3
Soirée Noire
Florence Stoker läutete zaghaft ihr Glöckchen, jedoch nicht etwa, um das Dienstmädchen herbeizurufen, sondern um die Aufmerksamkeit ihrer Salongäste für sich zu gewinnen. Das kleine Schmuckstück bestand aus Aluminium, nicht aus Silber. Jäh verstummten Plaudereien und Geschirrgeklapper. Die Teegesellschaft merkte auf, der Hausherrin Gehör zu schenken.
»Es erwartet Sie nun eine wichtige Bekanntmachung«, verkündete Florence mit derartigem Entzücken, dass der Singsang von Clontarf, den sie gewöhnlich rigoros zu unterdrücken verstand, sich unbemerkt in ihre Stimme schlich.
Von einem Augenblick zum anderen war Beauregard in sich gefangen. Zwar konnte er mit Penelope an seiner Seite kaum umhin, die Hürde zu nehmen, doch hatte sich die Lage unversehens geändert. Seit einigen Monaten schon schwankte er am Rande eines Abgrunds. Nun aber stürzte er, innerlich schreiend, auf die zweifelsohne zerklüfteten Felsen zu.
»Penelope, Miss Churchward«, begann er und hielt inne, sich zu räuspern, »hat mir die Ehre erwiesen …«
Alle Anwesenden hatten sogleich begriffen, dennoch musste er die Worte über die Lippen bringen. Ihn dürstete nach einem weiteren Schluck von dem dünnen Tee, den Florence nach Art der Chinesen in exquisiten Schälchen servierte.
Voller Ungeduld brachte Penelope den Satz an seiner statt zu Ende. »Wir wollen uns vermählen. Kommenden Frühling.«
Mit schlanken Fingern umklammerte sie seine Hand. Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte der meistgehörte Satz aus ihrem Munde gelautet: »Ich will aber jetzt.«
Er war gewiss puterrot angelaufen. Dies ging gegen jegliche Vernunft. Er taugte schwerlich für den Part des ohnmächtigen Jünglings. Er war bereits einmal verheiratet gewesen … Vor Penelope, mit Pamela. Der anderen, der älteren Miss Churchward. Das musste ja Anlass zu Gerede geben.
»Charles«, sagte Arthur Holmwood - Lord Godalming -, »meinen Glückwunsch.«
Mit sarkastischem Grinsen schüttelte ihm der Vampir überschwänglich die freie Hand. Beauregard war überzeugt, dass der Untote wusste, wie leicht er ihm mit seinem Händedruck die Knochen hätte brechen können.
Seine Verlobte stand ein wenig abseits, von Damen umringt. Kate Reed, die dank Brille und widerspenstiger Frisur wie geschaffen schien, Penelopes engste Vertraute abzugeben, half ihr, Platz zu nehmen, und betrachtete sie voller Bewunderung. Sie schalt ihre Freundin, weil diese es unterlassen hatte, sie in ihr Geheimnis einzuweihen. Penelope beschwichtigte sie mit honigsüßer Stimme und entgegnete, sie solle doch nicht solch ein Spielverderber sein. Kate gehörte zu den Neuen Frauen, schrieb für ›Titbits‹ Artikel über das Zweiradfahren und war in jüngster Zeit ganz außer sich vor Begeisterung über den sogenannten »pneumatischen Reifen«.
Penelope wurde bestürmt, als habe sie soeben annonciert, sie sei entweder todkrank oder aber guter Hoffnung. Wenn Penelope in Beauregards Nähe weilte, war die Erinnerung an Pamela nicht fern, die bei der Niederkunft gestorben war, ihre großen Augen im Schmerz fest verschlossen. Vor sieben Jahren, in Jagadhri. Das Kind, ein Junge, hatte seine Mutter um kaum eine Woche überlebt. Beauregard dachte nur ungern daran zurück, dass man ihn gewaltsam hatte hindern müssen, jenen Narren von Bezirksarzt auf der Stelle zu erschießen.
Florence besprach sich mit Bessie, der letzten ihr verbliebenen Hausangestellten. Sie betraute das dunkeläugige Mädchen mit einem Geheimauftrag.
Whistler, der ewig grinsende Maler aus Amerika, drängte sich neben Godalming und versetzte Beauregard einen scherzhaften Knuff in die Seite.
