Hela
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Culver hatte Rachmika Els nicht ganz die Wahrheit gesagt. Der Eisjammer konnte sich im Schreitmodus tatsächlich nicht schneller bewegen, doch sobald er das Dorf mit seinem weichen Boden und den vielen Hindernissen hinter sich gelassen hatte und einen festen Weg erreichte, rasteten die beiden Hinterbeine fest ein, und das Gefährt wurde wie von unsichtbarer Hand vorwärts geschoben. Rachmika hatte einiges über Eisjammer gehört und wusste, wie das vor sich ging. Die Laufflächen der Skier waren mit einem Material belegt, dem man eine schnelle mikroskopische Wellenbewegung einprogrammiert hatte. Der Bewegungsablauf war der gleiche wie bei einer Schnecke, nur mehrere tausendmal vergrößert und beschleunigt. Die Fahrt wurde dadurch leiser und ruhiger; der Jammer schwankte oder schlingerte zwar noch hin und wieder, aber das war auszuhalten.
»So ist es besser«, sagte Rachmika. Sie saß jetzt ganz vorne bei Crozet und seiner Frau Linxe. »Ich dachte schon, ich müsste…«
»Dich übergeben, meine Liebe?«, fragte Linxe. »Das braucht dir nicht peinlich zu sein. Das ist uns allen schon passiert.«
»Er kann das nur auf glattem Untergrund«, sagte Crozet. »Das Problem ist, dass er auch nicht rund läuft. An einem der Beine ist der Servo hinüber. Deshalb war es vorhin so holprig. Und deshalb machen wir auch diese Fahrt. Die verdammten Karawanen führen den ganzen technischen Kram mit, den wir bei uns im Ödland nicht herstellen oder reparieren können.«
»Pass auf, was du redest«, sagte Linxe und gab ihrem Mann einen kräftigen Klaps auf die Hand. »Falls du es noch nicht bemerkt hast, du bist in Gesellschaft einer jungen Dame.«
»Auf mich brauchen Sie keine Rücksicht zu nehmen«, sagte Rachmika. Sie wurde allmählich ruhiger: Das Dorf lag weit hinter ihnen, und nichts wies darauf hin, dass jemand sie aufhalten wollte oder dass sie verfolgt würden.
»Er redet sowieso nur Unsinn«, sagte Linxe. »Die Karawanen haben vielleicht die Dinge, die wir brauchen, aber sie geben sie uns bestimmt nicht umsonst.« Sie sah Crozet an. »Nicht wahr, Liebster?«
Linxe war eine wohl genährte Frau mit rotem Haar, das sie auf eine Seite kämmte, um das Feuermal in ihrem Gesicht darunter zu verbergen. Rachmika kannte sie, seit sie ein kleines Mädchen war, denn Linxe hatte oft im Nachbardorf im Gemeindekindergarten ausgeholfen.
Linxe hatte Rachmika immer liebevoll betreut, aber einige Jahre später musste sie nach einem kleineren Skandal den Kindergarten verlassen. Wenig später hatte sie Crozet geheiratet. Die Klatschbasen im Dorf hielten das für einen Fall von ›Gleich und Gleich gesellt sich gern‹, aber Rachmika fand Crozet ganz in Ordnung. Er war ein Sonderling, der gern für sich blieb, aber das war auch alles. Als Linxe überall geächtet wurde, hatte er zu den wenigen Dorfbewohnern gehört, die sich nicht abhalten ließen, sie zu grüßen. Rachmika mochte Linxe nach wie vor gut leiden und hatte deshalb auch gegen ihren Ehemann nicht viel einzuwenden.
Crozet lenkte den Eisjammer mit zwei Steuerknüppeln zu beiden Seiten seines Sitzes. Auf seinen unrasierten Wangen lag immer ein bläulicher Schatten, und sein schwarzes Haar glänzte fettig. Rachmika brauchte ihn nur anzusehen, um ein Bedürfnis nach Wasser und Seife zu verspüren.
»Wer sagt denn, dass ich was umsonst haben will?«, fragte Crozet. »Mag sein, dass wir nicht so viel rausholen wie letztes Jahr, aber den Bastard, der das schafft, möchte ich erst mal sehen.«
»Würden Sie eventuell umziehen, um näher am Weg zu wohnen?«, fragte Rachmika.
