Im Interstellaren
Raum,
unweit von p Eridani 40
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Energiestrahlen durchsiebten den Weltraum im Umkreis von Ararat. Scorpio saß sicher in den warmen Plüschpolstern der spinnenbeinigen Beobachtungskapsel und verfolgte von ferne die Schlacht, die immer weiter hinter ihm zurückblieb.
Lichtnelken erblühten und erloschen erst nach vielen Sekunden so langsam und zögernd wie Violinakkorde. Die Lichter konzentrierten sich auf einen begrenzten, ungefähr kugelförmigen Bereich, in dessen Zentrum sich der Planet befand. Ringsum herrschte tiefe Finsternis. Das langsame Aufflammen und Verblassen war angenehm willkürlich und weckte Erinnerungen – wahrscheinlich aus zweiter Hand – an Meereswesen, die auf dem Grund des Ozeans über biolumineszierende Muster miteinander kommunizierten. Als fände hier keine Schlacht statt, sondern eine intime Versammlung, die die Hartnäckigkeit des Lebens in den kalten, lichtlosen Tiefen des Meeres feiern wollte.
In den ersten Phasen des Raumkriegs im System p Eridani A war der Kampf unter dem Paradigma maximaler Tarnung geführt worden. Alle Parteien, Unterdrücker wie Menschen, hatten ihre Aktivitäten verschleiert, indem sie Antriebe, Instrumente und Waffen verwendeten, die ihre Energien – wenn überhaupt – nur in die schmalen Blindbereiche zwischen den üblichen Bändern abstrahlten. Remontoire hatte diese Art der Kriegsführung mit zwei Männern verglichen, die auf Zehenspitzen durch einen dunklen Raum schlichen und nahezu willkürlich um sich stachen. Wenn ein Mann verwundet wurde, durfte er nicht aufschreien, um seinen Standort nicht zu verraten. Er durfte auch nicht bluten und der Klinge keinen spürbaren Widerstand bieten. Und wenn der andere zustach, musste er die Klinge sofort zurückziehen, um seine eigene Position nicht preiszugeben. Ein treffendes Bild, nur war der Raum Lichtstunden groß, die Männer waren Raumschiffe mit menschlichen Piloten und Wolfsmaschinen, und die Waffen entwickelten mit jeder Finte, jeder Parade mehr Schlagkraft und größere Reichweite. Die Schiffe hatten die Temperatur ihrer Rümpfe der Kälte des Weltalls angepasst, die Emissionen aus ihren Triebwerken getarnt und Waffen verwendet, die unbemerkt durch die Dunkelheit gleiten und ebenso diskret töten konnten.
Doch irgendwann, das war unvermeidlich, hatte einer der Gegner die Tarnstrategie aufgegeben. Und wenn einer damit anfing, mussten die anderen folgen. Nun lautete die Devise dieses Krieges nicht mehr Tarnung, sondern maximale Transparenz. Man warf hemmungslos Waffen, Maschinen und Energien ins Gefecht.
Scorpio musste in seiner Beobachtungskapsel an eine Bemerkung denken, die Clavain immer wieder gemacht hatte, wenn er von außen einen Kampf beobachtete: Der Krieg war schön, wenn man das Glück hatte, nicht darin verwickelt zu sein. Krieg war Lärm und Wildheit, Farbe und Bewegung, ein Massenansturm auf die Sinne. Er war bravourös und dramatisch, er nahm einem den Atem, er war aufregend und romantisch. Vorausgesetzt, man war nur Zuschauer. Doch diesmal waren er und die Seinen nicht unbeteiligt, dachte Scorpio. Sie hatten zwar an der Schlacht um Ararat nicht direkt teilgenommen, aber ihr Schicksal wurde wesentlich von deren Ausgang bestimmt. Und den hatte zu einem großen Teil er, Scorpio, zu verantworten. Er hatte sich geweigert, Remontoire sämtliche Weltraumgeschütze zu überlassen, und nun konnte Remontoire nicht garantieren, dass es ihm gelingen würde, den Feind von dem Lichtschiff und seinen Insassen abzulenken.
Von der Konsole kam ein Signal. Soeben war eine Gravitationswelle mit ihrem eigentümlichen Zirpen an der Sehnsucht nach Unendlichkeit vorbeigerast.
