Ararat
2675
Als Vasko ins Herz des Eisbergs zurückkehrte, war die Musik verstummt. Den leichten, aber sperrigen Inkubator in einer Hand folgte er dem bereits geräumten Weg durch das Eiszapfendickicht. Das Eis klirrte und knirschte, wenn er mit dem Kasten gegen Hindernisse stieß. Scorpio hatte ihm eingeschärft, nicht wie ein Wilder durch das zerstörte Schiff zu hetzen, aber er wusste, dass ihm das Schwein nur unnötiges Leid hatte ersparen wollen. Also hatte er die Meldung an Blood abgesetzt und Urton erklärt, was vorging, um dann so schnell wie möglich mit dem Brutkasten den Rückweg anzutreten.
Doch als er sich dem Riss in der Schiffswand näherte, wusste er, dass alles vorbei war. Jemand hatte ein meterbreites Loch durch die Eisdecke gesprengt, und an dieser Stelle erhob sich eine Säule aus Licht. In ihrer Mitte stand Scorpio. Das Licht fiel von oben auf seine Züge und ließ sie scharf hervortreten. Der massige Kopf versank im breiten Joch seiner Schultern. Die Augen waren geschlossen, die Stirn mit den feinen Härchen erschien bläulich grau. Er hielt einen Gegenstand in der Hand, von dem es rot auf das Eis tropfte.
»Sir?«, fragte Vasko.
»Es ist vollbracht«, sagte Scorpio.
»Es tut mir Leid, dass Sie das tun mussten, Sir.«
Die fahlen, blutunterlaufenen Augen hefteten sich auf ihn. Scorpios Hände zitterten. Seine sonst so menschliche Stimme klang so dünn, als wäre er ein Geist, der im Begriff war, sich aufzulösen. »Nicht so Leid wie mir.«
»Ich hätte es getan. Sie brauchten es nur zu sagen.«
»Das konnte ich nicht verlangen«, sagte Scorpio. »Das konnte man von niemandem verlangen.«
Vasko suchte nach Worten. Er hätte gern gefragt, ob Skade ihm gestattet hatte, barmherzig zu sein. Seiner Schätzung nach war er nicht länger als zehn Minuten fort gewesen. Konnte man, wenn man diese Zeit in Schmerzen umsetzte, daraus schließen, dass Skade Clavain den angekündigten langen Todeskampf erspart hatte? Hatte sie womöglich doch so etwas wie Gnade walten lassen, auch wenn diese Gnade nur im Verzicht auf wenige Minuten unaussprechlicher Qualen bestand?
Er wusste es nicht. Und er war nicht sicher, ob er es erfahren wollte.
»Ich habe den Inkubator mitgebracht, Sir. Ist das Kind…«
»Aura geht es gut. Sie ist bei ihrer Mutter.«
»Und Skade, Sir?«
»Skade ist tot«, erklärte Scorpio. »Sie wusste, dass ihre Zeit abgelaufen war.« Die Stimme des Schweins klang dumpf, ohne jedes Gefühl. »Sie hatte ihre letzten Reserven dazu verwendet, Aura am Leben zu erhalten. Als wir ihren Körper öffneten, war nicht mehr viel von ihr übrig.«
»Sie wollte, dass Aura lebt«, sagte Vasko.
»Oder sie wollte ein Pfand haben, um uns Clavain abzupressen.«
Vasko hielt den leichten Plastikbrutkasten in die Höhe, als hätte ihn Scorpio nicht richtig verstanden. »Der Inkubator, Sir. Wir sollten das Kind sofort hineinlegen.«
Scorpio bückte sich und wischte das Skalpell am Eis ab. Die rote Flüssigkeit sickerte in die Kristalle ein und bildete ein Muster, das Vasko an Schwertlilien erinnerte. Er dachte, Scorpio würde das Messer wegwerfen, aber das Schwein steckte es in die Tasche.
