III. Der Film und das neue musikalische Material
Die Diskrepanz zwischen den gegenwärtigen Filmen und der üblichen Begleitmusik ist schlagend. Diese legt sich wie ein Dunstschleier vor den Film, schwächt die fotografische Schärfe ab und wirkt dem Realismus entgegen, den jeder Film notwendig anstrebt. Sie macht den gefilmten Kuß zum Titelbild eines Magazins, den Schmerzausbruch zum Melodram, Naturstimmung zum Öldruck. Vom heute erreichten Standpunkt der Musik aus aber wäre das nicht mehr notwendig: in der Entwicklung der autonomen Musik der letzten Dezennien haben sich viele Elemente und Techniken ergeben, die der wirklichen Technik des Films entsprechen. Nicht um ihrer ›Zeitgemäßheit‹ willen ist ihre Verwendung zu erörtern. Es handelt sich nicht um das Up-to-date-Sein in abstracto: es wäre zu wenig, von der neuen Musik im Film bloß zu verlangen, daß sie neu sei. Die Notwendigkeit der Verwendung neuer musikalischer Mittel ergibt sich daraus, daß sie ihre Funktion sachgemäßer und besser leisten als das zufällige musikalische Füllsel, mit dem man sich heute bescheidet.
Als Elemente und Techniken der neuen Musik wird verstanden, was in den Werken von Schönberg, Bartók und Strawinsky in den letzten dreißig Jahren ausgebildet worden ist. Entscheidend dabei ist nicht der größere Reichtum an Dissonanzen, sondern die Auflösung der vorgegebenen, konventionellen musikalischen Sprache. Alles ergibt sich unmittelbar aus den konkreten Anforderungen des Gebildes, nicht aus dem Schema. Ein Stück voll von Dissonanzen kann durchaus konventionell in seinem Duktus sein und eines, das verhältnismäßig einfacheres Material verwendet, durchaus avanciert und neu durch den konstruktiven Einsatz der Mittel. Selbst eine Dreiklangsfolge kann fremd klingen, wenn sie aus den gewohnten Assoziationsgeleisen herausgenommen und einzig aus der Stimmigkeit des besonderen Gebildes abgeleitet wird.
Die Zurückführung der Musik auf konstruktive Notwendigkeit, die Tilgung von Cliché und Floskel läßt sich als Sachlichkeit bezeichnen. Sie stimmt überein mit der potentiellen des Films. Der Ausdruck ›sachlich‹ kann falsch und zu eng verstanden werden. Man wird dabei zunächst an den musikalischen Neoklassizismus, das ›neusachliche‹ Stilideal denken, das von Strawinsky und seinen Anhängern entwickelt worden ist. Aber es ist keineswegs gemeint, daß avancierte Filmmusiken notwendig kalt sein müssen. Die dramaturgische Funktion der Begleitmusik kann unter Umständen gerade darin bestehen, die Oberfläche der nüchternen Bildsachlichkeit zu durchbrechen und latente Spannungen freizusetzen. Sachliche Filmmusik komponieren, heißt nicht, um jeden Preis eine distanzierte Haltung einnehmen, sondern bewußt aus der Sache heraus die musikalische Haltung wählen, die notwendig ist, anstatt von musikalischen Clichés oder Affekten sich treiben zu lassen. Das musikalische Material muß für die jeweils gesetzten dramaturgischen Aufgaben exakt beherrschbar werden. Dahin aber geht die Entwicklungstendenz der modernen Musik selber1. Sie läßt sich, wie angedeutet, als ein Prozeß von Rationalisierung ansehen in dem Sinn, daß jedes einzelne musikalische Moment in seiner Notwendigkeit aus der Konstruktion