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Die Rückkehr des Hansom
Seit dem ›doppelten Erfolg‹ ist beinahe ein
Monat vergangen, Charles«, überlegte Geneviève. »Vielleicht ist es
ja vorbei?«
Beauregard schüttelte den Kopf. Ihre Bemerkung
hatte ihn aus seinen Grübeleien gerissen. Er musste immerzu an
Penelope denken.
»Nein«, erwiderte er. »Nur das Gute findet von
selbst ein Ende; dem Bösen muss man ein Ende setzen.«
»Da haben Sie natürlich Recht.«
Die Dunkelheit war längst hereingebrochen, und sie
befanden sich in den Ten Bells. Allmählich war ihm Whitechapel
ebenso vertraut wie all die anderen Winkel dieser Erde, in die der
Diogenes-Club ihn entsandt hatte. Seine Tage brachte er unruhig
schlafend in Chelsea zu, und des Nachts begab er sich mit Geneviève
im East End auf die Jagd nach Jack the Ripper. Ohne Erfolg.
Langsam beruhigten sich die Gemüter. Die
Bürgerwehren, die noch zwei Wochen zuvor unheilstiftend und arglose
Passanten behelligend durch die Straßen gezogen waren, hatten
Schärpe und Knüppel zwar nicht abgelegt, brachten unterdessen
jedoch mehr Zeit in Wirtshäusern zu als im Nebel. Nachdem sie einen
Monat lang doppelt und dreifach hatten Dienst tun müssen, kehrten
die Gendarmen allmählich zu ihren gewohnten Pflichten zurück.
Schließlich hatten die Taten des Rippers nichts und niemanden
daran gehindert, anderswo in der Stadt Verbrechen zu begehen. In
Sehweite des Buckingham-Palastes war es gar zu einer regelrechten
Revolte gekommen.
Letzte Nacht hatte jemand einen Krug Schweineblut
über das Porträt der königlichen Familie neben dem Tresen
ausgegossen. Woodbridge, der Aufwärter, hatte den vaterlandslosen
Trunkenbold hinausgeworfen, die Flecke an der Wand und dem Gemälde
jedoch blieben. Das Gesicht des Prinzgemahls war eine verzerrte,
rottriefende Fratze.
Die Kreuzfahrer gaben keine Ruhe. Da Jago im
Gefängnis saß und die meisten seiner Anhänger sich entweder in
Gewahrsam befanden oder aber im Untergrund verschwunden waren,
hatte Scotland Yard geglaubt, die Bewegung werde verkümmern und
dahingehen, doch erwies sie sich als ebenso widerspenstig wie
seinerzeit die wahren christlichen Märtyrer. An den Mauern der
ganzen Stadt prangten schmale rote Kreuze, die nicht nur Christus
beschworen, sondern auch England. Beauregard waren Gerüchte zu
Ohren gekommen, denen zufolge die Raben den Tower am Abend von Graf
Orloks Amtsantritt verlassen hatten und das Königreich als besiegt
gelten durfte. Wenn das Land jemals eine Stunde höchster Not
durchleiden musste, so mochte diese nun gekommen sein. Die
Artuslegende erlebte eine Renaissance, welche durch die
Missbilligung seitens der Regierung eher befördert denn behindert
wurde. In den Reihen der Rebellen, die sich bislang allein aus
Sozialisten, Anarchisten oder Protestanten rekrutierten, befanden
sich nun auch allerhand britische Mystiker und Heiden. Lord Ruthven
verbot die Werke Tennysons, allem voran seine Königsidyllen,
und auch ehemals harmlose Schriften wie Bulwer-Lyttons König
Artus oder Die Verteidigung der Guinevere von William
Morris zierten den Index der verpönten Bücher. Mit jeder
Proklamation rückte das neunzehnte Jahrhundert dem fünfzehnten ein
wenig näher. Ruthven versprach allen Dienern
der Krone neue Uniformen; Beauregard befürchtete, die Entwürfe
könnten wie eine Livree geraten, so dass die Polizei bald
Sturmhauben und Strumpfhosen sowie emblembesetzte Heroldsröcke über
Lederkollern tragen würde.