»Das war’s«, sagte Vasko leise und sachlich. »Das letzte Weltraumgeschütz, falls wir uns nicht verzählt haben.«
»Es war nicht geplant, dass er sie so schnell verbrauchte«, sagte Khouri. Sie saß mit in der Beobachtungskapsel und hielt Aura in den Armen. »Ich fürchte, da ist etwas schief gelaufen.«
»Warten wir’s ab«, sagte Scorpio. »Vielleicht hat Remontoire auch nur eine bessere Strategie gefunden und ändert deshalb den Plan.«
Sie sahen einen Strahl – er streute nach der Seite sichtbares Licht und war deshalb sogar im Vakuum zu erkennen – mit gemächlicher Eleganz durch die Kampfarena gleiten. Es war ein fast schon obszöner Anblick, wie er sich gleich einer Zunge nach einem unsichtbaren Wolfsziel auf der anderen Seite ausstreckte. Scorpio wollte sich gar nicht vorstellen, wie grell dieser Strahl aus der Nähe sein musste, wenn er sogar von hier aus ohne optische Vergrößerung und Helligkeitsverstärkung zu erkennen war. Er hatte alle Lichter in der Beobachtungskapsel ausgeschaltet und auch die Navigationsanzeigen gedämpft, um das Geschehen bestmöglich verfolgen zu können. Die Schilde waren so ausgerichtet, dass sie Licht und Strahlung von den Triebwerken abschirmten.
Ein Ruck ging durch die Kapsel. Etwas löste sich von dem großen Schiff. Scorpio hatte gelernt, in solchen Fällen nicht mit der Wimper zu zucken. Die Kapsel orientierte sich neu und stakte bedächtig wie eine Tarantel nach den Anweisungen irgendeines uralten Algorithmus zur Kollisionsvermeidung zu einem sicheren Standort.
Khouri schaute durch eines der Bullaugen und hielt auch Aura in die Höhe, obwohl das Baby noch immer die Augen geschlossen hatte.
»Sieht seltsam aus hier unten«, sagte sie. »Mit keinem anderen Teil des Schiffes zu vergleichen. Wer hat das gestaltet? Der Captain oder das Meer?«
»Das Meer, denke ich«, antwortete Scorpio. »Ich weiß allerdings nicht, ob auch die Schieber daran beteiligt waren. Unterhalb der Schieber gab es schließlich eine wimmelnde Meeresökologie wie auf jedem anderen Wasserplaneten.«
»Warum flüstern Sie?«, fragte Vasko. »Kann er uns hier drin hören?«
»Ich flüstere, weil es so schön und so fremdartig ist«, sagte Scorpio. »Außerdem habe ich Kopfschmerzen. Ein Leiden aller Hyperschweine. Unsere Schädel sind etwas zu klein für unsere Gehirne. Mit zunehmendem Alter wird es schlimmer. Die Sehnerven werden gequetscht, und wir erblinden, falls uns die Makuladegeneration nicht vorher erwischt.« Er lächelte in die Dunkelheit hinein. »Schöne Aussichten, nicht wahr?«
»Es war nur eine Frage.«
»Und du hast sie nicht beantwortet«, sagte Khouri. »Kann er uns hier drin hören?«
»John?« Scorpio zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Im Zweifelsfall würde ich davon ausgehen. Eine Frage der Höflichkeit, nicht wahr?«
»Ich dachte, du hättest Höflichkeit gar nicht im Angebot«, sagte Khouri.
»Man tut, was man kann.«
Aura gurgelte leise.
Die Kapsel machte ihre Beine steif und drückte sich mit leise klirrenden Kontaktflächen fester an den Rumpf. Sie hing unter dem flachen Boden des großen Schiffes. Wo die Sehnsucht nach Unendlichkeit auf Ararats Meeresgrund gestanden hatte, leuchteten bizarre Korallenformationen in matten Pastellfarben. Da gab es graugrüne Gebilde so groß wie Schiffe und ganze Wälder aus knorrigen, nach unten gerichteten Fingern, die wie steinerne Kronleuchter anmuteten. Der entzückende Steingarten war in den dreiundzwanzig Jahren entstanden, während das Schiff im Wasser gestanden hatte, und bildete nun einen hübschen Kontrapunkt zu den eher brutalistischen Verformungen des Rumpfes durch die seuchenbedingten Verwandlungsprozesse des Captains. Die Gewächse waren erhalten geblieben, als die Schieber die Unendlichkeit in tieferes Wasser schleppten, und hatten sowohl den Start von Ararat wie den nachfolgenden Kampf mit den Wolfsstreitkräften überstanden. John Brannigan hätte sie sicherlich entfernen können, er hatte ja auch die unteren Extremitäten des Schiffes umgestaltet, um eine Landung auf Ararat überhaupt möglich zu machen. Das ganze Schiff war schließlich eine einzige Veräußerlichung seiner Psyche, ein Gebäude aus Schuld, Entsetzen und dem brennenden Verlangen nach Absolution.