des Ganzen abgeleitet wird. Je beherrschbarer aber Musik in sich, durch ihre eigenen Konstruktionsprinzipien wird, um so beherrschbarer wird sie auch für Zwecke der Anwendung auf ein anderes Medium. Es hat sich gezeigt, daß gerade die als anarchisch und chaotisch denunzierte Freisetzung neuer Materialschichten zu weit eingreifenderen und strengeren Konstruktionsprinzipien geführt hat, als die traditionelle Musik sie kannte. Die Prinzipien machen es möglich, stets genau das Mittel zu wählen, das von der besonderen Sache im besonderen Augenblick gefordert wird, anstatt daß man nach formelhaft erstarrten, zur konkreten Funktion untauglichen Mitteln zu greifen hätte. Solche Versachlichung erlaubt es, den unablässig wechselnden Aufgaben und Situationen des Films präzis gerecht zu werden. Es ist leicht einzusehen, daß gerade die traditionellen Mittel, längst in automatisierten Assoziationen festgefahren, das nicht leisten, während freilich selbst sie, vom Niveau der modernen aus erhellt und gebrochen, aufs Neue sinnvoll verwendet werden mögen. Um eine Vorstellung von den festgefahrenen Assoziationen zu geben: ein 4/4-Takt mit Betonung auf den guten Taktteilen hat immer etwas Militärisches oder ›Triumphales‹, die Verbindung der ersten etwa mit der dritten Stufe im ruhigen Tempo, piano, suggeriert durch ihren modalen Charakter etwas Religiöses, der markierte 3/4-Takt den Walzer und eine durch nichts gerechtfertigte Lebensfreude. Solche Assoziationen bewirken in der Filmmusik ein falsches Bewußtsein über die im Film gezeigten Vorgänge. Das neue musikalische Material verwehrt das. Der Hörer wird angeregt, die Szene in sich zu begreifen und sie untraditionell nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Das, was die neue Musik durch ihre Spezifikation leisten kann, ist freilich nicht die Abbildung begrifflich vermittelter Vorstellungen wie etwa in der Programmusik, die Wasserfälle rauschen und Schafe blöken läßt. Aber sie trifft den Ton einer Szene, die besondere Gefühlslage, den Grad von Ernst oder Unernst, Bedeutung oder Gleichgültigkeit, Echtheit oder Schein – Unterschiede, die im romantischen Requisitenschatz nicht vorgesehen sind. In einem französischen Puppenfilm aus dem Jahr 1933 war die Aufgabe, eine Sitzung von Industriemagnaten als Ensembleszene zu komponieren. Verlangt wurde gutmütiger Spott, die Musik aber wirkte bei aller puppenhaften Dünnheit durch ihr avanciertes musikalisches Material so scharf, daß die Industriellen, die den Film in Auftrag gaben, die Partitur zurückwiesen und eine andere herstellen ließen.
Die ›Unsachlichkeit‹ der epigonalen Musik ist von ihrem scheinbaren Gegensatz, der Clichébildung, gar nicht zu trennen. Nur dadurch, daß bestimmte Konfigurationen, musikalische Gestalten zu Modellen werden, die man stets wieder einsetzt, ist es möglich, daß diese Gestalten automatisch mit gewissen Ausdrucksgehalten assoziiert werden und schließlich ›ausdrucksvoll‹ an sich scheinen. Die neue Musik vermeidet solche Modelle. Sie bringt nach den besonderen Anforderungen immer neue Konfigurationen. Daher ist jene schlechte Verselbständigung des Ausdrucks gegenüber dem rein musikalischen Geschehnis nicht mehr möglich.