Weder Geneviève - immerhin ein Mädchen aus dem
fünfzehnten Jahrhundert - noch Beauregard tranken etwas, sondern
begnügten sich damit, die anderen Gäste zu beobachten. Neben den
benebelten Bürgergardisten war die Schenke voller Frauen, bei denen
es sich entweder um echte Prostituierte oder aber verkleidete
Polizeibeamte handelte. Dies war nur eine unter vielen albernen
Strategien, die man zunächst belächelt, schließlich jedoch allen
Widrigkeiten zum Trotz in die Tat umgesetzt hatte. Wenn man sie
danach fragte, rangen Lestrade und Abberline verzweifelt die Hände
und wechselten schleunigst das Thema. Gegenwärtig fand sich
Scotland Yard durch einen gewissen Inspektor Mackenzie in große
Verlegenheit gesetzt, der sich am Schauplatz des Verbrechens
befunden und es dennoch nicht vermocht hatte, die Ermordung eines
Angehörigen der Karpatischen Garde mittels einer Dynamitstange zu
vereiteln, und folglich - kaum überraschend - zur langen Liste
derer gehörte, die unter rätselhaften Umständen verschwunden waren.
Ein Rinnsal der Missbilligung entsprudelte dem Urquell des
Palastes, begoss den Premierminister und das Kabinett,
überschwemmte mit wachsender Gewalt die unteren Schichten der
Gesellschaft und schwoll auf den Straßen Whitechapels schließlich
zu einem reißenden Strom heran.
Der chinesische Älteste hatte sich nicht wieder
blicken lassen, und so konnte Beauregard wenigstens zufrieden damit
sein, dass er an des Teufelsdoktors Netz gerüttelt hatte. Er hatte
angenommen, dass alles aus Asien stammende Böse dem Herrn der
seltsamen Tode zu Diensten stand. Die Bestätigung dieser Vermutung
gehörte zu den wenigen Erfolgen, die er in dieser Angelegenheit
errungen hatte, was ihn jedoch keineswegs mit Stolz erfüllte. Ihm
war nicht im mindesten daran gelegen, dem Limehouse-Ring einen
über die bereits bestehende Verbindung hinausgehenden Gefallen zu
schulden.
Innerhalb der herrschenden Clique des
Diogenes-Clubs war die Rede von offener Rebellion in Indien und im
Fernen Osten. Ein Reporter der Civil and Military Gazette
hatte versucht, den Generalgouverneur zu ermorden. Varney war unter
der einheimischen Bevölkerung wie auch unter seinen eigenen
Soldaten und Beamten ebenso beliebt wie Kaiser Caligula. Nicht
wenige Bewohner ihres Reiches stellten das Herrschaftsrecht der
Königin infrage, weil sie sehr wohl spürten, dass sie mit ihrer
Wiedergeburt ihrem Gemahl die Krone übergeben hatte. Von Woche zu
Woche wuchs die Anzahl der Gesandten, die sich vom britischen
Königshof lossagten. Die Türken, deren Gedächtnis länger
zurückreichte als gemeinhin angenommen, verlangten wütend nach
Entschädigung für jene Kriegsverbrechen, die Vlad Tepes zu
Lebzeiten begangen hatte.
Beauregard versuchte Geneviève anzublicken, so dass
sie es nicht bemerkte, damit sie nicht in seine Gedanken zu dringen
vermochte. Im Dämmerlicht wirkte sie geradezu lächerlich jung. Ob
Penelope - deren Haut immer noch verbrannt war und die wie ein
Säugling mit kleinen Schüssen Ziegenblutes ernährt werden musste -
je wieder in solcher Blüte stehen würde? Ob sie, selbst wenn sie
vollkommen gesundete, wie Dr. Ravna ihm versichert hatte, je wieder
sein würde wie früher? Penelope war zum Vampir geworden, und der
neue Geist, welcher in luzideren Augenblicken durchzuschimmern
pflegte, war ihm fremd. Doch auch vor Geneviève musste er auf der
Hut sein. Es war schon nicht ganz leicht, seine Gedanken im Zaum zu
halten, es war jedoch unmöglich, einem Vampir volles Vertrauen zu
schenken.