»Charlie, Sie sind ein hoffnungsloser Fall«, sagte er und fuchtelte mit einer dicken Zigarre vor Beauregards Gesicht umher wie mit einem Messer. »Wieder einmal ist ein braver Mann dem Feind in die Hände gefallen.«
Mit Mühe brachte Beauregard ein Lächeln zuwege. Er hatte durchaus nicht die Absicht gehabt, bei Mrs. Stokers soirée noire seine Verlobung bekanntzugeben. Seit seiner Rückkehr nach London war er ein seltener Gast bei ihren nächtlichen Zusammenkünften. Obgleich das Rätsel ihres verschwundenen Gatten weiterhin der Lösung harrte, blieb Florence’ Stellung als Gastgeberin illustrer Modehelden und Berühmtheiten unangefochten. Niemand schien wagemutig oder gewissenlos genug, sich nach Brams Verbleib zu erkundigen, der Gerüchten zufolge ob eines Wortstreits mit dem Haushofmeister in einer Frage staatlicher Zensur nach Devil’s Dyke verbracht worden war. Allein der ausgezeichneten Intervention durch Henry Irving, Stokers Brotherrn, war es zu verdanken, dass Bram das Schicksal erspart blieb, die Nachfolge seines Freundes Van Helsing auf einem Pfahl vor den Toren des Palastes anzutreten.
Von Penelope in diesen kleinen Kreis gelockt, bemerkte Beauregard, dass auch andere nicht erschienen waren. Mit Ausnahme Godalmings war kein einziger Vampir zugegen. Viele von Florence’ früheren Gästen - allen voran Irving und seine Primadonna, die unvergleichliche Ellen Terry - hatten die Verwandlung vollzogen. Andere mochten vermutlich nicht einmal gerüchteweise mit dem republikanischen Gedanken in Verbindung gebracht werden, obgleich die Hausherrin, die bei ihren soirées noires zu Debatten ausdrücklich ermunterte, nicht selten ihr Desinteresse an der Politik bekundete. Florence - deren unermüdliche Anstrengungen, sich mit Männern zu umgeben, die sie an Brillanz weit übertrafen, und Frauen, die es an Schönheit schwerlich mit ihr aufzunehmen vermochten, Beauregard als etwas ärgerlich empfand, wie er sich eingestehen musste - stellte das Herrschaftsrecht der Königin nicht im mindesten infrage, ebenso wenig, wie sie das Recht der Erde hinterfragte, um die Sonne zu kreisen.
Bessie kam mit einer verstaubten Champagnerflasche zurück. Diskret entledigte man sich der Teeschälchen und Untertassen. Florence gab ihrer Bediensteten einen winzigen Schlüssel, und das Mädchen öffnete einen kleinen Schrank, worauf ein wahrer Gläserwald zum Vorschein kam.
»Einen Toast«, insistierte Florence, »auf Charles und Penelope.«
Penelope war an seine Seite zurückgekehrt, drückte seine Hand, führte ihn den Gästen vor.
Florence bekam die Flasche gereicht. Sie betrachtete sie, als könne sie sich nicht entsinnen, an welchem Ende sie zu öffnen sei. Gewöhnlich pflegte ein Butler die Flaschen zu entkorken. Einen Moment lang war sie ratlos. Godalming sprang ihr bei, machte sich mit überaus lebhafter Anmut, in der sich Schnelligkeit und offensichtliche Begierde paarten, ans Werk und ergriff die Flasche. Zwar war er mitnichten der erste Vampir, den Beauregard zu Gesicht bekam, doch war er der einzige, der sich seit seiner Verwandlung derart augenscheinlich verändert hatte. Die meisten Neugeborenen haderten mit ihren begrenzten Fähigkeiten, Seine Herrlichkeit aber hatte sich, dank der Ausgeglichenheit und Ruhe, die in seiner Herkunft gründete, mühelos damit zurechtgefunden.
»Sie gestatten«, sagte er und drapierte wie ein Kellner eine Serviette über seinen Arm.
»Ich danke Ihnen, Art«, plapperte Florence. »Ich bin einfach zu schwach …«
Er setzte ein schiefes Lächeln auf, das einen langen Augenzahn entblößte, stieß einen Fingernagel in den Korken und schnippte ihn aus dem Flaschenhals, als wolle er eine Münze in die Luft werfen. Der Champagner schäumte hervor, und Godalming füllte die Gläser, die Florence unter die Flasche hielt. Seine Herrlichkeit quittierte den verhaltenen Applaus mit einem stattlichen Grinsen. Für einen Toten strotzte Godalming geradezu vor Leben. Die anwesenden Frauen hatten nur noch Augen für den Vampir. Penelope machte da keine Ausnahme, wie Beauregard unwillig bemerkte.