Die Angemessenheit der modernen, befremdenden Mittel ist vom Film selber her einzusehen. Ihm sind seine Ursprünge in der Jahrmarktsbude und im Schauerstück immer noch anzumerken; sein Lebenselement ist die Sensation. Das ist nicht bloß negativ zu verstehen, als Abwesenheit von Geschmack und ästhetischem Maß: nur durch den Schock vermag der Film das empirische Leben, dessen Abbildung er auf Grund seiner technischen Voraussetzungen prätendiert, fremd zu machen und erkennen zu lassen, was an Wesentlichem hinter der abbildrealistischen Oberfläche sich abspielt. Dramatisch vermag reportiertes Leben überhaupt nur durch Sensation zu werden, in der der normale Alltag, von dem ausgegangen wird, gewissermaßen explodiert und gerade im Fall künstlerischer Wahrheit die Spannungen erkennen läßt, die das Bild des ›normalen‹, mittleren Alltags verdeckt. Die Greuel des Sensationskitschs legen etwas vom barbarischen Grund der Kultur frei. Soweit der Film durch Sensation das Erbe der Volkskunst von Schauerballade und Zehnpfennigroman unterhalb des etablierten Standards der bürgerlichen Kunst bleibt, soweit vermag er gerade durch Sensation auch jene Standards zu erschüttern und eine Beziehung zu kollektiven Energien herzustellen, die der gepflegten Literatur und Malerei gleichermaßen unzugänglich ist. Eben diese Funktion ist mit den Mitteln der traditionellen Musik nicht zu erfüllen. Die moderne taugt dazu. Die Angst, die in den Dissonanzen aus Schönbergs radikalster Periode ausgedrückt ist, geht weit hinaus über das Maß an Angst, das dem durchschnittlichen bürgerlichen Individuum jemals erreichbar ist: es ist eine geschichtliche Angst, die der heraufdämmernden Katastrophe der Gesellschaft. Etwas von dieser Angst lebt in der großen Sensation der Filme: wenn in ›San Francisco‹ die Decke des Night Club sich senkt, wenn in ›King Kong‹ der Riesenaffe die New Yorker Hochbahn in die Straßen schleudert. Die traditionelle musikalische Begleitung hat niemals auch nur entfernt an solche Augenblicke herangereicht. Die Schocks der modernen Musik, die nicht zufällig von ihrer Technifizierung herkamen, aber nach dreißig Jahren noch nicht absorbiert sind, könnten das leisten. Schönbergs Musik zu einem imaginären Film: drohende Gefahr – Angst – Katastrophe hat mit untrüglicher Sicherheit genau diese Einsatzstelle für die Verwendung der neuen musikalischen Mittel bezeichnet. Selbstverständlich bezieht die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten sich keineswegs bloß auf das Bereich von Angst und Katastrophe, sondern es lassen gerade auch nach der entgegengesetzten Richtung der äußersten Zartheit, des gebrochenen Schmerzes, des leeren Wartens, auch der ungebändigten Kraft durch die neuen musikalischen Mittel Bereiche sich erschließen, die den traditionellen darum versagt sind, weil diese sich als je schon bekannte darstellen und darum den Ausdruck des Fremden, Unbetretenen vorweg verlieren.
Beispiel: in ›Hangmen Also Die‹ zeigt nach der Titelmusik der Film zuerst ein großes Bild von Hitler in einem Festsaal des Hradschin. Die Musik endet bei dem Hitlerbild mit einem zehnstimmigen Akkord, durchdringend in weiter Lage gesetzt. Es gäbe kaum eine traditionelle Harmonie, die dieselbe Kraft des Ausdrucks hätte wie dieser äußerst avancierte Klang. Auch der zwölfstimmige Akkord beim Tode der Lulu in Bergs Oper steht einer Filmwirkung nahe. Während die Filmtechnik wesentlich auf die Herstellung von Spannungen gerichtet ist, spielt das Spannungsmoment in der traditionellen Musik und ihren tolerierten Dissonanzen nur eine untergeordnete Rolle oder ist so abgebraucht, daß es in Wahrheit gar keine Spannung mehr hergibt. Das Wesen der modernen Harmonik aber ist Spannung: sie kennt keinen Akkord, der nicht in sich eine ›Tendenz‹ trüge, weitertriebe, anstatt wie die meisten herkömmlichen Klänge in sich selber zu ruhen. Dazu kommt, daß selbst die mit spezifisch dramatischen Assoziationen geladenen Klänge der traditionellen Musik längst so domestiziert sind, daß sie hinter der bilderlosen Gewalt der heutigen Wirklichkeit etwa so weit zurückbleiben, wie romantische Strophengedichte aus dem neunzehnten Jahrhundert untauglich dazu sind, eine Vorstellung vom Faschismus zu geben. Man brauchte sich nur einen drastischen Fall zu vergegenwärtigen wie den, daß eine Materialschlacht wie die von Stalingrad mit einer konventionellen, dem Stil Meyerbeers oder Verdis nachgeahmten Kriegsmusik begleitet würde. Das Unmetaphorische, der ästhetischen Stilisierung überhaupt sich Entziehende, auf das der moderne Film in seinen konsequentesten Produkten abzielt, verlangt gerade nach musikalischen Mitteln, die nicht das stilisierte Bild vom Schmerz, sondern vielmehr dessen Klangprotokolle sind. Strawinsky hat schon in einem Werk wie dem Sacre du printemps gerade diese Dimension der neuen musikalischen Mittel erschlossen.