»Jaccottet und Khouri können das Kind in den Inkubator legen«, sagte er. »Wir beide kümmern uns inzwischen um Clavain.«
»Sir?«
»Es war sein letzter Wunsch, im Meer bestattet zu werden.« Scorpio wandte sich dem Schiff zu. »Ich denke, das sind wir ihm schuldig.«
»Waren das seine letzten Worte, Sir?«
Scorpio drehte sich um und sah Vasko mit schief gelegtem Kopf lange an. Der junge Mann hatte den Eindruck, noch einmal an den gleichen strengen Maßstäben gemessen zu werden, die der Alte angelegt hatte, und auch diesmal hatte er das Gefühl, ihnen nicht genügen zu können. Was wollten diese Relikte aus der Vergangenheit von ihm? Welchen Erwartungen sollte er gerecht werden?
»Es waren nicht seine letzten Worte, nein«, antwortete Scorpio leise.
Sie legten den Sack mit der Leiche draußen auf dem Eisring ab. Vasko musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass es noch nicht einmal Mittag war: Der Himmel war von einem wässrigen Grau, und so weit das Auge reichte, hingen die Wolken so tief herab, als wollten sie die Spitze des Eisbergs streifen. Wenige Kilometer entfernt starrte ein scharf umrissener dunkler Fleck wie ein böses schwarzes Auge auf das Meer herab. Der Fleck bewegte sich gegen den Wind, als suchte er nach etwas. Am Horizont zuckten grelle Blitze über den matten Silberhimmel, und Regenschauer zogen träge ihre rußigen Bahnen.
Ringsum wogte das Meer griesgrämig und grau. Auf allen Seiten tauchten glitschige, ölig türkisgrüne Gebilde auf. Vasko hatte sie schon früher gesehen. Sie brachen durch die Oberfläche, verharrten kurz und verschwanden wieder, bevor das Auge sie richtig erfassen konnte. Man hatte den Eindruck, eine riesige Walschule sei im Begriff, den Eisberg zu umzingeln. Die Gebilde wölbten sich auf, tanzten zwischen Wellen und Gischt, verschmolzen miteinander, teilten sich wieder, umkreisten sich und verschwanden. Form und Größe ließen sich nicht genau bestimmen. Aber es waren keine Tiere. Es waren Ansammlungen von Mikroorganismen, die ein kohärentes Verhalten zeigten.
Scorpio beobachtete das Meer mit einem Gesichtsausdruck, den Vasko noch nie an ihm gesehen hatte. Hatte das Schwein am Ende gar Angst?
»Es tut sich etwas, nicht wahr?«, fragte Vasko.
»Wir müssen ihn über das Eis tragen«, sagte Scorpio. »Das Boot hält noch ein paar Stunden durch. Helfen Sie mir, ihn hineinzuheben.«
»Wir sollten uns nicht zu lange aufhalten, Sir.«
»Meinen Sie, es spielt irgendeine Rolle, wie lange wir brauchen?«
»Nach dem, was Sie sagten, Sir, war es für Clavain nicht unwichtig.«
Sie wuchteten den Sack in die schwarze Höhlung des nächsten Bootes. Bei Tageslicht sah der Rumpf schon jetzt viel rauer aus, als Vasko ihn in Erinnerung hatte. Das glatte Metall war an vielen Stellen von Korrosion zerfressen. Einige Flecken waren schon so tief, dass er den Daumen hineinlegen konnte. Als sie den Sack über die Seite hoben, löste sich da, wo Vaskos Knie die Bootswand berührten, der Schorf in dicken Fladen.
Die beiden kletterten hinein. Urton, die vor dem Eisberg warten sollte, versetzte dem Boot einen Stoß. Scorpio ließ den Motor an. Das Wasser schäumte auf, und das Boot schob sich durch die Fahrrinne, die es zuvor durch das Eis geschnitten hatte, langsam auf das Meer hinaus.
»Wartet.«
Vasko sah sich nach der Stimme um. Jaccottet verließ soeben den Eisberg. Er trug den Inkubator in der Hand. Der Kasten war sichtlich schwerer als zuvor, als Vasko ihn hineingetragen hatte.
»Was ist?«, rief Scorpio und schaltete in den Leerlauf.