Seine Verlobte war ihrer Cousine nicht sehr ähnlich. Gleichwohl überraschte sie ihn bisweilen mit einer Redensart Pamelas oder vollführte eine triviale Geste, die eine Manieriertheit seiner verstorbenen Gattin auf das Genaueste kopierte. Als er sich vor elf Jahren das erste Mal vermählt hatte, war Penelope neun Jahre alt gewesen. Er entsann sich eines recht boshaften kleinen Mädchens mit Matrosenhut und Schürzenkleid, das seine Familie geschickt manipulierte, sodass im ganzen Hause sich alles nur um es drehte. Er entsann sich, dass er mit Pamela auf der Terrasse gesessen und der kleinen Penny zugesehen hatte, wie sie den Gärtnerjungen mit Hohn und Spott zu Tränen trieb. Auch jetzt noch verbarg sich eine scharfe Zunge im samtenen Mund seiner zukünftigen Braut.
Die Gläser wurden verteilt. Penelope brachte es fertig, ihres entgegenzunehmen, ohne seine Hand auch nur einen Augenblick loszulassen. Nun, da sie ihren Preis errungen hatte, ließ sie ihn sich nicht mehr nehmen.
Es blieb selbstredend Godalming vorbehalten, den Toast auszubringen. Er hob sein Glas, die Luftblasen brachen das Licht, und sprach: »Was mich betrifft, so ist dies ein trauriger Moment, denn ich erleide einen großen Verlust. Erneut hat mir mein guter Freund Charles Beauregard das Nachsehen gegeben. Ich werde es wohl nie verwinden, und doch muss ich anerkennen, dass Charles der Bessere von uns beiden ist. Ich hoffe zuversichtlich, dass er meiner allerliebsten Penny zur Seite stehen wird, wie es sich für einen guten Ehemann gebührt.«
Beauregard befand sich im Blickpunkt des Interesses, und ihn beschlich leises Unbehagen. Es widerstrebte ihm, auf diese Weise angestarrt zu werden. Für einen Mann seines Faches war es unklug, auch nur die geringste Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
»Auf die wunderschöne Penelope«, brachte Godalming einen Toast aus, »und den beneidenswerten Charles …«
»Penelope und Charles«, hallte es von allen Seiten wider.
Penelope schnurrte wie eine Katze, denn die Luftblasen kitzelten sie in der Nase; Beauregard nahm einen unvermutet kräftigen Schluck. Alle tranken, mit Ausnahme Godalmings, der sein Glas unberührt auf das Tablett zurückstellte.
»Pardon«, sagte Florence, »ich hatte ganz vergessen.«
Die Hausherrin rief abermals nach Bessie.
»Lord Godalming trinkt keinen Champagner«, erklärte sie. Verständig knöpfte das Mädchen die Manschette seiner Bluse auf.
»Danke, Bessie«, sagte Godalming. Er nahm ihre Hand, als wollte er sie küssen, dann kehrte er sie nach oben, wie um daraus wahrzusagen.
Beauregard konnte sich eines schwachen Ekelgefühls nicht erwehren, doch niemand sonst verlor auch nur ein Wort darüber. Er fragte sich, wessen Gleichmut vorgespiegelt sein mochte und wer tatsächlich mit den Gewohnheiten jener Kreatur vertraut war, in die Arthur Holmwood sich verwandelt hatte.
»Penelope, Charles«, sagte Godalming, »auf euer Wohl …«
Dank eines Mundwerks wie das einer Kobra riss Godalming den Schlund weit auf, fasste Bessies Handgelenk, ritzte mit seinen spitzen Schneidezähnen leicht die Haut und leckte ein schmales Blutrinnsal fort. Die Gesellschaft war wie verzaubert; Penelope schmiegte sich näher an Charles. Sie presste die Wange gegen seine Schulter, ohne den Blick von Godalming und dem Dienstmädchen zu wenden. Entweder war Bessies Seelenruhe geheuchelt, oder es scherte sie wahrhaftig nicht, dass der Vampir sich von ihr nährte. Während Godalming noch schlürfte, begann sie unsicher zu wanken. Ihre Lider flatterten, gefangen zwischen Lust und Schmerz. Schließlich sank das Mädchen ohne einen Laut in Ohnmacht, und Godalming ließ von seinem Handgelenk ab, hielt seinem Sturz mit der Gewandtheit eines hingebungsvollen Don Juan auf und hielt es aufrecht.
