Unweit von Ararat
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Scorpio saß am Holztisch auf der Lichtung und sah sich um. Er wollte sich nichts entgehen lassen, aber auch nicht den Eindruck erwecken, völlig überwältigt zu sein. Dabei hatte er so etwas wirklich noch nie erlebt. Der Himmel war von einem tiefen, satten Blau, wie er es auf Ararat nie gesehen hatte. Die Bäume waren unglaublich filigran und bis in die kleinsten Einzelheiten ausgeführt. Sie lebten und atmeten. Er hatte Bäume bisher nur auf Bildern gesehen, aber die hatten ihm diese Schwindel erregende Komplexität nicht vermitteln können. Als er zum ersten Mal am Meer gestanden hatte, war es ihm ähnlich ergangen: Die Kluft zwischen Erwartung und Wirklichkeit war so gewaltig, dass einem ganz flau wurde. Man konnte nicht einfach von einer bekannten Erscheinung wie etwa einem Glas Wasser hochrechnen. Es gab einen inneren Kern des ›Meer-Seins‹, auf den er einfach nicht gefasst gewesen war.
Eigentlich fand er die Bäume erschreckend. Sie waren so riesig, so lebendig. Wenn sie ihn nun nicht leiden konnten?
»Scorp«, sagte Antoinette. »Würdest du bitte die Brille aufsetzen?«
Er sah sie stirnrunzelnd an. »Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«
»Du willst doch mit John sprechen. Wer keine Maschinen im Kopf hat, kann ihn meistens nicht sehen. Keine Sorge, du bist nicht der Einzige, der damit albern aussieht.«
Er rückte sich die Brille zurecht. Sie war für Menschen und nicht für Schweine entworfen, aber als er sie auf seine Gesichtsform eingestellt hatte, war sie nicht unbequem. Er schaute hindurch, aber zunächst geschah gar nichts.
»John wird gleich hier sein«, versicherte ihm Antoinette.
Das Treffen war sehr kurzfristig einberufen worden. Außer ihm und Antoinette saßen Vasko Malinin, Ana Khouri und ihre Tochter – sie lag in einem tragbaren Inkubator, den Khouri auf dem Schoß hatte –, Dr. Valensin und drei einfache Vertreter der Kolonie mit am Tisch. Die drei Letzteren waren nur die Ranghöchsten unter den etwa vierzehntausend Bürgern, die sich bereits an Bord der Sehnsucht nach Unendlichkeit befanden. Die übrigen Mitglieder des Ältestenrats – Orca Cruz, Blood, Xavier Liu etc. – befanden sich noch auf Ararat. Remontoire nahm gegenüber von Scorpio Platz, sodass noch ein Sitz frei blieb.
»Wir sollten uns kurz fassen«, sagte Remontoire. »Ich muss in knapp einer Stunde wieder los.«
»Du kannst nicht zum Essen bleiben?«, fragte Scorpio, bevor ihm einfiel, dass Humor für Remontoire ein Fremdwort war.
Der Synthetiker schüttelte seinen fein geäderten Eierkopf. »Leider nein. Die Zodiakallicht und die anderen Streitkräfte der Synthetiker bleiben mindestens noch so lange im System, bis ihr im interstellaren Raum seid. Wir halten euch die Unterdrücker vom Leib. Einige Elemente werden euch vielleicht verfolgen, aber es wird nicht die Hauptstreitmacht sein.« Er legte die dünnen Finger dachförmig aneinander. »Ihr solltet sie in Schach halten können.«
»Hört sich ganz nach einem Himmelfahrtskommando an«, sagte Antoinette.