»Sie können nicht ohne uns abfahren.«
»Wir fahren nicht ab.«
»Das Kind braucht medizinische Betreuung. Wir müssen es schnellstens aufs Festland bringen.«
»Genau das wird geschehen. Haben Sie nicht gehört, was Vasko sagte? Ein Flugzeug ist unterwegs. Bleiben Sie, wo Sie sind, und alles wird gut.«
»Bei diesem Wetter könnte das Flugzeug Stunden brauchen, und wir wissen nicht, wie stabil der Eisberg ist.«
Vasko spürte Scorpios Zorn wie statische Elektrizität auf der Haut. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich will damit sagen, wir sollten sofort losfahren, Sir, mit beiden Booten, so wie wir hergekommen sind. Nach Süden. Das Flugzeug wird uns per Transponder finden. Auf diese Weise sparen wir Zeit und brauchen nicht zu befürchten, dass uns das Ding unter den Füßen wegbricht.«
»Ich finde, er hat Recht, Sir«, sagte Vasko.
»Wer hat Sie gefragt?«, fauchte Scorpio.
»Niemand, Sir, aber ich würde sagen, wir sind jetzt alle betroffen?«
»Sie sind überhaupt nicht betroffen, Malinin.«
»Clavain sah das offenbar anders.«
Er dachte schon, das Schwein würde ihn auf der Stelle töten. Die Möglichkeit beschäftigte ihn, während sein Blick zu dem tiefschwarzen Auge in den Wolken wanderte. Es war näher gekommen – höchstens noch einen Kilometer vom Eisberg entfernt. Nun wölbte es sich nach unten und fuhr einen Schlauch aus, der sich dem Meer entgegenstreckte. Vasko begriff, dass er einen Tornado vor sich hatte: Das hatte ihnen gerade noch gefehlt.
Aber Scorpio brachte nur den Motor wieder auf Touren und fauchte: »Kommen Sie nun mit? Sonst steigen Sie aus und warten mit den anderen auf dem Eis.«
»Natürlich komme ich mit, Sir«, sagte Vasko. »Aber warum können wir nicht so vorgehen, wie Jaccottet sagt? Wenn wir mit beiden Booten fahren, können wir Clavain auch unterwegs bestatten.«
»Steigen Sie aus!«
»Sir?«
»Ich sagte, Sie sollen aussteigen! Ich will darüber nicht diskutieren.«
Vasko setzte zum Sprechen an. Wenn er später an den Vorfall zurückdachte, war ihm nie ganz klar, was er dem Schwein in diesem Moment hatte sagen wollen. Vielleicht hatte er gewusst, dass er die Grenze überschritten hatte und dass er nichts tun konnte, um diesen Schritt wieder rückgängig zu machen.
Scorpio handelte blitzschnell. Er ließ den Steuerknüppel los, packte Vasko mit beiden Hufen und stieß ihn aus dem Boot. Vasko spürte, wie zwei Zentimeter des Bootsrands unter seinem Schenkel zerkrümelten wie Schokolade. Dann schlug er mit dem Rücken auf eine dünne, morsche Eisplatte auf und versank im Wasser. Es war kälter, als er gedacht hätte, die Kälte raste ihm wie eine blitzende Kolbenstange das Rückgrat entlang. Er konnte nicht atmen. Er konnte nicht schreien, sich nicht festhalten. Er wusste kaum noch seinen Namen oder warum Ertrinken doch ein ziemlich schlimmer Tod war.
Er sah das Boot auf das Meer hinausgleiten. Er sah Jaccottet den Inkubator abstellen, sah Khouri hinter ihn treten und rasch, aber vorsichtig auf sich zukommen.
Der Himmel über ihm war bis auf das schemenhafte schwarze Sturmauge grau wie ein Gehirn. Der schwarze Schlauch hatte die Wasseroberfläche fast erreicht. Nun knickte er ab und bewegte sich auf den Eisberg zu.
