53
Jack ex machina
Am Pult im Foyer saß eine warmblütige Oberin und verschlang begierig Thelma, das neueste Werk der Marie Corelli. Soviel Beauregard wusste, war die Prosa der gefeierten Schriftstellerin seit ihrer Verwandlung noch schlechter geworden. Nur wenige Vampire besaßen schöpferische Fähigkeiten, da sie all ihre Energie darauf verwandten, ihr untotes Leben zu verlängern.
»Wo ist Mademoiselle Dieudonné?«
»Sie vertritt den Direktor, Sir. Sie wird in Dr. Sewards Dienstzimmer sein. Soll ich Sie melden?«
»Danke, nicht nötig.«
Stirnrunzelnd fügte die Oberin der heimlichen Beschwerdeliste, auf der sie notierte, »Was mit dem Vampirmädchen alles nicht stimmt«, einen weiteren Punkt hinzu. Beauregard war einen Moment lang überrascht, Zeuge ihrer unverblümten, sauertöpfischen Gedanken geworden zu sein, stieß diese Überlegungen jedoch beiseite, als er die Treppe zum Direktorzimmer hinaufstieg. Die Tür stand offen. Geneviève war keineswegs erstaunt, ihn zu sehen. Sein Herz machte einen Satz, als er daran dachte, wie sie ganz nahe bei ihm gewesen war, an ihre weiße Haut und ihren roten Mund.
»Charles«, sagte sie.
Sie stand inmitten eines Durcheinanders von Papieren an Sewards Schreibtisch. Ihm war ein wenig unbehaglich zumute. Nach allem, was zwischen ihnen beiden vorgefallen war, wusste er nicht, wie er sich in ihrer Gegenwart verhalten sollte. Sollte er sie küssen? Da sie hinter dem Schreibtisch stand, konnte die Umarmung leicht linkisch ausfallen, es sei denn, sie käme ihm entgegen. Unstet sah er sich im Zimmer um, als eine Apparatur, die sich zum Schutz vor Staub unter einer Glasglocke befand, seinen Blick fesselte. Sie bestand aus mehreren Messinggehäusen, an denen ein großes, trompetenähnliches Rohr befestigt war.
»Das ist ein Edison-Bell-Phonograph, nicht wahr?«
»Jack benutzt ihn für medizinische Aufzeichnungen. Er hat ein Faible für solch versponnene Spielereien.«
Er wandte sich um. »Geneviève …«
Plötzlich war sie nahe bei ihm. Er hatte nicht bemerkt, dass sie hinter dem Schreibtisch hervorgekommen war. Sie küsste ihn flüchtig auf die Lippen, und wieder spürte er sie in sich, in seinem Geist. Ihm zitterten die Knie. Vermutlich der Blutverlust.
»Keine Sorge, Charles«, sagte sie lächelnd. »Ich wollte dich nicht behexen. In ein bis zwei Wochen werden die Symptome nachlassen. Glaub mir, ich habe meine Erfahrungen mit dem Zustand, in dem du dich befindest.«
»Nunc scio quid sit amor!«, zitierte er Vergil. Jetzt begreife ich, was Liebe ist. Er vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen. Allerlei Einsichten flatterten wie Schmetterlinge in seinem Kopf umher, waren jedoch beim besten Willen nicht zu packen.
»Charles, mir ist da etwas eingefallen«, sagte sie. »Eine Bemerkung von Colonel Moran über den Ripper.«
Nur mit allergrößter Willensanstrengung gelang es ihm, sich auf diese dringliche Angelegenheit zu konzentrieren.
»Warum ausgerechnet in Whitechapel?«, fragte sie. »Warum nicht in Soho oder im Hyde Park oder wo auch immer? Weder Vampirismus noch Prostitution sind auf diesen Bezirk beschränkt. Der Ripper geht hier auf die Jagd, weil es für ihn am bequemsten ist, weil er hier lebt. Irgendwo ganz in der Nähe …«
Er begriff sofort. Seine Verwirrung war wie weggeblasen.
»Ich habe unsere Unterlagen durchgesehen«, sagte sie, indem sie auf einen der Aktenstapel klopfte, die sich auf dem Schreibtisch türmten. »Alle Opfer sind irgendwann einmal hier eingeliefert worden.«
Er hatte Morans Überlegung nicht vergessen.
»Alle Spuren führen nach Toynbee Hall«, erwiderte er. »Druitt hat hier gearbeitet, du tust es noch, die Stride wurde hierhergebracht, alle Morde ereigneten sich im unmittelbaren Umkreis dieses Hauses. Du hast gesagt, alle toten Frauen seien hier gewesen …«
»Ja, im Lauf des letzten Jahres. Vielleicht hatte Moran wirklich Recht. Vielleicht war Druitt wirklich der Täter. Seit seinem Tod hat es keine Morde mehr gegeben.«
Beauregard schüttelte den Kopf. »Es ist noch nicht vorbei.«
»Wenn Jack doch nur hier wäre.«
Er ballte eine Hand zur Faust. »Dann hätten wir den Mörder.«
»Nein, ich meine Jack Seward. Er hat die Frauen allesamt behandelt. Er könnte wissen, ob sie irgendetwas gemein hatten.«
Als er der vollen Bedeutung ihrer Worte gewahr wurde, blitzte ein Funke in seinen Augen auf. Mit einem Mal wusste er die Lösung …
»Sie hatten Seward gemein.«
»Aber …«
»Jack Seward.«
Obschon sie den Kopf schüttelte, sah er, dass sie sogleich begriffen hatte, dass sie derselben Überzeugung war wie er. Sie dachten angestrengt nach. Er kannte ihre Gedanken, sie kannte seine. Beiden fiel ein, wie Elizabeth Stride ihre Klauen in Sewards Knöchel geschlagen hatte. Sie hatte in der Tat versucht, ihnen etwas mitzuteilen. Sie hatte die Krallen ausgestreckt, um ihren Mörder zu identifizieren.