»Das ist es nicht. Ich bin pessimistisch, aber nicht ohne jede Hoffnung. Es gibt noch Waffen, die wir nicht eingesetzt, und eine ganze Reihe, die wir noch nicht einmal hergestellt haben. Mit einigen davon müsste man zumindest im näheren Umkreis eine geringe Wirkung erzielen.« Er hielt inne, ließ seine Hand wie ein Zauberkünstler in einer unsichtbaren Tasche seines Uniformrocks verschwinden und zog einen schiefergrauen Zylinder hervor. Er legte ihn auf den Tisch und hielt ihn mit den Fingerspitzen fest. »Bevor ich es vergesse: Hier sind die Entwürfe für einige neue militärische Technologien. Das eine oder andere könnten Aura oder Khouri bereits erwähnt haben. Natürlich haben wir Aura eine Menge zu verdanken, sie hat uns die Grundlagen erklärt und den Weg gewiesen, aber vieles mussten wir doch selbst entwickeln. Diese Dateien sollten mit den Standardprogrammen eurer Replikatoren kompatibel sein.«
»Wir haben keine Replikatoren mehr«, sagte Antoinette. »Die sind schon vor Jahren ausgefallen.«
Remontoire spitzte die Lippen. »Dann werden wir euch neue liefern, die gegen nahezu alle Abarten der Schmelzseuche resistent sind. Ich lasse sie abwerfen, bevor ihr das System verlasst, zusammen mit medizinischen Versorgungsgütern und Bauteilen für die Kälteschlafsysteme. Wenn ihr die Dateien auf die neuen Anlagen überspielt, werden sie euch Waffen und technische Geräte herstellen. Auftauchende Fragen solltet ihr in angemessener Form an Aura richten, sie müsste euch helfen können.«
»Danke, Rem«, sagte Antoinette.
»Es ist ein Geschenk«, sagte er. »Wir überlassen es euch ebenso gern, wie wir euch Aura überlassen haben. Sie gehört jetzt euch. Aber im Gegenzug könntet ihr etwas für uns tun.«
»Nämlich?«, fragte Antoinette.
Remontoire antwortete nicht, sondern schaute über die Schulter. Eine Gestalt kam mit knirschenden Schritten über das Gras.
»Hallo, John«, sagte Antoinette.
Scorpio richtete sich steif auf. Die Gestalt kam näher. Auf den ersten Blick sah sie kaum wie ein Mensch aus, auch wenn sie sich so bewegte und Arme und Beine sowie einen Kopf hatte. Eine Hälfte des Körpers – ein Arm, ein Bein und eine Hälfte des Rumpfes – bestand, soweit er sehen konnte, aus Fleisch und Blut. Die andere Hälfte war eine klobige mechanische Konstruktion, bei der man auf jeden Anschein von Symmetrie verzichtet hatte. Hauptsächlich bestand sie aus Kolben und überdimensionierten Gelenken, beweglichen Metallteilen, die sorgsam geschmiert und auf Hochglanz poliert waren. Der mechanische Arm hing bis auf Kniehöhe herab und endete in einem integrierten Werkzeugsystem mit Instrumenten für jeden Zweck. Das Ganze sah aus, als wären ein Räumbagger und ein Mensch mit hoher Geschwindigkeit aufeinander geprallt und dabei eins geworden.
Der Kopf wirkte im Vergleich dazu fast normal. Allerdings nur fast. In den Augenhöhlen saßen rote Facettenkameras. Aus den Nasenlöchern schlängelten sich Schläuche, die über die Wangen nach hinten zu einem unsichtbaren Mechanismus führten. Ein ovales Gitterbedeckte den Mund und war mit der Gesichtshaut vernäht. Der Schädel war kahl bis auf ein Dutzend verfilzter Strähnen am Scheitel, die, nach hinten gekämmt und zu einem Zopf geflochten, bis in den Nacken hingen. Der Captain hatte keine Ohren, ja, Scorpio konnte überhaupt keine Körperöffnungen erkennen. Vielleicht hatten es ihm diese Veränderungen ermöglicht, auch ohne Raumhelm im harten Vakuum zu überleben.
Die Stimme aus dem Gitter klang leise und blechern wie von einem kaputten Spielzeug. »He. Da ist ja die ganze Bande versammelt.«
»Setzen Sie sich zu uns, John«, sagte Antoinette. »Müssen wir Sie informieren? Remontoire schlug uns soeben einen Tauschhandel vor. Er will uns einige tolle neue Spielsachen geben.«
»Aber nicht ohne Gegenleistung, nehme ich an.«
»Nein« sagte Remontoire. »Die Pläne und Beschreibungen sind tatsächlich ein Geschenk. Aber sollten Sie an ein Gegengeschenk denken, dann hätten wir etwas Bestimmtes im Auge.«
John Brannigan ließ sich nieder. Die Kolbenantriebe seiner Gliedmaßen ächzten und zischten. »Sie wollen die restlichen Weltraumgeschütze«, sagte er.