Scorpio schaltete den Motor ab. Das Boot schaukelte in der meterhohen Dünung, schwamm aber eigentlich nicht mehr im Wasser, sondern ruhte auf einem blaugrünen Floß aus organischer Materie, das sich nach allen Seiten Dutzende von Metern weit ausbreitete. Am dicksten war es jedoch im Zentrum, genau da, wo das Boot zum Stillstand gekommen war. Um das Floß herum lag ein kohlschwarzes Band aus vergleichsweise sauberem Wasser, dahinter waren weitere Inseln aus Schiebermaterie zu erkennen. Unter der Wasseroberfläche schwebten lange Tentakel, geformt wie Farmwedel, aber so dick wie Rohrleitungen, die immer wieder hüpfend und schwankend zwischen Wellen und Gischt auftauchten. Manchmal ringelten sie sich so langsam und zielstrebig dahin wie die Greifschwänze von Affen.
Scorpio suchte im Boot nach etwas, das er sich vor den Rüssel binden konnte. Der Geruch bohrte sich förmlich in sein Gehirn. Es roch nach verfaulenden Küchenabfällen, Kompost, Salmiak, Kloake und Ozon. Eine Mischung, die von Menschennasen als unangenehm oder zumindest überwältigend stark empfunden worden wäre. Für ein Schwein war sie unerträglich.
Er fand im Sanitätskasten eine Bandage und wickelte sie sich zweimal um den Rüssel. Frei blieben nur die Augen, die brannten und unaufhörlich tränten. Doch dagegen war momentan nichts zu machen.
Er stand vorsichtig auf, um das Boot nicht zum Kentern zu bringen oder hinauszufallen, und griff nach dem Sack mit der Leiche. Als er Vasko in einem Anfall von Jähzorn über Bord geworfen hatte, hatte er sich vollends verausgabt. Der Sack kam ihm nicht nur zwei-, sondern dreimal schwerer vor, als er eigentlich sein sollte. Er fasste ihn zu beiden Seiten des Kopfendes und ging langsam rückwärts. Über die Seitenwand wollte er ihn nicht werfen, weil er befürchtete, unter dem Gewicht zweier Erwachsener könnte das Boot kippen. Davor wäre er geschützt, wenn er die Leiche nach vorne oder nach hinten brächte.
Er rutschte aus. Der Sack entglitt seinen Hufen. Er fiel nach hinten und landete auf seinem schwieligen Gesäß. Die Leiche prallte mit dumpfem Schlag auf die Planken.
Scorpio wischte sich die Tränen aus den Augen, aber dadurch rieb er die Reizstoffe nur noch tiefer hinein. Die Luft war gesättigt mit Mikroorganismen, sie schwebten wie ein grüner Schleier über dem Meer.
Er stand auf und warf einen zerstreuten Blick auf den schwarzen Schlauch, der vom Himmel herabkam. Wieder packte er den Sack und wollte ihn zum Heck wuchten. Um das Boot herum verdichteten sich die organischen Formationen zu einer nicht enden wollenden Prozession von verwirrenden Bildern. Flaschengrüne Formen entstanden und verschwanden wieder wie unter der Schere eines geistesgestörten Landschaftsgärtners. Wenn er direkt hinsah, konnte er nichts erkennen, aber aus dem Augenwinkel entdeckte er Teile fremder Anatomien: einen ganzen Zoo aus willkürlich zusammengefügten Gliedmaßen, Gesichtern und Körpern. Er schaute in weit aufgerissene Münder. Ganze Trauben von Augen musterten ihn mit geistlosem Blick. Flügel spreizten sich wie Fächer. Hörner und Klauen brachen aus dem Grün hervor und verharrten kurz, bevor sie sich in Formlosigkeit zurückzogen. Ein warmer, feuchter Wind und ein hektisches Rülpsen und Knirschen begleiteten die Veränderungen in der physischen Struktur der Schieberbiomasse.
Scorpio drehte sich so, dass der Sack zwischen ihm und dem Heck lag. Dann beugte er sich darüber, fasste den Leichnam an den Schultern und hievte ihn auf das Heckblech. Sooft er auch blinzelte, sein Blick blieb verschwommen. Die grüne Materie tobte unvermindert weiter.