Crozet wischte sich die Nase am Ärmel ab. »Eher hacke ich mir selbst ein Bein ab.«
»Crozet ist nicht gerade ein eifriger Kirchgänger«, erläuterte Linxe.
»Ich bin auch nicht gerade der frommste Mensch im ganzen Ödland«, sagte Rachmika, »aber wenn ich zwischen der Kirche und dem Hungertod zu wählen hätte, weiß ich nicht, wie lange ich bei meinen Überzeugungen bliebe.«
»Wie alt bist du noch mal?«, fragte Linxe.
»Siebzehn. Fast achtzehn.«
»Hast du viele Freunde im Dorf?«
»Eigentlich nicht, nein.«
»Das überrascht mich nicht.« Linxe tätschelte ihr das Knie. »Du bist wie wir. Du passt dich nicht an, das war immer so und wird auch immer so bleiben.«
»Ich gebe mir Mühe. Aber wenn ich mir vorstelle, ich müsste den Rest meines Lebens hier verbringen, dann ertrage ich das nicht.«
»So denken viele in deiner Generation«, sagte Linxe. »Sie sind wütend. Die Sabotage vergangene Woche…« Sie meinte die Explosion im Sprenglager. »Wer will es ihnen verdenken, wenn sie einfach um sich schlagen?«
»Die anderen sagen nur, sie wollen aus dem Ödland weg«, erklärte Rachmika. »Sie glauben alle, sie könnten bei den Karawanen oder sogar in den Kathedralen reich werden. Und vielleicht haben sie Recht. Wenn man die richtigen Leute kennt, hat man gute Chancen. Aber mir genügt das nicht.«
»Du willst weg von Hela«, sagte Crozet.
Rachmika erinnerte sich an die Rechnung, die sie heute Morgen aufgemacht hatte, und führte sie weiter. »Ich habe ein Fünftel meines Lebens hinter mir. Wenn alles so weitergeht wie bisher, bleiben mir noch etwa sechzig Jahre. Mit dieser Zeit möchte ich etwas anfangen. Ich will nicht sterben, ohne eine Welt gesehen zu haben, die interessanter ist als diese hier.«
Crozet zeigte seine gelben Zähne. »Manche Leute legen Lichtjahre zurück, um Hela zu sehen, Rach.«
»Aus den falschen Gründen«, sagte sie. Doch dann hielt sie inne und überlegte. Sie hatte sehr fest gefügte Überzeugungen, die sie auch gerne zum Besten gab, aber sie wollte ihre Gastgeber nicht kränken. »Hören Sie, ich behaupte ja nicht, dass diese Leute alle dumm sind. Aber was hier wichtig ist, das sind nicht die Kathedralen, nicht der Ewige Weg und nicht die Wunder, sondern die Ausgrabungen.«
»Richtig«, nickte Crozet, »aber die sind allen scheißegal.«
»Uns nicht«, sagte Linxe. »Wer im Ödland sein Brot verdient, kann sich das nicht leisten.«
»Aber die Kirchen sehen es nicht gern, wenn wir zu tief graben«, gab Rachmika zurück. »Ihnen sind die Ausgrabungen lästig. Sie fürchten, wir könnten früher oder später auf etwas stoßen, was das Wunder weniger wunderbar aussehen ließe.«
»Du tust ja so, als redeten die Kirchen mit einer Stimme«, sagte Linxe.
»Das behaupte ich gar nicht«, entgegnete Rachmika, »aber jedermann weiß, dass sie in mancher Beziehung gemeinsame Interessen haben. Womit ich nicht sagen will, sie würden sich für uns interessieren.«
»Flitzerfossilien spielen eine wichtige Rolle in Helas Wirtschaft«, bemerkte Linxe. Es hörte sich an wie ein Zitat aus einer langweiligen Kirchenbroschüre.
»Und das bestreite ich auch nicht«, warf Crozet ein. »Aber wer kontrolliert denn schon jetzt den Verkauf von Reliquien? Die Kirchen. Sie sind auf dem besten Weg dazu, sich das Monopol darauf zu sichern. Aus ihrer Sicht wäre der nächste logische Schritt, die Ausgrabungen völlig in die eigene Hand zu nehmen. Auf diese Weise könnten die Dreckskerle alles verschwinden lassen, was ihnen nicht in den Kram passt.«
»Du bist ein zynischer alter Dummkopf«, sagte Linxe.
