnlicher auseinander. In dieser Spaltung droht die Bildungsidee auch dort, wo sie noch festgehalten wird, zur antiquarischen Spezialität oder zur unverbindlichen und darum in weitem Maß irrationalen ›Weltanschauung‹ herabzusinken, die man sich je nach Bedarf wählt und die um solcher Unverbindlichkeit willen nur allzuleicht in starre, aber auswechselbare totalitäre Parolen übergeht. Daß die Universitäten von sich aus, durch eine Reform, daran etwas ändern können, solange die gesellschaftliche Tendenz selber auf den Abbau von Bildung hinausläuft, ist illusionär. Am Scheitern des Studium Generale ist nicht nur der Widerstand der Fachleute gegen das schuld, was sie mit Recht als Phrase beargwöhnen, sondern auch die objektive Unmöglichkeit, Bildung, die nur in der Einheit zwischen der Sache und ihrer geistigen Erfahrung besteht, durch eine Dachorganisation zu ersetzen, welche die entzauberten Tatsachen gewissermaßen nachträglich unter einen geistigen Hut bringt.
Damit aber ist die Lage der Erwachsenenbildung bis ins Innerste verändert. Nicht nur daß sie sich nicht mehr zu genieren braucht, seitdem die hierarchischen Unterschiede der Bildungsgrade sich verwischen. Sondern sie ist, in jeglicher Hinsicht, soviel weniger vorbelastet als die Universitäten, daß sie aus dem neuen Zustand ungehemmter die Folgerungen ziehen kann als jene. Das Lebenselement der Universität ist es, die Spannung zwischen geistiger Substanz, Tradition und gesellschaftlicher Anforderung bis zum Äußersten auszutragen. Darauf muß die Erwachsenenbildung verzichten. Sie darf sich weder irgendeine Tradition vorgeben noch versuchen, etwas wie Bildungsersatz zu liefern, noch gar Kulturgüter, mit denen es an ihrem eigenen Ort nicht mehr stimmt, verwässert an den Mann zu bringen. Sie kann und soll nicht die klaffenden Lücken ausfüllen, sondern ohne historische und institutionelle Vorbehalte der Situation sich bewußt werden. Mit anderen Worten, ihre Funktion ist die von Aufklärung. Der neue Aberglaube, mit dem sie es zu tun hat, ist der an die Unbedingtheit und Unabänderlichkeit dessen, was der Fall ist. Dem beugen sich die Menschen, als wären die übermächtigen Verhältnisse nicht selber Menschenwerk. Die Undurchsichtigkeit dieser Verhältnisse, die mehr in der Kompliziertheit der Apparatur als im Wesen besteht, läßt sich aber durchdringen. Die Veränderungen in den Menschen selbst, die sie zu bloßen Agenten jener Verhältnisse machen, kann man bestimmen und in den Menschen selbst jene Ahnung erwecken, die sie insgeheim bereits hegen: daß sie betrogen werden und sich selber nochmals betrügen.
Niemand wird erwarten, daß die Erwachsenenbildung, ein enger und beengter Sektor im Ganzen, von sich aus, unmittelbar vermöchte, Entscheidendes zu ändern. Wohl aber kann sie den Menschentypus, der auf sie und auf den sie eingestimmt ist, so aufhellen, daß die Gruppe, die sie heranzieht, den gegenwärtigen Bedingungen als Avantgarde gewachsen sich zeigt. Sie wird dabei freilich nicht von oben her Bildungsideale, ›Leitbilder‹ präsentieren, sondern von dem Bewußtsein derer ausgehen müssen, die sich ihr anvertrauen. Das sind heute kaum mehr bildungshungrige Nichtgebildete, sondern eher das, was die empirische Soziologie einen ›repräsentativen Querschnitt‹ nennt, ausgestattet freilich mit einer besonderen Qualität des Skeptischen, Gewitzigten, die der Aufklärung entgegenkommt.
Ihr entsprechen auch weithin die personellen Kräfte der Bildenden. Groß unter ihnen ist die Zahl von Menschen, denen das Grauen vorm Nationalsozialismus bis ins Innerste gedrungen ist; die alles daransetzen wollen, daß es nicht, nie wieder so werde, guten Willens und auch befähigt, zwischen den Formen der politischen Demokratie und dem tatsächlichen Bewußtseinsstand der Bevölkerung zu vermitteln. Wer nicht mit Blindheit geschlagen ist, weiß, wie sehr es solcher Vermittlung bedarf. Die Krisis der traditionellen Bildung sollte die Erwachsenenbildung als ihren Augenblick erkennen und unbefangen, ohne sich viel einschüchtern zu lassen, die brennenden: die kontroversen Themen angreifen. Vorab wird sie versuchen müssen, die Menschen zur Einsicht ins Wesentliche der gegenwärtigen Gesellschaft zu bringen, ihnen die realen gesellschaftlichen Machtverhältnisse, Abhängigkeiten und Prozesse zu zeigen, denen sie unterworfen sind. Kurse über die Verflechtung der großen Wirtschaft und der Gesellschaft heute und über die politischen Konsequenzen sollten wohl die erste Stelle einnehmen.
Wichtig wäre weiter, den universalen Verdummungstendenzen entgegenzuwirken, denen die Bevölkerung in Deutschland, wie im Rest der Welt, durch das ausgesetzt ist, was sich selbst heute mit Ausdrücken wie Massenmedien oder Kommunikation bedenkt. Schlechte Kritiken über Schnulzen sind heutzutage ohnmächtig; hilft man aber deren potentiellem Publikum selbst zur Entdeckung, daß ihm für vulgär-materielle Interessen das Fell über die Ohren gezogen wird, dann wird das Phantom Lieschen Müller zergehen.
Mit recht viel Erfolg endlich greift heute bereits die Erwachsenenbildung die Aufgabe an, die Restbestände der nationalsozialistischen Ideologie, die im Bewußten und Unbewußten ungezählter einzelner ohne deren Schuld immer noch fortwesen, Clichés und Vorurteile, zu beseitigen. Dabei ist keine andere Weltanschauung, kein anderes System zu predigen. Nicht mit der Gebärde der ›Umerziehung‹, sondern durch denkende gemeinsame Arbeit nur läßt das Verhärtete sich lösen.
Solche Themen sind beliebig herauszugreifen, Modelle für Einsatzstellen aktueller Arbeit der Erwachsenenbildung. Sie könnten durch beliebig viele andere ergänzt werden. Der planende Zusammenhang, der zwischen ihnen herzustellen wäre, müßte die Totalität der gegenwärtigen Gesellschaft auf seine Weise, nämlich durch kritisches Bewußtsein spiegeln. Voraussetzung dafür ist, daß die Erwachsenenbildung nicht – und es fehlt nicht an Versuchungen dazu – zur Weltanschauung ihrer selbst wird; daß sie sich freihält zumal von jener Phraseologie, der zufolge es nur auf den Menschen und das Konkrete ankomme, und die es immerzu mit dem echten Gespräch, der Begegnung, dem Auftrag und ähnlichen ausverkauften Eigentlichkeiten zu tun hat. Aufklärende Erwachsenenbildung darf auch vor dem Begriff der Kultur nicht haltmachen, an dem sie notwendig selbst teilhat, und muß sich hüten, eilfertig hinter dem herzulaufen, was angeblich in der Welt des Geistes droben sich gerade an Wichtigem abspielt und dann meist schon abgestanden ist. Um ihrer Aktualität zu genügen, um sich in die eigenen, wahrhaft ungeahnten Chancen überhaupt hereinzufinden, bedarf die Erwachsenenbildung, als Erziehung zur Kritik, auch der rücksichtslosen Selbstkritik. Der Deutsche Volkshochschultag in Frankfurt ist zumal um deren Möglichkeit willen zu begrüßen.
Zur Demokratisierung der deutschen Universitäten
Der Ausdruck ›Demokratisierung der deutschen Universitäten‹ hat mehrere Bedeutungen. Sie hängen allesamt miteinander zusammen, müssen aber unterschieden werden, wenn nicht ihre Verflochtenheit in purer Verwirrung sich spiegeln soll. Gemeint kann sein: einmal, ob die Möglichkeit zu studieren demokratisch geworden, ob allgemeiner Zugang zu den Hochschulen garantiert ist. Dann: ob dem eigenen Geist und dem eigenen Gefüge nach die Universitäten demokratisch sind. Schließlich: ob die akademischen Absolventen die Universität demokratisch gesonnen verlassen; ob sie ein demokratisches Potential in der zukünftigen Entwicklung Deutschlands darstellen. In wenigen Minuten können zu all dem nur eben einige Gedanken und Erfahrungen angemeldet werden. Auf wissenschaftliche Belege ist zu verzichten; nicht zuletzt auch darum, weil die Fragen, die das Stichwort Demokratisierung der deutschen Universitäten aufwirft, von der empirischen Bildungssoziologie bis heute nur fragmentarisch angefaßt werden konnten. Selbst dort, wo Untersuchungen vorliegen, sind sie eher Pilotstudien, als daß sie bündige Antworten erteilten.