»Es tut mir so Leid«, sagte er.
Er hatte sich alles ganz anders vorgestellt. Scorpio hatte sich in Gedanken oft mit Clavains Beisetzung beschäftigt. Falls er sie selbst noch erlebte, hatte er eine erhebende Zeremonie abhalten wollen, eine Totenfeier bei Feuerschein, mit tausenden von Trauergästen. Er war immer davon ausgegangen, dass Clavain friedlich im Schoß der Kolonie sterben würde, liebevoll betreut von seinen Anhängern. Oder aber, dass er noch eine letzte Heldentat vollbrächte und das Schicksal, das ihn hundertmal verschont hatte, ihn nun doch ereilte. Eine Hand auf eine kleine, scheinbar harmlose Brustwunde gedrückt, das Gesicht grau wie der Winterhimmel, würde er mit letzter Kraft all jenen, die nun allein zurückblieben, noch eine aufmunternde Botschaft zuflüstern. In seiner Fantasie hatte er, Scorpio, die Abschiedsworte an die anderen weitergegeben.
Der würdige Abschluss eines langen Lebens. Ein Trauerritual, das alle berührte und von dem noch in Generationen gesprochen werden würde.
Es sollte nicht sein.
Scorpio wollte nicht mehr daran denken, was sich in dem Sack befand oder was damit geschehen war. Er wollte Clavains langsames, qualvolles Sterben ebenso wie die Rolle, die er dabei gespielt hatte, aus seiner Erinnerung löschen. Es wäre schlimm genug gewesen, das Geschehen im Eisberg als Zuschauer zu verfolgen. Selbst mitgewirkt zu haben, hieß auch, dass ein wichtiger Teil von ihm selbst mitgestorben war.
»Ich werde sie nicht im Stich lassen«, sagte er. »Während du auf deiner Insel warst, versuchte ich immer so zu handeln, wie du es getan hättest. Was nicht heißt, ich hätte mich jemals mit dir vergleichen wollen. Ich war dir niemals ebenbürtig. Ich bin kein Planer, ich sehe nicht über meine Rüsselspitze hinaus. Ich sage immer, ich bin eher ein praktischer Typ, jemand, der selbst Hand anlegt.«
Seine Augen brannten. Die bittere Ironie in den letzten Worten tat weh.
»Und so war es wohl bis zuletzt. Es tut mir Leid, Nevil. Dieses Ende hast du nicht verdient. Du warst ein tapferer Mann und hast immer getan, was richtig war, ohne Rücksicht auf die Kosten.«
Scorpio hielt inne und holte tief Luft. Er hatte das Gefühl, sich lächerlich zu machen, wenn er so mit dem Sack sprach, aber er ließ es nicht aufkommen. Er war noch nie ein Redner gewesen. Wären die Rollen vertauscht gewesen, Clavain hätte eine bessere Figur abgegeben. Doch nun stand er hier und Clavain war der Tote. Also musste er sich durchmogeln, so gut es ging, es wäre nicht das erste Mal in seinem Leben.
Clavain würde ihm verzeihen.
»Ich lasse dich jetzt gehen«, sagte Scorpio. »Hoffentlich so, wie du es wolltest, Kumpel. Ich wünsche dir, dass du findest, wonach du so lange gesucht hast.«
Scorpio versetzte dem Sack einen letzten Stoß. Er kippte über die Seite und versank in dem grünen Brei. Sofort geriet die Schiebermasse in Aufruhr. Die seltsamen Formen zogen schneller vorbei, die Aktivität strebte einem Höhepunkt zu.
Der schwarze Schlauch am Himmel war fast rechtwinklig abgeknickt und tastete nach dem Eisberg. Das vordere Ende war nicht mehr stumpf: Es hatte sich geöffnet und in viele schwarze Finger gespalten, die immer länger wurden, sich schlangengleich durch die Luft ringelten und sich weiterverzweigten.