Aber nichts wies darauf hin, dass hier weitere Transformationen stattfanden. Vielleicht, überlegte Scorpio, legte der Captain Wert darauf, die toten Meerestiere wie Warzen oder Schorf an sich zu tragen, so wie er selbst Wert darauf legte, die Narbe an seiner Schulter zu behalten, wo er den tätowierten Skorpion entfernt hatte. Hätte er diese Narbe restlos entfernt, er hätte auf einen Teil dessen verzichtet, was ihn zu Scorpio machte. Ararat wiederum hatte den Captain verändert, davon war Scorpio überzeugt, und er war auch sicher, dass der Captain die Veränderung spürte. Doch worin bestand sie genau? Das würde man schon bald herausfinden müssen.
Er hatte bereits die nötigen Vorkehrungen getroffen. In seiner Tasche trug er eine Hand voll leuchtend roten Staubs.
Vasko richtete sich auf, die Polsterung knarrte. »Ich denke, es empfiehlt sich, ihn höflich zu behandeln«, sagte er. »Schließlich geschieht hier nichts ohne seine Einwilligung. Ich nehme an, das ist uns allen klar.«
»Sie reden, als wollten wir hier Kämpfe ausfechten, um zu sehen, wer der Stärkere ist«, sagte Scorpio. Er behielt den immer noch wachsenden Strahl des Weltraumgeschützes im Auge. Ein heller Strich zog sich über die gesamte Kampfzone und schob sich weiter ins All vor. Wo das Weltraumgeschütz gewesen war, sah man nur noch einen verblassenden Flecken sterbender Materie. Die Waffe hatte nur einen einzigen Schuss abgegeben, jetzt war sie Schrott.
»Und Sie würden das ausschließen?«, fragte Vasko.
»Ich bin Optimist. Ich glaube, letztlich werden alle vernünftig sein.«
»Sie haben den Kampf um die Weltraumgeschütze gewonnen«, sagte Vasko. »Remontoire hat mitgespielt, und das Schiff hatte nichts dagegen. Das wundert mich nicht: Es fühlt sich mit den Geschützen sicherer als ohne sie. Dennoch wissen wir nicht, ob die Entscheidung richtig war. Wie wird es beim nächsten Mal sein?«
»Beim nächsten Mal? Ich sehe keine weiteren Kontroversen am Horizont«, sagte Scorpio.
Aber das stimmte nicht. Seit Remontoire und Antoinette fort waren, fühlte er sich isoliert. Remontoire war einen Tag zuvor mit den letzten Synthetikern abgeflogen. Sie hatten ihre Servomaten, ihre Maschinen und die letzten Weltraumgeschütze mitgenommen, die man ihnen zugestanden hatte. Dafür hatten sie funktionierende Replikatoren und die riesigen glänzenden Apparate zurückgelassen, bei deren Montage Scorpio zugesehen hatte. Remontoire hatte ihm erklärt, Waffen und Anlagen seien nur in sehr begrenztem Umfang getestet worden. Bevor man sie einsetzen könne, müssten sie nach den Anweisungen, die seine Techniker zurückgelassen hatten, aufwändig kalibriert werden. Die Synthetiker konnten nicht lange genug an Bord bleiben, um die Kalibrierung selbst vorzunehmen: Wenn sie noch länger warteten, würde die Entfernung zu groß, und ihre kleinen Schiffe könnten nicht mehr zur Hauptstreitmacht um Ararat zurückkehren. Trotz ihrer trägheitsunterdrückenden Systeme setzten ihnen die erforderlichen Treibstoffvorräte und die erreichbaren Beschleunigungswerte immer noch enge Grenzen. Die Naturgesetze waren nicht außer Kraft gesetzt. Es ging ihnen nicht um das eigene Überleben, aber das Mutternest brauchte sie, und so waren sie abgezogen. Und hatten den einen Mann mitgenommen, dem Scorpio genügend Entschlossenheit zutraute, um sich gegen Aura zu stellen, wenn es die Umstände erforderten.