Remontoire nickte ihm anerkennend zu. »Sie haben ein feines Gespür für unsere Wünsche.«
»Was haben Sie damit vor?«, fragte John Brannigan.
»Unsere Hochrechnungen zeigen, dass wir sie für ein wirksames Ablenkungsmanöver brauchen werden. Natürlich besteht dabei immer eine gewisse Unsicherheit. Nicht bei allen Geschützen ist die Wirkung bekannt. Aber wir können qualifizierte Vermutungen anstellen.«
»Auch wir werden vor den Wolfsmaschinen fliehen«, bemerkte Scorpio. »Wer sagt, dass wir die Geschütze nicht selbst brauchen?«
»Niemand«, gab Remontoire gewohnt unerschütterlich zurück – wie ein Erwachsener, der einer Schar Kinder ein Gesellschaftsspiel vorschlug. »Gut möglich, dass ihr sie braucht. Aber ihr braucht nur wegzulaufen, ihr braucht nicht zu kämpfen. Wenn ihr vernünftig seid, werdet ihr weitere Begegnungen so lange wie möglich vermeiden.«
»Sie sagten aber, es könnte sein, dass uns Teile der Wölfe verfolgen«, erinnerte ihn Antoinette. »Was machen wir dann? Sie höflich bitten, uns in Ruhe zu lassen?«
Remontoire tippte wieder auf den Datenzylinder auf dem Tisch. »Darin befinden sich Anweisungen zum Bau eines hypometrischen Waffensystems. Unseren Hochrechnungen zufolge reichen drei solcher Systeme aus, um einen kleineren Wolfstrupp zu verjagen.«
»Und wenn sich die Hochrechnungen als falsch herausstellen?«, fragte Scorpio.
»Dann habt ihr noch andere Mittel.«
»Das reicht nicht«, erklärte das Schwein. »Wegen dieser Weltraumgeschütze sind wir überhaupt erst bis ins Resurgam-System geflogen und in diesen dampfenden Haufen Scheiße hineingeraten. Und jetzt verlangst du, dass wir sie einfach herausgeben?«
»Ich bin immer noch euer Verbündeter«, sagte Remontoire. »Ich schlage nur vor, die Geschütze der Partei zurückzuerstatten, die sie auch optimal nützen kann.«
»Ich begreife nicht ganz«, sagte Antoinette und deutete mit einem Nicken auf den Datenzylinder. »Sie haben das Wissen und die Mittel, Dinge zu bauen, von denen wir noch nicht einmal zu träumen wagen, und trotzdem sind Sie hinter diesen verschimmelten alten Weltraumgeschützen her?«
»Sie sollten die Geschütze nicht unterschätzen«, mahnte Remontoire. »Sie sind ein Geschenk aus der Zukunft. Solange sie nicht umfassend getestet wurden, können wir nicht davon ausgehen, dass sie den Dingen, die wir von Aura bekommen haben, unterlegen sind. Das ist doch wohl nicht von der Hand zu weisen?«
»Der Mann hat vermutlich Recht«, sagte Antoinette.
Die John-Brannigan-Projektion bewegte sich. Ihre Lokomotionssysteme zischten. Sicherlich war es nur Einbildung, aber Scorpio glaubte sogar, das Schmiermittel zu riechen. Wieder ließ sich der Captain mit blecherner Stimme vernehmen. »Da mag etwas dran sein, aber auch Auras Fähigkeiten wurden bisher nicht auf die Probe gestellt. Von den Weltraumgeschützen haben wir zumindest einige eingesetzt und uns von ihrer Funktionsfähigkeit überzeugt. Ich kann nicht billigen, dass wir den Rest aus der Hand geben.«
»Dann werden wir einen Kompromiss finden müssen«, sagte Remontoire.
Der Captain wandte sich ihm zu. Das Gesicht mit dem vergitterten Mund war ausdruckslos. »Ich bin ganz Ohr«, sagte er.