»Sie haben Recht«, sagte sie. »Er spukt immer noch
dort draußen herum. Er hat nicht aufgegeben.«
»Vielleicht ist der Ripper ja auf Urlaub?«
»Oder anderweitig verhindert.«
»Manche sagen, er sei Schiffskapitän. Er könnte
sich auf einer Seereise befinden.«
Geneviève dachte angestrengt nach und schüttelte
dann den Kopf. »Nein. Er ist noch hier. Das spüre ich.«
»Sie klingen ganz wie dieser Hellseher,
Lees.«
»Auch das ist Teil meiner Persönlichkeit«, erklärte
sie. »Der Prinzgemahl wandelt die Gestalt, und ich ahne gewisse
Dinge. Das hat mit unserem Geblüt zu tun. Über allem liegt ein
Nebel, und dennoch spüre ich, dass der Ripper irgendwo dort draußen
lauert. Er ist noch nicht am Ende.«
»Dieses Lokal behagt mir nicht«, sagte er. »Lassen
Sie uns gehen und sehen, ob wir uns nützlich machen können.«
Sie erhoben sich, und er legte ihr den Umhang um
die Schultern. Woodbridges Sohn stieß einen Pfiff aus, und
Geneviève, die ebenso galant zu tändeln vermochte wie Penelope,
wenn die Laune sie befiel, warf ihm über die Schulter ein kokettes
Lächeln zu. In ihren Augen war ein seltsames Funkeln.
Sie waren wie Polizisten durch Whitechapel
patrouilliert und hatten jedermann befragt, der auch nur in
entferntester Verbindung zu den Opfern oder deren Umgang gestanden
haben mochte. Beauregard wusste mehr über Catherine Eddowes oder
Lulu Schön als über seine eigene Familie. Während er die
Bruchstücke ihres Lebens durchforstete, wurden sie ihm immer
greifbarer. Waren sie zunächst nichts als Namen im Polizeibericht
gewesen, so schienen sie ihm jetzt beinahe wie alte Freunde. Die
Presse bezeichnete die Opfer als »Straßendirnen der niedrigsten
Sorte«, und die Police Gazette schilderte sie als
blutgierige alte Vetteln, die ihr Schicksal nachgerade
herausgefordert hatten. Wenn er sich jedoch mit Geneviève, Georgie
Woodbridge oder Sergeant Thick besprach, erwachten die Frauen zum
Leben. Wie elend und hilflos
auch immer sie gewesen sein mochten, sie waren trotz alledem
empfindsame Kreaturen, welche die harsche Behandlung, die sie bis
über den Tod hinaus erleiden mussten, keineswegs verdienten.
Von Zeit zu Zeit flüsterte er den Namen »Liz
Stride« vor sich hin. Niemand sonst - schon gar nicht Geneviève -
brachte das Thema je zur Sprache, doch war er sich durchaus
bewusst, dass er das Werk des Rippers an ihr vollendet hatte. Er
hatte sie von ihrem Elend befreit wie einen Hund. Aber vielleicht
wollte ein Vampir seine Seele ja gar nicht auf diese Weise
geläutert sehen. Die epochale Frage lautete: Wie sehr muss ein
Mensch sich verändern, bis er kein Mensch mehr ist? So sehr wie Liz
Stride? Oder Penelope? Oder gar Geneviève?
Wenn sie nicht gerade eine der unzähligen falschen
Fährten verfolgten, die sich Nacht für Nacht auftaten, wanderten
sie ziellos umher, in der Hoffnung, auf einen Mann mit einem großen
Sack voller Messer und Finsternis im Herzen zu stoßen. Wenn man es
recht bedachte, war es widersinnig und absurd. Doch hatte diese
Prozedur durchaus ihr Gutes. Sie hielt ihn fern von der Caversham
Street, wo Penelope mit allerlei wunderlichen Leiden kämpfte. Er
befand sich immer noch im Ungewissen, was seine Verpflichtungen ihr
gegenüber betraf. Mrs. Churchward hatte erstaunliches Rückgrat
bewiesen, indem sie ihr neugeborenes Mädchen pflegte. Nachdem ihr
bereits eine Nichte genommen worden war, die sie wie eine Tochter
großgezogen hatte, war sie nun fest entschlossen, ihrem leiblichen
Kind alles erdenklich Gute angedeihen zu lassen. Beauregard konnte
sich des Eindrucks nicht erwehren, dass seine Verbindung mit den
Churchward-Mädchen nicht gerade zu deren Vorteil geraten war.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe«, sagte Geneviève.
Allmählich gewöhnte er sich an ihre unberufenen Einmischungen.