Damit bleibe nur noch ich, dachte er.
»Ich sehe zumindest eine Kontroverse in naher Zukunft«, sagte Vasko.
»Klären Sie mich auf.«
»Wir werden uns einigen müssen, wohin wir fliegen – ob nach draußen, nach Hela, oder zurück nach Yellowstone. Wie Sie darüber denken, ist uns allen bekannt.«
»Jetzt heißt es also schon ›wir‹?«
»Sie sind in der Minderheit, Scorp. Ich stelle nur Tatsachen fest.«
»Es muss nicht zwangsläufig zum Streit kommen«, versuchte Khouri zu beschwichtigen. »Vasko will nur sagen, dass die Mehrheit des Ältestenrates glaubt, Aura verfüge über privilegierte Informationen, und dass man ihre Ratschläge ernst nehmen sollte.«
»Das heißt noch nicht, dass die Ältesten Recht haben. Und es heißt auch nicht, dass wir auf Hela etwas finden, das uns weiterhilft«, gab Scorpio zurück.
»Es muss mit diesem System irgendeine Bewandtnis haben«, sagte Vasko. »Dass der Planet immer wieder verschwindet… das muss etwas bedeuten.«
»Reine Massenpsychose«, sagte Scorpio. »Wenn die Menschen verzweifelt sind, haben sie oft Visionen. Sie glauben, dass Sie auf diesem Planeten etwas Brauchbares finden? Schön. Fliegen Sie hin und sehen Sie nach. Und dann erklären Sie mir, warum es den Eingeborenen einen Dreck genützt hat.«
»Sie heißen Flitzer«, sagte Vasko.
»Wie sie heißen, ist mir egal. Verdammt, sie wurden ausgerottet. Messen Sie diesem Umstand denn überhaupt keine Bedeutung bei? Glauben Sie nicht, diese Flitzer hätten nach jedem Strohhalm gegriffen, um sich zu retten?«
»Vielleicht handelt es sich um etwas, das man nicht leichtfertig einsetzt«, meinte Vasko.
»Na großartig. Und Sie wollen also hinfliegen und sich ansehen, was ihnen solche Angst machte, dass sie sich lieber ausrotten ließen? Lassen Sie sich nicht aufhalten. Schicken Sie mir eine Postkarte. Ich bin nur etwa zwanzig Lichtjahre weit weg.«
»Angst, Scorpio?«, fragte Vasko.
»Nein, ich habe keine Angst«, sagte er mit einer Ruhe, die ihn selbst überraschte. »Ich bin nur vorsichtig. Das ist ein Unterschied, und eines Tages werden vielleicht sogar Sie das begreifen.«
»Vasko meinte doch nur, dass wir nicht sagen können, was wirklich passiert ist, solange wir diese Welt nicht selbst besuchen«, sagte Khouri. »Im Augenblick wissen wir so gut wie nichts über Hela oder die Flitzer. Die Kirchen lassen keine orthodoxen Wissenschaftler ohne religiöse Überzeugung in die Nähe. Und die Ultras stecken die Nase auch nicht zu tief hinein, weil sie mit dem Export nutzloser Flitzerfunde gute Geschäfte machen. Aber wir müssen mehr erfahren.«
»Mehr«, sagte Aura und lachte.
»Wenn sie weiß, dass wir dorthin fliegen sollen, dann könnte sie uns doch auch den Grund dafür nennen«, sagte Scorpio und deutete mit einem Nicken auf das silbrig graue Bündel. »Das Wissen muss doch irgendwo da drin versteckt sein?«
»Sie kennt den Grund nicht«, sagte Khouri.
»Heißt das, sie will noch nicht darüber reden, oder sie wird ihn nie erfahren?«
»Weder noch, Scorp. Es heißt nur, das Wissen noch nicht abrufbar ist.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte er.
