1
Im Nebel
Dr. Sewards Tagebuch
(auf einem Phonographen festgehalten)
(auf einem Phonographen festgehalten)
17. SEPTEMBER
Die Entbindung der vergangenen Nacht ging
leichter als die anderen. Viel leichter als die der vergangenen
Woche. Mit ein wenig mehr Übung und Geduld geht womöglich alles
leichter. Wenn auch niemals leicht. Niemals … leicht.
Pardon: Es fällt schwer, in geordneten Bahnen zu
denken, und dieser staunenswerte Apparat ist unversöhnlich. Weder
kann ich gar zu voreilig gesetzte Worte mit Tinte ausstreichen noch
eine missratene Seite aus der Heftung reißen. Die Walze dreht sich,
die Nadel graviert, und mein weitschweifiger Monolog ist auf alle
Zeit unbarmherzig in Wachs eingegraben. Staunenswerte Apparate
sind, wie Wunderheilmittel, mit unvorhersehbaren Nebenwirkungen
behaftet. Womöglich werden im zwanzigsten Jahrhundert neuartige
Verfahren, die Gedanken der Menschen festzuhalten, zu einer Lawine
unnützen Geredes führen. Brevisesse
laboro, wie es schon bei Horaz so treffend heißt. Ich weiß,
wie eine Krankengeschichte vorgetragen werden muss. All dies wird
für die Nachwelt von Interesse sein. Einstweilen arbeite ich jedoch
in camera und verwahre die mir verbliebenen Walzen mit den
Aufzeichnungen meiner früheren Berichte an einem geheimen Ort. Wie
die Dinge stehen, liefe ich Gefahr an Leib und Leben, würden diese
Journale der Öffentlichkeit zu Gehör gebracht. Eines Tages aber
hoffe ich meine Motive und Methoden vor aller Welt bekanntgemacht
zu sehen.
Nun denn.
Subjekt: weiblich, dem Anschein nach über die
zwanzig. Noch nicht sehr lange tot, würde ich meinen. Beruf:
unverkennbar. Ort: Chicksand Street. Ecke Brick Lane, der Flower
& Dean Street gegenüber. Zeit: kurz nach fünf Uhr ante
meridiem.
Ich war gut eine Stunde im Nebel, dick wie saure
Milch, umhergewandert. Der Nebel ist meinen nächtlichen Geschäften
in höchstem Maße förderlich. Je weniger man sieht von dem, wozu die
Stadt in diesem Jahr verkommen ist, desto besser. Wie so viele habe
ich mir die Gewohnheit zu eigen gemacht, tags zu schlafen und
nachts zu arbeiten. Meist falle ich in einen leichten Dämmer; es
scheint Jahre her, dass ich zuletzt die Wonnen wirklichen Schlafes
genossen habe. Dunkle Stunden sind zu wachen Stunden geworden. Aber
das war hier in Whitechapel eigentlich nie anders.
In der Chicksand Street hängt eine jener
verfluchten blauen Gedenktafeln, an Nummer 197, einem der
Schlupfwinkel des Grafen. Dort standen sechs Kisten voller Erde,
denen er und Van Helsing solch abergläubische und, wie es sich
ergab, unberechtigte Bedeutung beimaßen. Lord Godalming sollte sie
vernichten; doch wie so oft erwies sich mein adeliger Freund als
der Aufgabe nicht gewachsen. Ich stand, unfähig, die Inschrift zu
entziffern, vor der Tafel und sann über unser Scheitern nach, als
das tote Mädchen meine Aufmerksamkeit zu erregen suchte.
»Mister …«, rief es. »Missssster …«
Wie ich mich umwandte, ließ es seine Federboa auf
die Schultern sinken. Hals und Busen waren weiß wie Schnee. Eine
lebende Frau hätte gezittert vor Kälte. Sie stand unter einer
Treppe, die zu einer Tür im ersten Stockwerk hinaufführte, über der
eine rote Laterne brannte. Hinter ihr, von den Stufen mit Balken
verschattet, befand sich eine zweite Tür, auf halber Höhe unter dem
Trottoir. Weder in diesem noch einem anderen in Sehweite gelegenen
Haus schien eine Lampe. Wir weilten auf einer helllichten Insel in
einem dunsttrüben Meer.
Ich ging quer über die Straße, und meine Stiefel
rührten den tiefliegenden Nebel in fahlgelben Wirbeln auf. Es war
niemand in der Nähe. Zwar hörte ich Passanten, doch standen wir wie
hinter einem Vorhang. Bald sollten die ersten Dornen der Dämmerung
auch die letzten Neugeborenen von den Straßen vertreiben. Das tote
Mädchen war für seinesgleichen noch spät auf den Beinen. Gefährlich
spät. Seine Sucht nach Geld, nach Trunk, war offenbar immens.