»Unsere Hochrechnungen zeigen, dass mit einer Teilmenge der verfügbaren Weltraumgeschütze die Erfolgschancen zwar verringert würden, aber signifikant hoch blieben.«
»Im Klartext, Sie kriegen einige, aber nicht alle?«, fragte Antoinette.
Remontoire nickte knapp. »Richtig. Aber glauben Sie ja nicht, dass es uns leicht fällt, uns damit zufrieden zu geben. Wenn uns nur eine beschränkte Auswahl an Weltraumgeschützen zur Verfügung steht, können wir womöglich nicht verhindern, dass Ihnen eine größere Wolfstruppe auf den Fersen bleibt.«
»Mag sein«, sagte Antoinette. »Aber denen hätten wir dann umso mehr entgegenzusetzen, richtig?«
»Richtig«, erwiderte Remontoire und nickte. »Die Chance zu unterliegen sollte allerdings nicht unterschätzt werden.«
»Das Risiko gehen wir ein«, erklärte Scorpio.
»Moment mal«, schaltete Khouri sich ein. Sie zitterte heftig. Mit einer Hand hielt sie den Inkubator an sich gepresst, mit der anderen krallte sie sich am Tisch fest. »Langsam. Ich… Aura…« Sie verdrehte die Augen, bis man nur noch das Weiße sah. Ihre Halsmuskeln spannten sich. »Nein«, sagte sie. »Nein. Auf keinen Fall.«
»Was heißt ›nein‹?«, fragte Scorpio.
»Nein. Nein, nein, nein. Tut, was Remontoire sagt. Gebt ihm alle Geschütze! Es wird darauf ankommen. Vertraut ihm!« Ihre Fingernägel hinterließen weiße Rillen im Holz.
Vasko beugte sich vor und ergriff zum ersten Mal während der Sitzung das Wort. »Aura könnte Recht haben.«
»Ich habe Recht«, sagte Khouri.
»Wir sollten auf sie hören«, mahnte Vasko. »Sie scheint sich recht sicher zu sein.«
»Woher will sie das wissen?«, fragte Scorpio. »Zugegeben, sie kann uns vieles sagen. Aber bisher hat noch niemand behauptet, dass sie in die Zukunft schauen kann.«
Die Vertreter der Kolonie nickten einhellig.
»Ich denke in diesem Fall wie Scorp«, sagte Antoinette. »Wir können Rem nicht alle Geschütze überlassen. Wir müssen einige behalten. Was ist, wenn wir die Replikatoren nicht in Gang bekommen? Oder wenn die Waffen, die sie herstellen sollen, nicht funktionieren?«
»Sie werden funktionieren«, versprach Remontoire. Er wirkte immer noch ruhig und entspannt, obwohl hier über schwer wiegende Fragen entschieden wurde.
Scorpio schüttelte den Kopf. »Das reicht uns nicht. Ihr bekommt einige von den Weltraumgeschützen, aber nicht alle.«
»Schön«, sagte Remontoire. »Wichtig ist, dass wir uns überhaupt einigen.«
»Scorpio…«, mahnte Vasko.
Doch jetzt hatte das Schwein genug. Das war seine Kolonie, sein Schiff, seine Krise. Scorpio riss sich die Brille so heftig ab, dass sie zerbrach. »Die Entscheidung ist gefallen«, fauchte er.
Remontoire spreizte die Finger. »Dann werden wir alle Vorbereitungen treffen. Wir schicken Frachtschlepper, um die Geschütze zu transportieren. Ein Shuttle bringt die neuen Replikatoren und einige fertige Bauteile. Beim Einbau der hypometrischen Geschütze und der anderen neuen Technik werden euch Synthetiker behilflich sein. Sollte man eine Shuttleverbindung einrichten, um weitere Personen von der Oberfläche zu holen?«
»Ja«, antwortete Antoinette.
»Eine Massenevakuierung kommt nicht infrage«, erklärte Remontoire. »Wir können noch einen, vielleicht auch zwei Schutzkorridore für Flüge zum Planeten und wieder zurück eröffnen, das reicht für ein paar Fährentransporte, aber nicht mehr.«
»Das wird genügen«, sagte Antoinette.
»Und was ist mit den Übrigen?«, fragte einer der Kolonievertreter.