Zum Problem des Zugangs, dem, was man traditionellerweise mit Bildungsmonopol bezeichnet: den institutionellen Voraussetzungen nach hat sich hier Entscheidendes geändert, und fraglos im demokratischen Sinn. Die ökonomische Aushöhlung jener selbständigen höheren Mittelschicht, die bis vor dem ersten Weltkrieg das Studium ihrer Söhne finanzierte, ebenso wie der anwachsende Bedarf nach wissenschaftlich qualifizierten Fachkräften hätte solche Demokratisierung erzwungen, auch wenn sie nicht im Zug der politischen Entwicklung gelegen hätte. Manche Länder, wie Hessen, gewähren schon seit Jahren volle Freiheit des akademischen Unterrichts, zumindest für die Bürger des Landes; Studienförderungen und Stipendien gehen so sehr über das in Kaiserreich und Weimarer Republik Gewohnte hinaus, daß die Quantität in die Qualität umschlägt und die Förderung, ehemals Ausnahme, zur Norm wird; schließlich ratifizierte die Einführung des Honnefer Modells diese Entwicklung, ohne daß im übrigen bis heute alle damit verbundenen Probleme, zumal das der Auslese, ganz gelöst wären. Trotzdem aber hat die Demokratisierung des Zugangs zum Studium objektiv ihre Grenze. Heute wie stets ist der Anteil von Arbeiterkindern äußerst gering (5 %), ganz außer Verhältnis zu dem der Arbeiter an der Gesamtbevölkerung (rund 50 %). Unter den Gründen dafür wird man vermuten dürfen, daß es sich bei den Arbeitern ja nicht nur um die Bezahlung des Studiums handelt, sondern vielfach zugleich um die Notwendigkeit, früh schon Geld zu verdienen, die auch dann nicht entfällt, wenn man das Studium nicht zu bezahlen braucht. Wenigstens mögen eingeschliffene Vorstellungen der Arbeiter in dieser Richtung laufen; auch mag Mißtrauen gegen das Studium als bürgerliche Institution mitspielen; überhaupt mögen psychologische Momente mitverantwortlich sein für die Abwesenheit der Arbeiterkinder von der Universität, obwohl selbstverständlich zuerst nach ökonomischen Motiven zu suchen wäre. Hinzu kommt vielleicht, daß Erfahrungen, an denen man eigentlich Bildung gewinnt, der Kontakt mit den Werken der traditionellen Kultur, vielfach schon in die frühe Kindheit fallen. Darüber, ob einer ein sogenannter gebildeter Mensch ist, wird oft längst entschieden, ehe er mit der organisierten Bildung der höheren Schulen und Universitäten in Berührung kommt. Unter diesem Aspekt sind die Arbeiter auch heute noch, aller sogenannten Nivellierung zum Trotz, weithin von Bildung ausgeschlossen oder fühlen wenigstens so, als ob sie es wären, während Angehörige des Kleinbürgertums, bei denen die Voraussetzungen gar nicht so viel verschieden sind, sich mit Bildung identifizieren und ungehemmt die Universitäten besuchen. All das sind einstweilen Mutmaßungen. Eine Untersuchung, die auf diesen wesentlichen und schwierigen Komplex einiges Licht zu werfen verspricht, ist im Frankfurter Institut für Sozialforschung im Entstehen; sie behandelt die Frage der Begabtenauslese beim Übergang von den Volks- in die höheren Schulen.
Wie es um das bestellt ist, was man die innere Demokratisierung der Hochschulen nennen könnte, bereitet erhebliche theoretische Probleme. Ganz gewiß kann gesagt werden, daß die alte Rede von der Universität als Hochburg der Reaktion nicht mehr zutrifft. Sie ist auch keine Zufluchtsstätte des Nationalsozialismus. Wenn insgesamt in der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Krieg die Demokratie tiefere Wurzeln zu schlagen scheint als nach dem Ersten; wenn sie nicht länger mehr als ein Oktroyiertes verdächtig ist, sondern, nach dem Schrecken der totalitären Herrschaft und des Hitlerschen Krieges, in einer Epoche wirtschaftlichen Aufschwungs positiv erfahren wird, so spiegelt sich das auch in den Universitäten. Antidemokratische Strömungen sind nicht sichtbar; mangelt es an leidenschaftlicher Identifikation mit der Demokratie, so ganz gewiß auch an leidenschaftlicher Opposition. Selbst die traditionalistischen Korporationen und Verbindungen, die allesamt der Weimarer Republik feind waren, zeigen keinerlei Aggressivität und stellen sich auf den Boden des Grundgesetzes. Vereinzelte rechtsradikale Organisationen mögen hie und da sich regen – sicherlich sind sie nicht charakteristisch für den Geist der Universität, weder den der Lehrer noch den der Studenten. Bei nicht wenigen allerdings überlebt, nach den Ergebnissen einer Untersuchung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer absinkenden Mittelschicht, mit der man nach wie vor sich identifiziert; vielfach auch elitäre Vorstellungen, wobei die Akademiker nach altem Brauch jener Elite sich zurechnen. Doch sind solche Tendenzen keineswegs eindeutig und ungebrochen. Sie werden balanciert von einer auch unter Akademikern weit verbreiteten Abwehr des sogenannten akademischen Standesdünkels. Sie mag etwas mit der Herkunft vieler der gegenwärtigen Akademiker aus nichtakademischen Schichten zu tun haben. Insgesamt sind Vorstellungen wie die des gleichsam in der Selbstverteidigung befindlichen, von der Massengesellschaft überrollten geistigen Menschen, oder des Akademikers als eines höheren, zur Führung berufenen Typus eher blasse Nachbilder einst herrschender Schemata, als daß sie im Augenblick viel Gewalt besäßen; nicht auszuschließen freilich bleibt, daß sie unter gegebenen Machtkonstellationen energisch wiederbelebt werden.
Im inneren Betrieb der deutschen Universitäten stellt sich die Frage der Demokratisierung wesentlich als eine der Autorität. Die alte Autoritätsgebundenheit der Studenten löst fraglos sich auf, im Zug einer Anähnelung des akademischen Wesens an amerikanische Formen, die wahrscheinlich einer immanenten gesellschaftlichen Gesetzlichkeit gehorcht und keineswegs als oberflächliche Amerikanisierung abzutun wäre. Als ich vor zehn Jahren aus Amerika an die Frankfurter Universität zurückkam, gab es noch Studenten genug, die, wenn sie mit ihrem Professor sprachen, die Hacken zusammenschlugen; dergleichen ist heute wohl undenkbar. Wohl ist ein Moment von Autorität im Verhältnis des Lernenden zum Lehrenden schwer wegzudenken; man wird aber sagen können, daß tendenziell heute die Sachautorität die personelle überwiegt. Darin reflektiert sich die vielbemerkte Annäherung der Hochschule an die Fachschule. Der Hochschullehrer wird aus dem Würdenträger, dessen irrationalen Einfluß er oft mit Vergnügen ausübte, zu einem, der Kenntnisse, die man braucht, denen übermittelt, die sie noch nicht haben, und dafür bezahlt wird. Das Tauschverhältnis, das alle Bereiche des Lebens durchdringt, macht auch vor den Universitäten nicht Halt. Freilich erweist sich, wenn man einigen Umfragen glauben darf, in Deutschland der Nimbus des Universitätsprofessors als beständiger, denn der Wechsel seiner Funktion erwarten ließe. Übrigens fehlt es auch den akademischen Lehrern, welche die geistige Reflexion über die faktische Information stellen, keineswegs an Resonanz.