Er konnte nichts tun. Er warf einen letzten Blick auf die Schiebermasse und glaubte für einen Moment, im Sturm der Bilder zwei menschliche Gesichter zu entdecken. Sie waren einander auffallend ähnlich, doch das eine hatte eine Reife, die dem anderen abging, es wirkte gelassen, müde und schicksalsergeben, so als hätte es für ein einziges Menschleben zu viel gesehen und zu viel gedacht. Die beiden starrten ihn aus maskenhaft leeren Augen an, bevor sie sich wieder mit dem Gewimmel der Formen vermischten.
Das Floß löste sich auf. Der Zug der Formen brach ab und sank ins Meer zurück. Sogar der stechende Geruch ließ nach, und der grüne Schleier wurde dünner. Das hieß wohl, dass er seine Pflicht getan hatte. Doch über dem Meer schob das schwarze Ding seine vielfach verzweigten Extremitäten immer näher an den Eisberg heran.
Er konnte die Hände nicht in den Schoß legen.
Scorpio wendete und fuhr zum Eisberg zurück. Das zweite Boot schwamm bereits: Vasko, Khouri und die zwei Sicherheitsleute saßen darin. Sie hatten den Inkubator bei sich und duckten sich, um nicht vom aufspritzenden Gischt durchnässt zu werden. Das Boot lag tief im Wasser. Die Schieber hatten innegehalten, als der Ozean Clavain aufnahm, doch nun hatten sie ihre Aktivität verdoppelt. Scorpio war sicher, dass das mit dem Ding zu tun hatte, das vom Himmel herabkam. Die Schieber mochten es nicht: Sie waren so aufgeregt wie eine Kolonie von Kleintieren, die eine Schlange witterten.
Scorpio konnte sie verstehen: Er hatte so etwas noch nie erlebt. Das war weder ein Tornado noch eine Gischtfontäne. Das schwankende, vielarmige Ding hing genau über ihnen, und man sah überdeutlich, dass es nicht natürlich entstanden war. Das ganze Gebilde – von dem dicken Stamm, der durch die Wolkendecke stieß, bis zu den feinsten Extremitäten – setzte sich aus den schwarzen Würfeln zusammen, die sie auch in Skades Schiff gesehen hatten. Es war eine Unterdrückermaschine, eine Wolfsmaschine – der Name spielte keine Rolle. Niemand konnte schätzen, wie viel mehr sich noch hinter der dicken Wolkenschicht verbarg. Vielleicht zog sich der Stamm durch Ararats gesamte Atmosphäre.
Der Anblick wühlte sein Innerstes auf. Das war einfach wider die Natur.
Er steuerte auf das andere Boot zu. Seit er Clavains letzten Wunsch erfüllt hatte, konnte er wieder klar denken. Wahrscheinlich war es falsch gewesen, die anderen mit nur einem einzigen Fluchtfahrzeug auf dem Eisberg zurückzulassen, aber er hatte bei der Bestattung seines Freundes allein sein wollen. Das mochte egoistisch sein, aber schließlich war er es auch, der das Skalpell geführt hatte.
»Durchhalten«, sagte er über den Kommunikator. »Wir verteilen die Ladung neu, sobald ich da bin.«
»Und dann?«, fragte Vasko und schaute ängstlich zu dem Ding am Himmel auf.
»Dann machen wir, dass wir hier verschwinden.«
Das Ding hielt über dem Eisberg an. Pythonhaft langsam senkte sich ein Tentakelbündel auf das Dach des Schiffes und bohrte sich durch das Eis. Nadeln und Scherben spritzten nach allen Seiten. Vielleicht, dachte Scorpio, witterte es die anderen Unterdrückermaschinen, die inaktiv oder tot in den Trümmern der Korvette lagen, und wollte sich wieder mit ihnen vereinen. Aber vielleicht war es auch hinter etwas ganz anderem her.
Der Eisberg erzitterte. Am Saum entstanden flache Wellen, die langsam nach außen krochen. Im Innern des Berges knirschte es, als würden Knochen zermalmt. In der Eisschicht öffneten sich breite Risse, darunter schillerte ein filigraner Kern in zahllosen Rosa-, Blau- und Gelbtönen.