»Sie hatten ihre Chance«, sagte Scorpio.
Remontoire lächelte verkrampft, als hätte jemand in vornehmer Gesellschaft einen vernehmlichen Furz gelassen. »Sie sind nicht zwangsläufig in akuter Gefahr«, sagte er. »Wenn die Unterdrücker Ararats Biosphäre zerstören wollten, hätten sie das längst tun können.«
»Aber sie werden da unten wie in einem Gefängnis sitzen«, wandte Antoinette ein. »Die Wölfe werden sie niemals abziehen lassen.«
»Immerhin bleiben sie am Leben«, sagte Remontoire. »Und vielleicht gelingt es uns, die Wolfspräsenz um Ararat zu verringern. Das können wir jedoch nicht garantieren, wenn wir nicht das volle Kontingent an Weltraumgeschützen zur Verfügung haben.«
»Könntest du es denn garantieren, wenn du alle Geschütze hättest?«, fragte Scorpio.
Remontoire überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »Keine Garantien, nicht einmal dann.«
Scorpio sah die Kolonievertreter der Reihe nach an und stellte dabei zum ersten Mal fest, dass er das einzige Hyperschwein war. Wo der Captain gesessen hatte, war jetzt nur ein leerer Platz, der aber die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zog. Der Captain war noch da, dachte Scorpio. Er war noch da und hörte zu. Sogar der Schmiermittelgeruch schien noch in der Luft zu hängen.
»Dann soll mir die Entscheidung keine schlaflosen Nächte bereiten«, sagte er.
Nach der Sitzung machte sich Antoinette auf die Suche nach Scorpio. Er war mit dem Fahrstuhl nach oben gefahren, um bei der Abfertigung der Flüchtlinge zu helfen. In den schmutzigen, feuchten, gewundenen Korridoren drängten sich die Menschen, so weit das Auge reichte.
Scorpio ging durch einen dieser Gänge, schaute in die verängstigten Gesichter und beantwortete Fragen, so gut er konnte, ohne auf die längerfristigen Pläne für Schiff und Passagiere einzugehen. Er versprach den Menschen, sie würden versorgt, einige müssten eingefroren werden, aber man würde alle Anstrengungen unternehmen, um die Prozedur möglichst sicher und schmerzlos zu gestalten. Eine Weile glaubte er sogar selbst daran. Doch nachdem er einen Korridor hinter sich hatte, dämmerte ihm, dass er von vermutlich tausenden von Flüchtlingen an Bord höchstens ein paar hundert gesehen hatte.
Er traf Antoinette an einer Kreuzung, wo SD-Leute die Menschen zu funktionsfähigen Fahrstühlen dirigierten, die sie nach unten zu anderen Abfertigungszentren bringen sollten.
»Es wird alles gut werden, Scorp«, sagte sie.
»Bin ich so leicht zu durchschauen?«
»Du machst ein Gesicht, als läge die Last der ganzen Welt auf deinen Schultern.«
»Komisch, so ungefähr fühle ich mich auch.«
»Du wirst das Kind schon schaukeln. Weißt du noch, wie es Clavain damals im Château der Mademoiselle erging?«
»Das ist lange her.«
»Ich erinnere mich jedenfalls noch gut daran. Er machte genau so ein Gesicht wie du jetzt, Scorp, so als wäre sein ganzes Leben nur eine Aneinanderreihung von Fehlern gewesen, und nun sei der Gipfel, die Katastrophe erreicht. Damals hätte er fast alles verloren. Aber es kam nicht dazu. Er behielt die Fäden in der Hand. Und es klappte. Am Ende stellte sich die Kette von vermeintlichen Fehlern als eine Serie von goldrichtigen Entscheidungen heraus.«
Scorpio lächelte. »Danke für die Seelenmassage, Antoinette.«
»Ich finde, du solltest das wissen. Die Lage wird immer komplizierter, Scorpio, und ich weiß, du glaubst manchmal, du wärst hier nicht ganz am richtigen Platz, wenn du verstehst, was ich meine. Aber das ist ein Irrtum. Was wir jetzt brauchen, ist ein Führer, wie du es bist: gerade heraus und sachlich. Du bist kein Politiker, Scorp. Dem Himmel sei Dank. Clavain hätte genauso gedacht.«
»Meinst du?«
»Ich weiß es. Ich möchte dich nur bitten, gerade jetzt keine Krise heraufzubeschwören.«
»Ich werde mich bemühen.«
Sie seufzte und versetzte ihm einen scherzhaften Rippenstoß. »Das wollte ich dir noch sagen, bevor ich gehe.«
»Du gehst?«
»Mein Entschluss steht fest: Ich fliege mit einer von Remontoires Fähren nach Ararat zurück. Xavier ist noch unten.«
»Das ist riskant«, warnte er. »Warum bittest du Remontoire nicht einfach, Xavier mit heraufzubringen? Er hat sich auch bereit erklärt, Orca zu holen. Ich möchte nicht taktlos sein – Verzeihung –, aber auf diese Weise verlieren wir wenigstens nur einen von euch, sollten die Wölfe die Fähre abschießen.«
»Ich komme nicht zurück«, sagte sie. »Ich werde auf Ararat bleiben.«
Das musste er erst verdauen. »Aber du bist doch geflohen«, sagte er endlich.
