Ararat

2675

 

 

Vasko folgte Clavain und Scorpio in das Regierungszentrum. Blood geleitete sie durch ein Labyrinth von schwach bevölkerten Räumen und Gängen. Vasko war stets darauf gefasst, des Gebäudes verwiesen zu werden: Sein Passierschein vom Sicherheitsdienst galt nicht für solche Fälle. Doch er durfte bleiben, obwohl die Sicherheitsüberprüfungen zunehmend strenger wurden. Wahrscheinlich wagte es niemand, Scorpio und Clavain Vorschriften zur Wahl ihrer Gäste zu machen.

Schließlich erreichten sie eine Quarantäneabteilung tief im Innern des Zentrums, eine Krankenstation mit mehreren frisch bezogenen Betten. Dort wurden sie von einem ungesund aussehenden menschlichen Arzt namens Valensin erwartet. Er trug eine riesige Brille mit rautenförmigen Gläsern, das schüttere schwarze Haar war nach hinten gekämmt und klebte ihm in glänzenden Wellen am Schädel, und er hatte eine kleine abgewetzte Tasche mit medizinischen Instrumenten bei sich. Vasko war Valensin noch nie persönlich begegnet, aber der Name des ranghöchsten Arztes auf dem Planeten war ihm natürlich vertraut.

»Wie fühlen Sie sich, Nevil?«, fragte Valensin.

»Wie ein Mann, der die Gastfreundschaft der Geschichte über Gebühr in Anspruch nimmt«, antwortete Clavain.

»Von direkten Antworten haben Sie wohl noch nie viel gehalten?« Valensin hatte bereits ein silbrig glänzendes Instrument aus seiner Tasche gezogen und leuchtete Clavain damit in die Augen, während er selbst durch ein kleines Okular schaute.

»Wir haben auf dem Shuttleflug eine medizinische Untersuchung durchgeführt«, sagte Scorpio. »Er ist so weit gesund. Jedenfalls wird er nicht plötzlich tot umfallen, nur um uns in Verlegenheit zu bringen.«

Valensin schaltete seine Lampe aus. »Und Sie, Scorpio? Gedenken Sie, in nächster Zeit tot umzufallen?«

»Würde Ihnen das Leben sehr erleichtern, wie?«

»Migräne?«

»Ein Anfall ist gerade im Entstehen.«

»Ich nehme Sie mir später vor. Mal sehen, ob die Gesichtsfeldeinschränkung bei Ihnen nicht rascher fortschreitet, als ich erwartet hatte. Für ein Schwein in Ihrem Alter ist es wirklich nicht gut, ständig auf Achse zu sein.«

»Sehr freundlich, mich daran zu erinnern, besonders, wenn ich keine andere Wahl habe.«

»Immer gern zu Diensten«, erklärte Valensin strahlend und verstaute sein Instrument. »Und jetzt lassen Sie mich eines klarstellen. Wenn diese Kapsel aufgeht, wird niemand den Inhalt auch nur anhauchen, bevor ich ihn nicht aufs Gründlichste untersucht habe. Und mit ›gründlich‹ meine ich bis an die Grenze dessen, was unter den derzeitigen Bedingungen möglich ist. Das ist ohnehin nicht viel. Vor allem geht es mir um Infektionserreger. Sollte ich etwas finden und den Eindruck gewinnen, es könnte irgendwie ›unangenehm‹ werden, dann ist für jeden, der mit der Kapsel in Berührung kam, an eine Rückkehr nach Lager eins oder wo immer er zu Hause ist, nicht mehr zu denken. Und mit unangenehm meine ich noch keine genetisch veränderten Viruswaffen, sondern Alltagskrankheiten wie die Influenza. Wir stehen bei der Virenbekämpfung ohnehin auf nahezu verlorenem Posten.«

»Verstanden«, sagte Scorpio.

Valensin führte sie in einen riesigen Raum mit einem kuppelförmigen Stahlgerüst an Stelle einer Decke. Es roch geradezu aufdringlich steril. Der Raum war leer bis auf ein Grüppchen von Menschen und Maschinen in der Mitte. Ein halbes Dutzend weiß gekleideter Techniker stand um mehrere wackelige Säulen mit Überwachungsinstrumenten herum.

Die Kapsel hing wie ein Bleilot an einem dünnen Metallseil von der Decke. Ein rußig schwarzes, eiförmiges Objekt, viel kleiner als Vasko erwartet hatte: kaum groß genug für einen Menschen. Fenster hatte es nicht, aber mehrere Klappen standen offen. Dahinter flimmerten Ziffern, Kurven und Histogramme.

»Darf ich mir das mal ansehen?« Clavain schob die Techniker beiseite, um näher an die Kapsel zu gelangen.