»So wirke ich auf Frauen nun einmal«, sagte er, und seine Zähne waren blutgerändert, »eine überaus lästige Angelegenheit.«
Er fand einen Diwan und bettete die bewusstlose Bessie darauf. Aus der Wunde des Mädchens trat kein Blut hervor. Godalming hatte ihm allem Anschein nach nicht sehr viel entnommen. Beauregard kam der Gedanke, dass man es nicht das erste Mal zur Ader gelassen hatte, andernfalls hätte es sich gewiss nicht derart ungerührt in ihr Los geschickt. Florence, die Godalming mit solcher Selbstverständlichkeit die Gastfreundschaft ihres Dienstmädchens angetragen hatte, nahm neben Bessie Platz und band ein Schnupftuch um ihr Handgelenk. Sie ging dabei zu Werke, als lege sie einem Pferd die Zügel an, voller Güte zwar, doch ohne übermäßiges Interesse.
Plötzlich befiel Beauregard ein leichter Schwindel.
»Was hast du, Herzliebster?«, fragte Penelope und schlang einen Arm um ihn.
»Der Champagner«, log er.
»Ob es bei uns auch Champagner geben wird?«
»Wann immer du ihn trinken möchtest.«
»O Charles, du bist ja so gut zu mir.«
»Schon möglich.«
Florence hatte ihr Mädchen versorgt und mischte sich wieder unter die Gäste.
»Na, na«, sagte sie, »dafür bleibt nach der Trauung noch Zeit genug. Einstweilen seien Sie nicht so selbstsüchtig und machen Sie uns die Freude Ihrer Gesellschaft.«
»Wohl wahr«, setzte Godalming hinzu. »Fürs Erste möchte ich mein Recht als edelmütiger Verlierer einfordern.«
Beauregard war verwirrt. Zwar hatte Godalming sich das Blut mit einem Schnupftuch von den Zähnen gewischt, doch auch jetzt noch schimmerte sein Mund, und seine Oberzähne waren von einer rosigen Färbung.
»Ein Kuss!«, rief Godalming aus und nahm Penelope bei den Händen. »Ich fordere einen Kuss der Braut!«
Beauregards Hand, die Godalming zum Glück nicht sehen konnte, ballte sich zur Faust, wie um das Heft seines Stockdegens zu umfassen. Er witterte Gefahr, ebenso gewiss wie in Natal, als eine schwarze Mamba, das tödlichste Reptil auf Erden, sich seinem ungeschützten Bein genähert hatte. Mit einem diskreten Hieb seines Messers hatte er der Giftschlange den Kopf abgetrennt, noch ehe sie ihm etwas hatte antun können. Damals hatte er guten Grund gehabt, für seine Seelenstärke dankbar zu sein; nun jedoch, sagte er sich, ging seine Reaktion über die Maßen. Godalming zog Penelope an sich, und sie bot ihm ihre Wange. Einen langen Augenblick presste er seine Lippen auf ihr Gesicht. Dann ließ er von ihr ab.
Die anderen, Männer wie Frauen, umringten sie und erboten sich ebenfalls, sie zu küssen. Penelope wurde geradezu überschüttet mit Bewunderung. Sie ließ es sich wohl gefallen. Nie war sie schöner, Pamela ähnlicher gewesen.
»Charles«, sagte Kate Reed und trat auf ihn zu, »Sie wissen schon … ähm, meinen herzlichen Glückwunsch … und so weiter. Ausgezeichnete Neuigkeiten.«
Das arme Ding bekam einen hochroten Kopf, ihre Stirn war ganz feucht.
»Danke, Katie.«
Er küsste sie auf die Wange, und sie sagte: »Herr im Himmel.«
Verlegen grinsend deutete sie auf Penelope. »Charles, ich muss … Penny möchte …«
Sie wurde herbeigerufen, den wunderbaren Ring an Penelopes zierlichem Finger zu bestaunen.