Zusammenfassend sei auf die folgenden spezifisch musikalischen Elemente hingewiesen, die dem Film angemessen sind:
Musikalische Form
Die Praxis des Films kennt vorwiegend kurze musikalische Formen. Länge oder Kürze einer musikalischen Form stehen in bestimmter Relation zum musikalischen Material. Die tonale Musik der letzten 250 Jahre drängt auf längere, entwickelte Formen. Das Bewußtsein eines tonalen Zentrums kann hergestellt werden nur durch Entsprechungen, Entwicklungen, Wiederholungen, die eine gewisse Zeit beanspruchen. Kein tonales Ereignis ist als solches verständlich, sondern wird ›tonal‹ erst durch entfaltete Beziehungen. Diese Tendenz wächst an mit dem Eigengewicht der Modulation: je mehr die Musik vom tonalen Ausgang wegstrebt, um so mehr Zeit braucht sie, um den tonalen Schwerpunkt wiederherzustellen. Alle tonale Musik enthält ein Moment des ›Überflüssigen‹ dadurch, daß jedes Ereignis, um seine Funktion im Bezugssystem zu erfüllen, öfter ausgesprochen werden muß, als es seinem eigenen Sinn nach notwendig wäre. Die kurzen Formen der Romantik (Chopin und Schumann) widersprechen dem nur scheinbar. Die liedähnlichen instrumentalen Kompositionen dieser Meister ziehen ihren Ausdruck aus dem Fragmentarischen, aus einem Abbrechen, ohne daß sie je beanspruchten, in sich selbst zu ruhen und ›geschlossen‹ zu sein. Die Kürze der neuen Musik ist davon prinzipiell verschieden.
In ihr sind die einzelnen musikalischen Ereignisse, die Motivgestalten ohne Rücksicht auf ein vorgeordnetes Bezugssystem konzipiert. Sie sollen nicht ›wiederholbar‹ sein und verlangen auch keine Wiederholung, sondern stehen zunächst für sich selbst. Wenn sie ausgesponnen werden, so geschieht das nicht durch symmetrische Entsprechungen, wie Sequenzen, Reprisen der ersten Periode einer Liedform und ähnliches, sondern durch entwickelndes Variieren der gegebenen Ausgangsmaterialien, ohne daß diese dabei überhaupt sinnfällig wiedererkannt werden müßten. All das bewirkt eine Kondensierung der musikalischen Form, die über das romantische Fragment weit hinausgeht. Es sei an die Schönbergschen Klavierstücke op. 11 und 19 und das Monodram ›Erwartung‹, an Strawinskys Quartettstücke und die japanischen Lieder, und an die Arbeiten von Anton Webern erinnert. Die besondere Qualifikation der neuen Musik zum Aufbau konsistenter, präziser kleiner Formen, in denen nichts Überflüssiges vorkommt, die sofort zur Sache kommen und keiner Verlängerung aus architektonischen Gründen bedürfen, liegt auf der Hand.
Neue Charaktere
Die Emanzipation der einzelnen Motivgestalten von Symmetrie und Wiederholbarkeit erlaubt es, auch den einzelnen musikalischen Gedanken weit eindringlicher und drastischer zu formulieren und die Beziehung zwischen den einzelnen Charakteren von allem floskelhaften Beiwerk zu befreien. In der neuen Musik ist für Füllsel kein Raum.