»Was für ein hübscher Gentleman«, girrte die junge
Frau. Sie wedelte mit der Hand, und ihre spitzen Nägel rissen
Nebelschwaden in Fetzen.
Ich bestrebte mich, ihr Gesicht auszumachen, und
wurde belohnt mit einem Anblick hagerer Niedlichkeit. Sie legte den
Kopf ein wenig schief, um mich zu betrachten, und eine Strähne
pechschwarzen Haars fiel von ihrer weißen Wange. In ihren
schwarzroten Augen stand Interesse - und Verlangen. Sowie eine Art
von halb gewahrem Amüsement, das direkt an Verachtung grenzt.
Dieser Blick ist unter Frauenzimmern, einerlei welchen Gewerbes,
durchaus nichts Ungewöhnliches. Als Lucy - Miss Westenra, Gott sei
ihrer lieben Seele gnädig - meinen Antrag abwies, blitzte ein
ähnlicher Funke auf in ihren Augen.
»… und noch dazu um diese Zeit.«
Sie war keine Engländerin. Ihrem Akzent nach zu
urteilen, mochte sie in Deutschland oder Österreich gebürtig sein,
der Hauch eines »tsch« bei »Tschendelmen« … Das London unseres
Prinzgemahls, vom Buckingham-Palast bis hinunter zu Buck’s Row, ist
das Senkloch Europas, verstopft mit den ejecta zweier
Dutzend Fürstentümer.
»Kommen Sie, Sir, geben Sie mir einen Kuss.«
Einen Augenblick lang stand ich schlicht da und
schaute. Sie war in der Tat ein auffallend niedliches Ding. Ihr
glänzendes Haar war kurzgeschnitten und gelackt, fast wie das einer
Chinesin, eine Stirnlocke wie die Backenstütze eines Römerhelms. Im
Nebel erschienen ihre roten Lippen durch und durch schwarz.
Unzweideutig eine von ihnen, setzte sie ein gar zu
leutseliges Lächeln auf, das spitze Zähne weiß wie Perlsplitter
entblößte. Ihren Geruch zu verbergen, war sie in eine Wolke
billigen Parfüms von widerlicher Süßigkeit gehüllt.
Die Straßen sind voller Unrat, offene Kloaken des
Lasters. Die Toten sind überall.
Das melodiöse Lachen des Mädchens klang, als habe
man es einem Mechanismus entrungen, und es winkte mich heran, ließ
seine zerlumpten Federn tiefer über die Schultern gleiten. Bei
seinem Lachen musste ich abermals an Lucy denken. Die Lucy, die von
Leben sprühte, nicht jenes blutsaugerische Ding, dem wir auf dem
Friedhof von Kingstead den Garaus machten. Vor drei Jahren, als nur
Van Helsing daran glaubte …
»Nun gib mir schon ein Küsschen«, trällerte die
junge Frau. »Nur ein klitzekleines Küsschen.«
Sie schürzte die Lippen zu einem Herz. Erst
berührten ihre Nägel meine Wange, dann ihre Fingerspitzen. Mir war
kalt, sie war kalt; mein Gesicht war eine Maske aus Eis, ihre
Finger Nadeln, die gefrorene Haut durchbohrten.
»Was hat dich nur so weit gebracht?«, fragte
ich.
»Glück und wohlwollende Herren.«
»Bin ich ein wohlwollender Herr?«, fragte ich und
packte das Skalpell in meiner Hosentasche.
»Aber ja, sehr wohlwollend sogar. Für so was hab
ich einen guten Blick.«
Ich presste die flache Seite des Instruments gegen
meinen Schenkel, spürte das kühle Prickeln des Silbers noch durch
das teure Tuch.
»Ich hab ein paar Misteln bei mir«, sagte das tote
Mädchen, löste einen kleinen Zweig von seinem Mieder und hob ihn
über den Kopf. »Einen Kuss?«, fragte es. »Ein Kuss kostet nur einen
Penny.«
»Für Weihnachten ist es noch etwas früh.«
»Zeit für einen Kuss ist immer.«
Es schüttelte den Zweig, und die Beeren schaukelten
wie stumme Glöckchen. Ich hauchte einen kalten Kuss auf seine
rotschwarzen Lippen und zog mein Messer hervor, hielt es unter dem
Mantel umfasst. Ich spürte die Schärfe der Klinge durch meinen
Handschuh. Seine Wange war kühl an meiner Haut.