Man sollte nun aber die fortschreitende Rationalität der Universitäten, und die damit verbundene Demokratisierung der Formen des akademischen Unterrichts und des Lebens der Hochschule, nicht allzu unvermittelt mit einem eigentlichen Demokratisierungsprozeß des Bewußtseins gleichsetzen. Der Geist der Fachschule, der Geist derer, die auf die Universität einzig gehen, um sich positive Kenntnisse für den Beruf zu erwerben, und für die der alte Begriff der Bildung nicht mehr substantiell sein kann, auch nicht willkürlich sich wieder erwecken läßt, ist einer von Anpassung ans Bestehende. Der Widerstand des Geistes gegen das, was nun einmal ist, gegen die Verhältnisse, in denen man sich sein Plätzchen suchen muß, schwächt sich proportional zur steigenden Macht der Verhältnisse ab, und mit ihm sinkt die Autonomie des Geistes selber. Die Idee eines demokratischen Staates aber setzt implizit autonome Menschen voraus, in deren Besinnung das eigene Interesse und das der Gesamtheit durchsichtig sich aufeinander beziehen. Eben dieser Typus des freien Menschen, der darum sich selbst zu bestimmen vermag, weil er von seiner Selbstbestimmung zugleich die des Ganzen abhängig weiß, ist an den Universitäten im Niedergang, einfach deshalb, weil die Gesellschaft nicht länger mehr ihn derart honoriert, wie sie vielleicht in der Ära des Hochliberalismus ihn honorierte. Damit aber scheinen die Subjekte, auf die doch eine Demokratie ihrem eigenen Sinn nach verwiesen ist, immer weniger dem zu entsprechen, was die Idee von Demokratie verlangt. Es besteht demnach die Möglichkeit, daß der innerakademische Demokratisierungsprozeß mit dem Geist der Demokratie in Konflikt gerät, weil der Geist, den er produziert oder wenigstens reproduziert, eigentlich kein demokratischer ist. Diese Möglichkeit muß ohne Illusion ins Auge fassen, wer sich nicht mit Fassadenfortschritten abspeisen läßt. Freilich ist der Widerspruch, auf den ich hier aufmerksam mache, schwerlich von den Universitäten her, etwa durch eine Reform ihrer Lehrmethoden und Examenspläne, zu verändern, sondern deutet zurück auf die Gesamtgesellschaft. Aber die Universität repräsentiert diese wie ein Mikrokosmos. Vieles läßt in ihr wie an einem Modell sich erkennen, was in der gesellschaftlichen Totalität leicht der Erkenntnis verfließt.
Man pflegt der Beobachtung, an die ich erinnere, und für die mir keinerlei Priorität gebührt, sondern die unter den verschiedensten Aspekten und an den verschiedensten Stellen sich findet, vielfach die Wendung zu geben, die gegenwärtigen Studenten seien apolitisch. Aber damit wird selbst ein Politikum getroffen. Der Rückzug von der Politik, die Beschränkung aufs je eigene Interesse, sei es auf das materielle, sei es auch selbst auf die geistige Bestimmung, involviert einen Rückzug von den öffentlichen Dingen, der diese sich selber oder einer mit ihnen beruflich befaßten Menschengruppe überläßt, jenen Politikern, über welche der apolitische Akademiker im allgemeinen wenig Freundliches zu sagen hat. Demokratie jedoch bedeutet die aktive Teilnahme der Bevölkerung an den öffentlichen Dingen. Nur in solcher Teilnahme, nicht als skeptische Zuschauer dessen, was in einer vermeintlichen politischen Sondersphäre sich zuträgt, vermöchte das Volk sich selbst zu bestimmen. Mag immer die apolitische Haltung der Spitze gegen die Demokratie entraten; ja mag sie einer Harmlosigkeit und Friedfertigkeit entstammen, die von der Periode des Vorfaschismus aufs glücklichste sich abhebt, der Rückzug von der Politik selber negiert das demokratische Prinzip auch dann, wenn man es kontemplativ gelten läßt. Das ist die Achillesferse der Demokratisierung der deutschen Universitäten.
Was ich anzeige, ist aber darum so ernst, weil es überaus schwer fiele, nun den Studenten, die von der Politik sich abkehren, konkret zu sagen, wofür eigentlich sie sich engagieren sollten. Sie vermögen sich nicht zu entflammen an einer Ordnung, die ihnen zwar alle möglichen Chancen des Lebens und des angenehmen Lebens bereitstellt, in der sie aber gleichwohl unablässig sich selbst als Funktionen, Objekte, nach einem heute in der Soziologie modischen Wort als eine Rolle Spielende erfahren und nicht als solche, von denen ihr eigenes Leben und gar das der Nation abhängt. Andererseits ist die Hoffnung auf Demokratie als volle Emanzipation der Gesellschaft aufs schwerste kompromittiert durch die Tyrannis der Oststaaten, welche die Mündigkeit des Volkes im Mund führen, während sie ihm den Mund verbinden. Sentimental wäre es, über einen Mangel an aktivem demokratischen Geist zu klagen; das einzige, was im Augenblick frommt, ist für den Intellektuellen, die Bedingungen zu erkennen, die diesen Mangel zeitigen, und darüber nachzudenken, was an ihnen sich ändern ließe.
Deshalb ist die Antwort auf die eigentlich entscheidende Frage, die nach dem demokratischen Potential der Universitäten, also danach, ob ihre Absolventen im Ernst demokratisch gesonnen sein werden und bereit, die Demokratie zu verteidigen, so prekär. In einiger Verantwortlichkeit wäre wohl zu sagen, daß nach der subjektiven Seite die Aussichten der Demokratie auf der Universität nicht nur günstiger sind als in anderen Epochen der deutschen Geschichte, sondern daß sie einstweilen auch stetig zunehmen. Aber das Schicksal politischer Formen geht nicht auf im Bewußtsein derer, aus denen die Gesellschaft sich bildet, sondern wird überwiegend determiniert von objektiven Tendenzen und Kräften, die vollends heute in der verwalteten Welt, über den Köpfen der Menschen hinweg, sich durchzusetzen drohen. Wie, unter veränderten ökonomischen und politischen Konstellationen, die heute Studierenden zur Demokratie sich verhalten werden, läßt sich kaum prophezeien. Sicherlich haben sie in ihr Geschmack an der Freiheit und am unreglementierten Leben gewonnen; sicherlich aber wird der Hang zur Anpassung nicht dort innehalten, wo autoritäre Ordnungen, welcher Spielart auch immer, unmittelbar die Anpassung erheischen. Ob die zukünftigen Akademiker sich gegen Propaganda und Zwang wehren, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es uns, den Universitäten, gelingt, in ihnen selbst etwas von jenem Geist zu erzeugen, der bei der Anpassung sich nicht beruhigt. Erziehung zur Demokratie auf den Hochschulen könnte nichts anderes sein als Kräftigung des kritischen Selbstbewußtseins.
Der Schwarzseher antwortet
Zu dem Aufsatz »Fernseh-Kaleidoskop« von Erich Beurmann* sind mir vielleicht einige Anmerkungen gestattet.
Zunächst pro domo: amerikanische Untersuchungen über das Fernsehen halte ich nicht für in Deutschland irrelevant. Der Unterschied der ›Mentalität‹, auf den Beurmann sich beruft, verdeckt, wenn ich nicht irre, das eigentliche Problem: ob nämlich nicht die amerikanische Entwicklung der Kulturindustrie das Modell der europäischen abgibt, ob nicht die Entwicklungstendenz hier in jene Richtung zielt, die in Amerika jetzt bereits fixiert ist. Wer beobachtet, wie die europäischen Konsumenten der Kulturindustrie durchwegs auf die technisch höchst perfektionierten amerikanischen Produkte etwa im Bereich des Films ansprechen, oder gar Filmmagazine beider Kontinente vergleicht, wird kaum mehr daran glauben, daß die sogenannte Mentalität gegenüber den ökonomischen und sozialpsychologischen Vorgängen etwas Entscheidendes ausmacht, die auf der ganzen Erde heute der Menschheit widerfahren. Es wäre fatal, auf ein kulturelles Erbe sich zu verlassen, dessen unbequeme Verpflichtung Zahllose abzuwerfen selbst dann sich beeilten, wenn sie es besäßen. Darum dünkte es mir nicht überflüssig, auf amerikanische Studien in »Rundfunk und Fernsehen« Bezug zu nehmen**, ehe das System in Deutschland sich ganz festgesetzt hat.
Weiter wäre es eine Illusion anzunehmen, bei der Übertragung aktueller Ereignisse sei Verfälschung oder Kürzung nicht möglich. Von der Frage des Schnittes ganz abgesehen, besteht, analog zu den Kameraeinstellungen im Film, die Möglichkeit, durch die bloße Art der Aufnahme aktuelle Ereignisse in bestimmter Weise zu steuern, also etwa gerichtliche Vernehmungen so zu übertragen, daß die Angeklagten vorweg als schuldig erscheinen, ohne daß am Wortlaut dessen, was sie sagten, und an anderen Grunddaten etwas sich änderte. Zu den beängstigendsten Aspekten der Kulturindustrie gehört eben, daß sie allerorten den Eindruck unvermittelter, protokollarischer Wirklichkeit auf Kosten des ästhetischen Moments hervorbringt, während doch die Realität auch hier, und zwar mit Rücksicht auf die auf den Zuschauer auszuübende Wirkung, vorgeformt ist. Der Widerstand gegen das, was die Kulturindustrie den Bevölkerungen aller Länder antut, verlangt nicht zum Letzten, daß dieser Zusammenhang eingesehen und allgemein bekannt gemacht wird.