»Deshalb hast du mich ja geheiratet, meine Liebe.«
»Und wie denkst du darüber, Rachmika?«, fragte Linxe. »Glaubst du auch, dass die Kirchen uns verdrängen wollen?«
Rachmika hatte den Eindruck, sie würde nur aus Höflichkeit gefragt. »Ich weiß es nicht. Aber die Kirchen hätten sicherlich nichts dagegen, wenn wir alle bankrott gingen und sie einspringen und die Ausgrabungen übernehmen müssten.«
»Richtig«, nickte Crozet. »Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie sich darüber bitter beklagen würden.«
»So wie du redest…«, begann Linxe.
»Ich weiß, was Sie fragen wollen«, unterbrach Rachmika. »Und ich bin Ihnen deshalb auch nicht böse. Aber ich versichere Ihnen, dass mich die Kirchen im religiösen Sinn nicht interessieren. Ich will nur herausfinden, was mit ihm passiert ist.«
»Es muss nicht unbedingt etwas Schlimmes gewesen sein«, meinte Linxe.
»Ich weiß nur, dass sie ihn belogen haben.«
Crozet berührte mit der Spitze seines kleinen Fingers einen Augenwinkel. »Könnte mir einer von euch vielleicht mal erklären, worüber ihr eigentlich redet? Ich habe nämlich keine Ahnung.«
»Über ihren Bruder«, sagte Linxe. »Hast du mir denn überhaupt nicht zugehört?«
»Wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast«, sagte Crozet.
»Er war viel älter als ich«, erklärte Rachmika. »Und außerdem ist es schon acht Jahre her.«
»Was ist acht Jahre her?«
»Dass er zum Ewigen Weg gegangen ist.«
»Zu den Kathedralen?«
»Das hatte er vor. Er wäre nie auf die Idee gekommen, wenn es in diesem Jahr nicht so einfach gewesen wäre. Aber es war wie heute – die Karawanen zogen weiter nach Norden als sonst und waren deshalb vom Ödland aus leicht zu erreichen. Man kam mit dem Jammer in zwei bis drei Tagen zu ihnen, während man sich zum Weg zwanzig bis dreißig Tagereisen weit über Land schleppen musste.«
»Dein Bruder war also fromm?«
»Nein, Crozet. Jedenfalls nicht mehr als ich. Aber ich war damals erst neun. Ich kann mich nicht in allen Einzelheiten erinnern, was damals passiert ist. So viel ich weiß, waren die Zeiten schwierig. Die Fundstellen waren nahezu ausgebeutet. An den Grabungsstätten waren Kavernen durchgebrochen und Stollen eingestürzt. Die Dörfer gerieten in Not.«
»Stimmt genau«, sagte Linxe zu Crozet. »Ich weiß noch gut, wie es damals war, auch wenn du es vielleicht vergessen hast.«
Crozet bewegte die Steuerknüppel und umfuhr geschickt eine ellbogenförmige Bodenwelle. »O nein, so weit reicht mein Gedächtnis gerade noch.«
»Mein Bruder hieß Harbin Els«, sagte Rachmika. »Er arbeitete bei den Ausgrabungen. Er war erst neunzehn, als die Karawanen kamen, aber er hatte schon sein halbes Leben lang unter der Erde geschuftet. Er war zu vielem zu gebrauchen, unter anderem konnte er gut mit Sprengstoffen umgehen – Ladungen anbringen, die Sprengleistung berechnen und so weiter. Er wusste genau, wo er die Kapseln anbringen musste, um fast jede gewünschte Wirkung zu erzielen. Man schätzte ihn, weil er seine Arbeit ordentlich erledigte und keine halben Sachen machte.«
»Man möchte meinen, dass es für solche Leute bei den Ausgrabungen genug zu tun gäbe«, sagte Crozet.