»Nein, Scorp, ich bin nur deshalb auf der Unendlichkeit geblieben, weil mir nichts anderes übrig blieb. Ich werde da unten gebraucht, bei den tausenden, die wir zurücklassen müssen. Das heißt, mich brauchen sie natürlich nicht wirklich, aber auf Xavier können sie nicht verzichten. Er ist so ziemlich der Einzige, der alles reparieren kann, was kaputtgeht.«
»Du wirst dich schon nützlich machen«, versicherte Scorpio lächelnd.
»Wenn man mich hin und wieder mal fliegen lässt, werde ich wohl auch nicht vollends den Verstand verlieren.«
»Wir könnten dich auch hier oben gut gebrauchen. Ich kann gar nicht genug Verbündete haben.«
»Du hast Verbündete, Scorp; du weißt es nur noch nicht.«
»Du bist sehr tapfer«, sagte er.
»Der Planet ist gar nicht so schrecklich«, antwortete sie. »Mach mich bloß nicht zur Märtyrerin. Ich hatte nie etwas gegen Ararat. Ich mag die Sonnenuntergänge. Und nach all den Jahren schmeckt mir sogar der Seetang-Tee. Im Grunde bleibe ich einfach zu Hause.«
»Wir werden dich vermissen.«
Sie schlug die Augen nieder. Er ahnte, dass sie ihn nicht ansehen konnte. »Ich weiß nicht, wie es weitergeht, Scorp. Vielleicht bringst du dieses Schiff nach Hela, so wie Aura es will. Vielleicht landet ihr auch irgendwo anders. Aber irgendetwas sagt mir, dass wir uns nicht wiedersehen werden. Das Universum ist groß, und die Chance, dass sich unsere Wege noch einmal kreuzen…«
»Das stimmt, es ist groß«, sagte er, »groß genug, um Platz für ein paar glückliche Zufälle zu haben.«
»Das mag für manche Leute gelten, aber nicht für Leute wie dich und mich, Scorp.« Jetzt hob sie den Kopf und sah ihm fest in die Augen. »Als ich dich kennen lernte, hatte ich Angst vor dir, jetzt kann ich es ja zugeben. Ich hatte Angst, weil ich dumm war. Aber ich bin froh, dass alles so gekommen ist. Ich bin froh, dass ich ein paar Jahre mit dir zusammen sein durfte.«
»Für mich war es die Hälfte meines Lebens.«
»Es waren gute Jahre, Scorp. Ich werde sie nicht vergessen.« Wieder schlug sie die Augen nieder. Ob sie seine kleinen Kinderschuhe betrachtete? Plötzlich wurde er verlegen und wünschte, größer zu sein und menschenähnlicher auszusehen, weniger wie ein Schwein und mehr wie ein Mann. »Remontoire wird die Fähre bald startklar machen«, sagte sie. »Ich muss jetzt gehen. Pass gut auf dich auf. Du bist ein guter Mensch. Ein gutes Schwein.«
»Ich werde mir Mühe geben«, sagte Scorpio.
Sie umarmte und küsste ihn.
Dann ging sie. Und er sah sie niemals wieder.