Es ist diese Fähigkeit zu ungebundener Charakteristik, durch welche die neue Musik dem Prosacharakter des Films entgegenkommt. Zugleich erlaubt diese Schärfung der musikalischen Charakteristik auch eine Schärfe des Ausdrucks, die durch die ›Stilisierung‹ der traditionellen musikalischen Charaktere verwehrt war. Hält die klassische Musik immer ein gewisses Maß im Ausdruck der Trauer, des Schmerzes und der Angst, so tendiert der neue Stil zur Maßlosigkeit. Trauer kann zur grauenvollen Verzweiflung werden, Ruhe zur gläsernen Starrheit, Angst zur Panik. Auf der anderen Seite ist die neue Musik auch fähig, den Ausdruck der Ausdruckslosigkeit, der Ruhe, der Gleichgültigkeit und Apathie in einer Weise zu realisieren, die der traditionellen Musik nicht möglich ist. Impassibilité gibt es in der Musik erst seit Eric Satie, Strawinsky und Hindemith. Diese Erweiterung der Ausdrucksskala bezieht sich nicht nur auf die Ausdruckscharaktere als solche, sondern insbesondere auch auf ihren Wechsel. Die traditionelle Musik, abgesehen von der Überraschungstechnik, wie sie etwa bei Berlioz und Richard Strauss vorwaltet, braucht meist eine gewisse Zeit für den Wechsel von Charakteren. Die Forderung nach einer vermittelten Balance zwischen den Tonarten und den symmetrischen Teilen verwehrt es, die Charaktere rein ihrem eigenen Sinn nach unmittelbar nebeneinander zu stellen. Die neue Musik kennt im allgemeinen solche Rücksicht nicht mehr. Sie kann ihre Formen durch schärfste Kontraste bilden. Dem technischen Prinzip des jähen Bildwechsels, das der Film ausgebildet hat, kommt die neue musikalische Sprache durch ihre eigene Agilität entgegen.
Dissonanz und Polyphonie
Für den Laien ist das auffälligste Merkmal der neuen musikalischen Sprache ihr Reichtum an ›Dissonanzen‹, nämlich die simultane Verwendung von Intervallen wie der kleinen Sekunde und der großen Septime und die Bildung von Zusammenklängen mit sechs und mehr verschiedenen Tönen. Obwohl der Dissonanzreichtum der modernen Musik ein Oberflächenphänomen ist, das an Bedeutung weit hinter den Strukturveränderungen der musikalischen Sprache zurücksteht, involviert der Dissonanzenreichtum ein Element, das für den Film von besonderer Wichtigkeit ist. Der Klang wird seiner Statik beraubt und durch das immer präsente Moment des ›Unaufgelösten‹ dynamisiert. Die neue Sprache ist dramatisch gleichsam, schon ehe es zum Konflikt, zur motivisch-thematischen Auseinandersetzung der Durchführung kommt. Ein verwandter Zug ist dem Film eigentümlich. In ihm ist das Spannungsprinzip, selbst in der schwächsten Produktion, latent so durchaus wirksam, daß noch Vorgänge, denen als solchen gar keine Bedeutung zukommt, wie versprengte Bruchstücke eines Sinnes erscheinen, den das Ganze einlösen soll. Solche Vorgänge treiben weit über sich hinaus. Diesem Element des Films vermag die neue musikalische Sprache besonders treu zu folgen2.
Die Emanzipation der Harmonie in der neuen Musik bietet zugleich das Korrektiv der in dem Kapitel über Vorurteile besprochenen Forderung: Melodie um jeden Preis. Diese Forderung entbehrt in der traditionellen Musik nicht jeden Sinnes, weil in ihr die andern Elemente, insbesondere die Harmonie in ihrer Selbständigkeit so beschränkt sind, daß das Schwergewicht notwendig auf die Melodik fällt, die selbst wieder durch die Harmonie gelenkt wird. Gerade deswegen ist aber das melodische Prinzip konventionalisiert und abgebraucht worden, während die emanzipierte Harmonie die übermäßig beanspruchte Melodik entlastet, nämlich Einfall und charakteristische Wendung in der vertikalen, nicht-melodischen Dimension erlaubt3. Gegen das Melodisieren hilft sie noch in anderer Weise. Der konventionelle Begriff der Melodie ist gleichbedeutend mit Oberstimmenmelodie. Diese aber, dem Liedstil entlehnt, ist von vornherein darauf angelegt, den Vordergrund der Wahrnehmung einzunehmen. Die Oberstimmenmelodie ist Figur, nicht Hintergrund. Figur im Film aber ist das Bild, und ein Bild permanent mit Oberstimmenmelodik zu begleiten, führt eben darum zu Undeutlichkeiten, Verwischtheit und Verwirrung. Die Freisetzung der harmonischen Dimension ebenso wie die Gewinnung eines echt polyphonen Spielraums, der nicht auf schulmäßig konventionelle Imitationstechniken angewiesen ist, gestattet es der Musik, zum ›Hintergrund‹ in einem besseren Sinn als dem der Geräuschkulisse zu werden und zu der wahrhaften Melodie des Films, nämlich dem Bildvorgang, sinnvolle Belege und wirkliche Gegensätze hinzuzufügen. Gerade diese entscheidenden Möglichkeiten der Filmmusik können nur vom neuen musikalischen Material aus erfüllt werden und sind bis jetzt kaum auch nur ernsthaft gesehen worden.