Schließlich möchte ich davor warnen, die Zukunft des Fernsehens zu einer akademischen Prärogative zu machen. Ich vermag mit Dr. Beurmann nicht darin übereinzustimmen, daß das »innige Verhältnis« zu einem Kulturgebiet nur durch »akademische, jahrelange Ausbildung gewonnen werden« kann. So sehr ich die Ansicht teile, daß die für die Massenmedien Verantwortlichen im Ernst etwas von Soziologie verstehen sollten, so wenig dürfen wir uns doch darauf verlassen, es qualifiziere das Privileg des Studiums zulänglich zur Arbeit in einem Bereich, in dem alles auf Spontaneität, Phantasie und Resistenzkraft ankommt. Die Gefahr liegt gerade beim Primat der Verwaltung. Typen, die es vorweg zur Apparatur hinzieht, würden sich vermutlich besonders unter Spezialisten finden, die in Fernsehseminaren präpariert werden. Man braucht sich nur vorzustellen, was geschähe, wenn man das Komponieren und die Musikpflege ans Studium der Musikwissenschaft binden wollte. Nicht zuletzt sollten zumal die Soziologen sich hüten, aus den vorfindlichen Bedingungen des Massenkonsums, die man freilich kennen muß, eilfertig Regeln für die Produktion abzuleiten. Der Konsum ist keine letzte Gegebenheit, nach der man sich zu richten hätte, sondern in weitem Maße selbst eine Funktion des Gesamtzustandes. Er wäre wahrscheinlich von der Produktionsseite her entscheidend zu verändern, vorausgesetzt, daß man einmal wirklich die Probe aufs Exempel machen könnte.
Beurmanns Warnung vor der »Gefahr der Abstumpfung, Verdummung und Geschmacksnormung der Phantasie« kann nicht schwer genug genommen werden. Sie dürfte keine Konzession bleiben, die sich gegen ›Auswüchse‹ richtet, sondern müßte auf die Norm zielen und in jedem Augenblick des Produktionsvorganges gegenwärtig sein. Die sozialwissenschaftliche Besinnung über das Fernsehen sollte im Geist jener Warnung sich grundsätzlich und kritisch orientieren und sich nicht beim Registrieren von Meinungen bescheiden.
Fußnoten
* Vgl. Erich Beurmann, Fernseh-Kaleidoskop. Streiflichter aus der Studiopraxis, in: Deutsche Universitätszeitung, 8. Jg., Heft 24, 21. 12. 1953, S. 14f.
** Vgl. Theodor W. Adorno, Fernsehen als Ideologie, in: Rundfunk und Fernsehen 4 (1953), Heft 4, S. 1ff.; jetzt auch GS 10.2, s. S. 518ff.
Kann das Publikum wollen?
Lassen Sie mich mit dem Geständnis beginnen, daß ich den formalen Aspekt der Frage »Kann das Publikum wollen?«, Fernsehen überhaupt beeinflussen, für einigermaßen gleichgültig halte. Auf die sogenannte Einbahnstruktur der Massenmedien ist immer wieder hingewiesen worden; man weiß auch, daß das Publikum allerhand Möglichkeiten hat, ihr entgegenzuwirken: Briefe zu schreiben, zu telefonieren, wohl auch selber, mehr oder minder symbolisch, an Sendungen aktiv sich zu beteiligen. All das hält sich in engen Grenzen. Daß von einem oder wenigen Punkten aus Sendungen an Ungezählte ausgestrahlt werden, ebenso wie die administrative Konzentration der Macht der Produzierenden, schränkt einstweilen jedenfalls die Initiative der Fernseher sehr ein. Überdies hat die sogenannte Kommunikationsforschung festgestellt, daß die Briefe an Rundfunk- und Fernsehgesellschaften weder statistisch repräsentativ sind noch dem Gehalt nach allzu gewichtig. Häufig stammen sie von Querulanten, von Leuten, die sich gewohnheitsmäßig entrüsten, vor allem wenn ihnen etwas dargeboten wird, was nicht mit dem übereinstimmt, was sie für ihr eigenes Normalbewußtsein halten, wofern sie nicht gar zu pressure groups mobilisiert werden. Die aber aus dem Publikum herausgeholt werden, um dem Publikum sich zu zeigen, dürften so sehr ausgesiebt werden, daß sie in Wahrheit kaum jene Leute von der anderen Seite der Trennungslinie sind, als welche man sie vorführt. Selbst wenn sie wie die legendäre mythische Hausfrau aussehen, sind sie zu ihrer eigenen Durchschnittlichkeit erst stilisiert; je natürlicher sie sich gebärden, um so peinlicher empfindet man die Stilisation. Gegen derlei Veranstaltungen ist gewiß so wenig Ernstes einzuwenden, wie sie selbst ernst sind. Werden gar, wie ich es jüngst erlebte, irgendwelche Zufallsfiguren in kritischer Absicht herausgegriffen, Typen von befangenem und verstocktem Bewußtsein, so mag das gute Wirkungen haben. Nur soll man all das nicht überschätzen.
Ich forme also die Frage ein wenig um. Zunächst: kann das Publikum wollen?, mit dem Akzent auf dem letzten Wort. Dann: soll es überhaupt wollen? – und das ist nicht zu trennen von der Frage: Was soll es wollen?
Ob das Publikum überhaupt wollen kann, ist nur gesellschaftlich auszumachen. Im Bereich der Massenmedien scheint, vorsichtig gesprochen, etwas wie prästabilierte Harmonie zwischen Angebot und Nachfrage zu herrschen. Mit den verfügbaren Ermittlungsmethoden ist es einstweilen ungemein schwierig festzustellen, was Ursache und Folge sei: in welchem Maß die Massenmedien, wie es vor allem in Amerika ihre Ideologie ist, dem Bewußtseinsstand, uneingestandenermaßen auch dem Unbewußtheitsstand ihrer Konsumenten sich anpassen oder ob diese sich bereits den Massenmedien angepaßt haben und, fixiert ans Immergleiche, es verlangen. Ob die Bevölkerungen heute wollen können, hat indessen einen über die Massenmedien weit hinausreichenden Aspekt. Manches spricht dafür, daß die Fähigkeit der Menschen, überhaupt noch etwas anderes zu wollen, als was sie in jedem Sinn haben können, schrumpft. Je dichter das Netz der Vergesellschaftung geflochten und womöglich ihnen über den Kopf geworfen ist, desto weniger vermögen ihre Wünsche, Intentionen, Urteile ihm zu entschlüpfen. Gefahr ist, daß das Publikum, wenn man es animiert, seinen Willen kundzutun, womöglich noch mehr das will, was ihm ohnehin aufgezwungen wird. Damit das sich ändere, müßte erst die stillschweigende Identifikation mit dem übermächtigen Verfügbaren unterbrochen, müßte das schwache Ich gekräftigt werden, das es soviel bequemer hat, wenn es sich unterwirft, und man wird vergebens nach denen suchen, die unter den gegebenen Verhältnissen das möchten und die Macht dazu hätten. Selbst der Erfolg ihrer Versuche bliebe zweifelhaft. Tendenziell wird jede Abweichung durch Unbehagen des Abweichenden, ein Gefühl sozialer Isolierung bestraft. Jene Schwäche des Ichs, die es am Wollen verhindert, ist keine bloß psychologische Tatsache, liegt nicht einfach in den Individuen und ist nicht in ihnen zu korrigieren. Sie wird von der gesellschaftlichen Gesamtverfassung hervorgebracht und vervielfacht. Zwar wurde der Begriff der Ichschwäche von der analytischen Psychologie eingeführt, das Phänomen erstmals von ihr beschrieben, aber es hält schwer, Ichschwäche als ein neurotisches Phänomen zu betrachten und zu behandeln, solange die Menschen tatsächlich so ohnmächtig sind, so wenig über das Ganze vermögen, das ihr Schicksal ist, wie es dann in ihrem psychologischen sich spiegelt. Ichschwäche heute ist höchst realitätsgerecht: daher ihre bestürzende Gewalt.