Beauregard und Godalming standen ein wenig abseits des Getümmels am Fenster. Der Mond war aufgegangen, ein schwacher Schimmer hoch über dem Nebel. Beauregard konnte zwar den Zaun erkennen, der das Stoker’sche Anwesen begrenzte, doch wenig sonst. Er selbst wohnte in einem Haus ein Stück den Cheyne Walk hinab; es lag hinter einer fahlgelb wirbelnden Wand verborgen, ganz so, als ob es nicht mehr existierte.
»Noch einmal, Charles«, sagte Godalming, »meine aufrichtige Gratulation. Sie und Penny müssen wirklich glücklich sein. Das ist ein Befehl.«
»Danke, Art.«
»Wir brauchen mehr Männer wie Sie«, sagte der Vampir. »Sie müssen sich so bald wie nur möglich verwandeln. Die Dinge geraten allmählich in Bewegung.«
Es war nicht das erste Mal, dass die Rede darauf kam. Beauregard zögerte.
»Und Penny ebenfalls«, beharrte Godalming. »Sie ist wunderschön. Solche Schönheit darf nicht der Zeit geopfert werden. Das käme einem Verbrechen gleich.«
»Wir werden darüber nachdenken.«
»Denken Sie nicht zu lange. Die Jahre vergehen wie im Flug.«
Beauregard wünschte, er hätte etwas Stärkeres zu trinken als Champagner. So nahe bei Godalming konnte er den Atem des Neugeborenen nachgerade schmecken. Zwar entsprach es nicht ganz der Wahrheit, dass Vampire stinkende Wolken ausstießen. Aber es lag etwas in der Luft, süß und beißend in einem. Zudem erschienen bisweilen rote Punkte in Godalmings Augen, wie winzige Blutstropfen.
»Penelope wünscht sich Familie.« Vampire, so wusste Beauregard, waren außerstande, auf natürlichem Wege zu gebären.
»Kinder?«, fragte Godalming und blickte Beauregard unverwandt an. »Wer das ewige Leben hat, braucht keine Kinder.«
Beauregard war unbehaglich zumute.
Insgeheim hegte auch er Zweifel, was Familie anbetraf. Sein berufliches Schicksal war ungewiss, und nach allem, was mit Pamela geschehen war …
Der Kopf wurde ihm schwer, als wollte Godalming ihm die Lebenskraft aussaugen. Manche Vampire konnten sich nähren, ohne Blut zu trinken, indem sie durch psychische Osmose die Energien anderer absorbierten.
»Wir brauchen Männer Ihres Schlages, Charles. Wir besitzen die einmalige Gelegenheit, dieses Land groß zu machen. Ihre Fähigkeiten werden dringend benötigt.«
Hätte Godalming geahnt, welche Fähigkeiten er sich im Dienst der Krone angeeignet hatte, wäre der Lord, davon war Beauregard fest überzeugt, gewiss erstaunt gewesen. Nach seinem Aufenthalt in Indien war er zunächst in der internationalen Niederlassung von Schanghai und danach in Ägypten gewesen, wo er unter Lord Cromer gearbeitet hatte. Der Neugeborene schlug Beauregard die Klauen in den Arm. Er konnte seine eigenen Finger kaum noch spüren.
»In Großbritannien wird es zwar niemals Sklaven geben«, fuhr Godalming fort, »aber all jene, die Warmblüter bleiben, werden uns instinktiv dienen, wie die treffliche Bessie gerade mir gedient hat. Sehen Sie sich vor, sonst werden Sie noch enden wie ein schäbiger Wasserträger der Armee.«
»In Indien kannte ich einen Wasserträger, der es mit den meisten von uns an Menschlichkeit bequem aufnehmen konnte.«
Florence befreite ihn aus seiner misslichen Lage und geleitete ihn zu den anderen zurück. Whistler berichtete soeben vom letzten Abtausch seiner nicht enden wollenden Fehde mit John Ruskin und schüttete beißenden Spott über den Kritiker aus. Voll der Dankbarkeit, dem Rampenlicht entronnen zu sein, postierte Beauregard sich nahe einer Wand und verfolgte die Vorstellung des Malers. Da er bei Florence’ soirées noires nur allzu gern den leuchtenden Stern am Künstlerhimmel gab, war Whistler offensichtlich hocherfreut, dass sich die Aufregung, die durch Beauregards Bekanntmachung entstanden war, gelegt hatte. Penelope war im Gedränge verschwunden.