Gefahren des Neuen Stils
Warnung Eislers: Durch das Wegfallen der gewohnten Bezugssysteme der traditionellen Musik ergeben sich eine Reihe von Gefahren. Bedenklich ist zunächst das verantwortungslose Draufloskomponieren mit den neuen Mitteln, Neutönertum im schlechten Sinn. Darunter ist die Anwendung von fortgeschrittenem Material um seiner selbst willen, nicht aus dem Zwang der Sache, zu verstehen. Wenn in der traditionellen musikalischen Sprache ein Stümper etwas komponiert hat, so war das für jeden halbwegs geschulten Musiker und Laien verhältnismäßig leicht festzustellen. Die Konventionsfremdheit der neuen Musik und die Distanz der neuen musikalischen Sprache von der in den Konservatorien erlernten bringt es mit sich, daß die Identifikation von Stumpfsinn und prätentiösem Stümpertum zwar objektiv genauso möglich ist wie früher, aber dem durchschnittlichen Hörer schwerer fällt. Daher mag es vorkommen, daß Neophyten Unfug anstellen und völlig sinnlose Zwölftonkompositionen auf Filme loslassen, die avanciert scheinen, während ihr scheinbarer Radikalismus die Wirkung des Films belastet, ohne ihn sachlich zu fördern. Freilich ist diese Drohung heute weit akuter in der ›autonomen‹ als in der Filmmusik, aber der Ruf nach frischen Kräften könnte leicht zu einer Situation führen, in der die Sache der neuen Musik so schlecht vertreten wird, daß der Kitsch der alten Garde triumphiert.
In der Verfahrungsweise der neuen Musik selbst liegen Gefahren, die auch von dem erfahrenen Komponisten beachtet werden müssen: Überkomplexheit des Details, die Sucht, jedes Moment der musikalischen Begleitung möglichst interessant zu machen, Pedanterie, formalistische Spielereien. Insbesondere ist zu warnen vor einer leichtfertigen Übernahme der Zwölftontechnik, die zur Fleißaufgabe entarten kann, in der das arithmetische ›Stimmen‹ der Reihe das echte Stimmen des musikalischen Zusammenhangs ersetzen soll und in Wahrheit verhindert.
Warnung Adornos: Während die gegenwärtige Organisation der Filmindustrie es unwahrscheinlich macht, daß wilde Experimentatoren auf das kostspielige Medium losgelassen werden, ist eine andere Gefahr weit aktueller. Die Mängel der konventionellen Filmmusik werden, mehr oder minder bewußt, allgemein wahrgenommen. Radikale Neuerungen sind jedoch aus kommerzieller Rücksicht weithin ausgeschlossen. Infolgedessen beginnt sich eine gewisse Neigung zur mittleren Linie geltend zu machen, die ominöse Forderung: modern, aber nicht zu sehr. Gewisse Techniken der modernen Musik wie das Ostinato der Strawinskyschule beginnen sich bereits einzuschleifen, und aus der Absage an die Routine droht eine zweite, kunstgewerbliche, pseudo-moderne Routine zu werden. Diese Tendenz wird von der Filmindustrie in gewissen Grenzen ermutigt, während gerade solche Komponisten, denen es zwar die moderne Technik angetan hat, die es aber mit dem Markt nicht verderben wollen, oder es sich nicht leisten können, zur Industrie tendieren. Der Gedanke, daß auf dem Umweg über gemäßigte Kopien das radikale Original sich durchsetzen könne, ist eine Illusion. Durch solche Vermittlungen wird eher der Sinn der radikalen Sprache aufgelöst als verbreitet.