Der äußere und innere Konsumzwang nötigt zur Frage, ob das Publikum wollen soll. Sie klingt, wie die meiste Wahrheit heute, weder zynisch noch gönnerhaft. Ich meine ein sehr Einfaches und Ernstes. Das bis zum äußersten präparierte Publikum wollte, wenn man seinem Willen sich überließe, verblendet das Schlechte; mehr Schmeichelei für es selber und die eigene Nation, mehr Schwachsinn über Kaiserinnen, die sich als Filmschauspielerinnen verdingen, mehr von jenem Humor, bei dem einen das Weinen überfallen kann. Gäbe es einen Willen des Publikums, und folgte man ihm unmittelbar, so betröge man das Publikum um eben jene Autonomie, die vom Begriff seines eigenen Wollens gemeint wird. Die Willensbildung derer, denen der Wille ausgetrieben ward, stünde im Dienst des fesselnden und unterdrückenden Prinzips. Sie würden, wie jüngst einer jener geistigen Lakaien es nannte, die aus dem als schlecht Durchschauten Ideologie machen und sich darum auch noch für human halten, darauf bestehen, daß man ihnen eine heile Welt serviert, in der das Dunkle und Fragwürdige, das Gesetz der realen, zugeschminkt wird. Über Beckett triumphierte die Christel von der Post. Wenn der politisch und soziologisch überaus dubiose, nämlich keineswegs verwirklichte Begriff einer pluralistischen Gesellschaft irgend etwas taugte, dann in diesem Bereich. Nicht die plebiszitäre Mehrheit dürfte über kulturelle Phänomene, die an die Massen sich richten, entscheiden, und auch nicht die abgefeimte Weisheit von Patriarchen, die tun, als ob sie gütig darüber wachten, was den Massen zuträglich ist. Befinden sollten allein Menschen, die sachlich zuständig sind; die ebensoviel von Kunst verstehen wie von den sozialen Implikationen der Massenmedien. Das wären wohl ohne Ausnahme eben jene Intellektuellen, gegen die das plebiszitäre Urteil in den Massenmedien aufgehetzt würde. Man weiß, welches Unheil der Rousseausche Unterschied von volonté générale und volonté de tous, vom Allgemeinwillen und dem aller einzelnen, angerichtet hat, als terroristische Diktatoren des Allgemeinwillens für ihre Zwecke sich bemächtigten. In der gegenwärtigen Situation aber ist es so weit gekommen, daß der Allgemeinwille des Publikums, nämlich sein objektives Interesse an geistigen Gebilden, in denen durch alle Vermittlungen hindurch ihre eigene Wahrheit ausgesprochen ist, schroff dem widerspricht, was der Wille selber willenlos von sich aus zu wollen meint und was man ihnen im allgemeinen zusätzlich noch einhämmert.
Darum ist nicht danach zu fragen, ob das Publikum wollen, sondern was es wollen kann. Unabhängig von diesem Was, dem Inhalt des Gewollten, wäre die Frage nach dem Wollen leer. Sie würde nur den Glauben, daß der Kunde König sei, der schon in der materiellen Warenproduktion ein Reklametrick ist, auf den Geist übertragen, wo er schlechterdings nichts zu suchen hat. Geistige Gebilde haben objektive Qualität, ihren objektiven Wahrheitsgehalt. Keineswegs wird er stets von der Übereinstimmung derer bestätigt, die den geistigen Gebilden gegenübertreten; heute tritt er in grellen Gegensatz dazu. Ich gewärtige den Einwand, wer denn nun jene objektive Qualität beurteilen solle. Er entspringt dem hämischen Relativismus, der beteuert, solche Objektivität sei selbst nur Einbildung und hänge von der Zufälligkeit des Geschmacks ab. Bequem zur Hand liegt die Verdächtigung, man wolle nur eine Kontrolle eigener Art, die von Experten, gemeinschaftsfremden Sachverständigen, etablieren. Würde ich nach Kriterien jener Qualität gefragt, die es jedem erlaubten, sie sinnfällig und ohne viel Mühe festzustellen, so müßte ich verstummen. Aber der Wunsch nach solchen Kriterien gehört selber dem verdinglichten Schwarz-Weiß-Denken an, das heute die eindringende Erfahrung geistiger Gebilde verhindert. Die Entscheidung hängt von zahllosen vermittelnden Kategorien ab. Wahrscheinlich wäre sie überhaupt nur von der voll entfalteten Theorie der Kunst und der Gesellschaft zu erwarten; zugleich von Menschen, die der Gesetzmäßigkeit und Stimmigkeit der Gebilde ungeschmälert, ohne Vorurteil und Vorbehalt sich anvertrauen. Nicht weniger allerdings wäre von denen zu verlangen, die für künstlerische Fernsehproduktion verantwortlich sind. Mittleres Verständnis, Sympathie fürs Mittlere, abwägender common sense, der die Qualität der Sache und die Reflexe der Konsumenten zum Ausgleich bringt, reicht nicht aus. Es käme nur dem Schlechten zugute, welches das Mittlere im Geist immer schon ist. Auch eine Haltung taugt nichts, die geistige Gebilde, anstatt sie an ihrem eigenen Gesetz zu messen, vorgeblich von höheren Gesichtspunkten überschaut und sich über sie stellt dadurch, daß sie sie gar nicht ernst nimmt als das, was sie sind. Immerhin, wer überhaupt einmal den Unterschied zwischen einem konsequenten und reinen Gebilde und einer Schnulze; zwischen einem Stück, das etwas ausdrückt, und einem, das sich anbiedert; zwischen einem, das die Konsequenzen seiner Voraussetzungen zieht, und einem, das die Konsequenz abbiegt; zwischen einem, das über die Mittel selbständig verfügt, und einem, das erprobte Wirkung imitiert – wer solche Unterschiede überhaupt einmal wahrgenommen hat und zugesteht, der gesteht damit, ob er es will oder nicht, auch die Möglichkeit objektiver Unterscheidung zu. Wie diese Möglichkeit freilich sich dann in die Wirklichkeit von Produktion und Kritik umsetzt, dafür gibt es kein Rezept. Würde nach einem verfahren, so reduzierte die Kunst sich auf eben jenes Vorausberechenbare, das ihr in der verwalteten Welt ans Leben will. Im allgemeinen wird man sagen dürfen, daß, je mehr Gebilde scheinbar den Bedürfnissen der Menschen, nämlich ihren offenbaren, sich angleichen, sie auch um so mehr von der eigenen Qualität opfern. Diesem Widerspruch entgeht nicht, wer sich einbildet, er könne gewitzigt beides vereinen. Die Ideologie des Ostblocks nährt diesen Wahn; die Resultate sprechen gegen sich selbst. Verhängnisvoll wäre es, wenn unter den Bedingungen formaler Demokratie etwas Ähnliches sich anbahnte; wenn Majorisierung Ähnliches bewirkte wie dort das Dekret der Diktatoren.
Ich möchte nicht defaitistisch abbrechen vor der Frage, ob das Publikum überhaupt Richtiges wollen kann. Dazu müßte es gebracht werden, durch sich selbst und gegen sich selbst zugleich. Die langfristige Bedingung dafür wäre Erziehung, wofern die Zeit bleibt. Beschlagnahmt die Kulturindustrie schon die Kinder und Halbwüchsigen, um die Infantilisierung des Ganzen zu betreiben, so wäre dem im Unterricht, etwa im staatsbürgerlichen, entgegenzuarbeiten. Anzuknüpfen wäre an das, was man in Amerika sale's resistance nennt, den Widerwillen dagegen, sich übers Ohr hauen zu lassen, den Dummen zu spielen. Eine Schulklasse, der man einmal vorm Apparat vorgeführt hat, was so eine en suite sich produzierende Fernsehfamilie bedeutet, würde wohl weniger anfällig. Vielleicht könnte man auch, in der gleichen Intention, etwas wie Fernsehorganisationen bilden, aber nicht nach dem Modell von Filmfan- oder Jazzfanclubs, die das Angebot wiederkäuen, sondern kritisch: die darauf dringen, daß ihnen keine kalkulierte Idiotie dargeboten wird. In der aktuellen deutschen Situation hätten sie auch darum sich zu kümmern, daß nicht die Möglichkeiten des Abweichenden, die hierzulande einstweilen intakt geblieben sind und bis in die Politik hinein sich bewährt haben, ihnen durch kulturellen Zentralismus beschnitten werden. Solche Organisationen bedürften wohl zunächst kritischer Fachleute, die ihnen die Einsichten übermitteln, welche das lückenlos funktionierende System der Kulturindustrie ihnen vorenthält. Sie müßten aber flexibel genug sein, um nicht einfach zu wiederholen, was ihnen die Avantgarde vorsagt, sondern müßten in lebendigem Kontakt mit ihr aus sich selbst heraus spontane Kräfte entwickeln.