Wiederum fragte er sich, ob er den richtigen Weg eingeschlagen, ja, ob er überhaupt Anteil an dieser Entscheidung gehabt hatte. Er war das Opfer einer Verschwörung mit dem Ziel, ihn in die Fänge der Weiblichkeit zu treiben, angesiedelt zwischen chinesischem Tee und Spitzendeckchen. Das London, wohin er im Mai zurückgekehrt war, hatte kaum noch etwas mit jener Stadt gemein, die er drei Jahre zuvor verlassen hatte. Ein patriotisches Gemälde hing über dem Kamin; Viktoria, feist und jung wie nie zuvor, und, rotäugig und mit wildem Schnurrbart, ihr Gemahl. Der namenlose Künstler verfügte kaum über ausreichendes Talent, Whistler den Rang streitig zu machen. Charles Beauregard diente seiner Königin; da musste er wohl oder übel auch ihrem Gatten dienen.
Gerade als Whistler zu einer amüsanten Spekulation über die lange zurückliegende Annullierung der Ehe seines Kontrahenten anhob, die der vorwiegend weiblichen Zuhörerschaft womöglich wenig angemessen war, läutete es an der Tür. Aufgebracht wegen dieser Unterbrechung, setzte der Maler seine Rede erst wieder fort, als Florence - ebenfalls aufgebracht, da Bessie außerstande schien, ihren Pflichten nachzukommen - davoneilte, die Tür zu öffnen.
Beauregard erblickte Penelope auf einem der vorderen Plätze und sah sie artig lachen, als verstünde sie Whistlers Anspielungen. Godalming stand hinter ihrem Stuhl und hielt die Hände im Rücken unter seinem Bratenrock verschränkt, so dass seine spitzen Finger den Stoff beulten. Das war nicht mehr der Arthur Holmwood, den Beauregard gekannt hatte, als er England verließ. Kurz vor seiner Verwandlung war es zu einem Skandal gekommen. Wie auch Bram Stoker hatte Godalming es mit der falschen Partei gehalten, als der Prinzgemahl in London eintraf. Nun musste er seine Loyalität an die neue Regierung unter Beweis stellen.
»Charles«, sagte Florence leise, um Whistler kein zweites Mal zu unterbrechen, »draußen ist jemand für Sie. Von Ihrem Club.«
Sie reichte ihm eine Visitenkarte. Statt eines Namens trug sie die simple Aufschrift DIOGENES-CLUB.
»Dies ist so etwas wie eine Vorladung«, erklärte er. »Bitte entschuldigen Sie mich bei Penelope.«
»Charles …?«
Er war bereits in der Diele; Florence folgte auf dem Fuße. Er nahm Umhang, Hut und Stock. Bessie würde ihre Pflichten fürs Erste nicht erfüllen können. Florence zuliebe hoffte er, dass das Mädchen in der Lage wäre, sich ihrer Gäste anzunehmen, wenn der Zeitpunkt zum Aufbruch gekommen war.
»Art wird sie bestimmt nach Hause begleiten«, sagte er und bereute seinen Vorschlag sogleich. »Oder Miss Reed.«
»Ist das Ihr Ernst? Sie werden uns doch so früh noch nicht verlassen wollen …?«
Der Bote, ein verschwiegener Bursche, wartete am Straßenrand. Neben ihm, am Bordstein, stand ein Wagen.
»Ich kann nicht immer frei über meine Zeit verfügen, Florence.« Er küsste ihr die Hand. »Haben Sie herzlichen Dank für Ihre freundliche Einladung.«
Er verließ das Haus der Stokers, schritt über das Trottoir und stieg in den Wagen. Der Bote, der ihm den Schlag geöffnet hatte, tat es ihm nach. Der Kutscher kannte ihr Ziel und fuhr unverzüglich los. Beauregard sah Florence die Tür vor der Kälte verschließen. Der Nebel wurde dichter, und Beauregard wandte den Blick vom Haus, ließ sich vom gleichmäßigen Rhythmus des Fuhrwerks tragen. Der Bote sprach kein Wort. Eine Vorladung des Diogenes-Clus hatte gewiss nichts Gutes zu bedeuten, und doch war Beauregard erleichtert, Florence’ Salon und die Gesellschaft hinter sich lassen zu können.
Die Vampire
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