Schwarze Maschinen zwängten sich durch die Spalten. Ein Dutzend Tentakel schlängelten sich aus dem Eisberg, prüften die Luft und spalteten sich in immer feinere Arme auf.
Scorpios Boot berührte den Rumpf des zweiten Schiffs. »Gebt mir den Inkubator«, rief er über das Heulen des Motors hinweg.
Vasko stand auf, beugte sich vor und hielt sich mit einer Hand an seiner Schulter fest. Der junge Mann war totenbleich, das Haar klebte ihm am Kopf. »Nun sind Sie doch zurückgekommen«, sagte er.
»Die Lage hat sich geändert«, gab Scorpio zurück.
Er nahm den Inkubator mit dem Kind darin, stellte ihn auf den Boden und klemmte ihn zwischen die Knie. »Jetzt Khouri«, sagte er und reichte der Frau seine Hand.
Sie stieg in sein Boot, und er spürte, wie es tiefer sank. Sie sah ihm kurz in die Augen und schien etwas sagen zu wollen, doch er wandte sich wieder an Vasko, bevor sie so weit war.
»Folgt mir. Ich will mich hier nicht länger aufhalten als nötig.«
Die Risse im Eisberg hatten sich zu tiefen Gräben erweitert, die bis ins Herz hineinführten. Immer mehr von den schwarzen Maschinen quollen heraus und rannen in Wellen über das Eis. Weitere Extremitäten zwängten sich darunter hervor und verlängerten sich. Der Eisberg zerbrach in einzelne Teile, jedes so groß wie ein Haus. Scorpio brachte den Motor auf Touren und brauste über die Wellen, konnte sich aber von dem Geschehen hinter sich nicht losreißen. Große gezackte Eisstücke stürzten mit lautem Spritzen und Klatschen ins Meer. Ein Bündel zuckender schwarzer Tentakel hatte sich um die zerstörte Korvette gelegt. Von dem Eisberg war nicht mehr viel übrig, man sah nur noch das Schiff, das ihn erzeugt hatte.
Nun hoben die Maschinen dieses Schiff in die Luft. Die schwarzen Würfel zwängten sich so behutsam, fast ängstlich durch die Lücken im Rumpf, als wickelten sie das Papier von einem Geschenk.
Das andere Boot war zurückgefallen: Mit drei Erwachsenen an Bord kam es nicht so schnell voran.
Die Korvette zerbrach in scharfkantige schwarze Stücke, die bis auf kleine Splitter in den tiefschwarzen zappelnden Tentakelschlingen hängen blieben.
Es sucht etwas, dachte Scorpio.
Die Schlingen lockerten sich. Tentakel und Untertentakel zogen sich zurück und gaben die Trümmer frei. Schwarze Würfel flossen in Schichten übereinander, schwollen in schauriger Harmonie an und schrumpften wieder. Scorpio konnte die Bewegung nur an den Rändern beobachten, wo sich die Maschinen vom grauen Himmel abhoben.
Die letzten Trümmer der Korvette stürzten in die See.
Etwas hatten die Maschinen jedoch zurückbehalten: Ein winziger weißer Stern hing schlaff in der Luft. Scorpio erkannte, dass es Skade war. Die Maschinen hatten sie in ihrem Wrack ausfindig gemacht und einen Tentakel um ihre Taille gelegt. Ein weiterer, zarterer Fühler wurde nun in ihren Schädel eingeführt. Das war ein Verhör. Die Maschinen entzogen dem Leichnam die neuronale Information.
Vielleicht fühlte sie sich dabei für einen Moment wieder lebendig.
Die schwarzen Maschinen bildeten einen neuen Rüssel aus und tasteten damit nach den flüchtenden Booten. Scorpio krampfte sich der Magen zusammen: die gleiche Reaktion, als wenn sich eine Schlange anpirschte. Nichts wie weg. Er versuchte, noch mehr aus dem Motor herauszuholen, aber der gab ohnehin schon alles, was er hatte.
