Zehn
Hela
2615
Er erwachte. Er war in Bewegung. Die Luft war kalt, aber frisch, und seine Brust schmerzte nicht mehr. Das ist also das Ende, dachte er. Vielleicht war dies die letzte Halluzination, bevor sein Gehirn im Strudel des Massensterbens der Zellen versank. Hoffentlich ist sie gut, und hoffentlich hält sie an, bis ich tot bin. Mehr verlange ich nicht.
Doch diesmal fühlte sich alles real an.
Er wollte sich umsehen, aber er saß noch immer in der Tochter fest. Doch sein Blickfeld war in Bewegung, die Landschaft hüpfte und schaukelte. Er begriff, dass er über das Geröll hinunter zum ebenen Teil des Talgrundes gezogen wurde. Als er den Hals reckte, sah er mit seinem unversehrten Auge ein Durcheinander von Kolben und blitzenden Gelenken.
Morwenna.
Aber es war nicht Morwenna. Es war ein Servomat, eine der Reparaturmaschinen von der Dominatrix. Der spinnenähnliche Roboter hatte Haftplatten an der Räubertochter befestigt und zog sie mit Quaiche darin über den Boden. Natürlich, natürlich: Wie sonst sollte er ihn hier herausbekommen? Quaiche schämte sich für seine Begriffsstutzigkeit. Er hatte weder Raumanzug noch Luftschleuse. Im Grunde genommen war das kleine Schiff sein Raumanzug. Warum war ihm das bisher nie aufgefallen?
Er fühlte sich besser. Sein Kopf war klar, er war hellwach. Der Servomat hatte eine Leitung in eine der Versorgungsöffnungen der Tochter gesteckt. Wahrscheinlich führte er Frischluft zu. Die Tochter hatte der Maschine sicherlich mitgeteilt, was sie zu tun hatte, um ihren Insassen am Leben zu erhalten.
Vielleicht war die Luft sogar mit zusätzlichem Sauerstoff angereichert, um seine Angst und seine Schmerzen ein wenig zu lindern.
Er konnte es kaum fassen. Nach all den Halluzinationen erschien ihm dieses Geschehen wie greifbare Realität. Es war rau und stachelig wie ein echtes Erlebnis. Und wenn er sich recht erinnerte, war in seinen Halluzinationen bisher kein einziger Servomat vorgekommen. Er hatte das Rettungsverfahren nicht weit genug durchdacht, um darauf zu kommen, dass man einen Servomaten brauchte, um das Schiff mit ihm darin zu bergen. Im Rückblick lag das auf der Hand, aber in seinen Träumen waren die Retter immer Menschen gewesen. War nicht allein das Beweis genug, dass es sich jetzt um die Realität handelte?
Quaiche warf einen Blick auf die Konsole. Wie viel Zeit war vergangen? Hatte er es tatsächlich geschafft, fünf Stunden lang mit der Luft auszukommen? Er hatte es nicht für möglich gehalten, aber er atmete noch immer. Vielleicht hatte das Indoktrinationsvirus geholfen und sein Gehirn in einen geheimnisvollen Zen-Zustand versetzt, in dem es weniger Sauerstoff verbrauchte.
Aber in der dritten oder gar vierten Stunde konnte keine Luft mehr übrig gewesen sein. Es sei denn, das Schiff hätte sich verrechnet. Eine bestürzende Vorstellung angesichts dessen, was er durchgemacht hatte, aber die einzige Erklärung. Das Leck konnte nicht so groß gewesen sein, wie die Tochter geschätzt hatte. Vielleicht war es anfangs schlimmer gewesen, hatte sich dann aber teilweise wieder abgedichtet. Oder die Selbstreparatursysteme waren nicht völlig ausgefallen, sodass die Tochter das Leck hatte schließen können.
Ja, so musste es sein. Es gab einfach keine andere Lösung.
Aber laut Konsole waren seit dem Absturz erst drei Stunden vergangen.
Das konnte nicht sein. Dann befände sich die Dominatrix immer noch hinter Haldora und außer Kommunikationsreichweite. Und das für weitere sechzig Minuten! Plus viele Minuten mehr, bis sie ihn selbst mit Maximalschub erreichen könnte. Und ein Notstart kam schließlich nicht infrage. Immerhin war ein Mensch an Bord, der geschützt werden musste. Zumindest müsste sich die Dominatrix auf die bereits erprobte Bremsbeschleunigung beschränken.
Dennoch hockte sie vor ihm auf dem Eis. Und sah zum Anfassen real aus.
Die Zeit konnte nicht stimmen, dachte er. Die Zeit konnte nicht stimmen, und das Leck musste sich automatisch abgedichtet haben. Eine andere Erklärung gab es nicht. Nein, wenn er genauer darüber nachdachte, fiel ihm doch noch eine Möglichkeit ein, aber die lohnte keine nähere Untersuchung. Wenn die Zeit stimmte, müsste die Dominatrix seinen Notruf empfangen haben, bevor sie hinter Haldora hervorkam. Das Signal hätte um den Planeten herum zu ihr gelangen müssen. Wäre das denkbar? Er hatte es ausgeschlossen, aber nachdem das Shuttle nun vor ihm stand, war er für alles offen. Hatte irgendeine physikalische Besonderheit dazu geführt, dass die Atmosphäre wie ein Relais wirkte und sein Signal um Haldora herum leitete? Er konnte nicht beschwören, dass dergleichen unmöglich war. Wenn die Uhr stimmte, was war dann die Alternative? Dass der ganze Planet gerade so lange zu existieren aufgehört hatte, bis seine Nachricht durchgegangen war?
Das wäre nun wirklich ein Wunder gewesen. Er hatte um ein Wunder gebetet, aber nicht wirklich erwartet, dass sein Gebet erhört würde.
Ein zweiter Servomat wartete an der bereits geöffneten Rückenschleuse. Gemeinsam hievten die beiden Maschinen die Tochter ins Innere der Dominatrix. Sobald die Fähre die Öffnung passiert hatte, schoben die Maschinen sie weiter, bis eine Reihe von metallischen Schlägen durch den Rumpf schallte. Trotz der schweren Schäden hatte das Schiffchen seine Form so weit behalten, sodass es auf den Schlitten geschnallt werden konnte. Quaiche schaute nach unten und wartete, bis sich die Luftschleuse geschlossen hatte.
Eine Minute später öffnete ein anderer sehr viel kleinerer Servomat die Tochter und schickte sich an, ihn herauszuheben.
Der Schmerz in seiner Brust kehrte zurück, aber er zwang sich zum Sprechen. »Morwenna«, sagte er. »Morwenna, ich bin wieder da. Etwas angeschlagen, aber noch zu gebrauchen.«
Doch er bekam keine Antwort.