Ararat

2675

 

 

Der Flug zur Sehnsucht nach Unendlichkeit dauerte nur zehn Minuten, und die wurden vor allem dafür benötigt, in der Schlange hinter den früher eingetroffenen Shuttles auf das Andocken zu warten. Das wie ein Turm aufragende Schiff hatte eine ganze Reihe von Zugängen, rechteckige Öffnungen in den Seiten, die wie Höhlen aussahen. Die höchste befand sich mehr als zwei Kilometer über der Meeresoberfläche. Im All wären dies Andockluken für kleine Wartungsfahrzeuge oder große Luftschleusen gewesen, durch die man in die riesigen Innenräume gelangte.

Scorpio hatte die Flüge zur Unendlichkeit noch nie sonderlich geliebt. Wenn er das Schiff nur sah, wurde ihm himmelangst. Es war eine Mutation, eine perverse Karikatur eines mechanischen Gebildes. Er war keineswegs abergläubisch, aber hier hatte er immer das Gefühl, ein Gebäude zu betreten, in dem es spukte. Diese Einschätzung war nicht ganz unzutreffend, und das beunruhigte ihn am meisten. Auf der Unendlichkeit spukte es tatsächlich, denn das gesamte Schiffsmaterial war untrennbar mit der Restpsyche des einstigen Captains verschmolzen. Die Schmelzseuche hatte inzwischen einen Teil ihrer Schrecken verloren, doch das Schicksal des Captains erinnerte drastisch an die Gräuel, deren sie fähig gewesen war.

Das Shuttle setzte seine Fahrgäste in der obersten Andockbucht ab und schwang sich sofort wieder in den Himmel, um einen anderen dringenden Auftrag zu erledigen. Ein Angehöriger des Sicherheitsdienstes wartete bereits, um sie zum Konferenzraum zu begleiten. Er berührte mit einem Finger das Kommunikationsgerät in seinem Ohr und lauschte mit leichtem Stirnrunzeln einer fernen Stimme. Dann wandte er sich an Scorpio. »Der Raum ist sauber, Sir.«

»Irgendwelche Erscheinungen?«

»Seit drei Wochen keine Meldung oberhalb von Deck vierhundert. Rege Aktivität auf den unteren Decks, aber den oberen Bereich müssten wir für uns haben.« Der Mann wandte sich an Vasko. »Wenn Sie mir folgen wollen…«

Vasko sah Scorpio an. »Kommen Sie nicht mit, Sir?«

»Ich komme gleich nach. Gehen Sie voraus und stellen Sie sich einstweilen vor. Sagen Sie nur, Sie sind Vasko Malinin, Angehöriger des SD, und Sie hätten an der Mission zur Rückholung Clavains teilgenommen – und dann reden Sie kein Wort mehr, bis ich da bin.«

»Ja, Sir.« Vasko zögerte. »Sir, noch etwas?«

»Nämlich?«

»Was meinte er mit Erscheinungen?«

»Das braucht Sie nicht zu kümmern«, sagte Scorpio.

Vasko und der SD-Mann verschwanden im Bauch des Schiffes. Scorpio sah ihnen nach, bis ihre Schritte verklungen waren und er sicher sein konnte, auf dem Landedeck allein zu sein. Dann ging er zurück zum Eingang und stellte sich so dicht an die Kante, dass er sie mit den Spitzen seiner stumpfen Kinderzehen fast berührte.

Der Wind blies ihm heftig ins Gesicht, obwohl er heute nicht einmal besonders stark war. Scorpio fürchtete, hinausgeweht zu werden, obwohl er aus Erfahrung wusste, dass einen der Wind gewöhnlich nach innen drückte. Dennoch hatte er eine Hand am linken Türrand, falls er bei einer besonders starken Bö das Gleichgewicht verlieren sollte. Die Augen tränten ihm, und so sah er nur undeutlich, wie sich das klauenförmige Flugzeug in die Kurve legte und verschwand. Nun schaute er hinab auf die Kolonie, die trotz Clavains Rückkehr noch immer weitgehend ihm unterstellt war.

Kilometerweit jenseits der Bucht funkelten die Lichter von Lager eins. Um Einzelheiten zu unterscheiden, war er zu weit entfernt. Nur die größten Gebäude wie die Hohe Muschel hoben sich ab, und auch sie wirkten von hier oben flach und fast unscheinbar. Das muntere Treiben, die Schäbigkeit, der Schmutz der Barackenviertel waren unsichtbar. Alles wirkte geradezu unheimlich sauber und so ordentlich, als wäre es nach strengen Gesetzen geplant worden. Es hätte eine Stadt auf irgendeiner Welt in irgendeiner Epoche sein können. Aus Küchen und Fabriken stieg dünner Rauch auf. Sonst waren keine einzelnen Bewegungen zu erkennen. Aber die ganze Siedlung zitterte und bebte wie im Fieber, flirrte und waberte wie unter einen Hitzeschleier.