»So war es auch. Bis die Funde spärlicher wurden. Dann wurde es eng. Die Dörfer konnten es sich nicht leisten, neue Stollen anzulegen. Nicht nur, weil die Sprengstoffe zu teuer waren. Die neuen Stollen abzustützen, mit Strom und Luft zu versorgen, Hilfstunnel anzulegen… all das wurde unbezahlbar. Also konzentrierten sich die Dörfer auf die bestehenden Kavernen und hofften auf einen Glücksfund.«
»Und dein Bruder?«
»Der wollte nicht warten, bis er wieder gebraucht würde. Er hatte von einigen Sprengmeistern gehört, die über Land gegangen waren – es hatte Monate gedauert, aber sie hatten den Weg erreicht und waren bei einer der großen Kirchen untergekommen. Angeblich braucht man dort Leute, die etwas vom Sprengen verstehen. Vor den Kathedralen gibt es immer wieder Hindernisse, die beseitigt werden müssen, um den Weg frei zu halten.«
»Er heißt nicht umsonst der Ewige Weg«, sagte Crozet.
»Jedenfalls dachte Harbin, er könnte sich für eine solche Tätigkeit bewerben, ohne gleich die gesamte Weltanschauung der betreffenden Kirche übernehmen zu müssen. Er wollte nur einen Arbeitsvertrag, der festhielt, dass er gegen Bezahlung sein Können als Sprengmeister zur Verfügung stellte. Gerüchteweise hörte man sogar von Stellen in der technischen Verwaltung, die für die Instandhaltung des Weges zuständig war. Harbin konnte gut rechnen und erhoffte sich, irgendwann die Ladungen nicht mehr selbst legen zu müssen, sondern nur noch die Planungsarbeit zu leisten. Es hörte sich gut an. Er nahm sich vor, von seinem Gehalt nur so viel zu behalten, wie er zum Leben brauchte, den Rest wollte er ins Ödland schicken.«
»Und damit waren deine Eltern einverstanden?«, fragte Crozet.
»Sie reden nicht viel darüber, und man muss schon genau hinhören, aber dass Harbin sich mit den Kirchen einließ, war ihnen nicht geheuer. Andererseits war es vernünftig. Die Zeiten waren hart. Und Harbin sprach immer nur von den finanziellen Vorteilen, so als würde nur er von den Kirchen profitieren und nicht umgekehrt. Die Eltern ermunterten nicht gerade, aber sie rieten ihm auch nicht ab. Es hätte ohnehin nicht viel genützt.«
»Harbin packte also seine Koffer…«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wir kamen alle mit, wie bei einem Familienausflug. Es war wie jetzt – fast das ganze Dorf fuhr den Karawanen entgegen. Jemand nahm uns in seinem Jammer mit, die Fahrt ging über zwei oder drei Tage. Damals kam es mir zwar viel länger vor, aber ich war ja erst neun. Irgendwo draußen vor den Ebenen trafen wir auf die Karawane. Und dort gab es einen Mann, eine Art…« Rachmika stockte. Nicht, dass ihr Gedächtnis sie im Stich gelassen hätte, aber die alten Gefühle kamen auch nach acht Jahren wieder hoch. »Ich denke, er war so etwas wie ein Personalvermittler. Arbeitete für eine von den Kirchen. Genauer gesagt für die größte. Die Ersten Adventisten. Harbin hatte erfahren, dass er sich an diesen Mann wenden müsste, um Arbeit zu finden. Wir gingen alle zu dem Treffen, die ganze Familie. Meistens redete Harbin, wir anderen saßen nur dabei und hörten zu. Es war noch ein Mann mit im Raum, der sagte gar nichts; er sah uns – vor allem mich – immer nur an, und er hatte einen Krückstock, den er hin und wieder an die Lippen drückte, als wollte er ihn küssen. Mir war er nicht geheuer, aber Harbin hatte nichts mit ihm zu tun, und so achtete ich mehr auf den Personalvermittler. Wenn Mum oder Dad dem eine Frage stellten, antwortete er sehr höflich. Aber meistens unterhielt er sich nur mit Harbin. Er erkundigte sich nach seiner beruflichen Erfahrung, und Harbin erzählte ihm von seiner Arbeit mit den Sprengstoffen. Der Mann kannte sich auf dem Gebiet offenbar ein wenig aus, denn er fühlte meinem Bruder gründlich auf den Zahn. Ich verstand zwar nicht, worum es ging, aber Harbin überlegte sich seine Antworten sehr genau, und daran merkte ich, dass die Fragen weder dumm noch oberflächlich waren. Der Vermittler bekam offenbar einen guten Eindruck von Harbin, denn er erklärte ihm, seine Kirche bräuchte tatsächlich immer wieder Sprengstoffexperten, vor allem in der technischen Abteilung. Die Freihaltung des Weges sei eine Aufgabe, die niemals abgeschlossen sei, einer der wenigen Bereiche, wo die Kirchen kooperierten. Und er fügte hinzu, in der Abteilung würde gerade ein neuer Techniker mit Harbins Erfahrungen gesucht.«
»Also alles eitel Freude«, bemerkte Crozet.