Das Mädchen der vergangenen Woche, in der Hanbury
Street - Chapman mit Namen, so stand es in der Zeitung, Annie oder
Anne -, hat mich gelehrt, mein Geschäft mit Schnelligkeit und
Präzision zu verrichten. Kehle. Herz. Eingeweide. Dann herunter mit
dem Kopf. Und schon ist die Kreatur erledigt. Reines Silber und ein
reines Gewissen. Geblendet von Symbolismus und Legenden, sprach Van
Helsing zwar immerzu vom Herzen, doch erfüllen alle wichtigen
Organe ihren Zweck. Die Nieren sind am bequemsten zu
erreichen.
Ich hatte sorgfältige Vorbereitungen getroffen, ehe
ich mich aus dem Hause wagte. Eine halbe Stunde saß ich da und ließ
mich der Schmerzen gewahr werden. Renfield ist tot - wirklich tot
-, doch hat der Wahnsinnige die Male seines Kiefers in meiner
rechten
Hand zurückgelassen. Der Halbkreis tiefer Zahnabdrücke ist seither
oftmals verschorft, aber nie gänzlich verheilt. Bei der Chapman war
ich betäubt von dem Laudanum, das ich einzunehmen pflege, und ging
nicht mit der erforderlichen Präzision zu Werke. Auch dass ich das
Messer linkshändig zu führen lernte, hat nichts geholfen. Ich
verfehlte die Hauptschlagader, was dem Ding Zeit ließ zu schreien.
Ich fürchte, ich verlor die Beherrschung und tat wie ein
Schlächter, was ich doch hätte tun sollen wie ein Chirurg.
Vergangene Nacht ging es erheblich besser. Zwar
hielt das Mädchen ebenso hartnäckig am Leben fest, doch nahm es
mein Geschenk gebührend an. Am Ende war es wohl erleichtert, seine
Seele geläutert zu wissen. Silber ist inzwischen schwer zu
beschaffen. Sämtliche Münzen sind aus Gold oder Kupfer. Während der
Geldumstellung hortete ich Threepennies und opferte das
Tafelbesteck meiner Mutter. Die Instrumente besitze ich seit meiner
Zeit in Purfleet. Nun sind die Klingen plattiert, ein
hartstählerner Kern, umhüllt von todbringendem Silber. Dieses Mal
wählte ich das Obduktionsskalpell. Es ist nur recht und billig,
meine ich, sich eines Werkzeugs zu bedienen, das dazu bestimmt ist,
in Leichen zu wühlen.
Das tote Mädchen lockte mich zu seiner Tür und
raffte die Röcke hoch über schlanke, weiße Beine. Ich nutzte den
Augenblick, seine Bluse zu öffnen. Brennend vor Schmerz, tasteten
meine Finger ungeschickt umher.
»Deine Hand?«
Ich hob die plumpe, behandschuhte Faust und
versuchte ein Lächeln. Es küsste meine geballten Knöchel, und ich
ließ die andere Hand unter dem Mantel hervorgleiten, das Skalpell
fest umklammernd.
»Eine alte Wunde«, sagte ich. »Nichts
weiter.«
Es lächelte, und rasch zog ich meine Silberklinge
unter festem Druck des Daumens quer über seinen Hals, schnitt tief
in makelloses,
totes Fleisch. Seine Augen weiteten sich vor Schreck - Silber tut
weh -, und es stieß einen langgezogenen Seufzer aus. Schmale
Blutrinnsale tröpfelten wie Regen gegen eine Fensterscheibe und
befleckten die Haut über dem Schlüsselbein. Ein einzelner
Blutstropfen trat aus seinen Mundwinkel hervor.
»Lucy«, sagte ich, voll der Erinnerung …
Ich hielt das Mädchen aufrecht, beschirmte es mit
meinem Körper vor den Blicken von Passanten und stieß ihm das
Skalpell durch den Schnürleib ins Herz. Ich spürte, wie es
erschauerte und leblos hinsank. Aber da ich um die Zähigkeit der
Toten weiß, gab ich mir alle Mühe bei der Verrichtung meines
Geschäfts. Ich legte es nieder im Treppenraum unter dem Trottoir
und führte die Entbindung zu Ende. Es hatte nur wenig Blut in sich;
es war heute Abend offenbar ohne Nahrung geblieben. Nachdem ich ihm
das Korsett vom Leib geschnitten hatte - die Klinge ging mit
Leichtigkeit durch den billigen Stoff -, legte ich das durchbohrte
Herz frei, löste die Eingeweide vom Gekröse, entwirrte gut ein Yard
des Grimmdarms und entfernte die Nieren sowie einen Teil des
Uterus. Dann vergrößerte ich die erste Inzision. Nachdem ich die
Wirbelsäule freigelegt hatte, zerrte ich den baumelnden Kopf hin
und her, bis die Nackenknochen brachen.