»Ich habe dir doch erzählt, was Valensin sagte: Er sieht sich Aura jeden Tag an, und jeden Tag sieht er sie in einem anderen Entwicklungsstadium. Wäre sie ein normales Kind, dann wäre sie noch nicht geboren. Sie könnte nicht sprechen. Sie könnte nicht einmal selbst atmen. An manchen Tagen besitzt sie die Sprachkompetenz einer Dreijährigen. Dann wieder benimmt sie sich, als wäre sie noch kein Jahr alt. Ihre Hirnstrukturen kommen und gehen wie die Wolken am Himmel. Sie verändert sich sogar, während wir hier sitzen. Ihr Kopf ist wie ein Hochofen. Wenn du dir das alles vor Augen hältst, findest du es dann wirklich so verwunderlich, dass sie dir nicht genau sagen kann, wieso wir nach Hela fliegen müssen? Genauso gut könntest du ein Kind fragen, warum es etwas zu essen braucht. Es kann dir sagen, dass es Hunger hat. Aber das ist auch alles.«
»Aber was meinst du mit ›abrufbar‹?«
»Es ist alles in ihr drin«, sagte Khouri. »Alle Antworten oder zumindest alles, was wir wissen müssen, um die Antworten selbst zu finden. Aber es ist verschlüsselt, so dicht gepackt, dass es selbst vom Gehirn eines zwei oder dreijährigen Kindes nicht decodiert werden könnte. Sie muss erst älter werden, um mit den Erinnerungen etwas anfangen zu können.«
»Du bist älter«, sagte Scorpio. »Du kannst in ihren Kopf schauen. Warum rufst du das Wissen nicht ab?«
»So funktioniert das nicht. Ich sehe nur, was sie versteht. Was ich empfange, ist – jedenfalls meistens – die Sicht eines Kindes. Einfach, kristallklar und hell. In Primärfarben gehalten.« Ihr Lächeln blitzte durch das Dunkel. »Du müsstest einmal sehen, wie bunt die Farben für ein Kind sind.«
»Ich konnte Farben noch nie sehr gut sehen.«
»Könntest du einmal fünf Minuten lang nicht daran denken, dass du ein Schwein bist?«, fragte Khouri. »Es wäre wirklich sehr viel einfacher, wenn wir uns nicht immer wieder an diesem Punkt festfahren würden.«
»Ich komme einfach nicht darüber hinweg. Tut mir Leid, wenn ich dich damit vor den Kopf stoße.«
Er hörte sie seufzen. »Ich sag doch nur eines, Scorpio. Wir können nicht wissen, wie wichtig Hela ist, wenn wir nicht hinfliegen. Wir dürfen nicht gleich aus allen Rohren ballern, sondern müssen uns vorsichtig herantasten. Wir müssen uns zuerst selbst darüber klar werden, was wir wollen, und dann danach fragen. Und wenn wir uns entschließen, es uns mit Gewalt zu holen, muss es beim ersten Versuch klappen. Doch vor allem müssen wir dorthin.«
»Und wenn es das Schlimmste wäre, was wir tun könnten? Wenn das alles nur eine Falle ist, um den Unterdrückern die Arbeit zu erleichtern?«
»Sie arbeitet nicht für sie, Scorp, sie steht auf unserer Seite.«
»Das ist nur eine Hypothese.«
»Sie ist meine Tochter. Glaubst du nicht, dass ich spüren würde, wenn sie etwas im Schilde führte?«
Vasko unterbrach und berührte Scorpio an der Schulter. »Ich finde Sie sollten sich das ansehen«, sagte er.
Scorpio wandte sich dem Bullauge zu und sah sofort, was Vasko meinte. Es war kein erfreulicher Anblick. Der Strahl des Weltraumgeschützes wurde abgelenkt wie ein Lichtstrahl, der auf Wasser traf. Wo er die Richtung änderte, war nichts zu sehen, aber man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass sich dort ein Sammelpunkt von Unterdrückerenergie befand, der den Strahl vom Kurs abbrachte. Das Geschütz konnte sein Ziel nicht neu anvisieren und einen zweiten Schuss abgeben – es war nicht mehr da. Sie konnten sich nur zurücklehnen und abwarten, was mit dem abgelenkten Strahl passierte.
Scorpio ahnte, dass er nicht einfach im Dunkel des interstellaren Raums verschwinden würde, ohne Schaden anzurichten.
Das war nicht die Art der Unterdrücker.