»Ein Arzt«, sagte Geneviève. »Einem Arzt vertrauten sie. Nur so konnte er sich mühelos an sie heranmachen, selbst als die Panik überhandzunehmen drohte …«
Indem sie das Vergangene Revue passieren ließ, kamen ihr tausend winzige Einzelheiten in den Sinn. Unzählige kleine Rätsel waren mit einem Mal gelöst. Zahllose Dinge, die Seward gesagt oder getan hatte. Seine Ansichten, seine Abwesenheit. Für alles gab es eine Erklärung.
»Dabei hat man es mir klipp und klar gesagt: ›Mit Dr. Seward stimmt etwas nicht‹«, fuhr sie fort. »Schimpf und Schande über mich, dass ich nicht darauf gehört habe, Schimpf und Schande, Schande, Schande …« Sie schlug sich die Fäuste vor die Stirn. »Da kann ich nun in Herz und Seele anderer Menschen blicken und ignoriere selbst Arthur Morrison. Ich bin die schlimmste Närrin, die je auf Gottes Erdboden wandelte.«
»Gibt es hier Tagebücher?«, fragte Beauregard, um ihrem Anfall von Selbstbezichtigung ein Ende zu setzen. »Persönliche Aufzeichnungen, Notizen, irgendetwas dieser Art? Wahnsinnige wie Seward verspüren häufig das zwanghafte Bedürfnis, Andenken, Erinnerungsstücke aufzubewahren.«
»Seine Akten habe ich durchgesehen. Sie enthalten nur das Übliche.«
»Verschlossene Schubladen?«
»Nein. Nur das Phonographen-Schränkchen. Die Wachswalzen sind sehr staubempfindlich.«
Beauregard packte kräftig zu und riss mit einem Ruck den Deckel von der Apparatur. Er zerrte an der verriegelten Schublade in der Konsole. Das fragile Schloss brach. Die Walzen lagen in wohlgeordnet aufgereihten Metallhülsen, deren Etiketten säuberlich mit Tinte beschriftet waren.
»Chapman«, las er laut vor, »Nichols, Schön, Stride/Eddowes, Kelly, Kelly, Kelly, Lucy …«
Geneviève trat neben ihn und entnahm der Lade weitere Walzen. »Und hier … Lucy, Van Helsing, Renfield, Lucys Grab.«
Van Helsing war jedermann ein Begriff; Beauregard wusste sogar, dass es sich bei Renfield um den ersten Jünger handelte, den der Prinzgemahl in London hatte an sich binden können. Aber …
»Kelly und Lucy. Wer sind die beiden? Bislang unbekannte Opfer?«
Während Geneviève abermals die Papiere auf dem Schreibtisch durchsah, beantwortete sie Beauregards Frage. »Mit Lucy ist vermutlich Lucy Westenra gemeint, der erste englische Spross von Vlad Tepes. Dr. Van Helsing hat sie vernichtet, und Jack Seward steckte mit Van Helsing unter einer Decke. Er hatte immerfort Angst, die Karpatische Garde könnte ihn holen kommen. Es scheint fast so, als ob er sich hier verborgen gehalten hätte.«
Beauregard schnippte mit den Fingern. »Art war mit von der Partie. Lord Godalming. Er wird uns dazu gewiss Näheres verraten können. Jetzt fällt es mir wieder ein. Lucy Westenra. Als sie noch warmblütig war, bin ich ihr einmal begegnet, bei den Stokers. Sie verkehrte auch in dieser Gesellschaft.«
Ein hübsches, wenngleich recht albernes Mädchen, das ihn an Florence in jungen Jahren erinnerte. Alle Männer verzehrten sich nach ihr. Pamela hatte sie nicht leiden mögen, Penelope hingegen - damals noch ein Kind - war ganz vernarrt gewesen in das Mädchen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass seine frühere Verlobte ihr Haar wie Lucy frisierte, wohl damit sie ihrer Cousine nicht allzu ähnlich sah.
»Jack hat sie geliebt«, sagte Geneviève. »Deshalb hat er sich dem Zirkel um Van Helsing angeschlossen. Was damals passiert ist, hat ihn offenbar um den Verstand gebracht. Ich hätte es wissen müssen. Er nennt sie Lucy.«
»Sie?«
»Seine Vampirmätresse. Eigentlich hat sie einen anderen Namen, aber so nennt er sie.«
Geneviève stöberte im Schubfach eines massiven Aktenschranks, blätterte die Aktendeckel mit flinken Fingern durch.
»Was diese Kelly anbetrifft«, sagte sie, »nun, wir führen in unseren Büchern jede Menge Frauen namens Kelly. Aber nur eine davon entspricht den Anforderungen unseres Freundes Jack.«
Sie reichte ihm ein Blatt Papier mit der ausführlichen Krankengeschichte einer Patientin. Kelly, Mary Jane. 13 Miller’s Court.
Geneviève war aschfahl. »Genau so heißt sie«, sagte sie. »Mary Jane Kelly.«
Die Vampire
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