Im anderen Boot bewegte sich etwas: Ein blitzender Lauf richtete sich nach oben. Gleich darauf jagte der Breitenbach-Boser seinen grellen rosaroten Blitz in den grauen Himmel. Der Strahl raste auf die Alien-Maschinen zu. Er hätte die Masse durchbohren und eine Brandspur in die Wolkendecke graben müssen. Stattdessen schwenkte er um die Maschinen herum wie ein Feuerwehrschlauch.
Vasko feuerte weiter, aber der Strahl wurde von jedem Punkt abgelenkt, wo er hätte Schaden anrichten können.
Die schwarzen Maschinen folgten dem dicken Rüssel. Die ganze Masse hing immer noch wie ein grausiger vielarmiger Kronleuchter am Himmel.
Sie interessierte sich besonders für das zweite Boot.
Der Boser war verstummt. Dafür hörte Scorpio das Knattern von Handfeuerwaffen.
Doch hier war jeder Widerstand vergeblich.
Plötzlich spürte er einen stechenden Schmerz in den Ohren. Ringsum bäumte sich die See drei bis vier Meter hoch auf, als hätte ein gewaltiger Sog sie himmelwärts gezogen. Dann krachte der lauteste Donnerschlag, den er je gehört hatte. Noch halb betäubt blickte er auf und sah… eine Andeutung nur, eine kreisrunde Leere am Himmel, eine schwache Grenzlinie, wo die Luft aufhörte und etwas anderes anfing. Gleich darauf war der Kreis verschwunden, und zugleich spürte er wieder diesen Schmerz, dieses Ziehen in den Ohren.
Sekunden später wiederholte sich das Ganze.
Diesmal schnitt die Kreislinie die Hauptmasse der schwarzen Unterdrückermaschinen. Ein riesiger, unförmiger Klumpen wurde abgetrennt und stürzte auf die Wellen zu. Ein noch größerer Teil existierte nicht mehr: Alles, was sich innerhalb des kugelförmigen Bereichs befunden hatte, war einfach ausgelöscht worden – nicht nur die Luft, sondern auch die Unterdrückermaschinen, die eben noch da gewesen waren. Die Tentakel an dem abstürzenden Klumpen peitschten wild durch die Luft. Scorpio spürte, wie die Masse langsamer wurde, als sie sich dem Wasser näherte, aber sie kam nicht zum Stillstand, sondern schlug auf, tauchte unter und schoss wieder an die Oberfläche. Die peitschenden Tentakel wühlten die See auf.
Khouri beugte sich zu ihm. Er sah, wie sie die Lippen bewegte, aber das Rauschen in seinen Ohren war lauter als ihre Stimme. Doch die vier Silben konnte er ihr auch vom Mund ablesen. »Remontoire.«
Er nickte. Die Einzelheiten interessierten ihn nicht; es genügte, dass der Synthetiker eingegriffen hatte. »Danke, Rem«, sagte er und hörte auch seine eigene Stimme wie unter Wasser.
Die graugrüne Schiebermaterie umschloss die schwimmende zuckende Maschinenmasse und verfestigte sich. Der Angreifer am Himmel zog sich in die Wolkendecke zurück. Die glatten, geschwungenen Wundränder waren noch deutlich zu erkennen. Scorpio überlegte noch, was wohl aus dem abgestürzten Teil werden würde – würde er sich selbst heilen, die Schieber-Biomasse abschütteln und sie weiterverfolgen? –, als der Klumpen samt den Schiebern plötzlich verschwand und ein halbkugelförmiges Stück Meer von hundert Metern Durchmesser einfach mitnahm. Die gewölbte Wand stand für einen Moment wie erstarrt, als zögerte das Wasser, den Raum zurückzuerobern, den man ihm geraubt hatte. Dann krachten die Fluten nieder, ein schmutzig grüner Turm raste aus der Mitte nach oben, und eine riesige Welle kam auf die Boote zugerast.
Scorpio packte die Bootswand und den Inkubator fester. »Festhalten!«, rief er Khouri zu.