Wieder schlug ihm Linxe auf die Finger. »Lass sie ausreden.«
»Ja, wir freuten uns«, sagte Rachmika. »Jedenfalls zunächst. Schließlich sah es so aus, als würden sich Harbins Hoffnungen erfüllen. Interessante Arbeit zu guten Bedingungen. Und Harbin wollte auch nur einen oder zwei Umläufe bleiben, so lange, bis im Ödland neue Grabungen eröffnet würden. Das sagte er dem Vermittler natürlich nicht. Dafür stellte er ihm eine wichtige Frage.«
»Nämlich?«, fragte Linxe.
»Er hätte gehört, manche Kirchen würden ihre Arbeitskräfte mit besonderen Methoden zu ihrer Sicht der Dinge bekehren. Hinterher glaubten die Leute, ihre Leistung sei nicht nur von materiellem Wert, sondern sie verrichteten ein heiliges Werk.«
»Du meinst, der Glaube wurde ihnen aufgezwungen?«, fragte Crozet.
»Mehr noch: Sie wurden so weit gebracht, dass sie ihn freiwillig annahmen. Dafür gibt es Mittel und Wege. Und aus der Sicht der Kirchen ist es sogar verständlich. Sie wollen ihre teuer erkauften Fachkräfte behalten. Aber meinem Bruder gefiel das natürlich ganz und gar nicht.«
»Und was hat ihm der Vermittler geantwortet?«, fragte Crozet.
»Er versicherte, Harbin hätte in dieser Hinsicht nichts zu befürchten. Gewiss, einige Kirchen arbeiteten mit den Methoden des… ich kann mich an den Wortlaut nicht mehr genau erinnern. Es hatte irgendwie mit Blutzoll und Glockentürmen zu tun. Aber er beteuerte, die quaichistische Kirche gehöre nicht dazu. Unter den Trupps des Ewigen Weges befänden sich Arbeiter vieler verschiedener Bekenntnisse, und niemand hätte jemals in irgendeiner Form Anstalten gemacht, einen von ihnen zum quaichistischen Glauben zu bekehren.«
Crozet kniff die Augen zusammen. »Und?«
»Ich wusste, dass er log.«
»Du dachtest, dass er log«, verbesserte Crozet wie ein Lehrer in der Schule.
»Nein, ich wusste es. Ich wusste es so sicher, als hätte er ein Schild mit der Aufschrift ›Lügner‹ um den Hals getragen. Für mich war es so offensichtlich, dass er log, wie dass er atmete. Darüber gab es nichts zu diskutieren. Es schrie mir förmlich ins Gesicht.«
»Aber niemandem sonst«, sagte Linxe.
»Nicht meinen Eltern und auch Harbin nicht, aber das begriff ich damals noch nicht. Harbin nickte und bedankte sich bei dem Mann, und ich hielt das alles für irgendein merkwürdiges Erwachsenenritual. Mein Bruder hatte eine wichtige Frage gestellt, und der Mann hatte ihm die einzige Antwort gegeben, die sein Amt zuließ – eine diplomatische Antwort. Alle Anwesenden verstanden, dass diese Antwort eine Lüge war. So betrachtet wäre sie eigentlich gar keine Lüge gewesen… ich dachte, das wäre allen klar. Wieso hätte der Mann sonst so deutlich zeigen sollen, dass er die Unwahrheit sagte?«
»Tat er das denn?«, fragte Crozet.