Auf den ersten Blick scheint der Hoffnung, daß irgend etwas solcher Art gelinge, alles entgegenzustehen. Aber sie hat doch eine sehr reale Chance. Die Millionen Menschen, welche die auf sie zugeschnittene Massenkultur konsumieren, die sie eigentlich erst zu Massen macht, haben kein in sich einheitliches Bewußtsein. Sie ahnen, vorbewußt, unterhalb einer dünnen ideologischen Schicht, daß sie vom Titelblatt jeder illustrierten Zeitung, von jedem zellophanverpackten Schlager betrogen werden. Wahrscheinlich bejahen sie, womit man sie füttert, so krampfhaft nur, weil sie das Bewußtsein davon abwehren müssen, solange sie nichts anderes haben. Dies Bewußtsein wäre zu erwecken und dadurch dieselben menschlichen Kräfte gegen das herrschende Unwesen, die heute noch fehlgeleitet und ans Unwesen gebunden sind.
1963
Gleason L. Archer, History of Radio to 1926. New York: The American Historical Society 1938.
Das Werk erzählt mit unentwegter Begeisterung die Geschichte des Radios bis zum »Ende der Pionierperiode des Rundfunks«. Der Ton ist patriotisch und heroisch. Der europäischen Beiträge zur technischen Entwicklung des Radios geschieht kaum Erwähnung; nur Marconi ließ sich nicht vermeiden; aber alles Licht fällt auf die Amerikaner: nicht nur auf Techniker wie Lee de Forest und Fessenden, sondern auch auf Wirtschaftsexponenten wie Owen Young und David Sarnoff. Wenn Radio »das Wunder der Zeiten« ist, dann erscheinen die ökonomischen Kämpfe konkurrierender Personen und Konzerne als erhabene Aktionen, die mit Natur- und Schicksalsmächten zu höherem Ruhm der Menschheit ausgefochten werden müssen, und wer sich durchsetzt, aus dem spricht der Weltgeist. Einer pragmatischen Darstellung jener wirtschaftlichen Gruppenkämpfe, welche die Geschichte des Rundfunks weniger pionier- als conquistadorenhaft erfüllen, ist die erbauliche Betrachtungsweise nicht eben günstig. Unverkennbar jedoch weiß Archer Bescheid. Unter der dünnen Hülle des Panegyrikus zeichnen sich die schreckhaften Konturen der Monstren ab, die sich befehden und womöglich auffressen. In der älteren Periode des Rundfunks hatten die Konkurrenzkämpfe wesentlich den Charakter von Patentstreitigkeiten oftmals der anrüchigsten Art, denen die Heroennamen nicht durchaus enthoben waren. Später geht es schlecht und recht ums Monopol. Besonders aufschlußreich ist da die Geschichte der RCA. Während des Krieges war der gesamte amerikanische Rundfunk unter Staatskontrolle, und als er unter dem Druck von Interessenten reprivatisiert wurde, benutzte man den staatlichen Einfluß und vaterländische Gefühle dazu, die Anteile der mehr oder minder von England abhängigen amerikanischen Marconigesellschaft auszukaufen. Entscheidend spielten militärische Rücksichten herein. So entstand die RCA, und man darf Archer wohl so interpretieren, daß ihre bis heute immer wieder umstrittene Monopolstellung sich unmittelbar der vorhergehenden Staatskontrolle verdankt. – Das ungemein gut informierte und reich dokumentierte Buch ist trotz seines harmlosen Gestus von Interesse noch in anderer Richtung. Es gibt nämlich Anlaß zu Überlegungen, die den Zusammenhang technischer Erfindungen und gesellschaftlicher Tendenzen betreffen. Man mag das so formulieren: die monopolistische Struktur des Radios als eines Mediums, das ungezählte, fast ohnmächtig ausgelieferte Kunden zwangshaft mit dem gleichen Stoff beliefert, hat sich durchsetzen können erst in der monopolistischen Phase. Nicht nur gehen die entscheidenden Verbesserungen der ursprünglichen, auf Morsezeichen beschränkten Funkentelegraphie, welche die Übertragung akustischer Phänomene möglich machten, so weit zurück wie 1906, während die Geschichte des eigentlichen Broadcast erst 1920 einsetzt. Sondern bereits 1885 kam Edison der Funkentelegraphie ganz nahe, und daß er sie nicht erfand, hat Archer zufolge keinen anderen Grund, als daß man zu jener Periode eine solche Technik zu ›indiskret‹ fand. Liberalistische Rücksichten solcher Art sind freilich gegenstandslos geworden in einer Epoche, in der immer mehr Staaten zur Abschaffung des Briefgeheimnisses übergehen. Wenn jedoch Archer meint, zu Edisons Zeit habe man das Auffangen telegraphischer Botschaften in fahrenden Zügen für ›zu demokratisch‹ gehalten, so dürfte er wohl verkennen, welchen Sinnes man heute die Privatsphäre liquidiert.
Broadcasting and the Public. A case study in social ethics. By the Department of Research and Education of the Federal Council of the Churches of Christ in America. New York: The Abingdon Press 1938.
Die Begriffe fortschrittlich und reaktionär zu handhaben ist nicht mehr einfach. Im Sinne der Entwicklungstendenz des Kapitalismus sind Konzentration und Monopolisierung gewiß fortgeschritten; als dessen hörige Diener fungieren sie rückschrittlich, und kapitalistisch zurückgebliebene Gruppen vermögen rückschrittliche Momente am kapitalistischen Fortschritt selber sehr wohl zu visieren. So etwa ist die Schrift einzustellen. Der Untertitel führt irre: sie enthält kein sozialethisches Geschwätz, sondern recht nüchterne kritische Betrachtungen zum heutigen Rundfunk. Es wird etwa deutlich, daß in der scheinbar neutralen Zuteilung von Lizenzen an die Stationen die Kapitalkraft sich durchsetzt, indem als Voraussetzung der Lizenz der Nachweis verlangt wird, daß man finanziell fähig ist, eine Station nach heutigen Standards zu unterhalten. Die Frage des Monopols, insbesondere der RCA und der von ihr abhängigen größten Sendegesellschaft, der NBC, wird freimütig, wenn auch unter Suspension der Stellungnahme erörtert. Außer der wohlbekannten Vormacht der drei großen ›Networks‹ wird dabei der viel weniger diskutierte Einfluß der Presse – vor allem des Hearstkonzerns, der allein zehn Stationen besitzt oder kontrolliert – sichtbar gemacht. – Viel schwächer ist, wie in den meisten amerikanischen Publikationen, die Behandlung der Programmpolitik. Für die Musik etwa wird die seit Lumleys »Measurement in Radio« übliche, ganz oberflächliche und irreführende Klassifizierung »serious – light – popular – other« beibehalten. Auch der verdächtige Begriff semiclassical, den die Industrie benützt, erscheint unbefragt. Rundfunkerziehung und religiöser Rundfunk werden in der landesüblichen Weise abgehandelt. – Für die Unzulänglichkeit des Rundfunks macht der Bericht schließlich die ›Lücke‹ zwischen technischer und kultureller Entwicklung verantwortlich, ohne daß deren gesellschaftliche Ursache ernsthaft aufgesucht oder gar der Begriff der Kulturentwicklung selber analysiert würde. Es entsteht der Eindruck, als handle es sich um einerseits naturhaft notwendige, andererseits durch guten Willen im gegebenen Rahmen korrigible Übel der ›Zivilisation‹. Eine Frage wie die für den Rundfunk entscheidende: warum die jüngsten technischen Innovationen früher kamen als ihr spezifischer ›Inhalt‹; und warum der Inhalt auch keineswegs durch bloße Adaptation an die besonderen Erfordernisse des Werkzeugs sich hat produzieren lassen – eine solche Frage läßt die Schrift nirgends aufkommen.
Fragen an die intellektuelle Emigration*
Lassen Sie mich sogleich an die Unterscheidung von Immigration und Emigration anknüpfen. Vielen von Ihnen mag sie pedantisch erscheinen. Aber als Ausdruck der Haltung dünkt sie mich beträchtlich. Der Immigrant ist der Einwanderer, der einigermaßen freiwillig, angezogen von den unbeschränkten Möglichkeiten, kommt. Der Emigrant ist der Vertriebene, der Flüchtling, der Schutz sucht und, wie wir in Amerika, findet. Wollten wir uns Immigranten nennen, so wären wir dabei zwar im Sinn der Einwanderungspapiere im Recht, verleugneten aber unsere eigentliche Situation. Wir bekundeten eine Beflissenheit, die unsere amerikanischen Freunde wohl bemerken, auch wenn sie zu höflich sind, es zu sagen.
Wären wir in der Tat Immigranten, so könnten wir uns als geistig homogene Gruppe vorstellen, etwa wie die religiösen Sekten in der Frühzeit der Besiedelung Amerikas. Was uns aber verbindet, ist nicht von vornherein gemeinsame Gesinnung. Uns eint, daß wir aus Deutschland verstoßen wurden, ein Negatives, das alle nicht politisch bewußten Emigranten als zufällig, äußerlich, als ihnen angetanes Ungemach erfuhren. Unser Los eine Schicksalsgemeinschaft zu nennen, erinnert an jenes fatale deutsche »Wir sitzen alle im gleichen Boot«. Solcher Trost setzt den Einzelnen zum bloßen Mitglied der Gruppe herab, in die er hineingeriet, und betrügt über das Grauen der Welt, indem die Sinnlosigkeit unter der Hand als Sinn ausgegeben wird.