Scorpio hatte lange geglaubt, nicht außerhalb von Chasm City leben zu können. In dieser Stadt mit ihrem rauschenden Leben, ihren verwickelten Strukturen war er in seinem Element gewesen. Er hatte die Gefahren kaum weniger geliebt als die Herausforderungen und die Chancen. Jeden Tag musste er mit ernst zu nehmenden Mordanschlägen von sechs oder sieben rivalisierenden Gruppen, sowie mit einem weiteren Dutzend so schlecht geplanter Attentatsversuche rechnen, dass er gar keine Notiz davon nahm. Und jeden Tag konnte er selbst den Befehl geben, einen seiner Feinde ins Jenseits zu befördern. Scorpio nahm solche Dinge immer persönlich.

Nicht jeder war für das Leben eines Schwerverbrechers in Chasm City geschaffen. Viele brachen unter der Belastung zusammen – brannten innerlich aus, zogen sich in die fest umrissene Welt der Kleinkriminalität zurück, aus der sie kamen, oder begingen Fehler, aus denen sie nicht mehr lernen konnten.

Scorpio war nie zusammengebrochen, und wenn er Fehler begangen hatte, dann immer nur einmal – und nicht unbedingt aus eigener Schuld. Immerhin herrschte damals noch Krieg. Die Regeln änderten sich so schnell, dass er sich hin und wieder sogar auf der Seite des Gesetzes wiederfand. Das hatte ihn zu Tode erschreckt.

Und dann hatte er einen Fehler gemacht, der fast sein letzter gewesen wäre. Er war zuerst den Zombies und dann den Spinnen in die Hände gefallen… und so unter Clavains Einfluss geraten. Am Ende stand er vor einer einzigen Frage: Wenn ihn Chasm City so ausschließlich geprägt hatte, wie konnte er dann ohne diese Stadt weiterleben?

Er hatte eine Weile gebraucht, eine Antwort zu finden – letztlich bis zu dem Moment, als Clavain fortging und ihn mit der Kolonie allein zurückließ.

Eines Morgens war er einfach aufgewacht und hatte sich nicht mehr nach Chasm City zurückgewünscht. Sein Ehrgeiz richtete sich nicht länger auf so alberne, egoistische Ziele wie Reichtum, Macht oder Ansehen. Einst hatte er Waffen und Gewalt vergöttert. Jähzornig war er noch immer, aber er konnte sich kaum noch erinnern, wann er zum letzten Mal eine Schusswaffe oder ein Messer zur Hand genommen hatte. Die Zeit der Fehden und Racheakte, der Morde und Betrügereien war vorbei, jetzt steckte er bis über beide Ohren in Quoten, Budgets, Nachschublinien und dem verwirrenden Sumpf zwischenmenschlicher Beziehungen. Lager eins war keine große Stadt – eigentlich war es nicht einmal eine richtige Stadt –, aber mit seiner Verwaltung und der Verwaltung der Kolonie insgesamt war er vollauf beschäftigt. Damals in Chasm City hätte er das nie für möglich gehalten, doch jetzt stand er da wie ein König und blickte über sein Reich. Er hatte einen weiten Weg zurückgelegt und viele Rückschläge hinnehmen müssen, doch irgendwann – vielleicht an jenem ersten Morgen, an dem er aufwachte, ohne sich nach seinem früheren Leben zurückzusehnen – war er so etwas wie ein Staatsmann geworden. Jemandem, der sein Leben als Kontraktsklave ohne eigenen Namen begonnen hatte, hatte man diese Entwicklung nicht an der Wiege gesungen.

Jetzt musste er befürchten, alles wieder zu verlieren. Er hatte von vornherein gewusst, dass sie nicht für immer auf dieser Welt bleiben würden, sie war nur eine Zwischenstation, wo er mit seiner Flüchtlingsgruppe warten sollte, bis Remontoire und die anderen zu ihnen stießen. Doch die Zeit verging, die Zwanzigjahresgrenze wurde erreicht, ohne dass etwas geschah, und allmählich war er der Illusion erlegen, die Kolonie könnte doch von Dauer sein. Vielleicht hatte sich Remontoire nicht nur verspätet. Vielleicht würde der große Kampf zwischen der Menschheit und den Unterdrückern seine Welt aussparen.

Solchen Hoffnungen waren nie sehr realistisch gewesen, und jetzt musste er dafür bezahlen. Remontoire war eingetroffen, aber nicht allein, er hatte auch den Krieg mitgebracht. Wenn Khouris Aussagen stimmten, war die Lage mehr als ernst.

In der Ferne funkelten die Lichter. Die Stadt wirkte so vergänglich wie eine Staubschicht, die jeder Windstoß davonblasen könnte. Scorpio überfiel eine dumpfe Vorahnung. Jemand, der ihm nahe stand, schwebte in Lebensgefahr.

Er riss sich von dem Anblick los, drehte sich ruckartig um und strebte dem Konferenzraum zu.

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