Einer der Männer beging den Fehler, einen erbosten Blick in Scorpios Richtung zu werfen. Scorpio starrte ihn wütend an und zeigte die spitzen, gekrümmten Hauer, die für seine Gattung typisch waren. Zugleich gab Blood den Technikern ein kurzes Zeichen mit seinem Huf. Sie zogen folgsam ab und verschwanden in den Tiefen der Anlage.

Clavain nahm von der Szene keinerlei Notiz. Immer noch bis zur Unkenntlichkeit vermummt, schlüpfte er an allen Hindernissen vorbei, bis er neben der Kapsel stand. Dann legte er zart die Hand neben eines der Leuchtfelder und streichelte die mattschwarze Außenhaut.

Jetzt wagte es Vasko, ihn unverhohlen anzustarren.

Scorpio machte ein skeptisches Gesicht. »Tut sich etwas?«

»Ja«, sagte Clavain. »Sie spricht zu mir. Es sind Synthetikerprotokolle.«

»Bist du sicher?«

Clavain wandte sich zu ihm um. Das Licht fiel nur auf die feinen Barthaare auf seinem Kinn und ließ sie silbern aufleuchten. »Ja«, sagte er.

Er legte die zweite Hand auf der anderen Seite neben das Feld, spreizte die Beine und senkte den Kopf, bis er mit der Stirn die Kapsel berührte. Vermutlich hatte der Alte die Augen geschlossen, um jede äußere Ablenkung auszuschließen, dachte Vasko, und die Stirn in tiefe Falten gelegt. Niemand sprach ein Wort, und Vasko wagte nicht einmal, laut zu atmen.

Clavain drehte so langsam und bedächtig den Kopf hin und her, als richte er eine Radioantenne aus. Endlich verharrte er in einer Stellung, und unter dem Mantel straffte sich seine Gestalt.

»Eindeutig Synthetikerprotokolle«, sagte er. Mindestens eine Minute verging, ohne dass er sich bewegte, dann fuhr er fort: »Ich denke, sie hat mich als Synthetiker erkannt. Sie erlaubt mir keinen vollen Zugriff auf das System – jedenfalls noch nicht –, aber an bestimmte diagnostische Funktionen mit niedriger Priorität komme ich heran. Nach einer Bombe sieht es jedenfalls nicht aus.«

»Sei bitte sehr vorsichtig«, mahnte Scorpio. »Wir wollen nicht, dass du in Besitz genommen oder gar getötet wirst.«

»Ich werde mich bemühen«, sagte Clavain.

»Wann können Sie uns sagen, wer in der Kapsel steckt?«, fragte Blood.

»Gewissheit haben wir erst, wenn sie sich öffnet«, erklärte Clavain. Er sprach leise, aber mit einer Autorität, die alle aufhorchen ließ. »Vorab nur eines: Ich glaube nicht, dass es Skade ist.«

»Aber dass die Kapsel von den Synthetikern stammt, steht doch fest?«, beharrte Blood.

»Das schon. Und ich bin ziemlich sicher, dass einige der Signale, die ich auffange, nicht von der Kapsel, sondern von den Implantaten des Insassen kommen. Skade kann es deshalb nicht sein, weil sie sich schämen würde, derart alte Protokolle zu verwenden.« Er hob den Kopf und drehte sich um. »Es ist Remontoire. Das ist die einzige Möglichkeit.«

»Kannst du verstehen, was der Insasse denkt?«, fragte Scorpio.

»Nein, aber ich fange nur neuronale Signale der untersten Ebene auf, die mit der routinemäßigen Organisation der Lebensfunktionen zusammenhängen. Wer immer da drin liegt, ist wahrscheinlich noch bewusstlos.«

»Oder kein Synthetiker«, vermutete Blood.

»In ein paar Stunden wissen wir mehr«, sagte Scorpio. »Aber wer es auch sein mag, das Schiff dazu fehlt uns noch immer.«

»Wieso ist das so schlimm?«, fragte Vasko.

»Weil niemand zwanzig Lichtjahre in dieser Kapsel reisen konnte«, sagte Blood.

»Vielleicht ist er unbemerkt ins System gekommen, hat sein Schiff irgendwo geparkt, wo wir es nicht sehen können, und nur die restliche Strecke in der Kapsel zurückgelegt?«, überlegte Vasko.

Blood schüttelte den Kopf. »Er hätte trotzdem ein interplanetares Raumschiff gebraucht, um bis hierher zu fliegen.«

»Aber ein kleines Schiff wäre uns vielleicht nicht aufgefallen«, sagte Vasko. »Könnte doch sein?«

»Ich glaube eher nicht«, sagte Clavain. »Dazu müsste es inzwischen schon zu einigen höchst unerfreulichen Entwicklungen gekommen sein.«

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