Von solchen Erwägungen aber hängen die Fragen ab, die sich auf den sogenannten Beitrag beziehen und auf die ich Sie aufmerksam machen möchte. Denn in der Idee des Beitrags steckt doch der Anspruch der Freiwilligkeit: daß man von einem Lebensbereich ursprünglich sich angezogen fühlt und durch Leistung sich und anderen das Recht beweisen will, in den neuen Kreis aufgenommen zu werden. Wer aber unter uns könnte das von sich behaupten? Ohne das Moment von Freiheit wird die Rede vom Beitrag zur Verklärung des sich Anpassens, sich nützlich Machens, schließlich der Selbstpreisgabe. Es ist, als wollten wir, weil wir den Gaskammern der Deutschen entronnen sind, uns empfehlen mit den Worten: »Entschuldigen Sie, daß wir geboren sind«, und gewissermaßen eine Prämie dafür zahlen, daß man uns das Leben läßt. Durch solche Gebärden beleidigten wir die Gastfreunde, denen wir gefällig zu sein glauben, und verhöhnten die demokratischen Ideale. Die Menschenrechte waren nicht als Belohnungen für fügsames Benehmen gedacht.
Wenn unsere Erfahrung uns zu etwas verpflichtet, dann ist es, der Unterdrückung und dem Unrecht zu widerstehen, das heute selbst der erkennen müßte, der ganz in Selbsterhaltung aufgeht. Nicht aber dürfen wir unsere Moral an der Vorstellung aus der Handelswelt bilden, man müsse doch den Leuten ein Entgelt bieten. Unsere Dankbarkeit ist ernster: sie sollte nicht dazu mißbraucht werden, hochtönende Rechtfertigungen für Betriebsamkeit, Mitmachen, den Dienst am Kunden zu liefern. Die materielle Enteignung durch die Deutschen zwingt Zahllose unter uns zur Anpassung. Die Intellektuellen aber müssen gerade diesem Zwang durch Selbstbesinnung widerstehen. Sonst verraten sie den Geist, den sie in Anspruch nehmen. Sie können den Amerikanern danken, indem sie zu dem einmal Erkannten und Erfahrenen stehen, indem sie es an der neuen Erfahrung, aber ebenso an dem, was in Europa geschah, messen und weitertreiben; indem sie, ohne auf den Erfolg zu schielen, ausdrücken, was an Einsicht ihnen etwa zuteil wurde. Der Intellektuelle jedoch, der der Formel »So wird das hier gemacht«, pariert, verhält sich ähnlich wie jene Juden in Deutschland, von denen der Witz ging, sie hätten am Nürnberger Parteitag teilgenommen und Schilder getragen, auf denen »Raus mit uns« stand. »Rein mit uns« ist dasselbe, von der anderen Seite gesehen. Wenn die Forderung nach intellektueller Unabhängigkeit mit herrschenden Gepflogenheiten des amerikanischen Geisteslebens sich nicht verträgt, dann ist es Amerika gegenüber anständiger, solchen Gepflogenheiten sich entgegenzustellen, als sie zu unterschreiben und womöglich noch zu übertrumpfen. Jene Unsitten liegen obenauf und lassen sich allzu leicht durchschauen. An uns ist es, Fühlung zu suchen mit den Trägern des amerikanischen Geistes, die anders sind: die nicht konformieren.
Es gibt intellektuelle Bereiche, in denen der Begriff des Beitrags am Platz ist. Das sind die Einzelwissenschaften, insbesondere die naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen und die formallogischen und methodologischen Theoreme, die den Naturwissenschaften zugeordnet sind. Mit anderen Worten, die sogenannten positiven Wissenschaften, in denen eine neue Entdeckung oder Erfindung von je und überall als Beitrag gewertet wurde. Niemand wird leugnen, daß die Emigranten solche Beiträge in Fülle geleistet haben. Je mehr man indessen den geisteswissenschaftlichen Bereichen sich nähert, um so schwieriger ist es um die Idee des Beitrags bestellt. Gewiß, die Entdeckung neuer philologischer Zusammenhänge, die Herstellung eines schwierigen mittelalterlichen Notentextes, selbst die Datierung eines bestimmten Bildes mag noch unter die Formel Beitrag fallen. Aber kein Unbefangener kann dem sich verschließen, daß darin das Wesen der Geisteswissenschaften nicht eigentlich besteht. Es ist vielmehr unabtrennbar von der Einsicht in Sinnzusammenhänge, in Stimmigkeit und Widerspruch, von einem kritischen Moment. Noch das größte gestaltete Kunstwerk, und es vor allem, enthält dies kritische Moment und damit den Anspruch an den Betrachter, es ihm gleichzutun. Er gilt aber für alle Erkenntnis von dem, was in Geschichte und Gesellschaft sich zuträgt. Selbst eine dem Anschein nach noch so grobe historische Tatsache ist verständlich nur, wenn sie zum Lebensprozeß der Gesellschaft als ganzer, zu deren positiven und negativen Momenten gleichermaßen, schließlich zur Wahrheit selber in Beziehung gerückt wird. Mit anderen Worten, jede geisteswissenschaftliche Problemstellung, und wäre es ein statistischer Befund der modernen Soziologie, drängt, um überhaupt Erkenntnis zu sein, auf philosophische Theorie. Die ist aber niemals Beitrag im Sinne des greifbaren Resultats, sondern Gedanke über die Resultate, und schließlich über das Wesen des Beitrags selber. Denn dieser setzt naiv den Wert der Ordnung voraus, zu der etwas beigetragen werden soll, und eben dem Wert der Ordnung ist nachzufragen. Wenn die große Philosophie auf ihrer Höhe, in Hegel, die Arbeit des Geistes mit dem Prinzip der Negation gleichsetzte, so ist damit die Verpflichtung anerkannt, über das je Gegebene und bloß Soseiende hinauszugehen, nicht bloß um der Möglichkeit eines Besseren willen, sondern bereits um das Gegebene selber begreifen zu können. Man braucht einer solchen Vorstellung von der Arbeit des Begriffs nur die Rede, es müsse eben etwas Positives geleistet werden, entgegenzustellen, um der Flachheit, Selbstzufriedenheit und Verlogenheit solcher konventionellen Meinung innezuwerden.
Es will mir scheinen, als liege an dieser Stelle die Schuld der emigrierten Intellektuellen. Im allgemeinen sind sie damit zufrieden, Beiträge zu leisten, sei's wirkliche, sei's solche zum Kulturbetrieb, und entziehen sich unbehaglichen Besinnungen, verwehren sich jede im Ernst abweichende Produktion. Manche schließen sich zu sektenhaften, fachmännisch beschränkten Philosophenschulen nach deutschem Muster zusammen. Meist aber wird der philosophische Gedanke einer kitschigen und unverbindlichen Weltanschauungsliteratur überlassen, deren Ideale schon grob auf die Standards von Hollywood zugeschnitten sind, ehe es zum Feinschnitt im Film erst kommt.
Dabei handelt es sich nicht durchwegs um individuelle Schuld. Die Organisation des amerikanischen Geisteslebens, die weitgehend die industrielle widerspiegelt, stellt jeden Intellektuellen vor die Wahl, entweder sich einzugliedern oder ohnmächtiger Außenseiter zu bleiben. Die Schlupfwinkel, welche die weniger durchorganisierte europäische Gesellschaft unabhängigen Intellektuellen bot, fehlen. Die geistige Arbeit sieht sich ohne Schutz auf den Markt und die Konkurrenz verwiesen und steht unter nie geahnter Kontrolle durch die Konsumenten. Die gebürtigen Amerikaner, die sich in allen Verzweigungen des Systems auskennen, haben allenfalls die Möglichkeit des Ausweichens. Wir, die wir allerorten auf die übermächtigen Institutionen stoßen, sind in Versuchung, entmutigt nachzugeben und aus unserer Nachgiebigkeit auch noch ein moralisches Prinzip zu machen. In Wirklichkeit wäre es unsere Aufgabe, einen Beitrag genau dadurch zu leisten, daß wir, soweit es nur möglich ist, dem etablierten Betrieb den ihm entsprechenden, genormten Beitrag verweigern und die in unserem Denken heimischen und in Europa ausgerotteten kritischen Gedanken an der neuen Situation entwickeln, anstatt sie hier uns selber nochmals zu verbieten.