»Lord Godalming ist es, den man mit Silberketten durchprügeln
sollte.«
Soviel Beauregard wusste, hatte Godalming die arme
Penelope verwandelt und hernach sich selbst überlassen, worauf sie
durch ein gröbliches Versehen sich der mörderischen Sonne
ausgesetzt und beflecktes Blut getrunken hatte.
»Was mich betrifft, so halte ich Ihren adeligen
Freund für ein ausgesprochenes Schwein.«
Beauregard hatte Godalming, der mit dem
Premierminister auf sehr vertrautem Fuße stand, seither nicht
gesehen. Wenn diese Angelegenheit beendet war, würde er seinen
Streit mit Arthur Holmwood ausfechten. Wie Geneviève ihm erklärte,
gebot schon der Anstand einem treusorgenden Fangvater, bei seinem
Spross zu bleiben und dem Neugeborenen während der Verwandlung zur
Seite zu stehen. Obgleich die Etikette dies von alters her
vorschrieb, hatte Godalming sich moralisch dazu offenbar keineswegs
verpflichtet gefühlt.
Sie stießen die Flügel der ornamentverglasten Tür
auf und traten hinaus. Beauregard fröstelte in der Kälte, doch
Geneviève wehte durch den eisigen Nebel dahin, als handele es sich
um die heitere Frühlingssonne. Er musste sich unentwegt ins
Gedächtnis rufen, dass dieses aufgeweckte Mädchen kein Mensch war.
Sie befanden sich in der Commercial Street, unweit von Toynbee
Hall.
»Ich würde gern auf einen Sprung hineinschauen«,
sagte Geneviève. »Seit Jack Seward ein neues Liebchen hat,
vernachlässigt er seine Pflichten.«
»Liederlicher Bursche«, bemerkte er.
»Ganz und gar nicht. Er ist bloß rastlos, ja
besessen. Ich bin froh, dass er ein wenig Ablenkung gefunden hat.
Er befindet sich seit Jahren am Rande eines Nervenzusammenbruchs.
Es hat ihm arg zugesetzt, wie Vlad Tepes seinerzeit in England
eintraf. Er spricht zwar nicht gern darüber - schon gar nicht mit
mir -, aber man hat mir die eine oder andere Geschichte über ihn
erzählt.«
Auch Beauregard waren verschiedene Gerüchte zu
Ohren gekommen.
Vonseiten Lord Godalmings, so seltsam es auch scheinen mochte, wie
auch seitens des Diogenes-Clubs. Sewards Name hatte in Verbindung
mit dem Abraham Van Helsings Erwähnung gefunden.
Ein Stück die Straße hinab stand ein vierräderiger
Wagen; das Pferd stieß schnaubend Dampf durch die Nüstern.
Beauregard erkannte den Kutscher sogleich wieder. Zwischen Schal
und Mützenschirm leuchteten dunkle Mandelaugen.
»Was ist?«, fragte Geneviève, als sie seine
plötzliche Anspannung bemerkte. Sie befürchtete immer noch, dass
der chinesische Älteste sie unvermittelt anspringen und ihr die
Luftröhre herausreißen könnte.
»Flüchtige Bekannte«, erwiderte Beauregard.
Der sanfte Schwung, mit dem der Schlag geöffnet
wurde, kräuselte den Nebel. Beauregard wusste, dass sie umzingelt
waren: der Landstreicher, der in einem Durchgang auf der anderen
Straßenseite kauerte; der Faulenzer, der wegen der Kälte die Arme
um sich schlang; ein Dritter, der kaum sichtbar im Schatten des
Tabakladens lauerte; ja vielleicht sogar die hochmütige Vampirfrau,
die in viel zu guten Kleidern en route zu einem Stelldichein
an ihnen vorüberparadierte. Mit dem Daumen öffnete er den Haken am
Heft seines Stockdegens, obschon er bezweifelte, dass er es mit
allen zugleich aufnehmen konnte. Geneviève brauchte seine Hilfe
nicht, wenngleich es ihm unrecht erschien, sie noch tiefer in die
Sache hineinzuziehen.
Man würde vermutlich Rechenschaft von ihm verlangen
wegen des schleppenden Fortgangs seiner Ermittlungen. Vom
Standpunkt des Limehouse-Ringes aus besehen, verschlimmerte sich
die Lage mit jeder neuerlichen Polizeirazzia und
»Notstandsverordnung«.
Jemand beugte sich aus dem Fuhrwerk und winkte sie
zu sich heran. Zögernden Schrittes trat Beauregard näher.