»Ich hatte den Eindruck, er wollte mir zeigen, dass er log, er schien die ganze Zeit verschwörerisch zu grinsen und mir zuzuzwinkern… wobei er das in Wirklichkeit natürlich nicht tat, er stand nur immer kurz davor. Aber das sah niemand außer mir. Ich dachte, Harbin… er müsste es doch gemerkt haben… aber nein. Er tat auch weiterhin so, als glaubte er jedes Wort. Er verhandelte bereits wegen eines Platzes in der Karawane für die Fahrt bis zum Ewigen Weg. Da machte ich eine Szene. Wenn das ein Spiel sein sollte, warum machten sie dann immer noch weiter, ohne mich an dem Spaß teilhaben zu lassen?«
»Du dachtest, Harbin wäre in Gefahr«, sagte Linxe.
»Ich verstand wohl gar nicht so genau, worum es eigentlich ging. Wie gesagt, ich war erst neun. Ich hatte keine Ahnung von Religion und Konfessionen und Verträgen. Aber ich hatte den Kern der Sache erfasst: Harbin hatte dem Mann eine Frage gestellt, die für ihn von größter Wichtigkeit war und darüber entscheiden sollte, ob er der Kirche beitrat oder nicht, und der Mann hatte ihn belogen. Ob ich glaubte, dass ihn das in Lebensgefahr brachte? Nein, ich begriff damals wahrscheinlich noch gar nicht so recht, was ›Lebensgefahr‹ eigentlich war. Aber ich wusste, dass etwas nicht stimmte, und ich wusste, dass ich die Einzige war, die es bemerkte.«
»Das Mädchen, das niemals lügt«, sagte Crozet.
»Das ist ein Irrtum«, antwortete Rachmika. »Ich lüge durchaus, inzwischen kann ich es so gut wie jeder andere. Aber lange Zeit sah ich einfach keinen Sinn darin. Vermutlich machte mir die Begegnung mit diesem Mann erstmals klar, dass Dinge, die für mich mein Leben lang unübersehbar gewesen waren, nicht auch von allen anderen wahrgenommen wurden.«
Linxe sah sie an. »Nämlich?«
»Ich sehe, wenn jemand lügt. Immer. Ohne Ausnahme. Und ich irre mich nie.«
Crozet lächelte nachsichtig. »Das glaubst du.«
»Das weiß ich«, widersprach Rachmika. »Ich habe mich noch nie getäuscht.«
Linxe faltete die Hände im Schoß. »Und seither hast du von deinem Bruder nichts mehr gehört?«
»Nein. Wir haben ihn nicht wieder gesehen, aber er hielt Wort. Er schrieb uns Briefe, und hin und wieder schickte er auch etwas Geld. Aber die Briefe klangen unpersönlich und kalt; sie hätten auch von einem Fremden geschrieben sein können. Er kehrte nie ins Ödland zurück, und für uns kam ein Besuch bei ihm natürlich nicht infrage. Es wäre zu schwierig gewesen. Er hatte immer gesagt, er würde wiederkommen, das stand sogar in den Briefen… aber die wurden immer seltener, erst lagen Monate dazwischen, dann ein halbes Jahr… und schließlich kam vielleicht noch ein Brief in jedem Umlauf. Der letzte traf vor zwei Jahren ein. Es stand nicht viel darin. Ich bin nicht einmal sicher, ob es seine Handschrift war.«
»Und das Geld?«, fragte Linxe behutsam.
»Das kam auch weiterhin. Nicht viel, aber genug, um uns über die Runden zu bringen.«
»Du glaubst, sie haben ihn sich geschnappt?«, fragte Crozet.
»Ich weiß es. Ich wusste es, sobald wir diesen Vermittler kennen lernten, auch wenn ich die Einzige war. Es ging ihm nur um diesen Blutzoll oder wie er es nannte.«
»Und jetzt?«, fragte Linxe.
»Jetzt will ich herausfinden, was mit meinem Bruder geschehen ist«, sagte Rachmika. »Was hatten Sie denn gedacht?«
»Die Kathedralen werden nicht begeistert sein, wenn jemand solch alte Geschichten wieder ausgräbt«, warnte Linxe.
Rachmika schob trotzig die Lippen vor. »Und ich bin nicht begeistert, wenn man mich anlügt.«
»Weißt du, was ich glaube?«, sagte Crozet lächelnd. »Die Kathedralen sollten hoffen, dass Gott mit ihnen ist. Wenn du sie dir erst vornimmst, werden sie jede Hilfe brauchen, die sie kriegen können.«