Lassen Sie mich Ihnen zwei Beispiele geben. Einer der erfolgreichsten Sozialwissenschaftler der Emigration, ein Mann von großen Fähigkeiten, hat vor einer Reihe von Jahren die Idee vertreten, mit den hierzulande außerordentlich entwickelten Meßmethoden Kultur zu messen durch statistische Erhebungen über den Konsum an Kulturgütern. Er hatte seine kritische Besinnung im Angesicht des Begriffs Kultur stillgestellt. Er beschied sich dabei, daß Kultur der Verbrauch von Büchern, Musik, Bildern sei, ohne sich auch nur zu fragen, ob Kultur nicht gerade in jener Art Erfahrung, jener Art des unwillkürlichen Gedächtnisses bestehe, die sich der Übersetzung in Tatsachen und Zahlen versperrt – ob nicht, in anderen Worten, Kultur gerade das Gegenteil jener Denkprozesse darstelle, mit denen er sie zu untersuchen vorschlug. Mißverstehen Sie mich nicht so, als ob ich kulturkonservativ redete, etwa die angeblich organisch gewachsene Kultur gegen die technische Zivilisation ausspielte. Ich meine vielmehr, daß gerade die allzu prompte Anwendung technischer Methoden auf die Kultur der Kulturkritik im Wege steht. Jener Soziologe, der übrigens unterdessen seine Anschauung geändert haben dürfte, hat gerade dadurch, daß er Kultur mit geistigem Konsum gleichsetzte, sich dagegen blind gemacht, daß die Konsumentenkultur keine mehr ist, sondern daß gerade das Hinunterschlingen von best sellers, Filmen und Standardsymphonien die Beziehung zu den geistigen Gütern zerstört, die sie vorgeblich bekundet. Ein geistiges Gebilde erfahren heißt nicht es genießen, sondern es begreifen, und das heißt notwendig, es kritisch auffassen. Die blind akzeptierte, zum absoluten Wert gestempelte Kultur ist bereits die Barbarei.
Ein zweites Beispiel: ein deutscher Philosoph, der der sogenannten Existentialphilosophie Heideggers nahestand und drüben von gewissen Neigungen zur Scholle nicht ganz freizusprechen war, erklärte mir, er sei glücklich über den Zwang, englisch anstatt deutsch zu schreiben: er sei durch die neue Sprache genötigt, jeden Gedanken unvergleichlich viel klarer zu denken als früher. Ich will nicht entscheiden, ob in seinem besonderen Fall der Zwang wirklich heilsam war oder nicht. Aber ich weiß, daß die Begeisterung für die neue Sprache, die kein einziger von uns wirklich so zu schreiben vermag, wie wenigstens einige von uns deutsch schrieben, darauf hinausläuft, daß man um der Mitteilung und Verständlichkeit willen nicht nur alle Nuancen und Ausdrucksmomente des Gedankens preisgibt, in denen dessen Leben recht eigentlich besteht, sondern daß man auch die Sachen selber so vergröbert und verdinglicht, daß von ihrer Substanz nichts mehr übrigbleibt. Indem man sich vormacht, edler Einfalt und stiller Größe sich zu befleißigen und die europäische Gewundenheit und Verstiegenheit loszuwerden, bringt man es nicht etwa zur kristallklaren Formulierung seiner Ideen. Vielmehr zerschneidet man sie in kleine Bröckchen – selbst lange Sätze zu schreiben getraut man sich ja nicht mehr – und verrührt sie in einer allgemeinen Sauce der geistigen Verständigung. Das Eigene taugt dann gerade noch dazu, als Kennmarke der colorful personality einen von den Konkurrenten hinlänglich zu unterscheiden, denen man sonst in allem es gleichtut. Kein Gedanke ist unabhängig von der Form seiner Mitteilung: das anzunehmen setzt bereits eine Trennung von Sache und Erfahrung voraus, die von den verhängnisvollsten Tendenzen der gegenwärtigen Gesellschaft herrührt und die dem Denken kritisch zu bezeichnen geziemt, anstatt daß es sich ihr stillschweigend unterwirft. Versucht man vollends, den Geist alsogleich praktisch zu wenden und einem jeglichen Gedanken die Anweisung beizugeben, was damit anzufangen sei, so macht man damit ohne weiteres den bestehenden Zustand sich zu eigen, in dessen Rahmen die Praxis sich abspielt. Aufgabe des Gedankens aber wäre es, diesen Zustand selber zu analysieren.
All das sind, wie ich nur zu deutlich weiß, recht formale Anzeigen. Es gibt auf die Fragen, die ich aufgeworfen habe, in Wahrheit keine andere Antwort als die ausgeführte philosophische Theorie selber. Diese ist in einem Diskussionsbeitrag nicht einmal anzudeuten. Lassen Sie mich statt dessen mit einem Gewaltstreich in vier Thesen zusammenfassen, was mich als Forderung an die intellektuelle Emigration rechtmäßig dünkt. Vorher möchte ich Ihnen noch zugestehen, daß die Gebärde des Forderns ebensosehr etwas Unangemessenes hat wie die bündige Thesenform, und möchte Sie bitten, die Unbescheidenheit des Ausdrucks mit der Schwierigkeit der Sache zu entschuldigen.
1. Der Denkende in der Emigration sollte sich nicht vormachen, ein neues Leben zu beginnen, sondern die Konsequenz aus dem vergangenen, aus seiner ganzen Erfahrung ziehen, die europäische Katastrophe und die Schwierigkeiten im neuen Lande inbegriffen. Wenn uns gepredigt wird, daß es einen transfer unserer europäischen Vergangenheit nicht gäbe, so sollten wir zumindest dessen uns bewußt bleiben, daß Menschen, die sich nicht als Individuen selber durchstreichen, keine leeren Tafeln sind; daß die Vorstellung, von vorn anzufangen, im geistigen Bereich eine Fiktion darstellt. Nichts anderes bleibt uns übrig, als gewissermaßen das nicht Transferierbare zu transferieren.
2. Die Übermacht der unermeßlichen industriellen Apparatur über den Einzelnen darf uns nicht dazu verführen, die Welt, in der wir leben und die uns beherrscht, zu vergötzen. Vielmehr sollten wir der Möglichkeiten innewerden, die in dem überwältigenden Wirklichen hier beschlossen liegen, und kraft jener Möglichkeiten versuchen, dem Druck der allgegenwärtigen Maschinerie zu widerstehen.
3. Wir sollen in der sachlichen Arbeit unbeirrt bleiben. Das heißt, wir sollen trachten, die Sache aus sich heraus rein, ohne Rücksicht auf Zwecke und Kommunikation auszudrücken. In einer Welt, in der alles Kommunikation ist, redet zu den Menschen in Wahrheit nur der, der nicht schlau darauf ausgeht, zu ihnen zu reden.
4. Wir sollen uns nicht dumm machen lassen. Wir sollen aus dem Zwang, alles in Tatsachen und Zahlen umzusetzen, nicht Denkverbote für uns ableiten. Während wir alles hier lernen sollen, was uns vom wahnhaften Moment am deutschen Denken heilen kann, sollen wir darüber nicht Phantasie, Spekulation, unverkümmerte Einsicht uns beschneiden. Je mehr im Wissenschaftsbetrieb universale Kontrollmechanismen einen jeden unserer Gedanken auf seine Richtigkeit überprüfen, um so mehr sollen wir dessen eingedenk bleiben, daß Wahrheit nur in dem Gedanken liegt, der den Kontrollmechanismus selber durchdringt.
Ich bin am Ende. Lassen Sie mich wiederholen: meine Anregungen sind nicht als weltfremde Moralpredigt gemeint. Die Gefahren, auf die ich hinwies, kommen aus dem Zwang, sich am Leben zu erhalten, dem die Intellektuellen unter den Emigranten gleich allen anderen unterliegen. Soviel aber ist uns vom Deutschen geblieben, daß wir in der deutschen Versuchung sind, keine Lüge aussprechen zu können, ohne sie selber zu glauben. Nicht Trotz möchte ich anraten und nicht uns in der Situation von Kuriositäten sehen, die um ihrer Absonderlichkeit willen bestaunt und vielleicht sogar ernährt werden. Nur meine ich, daß wir dort, wo wir zu Konzessionen gezwungen sind, sie nicht mit fliegenden Fahnen zu unserer eigenen Sache machen sollten, sondern im harten Bewußtsein des Zwangs, der auf uns liegt. Gerade wenn es uns ernst damit ist, einen besseren Gesellschaftszustand zu erstreben, dürfen wir hoffen dazu beizutragen einzig, wenn wir nicht dem Bestehenden blindlings uns verschreiben.
Fußnoten
* Vortrag, gehalten im Jewish Club Los Angeles, 27. Mai 1945.