Sie brauchten nicht lange zu warten. Bei starker Vergrößerung konnten sie beobachten, wie der Strahl den Rand von Ararats nächstem Mond streifte, sich durch die hunderte von Kilometern dicke Kruste fraß und auf der anderen Seite wieder austrat. Der Mond löste sich auf wie ein Puzzle, das man zu Boden warf. Traumhaft langsam sickerte rot glühende Felsmasse aus der Wunde. Es war wie die Zeitrafferaufnahme einer Blüte, die sich im Morgengrauen öffnete und der Sonne ihr rotes Herz darbot.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte Khouri.
»Glauben Sie immer noch, dass das nur eine Planänderung war?«, fragte Vasko.
Der Mond zog nun einen Streifen aus kirschrotem Magma auf seiner Umlaufbahn hinter sich her. Scorpio sah es mit Bestürzung. Was mochte das für die Menschen bedeuten, die auf Ararat zurückgeblieben waren? Selbst wenn nur ein paar Millionen Schutt in den Ozean stürzten, hätte das entsetzliche Folgen. Die Masse eines ganzen Mondes würde noch weit schlimmere Verwüstungen anrichten.
»Ich weiß es nicht«, sagte Scorpio.
Wenig später ertönte ein neues Signal von der Konsole.
»Verschlüsseltes Signal von Remontoire«, sagte Vasko. »Soll ich ihn auf den Schirm legen?«
Scorpio bejahte. Auf der Konsole erschien ein unscharfes, körniges Bild. Die Übertragung war stark komprimiert, und das Bild schwankte und stockte immer wieder, während Remontoire weitersprach.
»Es tut mir sehr Leid«, sagte er, »aber es hat nicht ganz so geklappt, wie ich es mir erhofft hatte.«
Wie schlimm?, artikulierte Scorpio stumm.
Es war, als hätte ihn Remontoire gehört. »Ein kleineres Rudel von Unterdrückermaschinen ist euch auf den Fersen«, sagte er. »Es ist nicht so groß wie der Schwarm, der uns von Delta Pavonis verfolgte, aber ihr könnt es auch nicht einfach ignorieren. Habt ihr die hypometrischen Waffensysteme getestet? Das sollte jetzt Vorrang haben. Und es wäre vielleicht auch keine schlechte Idee, die restliche Artillerie einsatzbereit zu machen.« Remontoire hielt inne, sein Bild zerfiel und fügte sich wieder zusammen. »Etwas wollte ich euch noch sagen«, fuhr er fort. »Der Fehler lag bei mir. Es hatte nichts damit zu tun, wie viele Weltraumgeschütze wir zur Verfügung hatten. Selbst wenn ich sie alle bekommen hätte, der Ausgang wäre der gleiche gewesen. Es war sogar besser, dass ihr einige zurückbehalten habt. Ihr Instinkt hat Sie nicht im Stich gelassen, Mr. Pink. Ich bin froh, dass wir uns vor meinem Abflug noch unterhalten konnten. Ihr habt noch eine Chance.« Sein Lächeln wirkte wie immer verkrampft, aber Scorpio freute sich darüber. »Du spürst vielleicht den Wunsch, auf diese Übertragung zu antworten. Ich rate dir dringend, es nicht zu tun. Die Wölfe werden versuchen, euch noch genauer ins Visier zu bekommen, und mit einem so deutlichen Signal tut ihr euch keinen Gefallen. Lebt wohl und viel Glück.«
Das war alles. Die Übertragung war beendet.
»Mr. Pink?«, fragte Vasko. »Wer ist Mr. Pink?«
»Wir sind alte Bekannte«, sagte Scorpio.
»Er hat gar nicht von sich selbst gesprochen«, bemerkte Khouri. »Kein Wort darüber, was er jetzt vorhat.«
»Wahrscheinlich hielt er das nicht für relevant«, sagte Scorpio. »Wir können nichts mehr tun, um ihnen zu helfen. Und sie haben für uns getan, was sie konnten.«
»Leider hat es nicht gereicht«, sagte Malinin.
»Das mag sein«, sagte Scorpio, »aber wenn Sie mich fragen, war es immer noch sehr viel besser, als wenn sie nichts getan hätten.«
»Er erwähnte ein Gespräch«, sagte Khouri. »Was hatte es damit auf sich?«
»Das geht nur mich und Mr. Clock etwas an«, antwortete Scorpio.