Fußnoten
1 Als Beispiel dafür, wie filmähnliche Tendenzen der Sachlichkeit im Sinne rationaler Konstruktion in fortgeschrittener Musik sich geltend machen, sei auf einige Züge bei Alban Berg verwiesen, dessen, spätromantisch-expressionistische Instrumental- und Opernmusik dem Film und dem Stil der ›neuen Sachlichkeit‹ sehr fernsteht. Berg denkt so genau in mathematischen Proportionen, daß die Taktzahl seiner Stücke und damit ihre Zeitdauer vorweg feststeht. Es wird gewissermaßen mit der Stoppuhr komponiert. Bergs Opern, die oft komplexe szenische Situationen durch komplexe musikalische, etwa fugale Formen begleiten, drängen, um faßlich zu werden, nach einer Art Technik der musikalischen Großaufnahme.
2 Das Überwiegen der Dissonanzen in der neuen Musiksprache bedeutet in der Konsequenz die Auflösung der Tonalität: weder die einzelnen harmonischen Ereignisse noch ihr funktioneller Zusammenhang und die harmonische Struktur des Ganzen kann nach dem wie sehr auch erweiterten Schema der traditionellen Tonalität angemessen mehr dargestellt werden. Solche Auflösung der Tonalität wird aber aufs dringendste gefördert durch die harmonisch formale Struktur der Filmmusiken selber. Man könnte mit einiger Übertreibung sagen, daß Filmmusiken darum zur Atonalität gedrängt werden, weil zu wirklich auskomponierter entfalteter Tonalität in ihnen kein Raum ist. Gewiß, die einzelnen harmonischen Ereignisse der üblichen Filmmusik sind fast ausnahmslos strikt tonal, höchstens mit Dissonanzen »gewürzt«. Aber die Tonalität bleibt eine der einzelnen Klänge und ihrer primitivsten Abfolge. Die Notwendigkeit, sich nach »Stichworten«, cues zu richten und harmonische Effekte unbekümmert um das Eigengewicht der harmonischen Entwicklung allein der Leinwand zuliebe zu setzen, erlaubt kaum wirklich balancierte Modulatorik, das überdachte Herstellen großer harmonischer Flächen, kurz wirklich stimmige Tonalität im Sinne der Disposition funktionaler Harmonik über weite Strecken. Und darin, nicht in den Atomen der Dreiklänge und sublimen Akkorde, besteht tonale Organisation. Was von der Leitmotivik gesagt ward, gilt in einem höheren Sinne für das Tonalitätsprinzip selber. Wenn man von rückwärts, also von den Umschlagsstellen und Abweichungen des Komponierten ausginge, so wäre bei äußerster kompositorischer Sorgfalt und Virtuosität etwas wie die Herstellung befriedigender tonaler Verhältnisse vielleicht möglich: in der vorherrschenden Praxis sind zwar die einzelnen akkordischen Ereignisse banal und allvertraut, ihre Relation zu einander aber anarchisch und in den meisten Fällen ganz sinnlos. Die Emanzipation von der Tonalität macht zwar nach strengsten Maßstäben die harmonische Disposition nicht leichter, entbindet aber wenigstens von dem Gedanken an die Wiederherstellung der Grundtonart und das Auswägen der Modulationen, das von den musikfremden Anforderungen des Films kaum je geduldet wird. Dazu haben die Dissonanzen unvergleichlich viel größere Beweglichkeit, dem Einzelmoment sich anzuschmiegen, und verlangen mit weit geringerer Eindeutigkeit bestimmte, unausweichliche Konsequenzen wie die tonalen Akkorde, die aus dem Schema kommen und der Herstellung des Schemas zu ihrer eigenen Erfüllung bedürfen.
3 Die außerordentliche Wirkung von Strawinskys frühen Werken geht zum Teil auf die Lossage vom neuromantischen Melodisieren zurück.