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Soirée Noire
Florence Stoker läutete zaghaft ihr
Glöckchen, jedoch nicht etwa, um das Dienstmädchen herbeizurufen,
sondern um die Aufmerksamkeit ihrer Salongäste für sich zu
gewinnen. Das kleine Schmuckstück bestand aus Aluminium,
nicht aus Silber. Jäh verstummten Plaudereien und
Geschirrgeklapper. Die Teegesellschaft merkte auf, der Hausherrin
Gehör zu schenken.
»Es erwartet Sie nun eine wichtige Bekanntmachung«,
verkündete Florence mit derartigem Entzücken, dass der Singsang von
Clontarf, den sie gewöhnlich rigoros zu unterdrücken verstand, sich
unbemerkt in ihre Stimme schlich.
Von einem Augenblick zum anderen war Beauregard in
sich gefangen. Zwar konnte er mit Penelope an seiner Seite kaum
umhin, die Hürde zu nehmen, doch hatte sich die Lage unversehens
geändert. Seit einigen Monaten schon schwankte er am Rande eines
Abgrunds. Nun aber stürzte er, innerlich schreiend, auf die
zweifelsohne zerklüfteten Felsen zu.
»Penelope, Miss Churchward«, begann er und hielt
inne, sich zu räuspern, »hat mir die Ehre erwiesen …«
Alle Anwesenden hatten sogleich begriffen, dennoch
musste er
die Worte über die Lippen bringen. Ihn dürstete nach einem
weiteren Schluck von dem dünnen Tee, den Florence nach Art der
Chinesen in exquisiten Schälchen servierte.
Voller Ungeduld brachte Penelope den Satz an seiner
statt zu Ende. »Wir wollen uns vermählen. Kommenden
Frühling.«
Mit schlanken Fingern umklammerte sie seine Hand.
Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte der meistgehörte Satz aus
ihrem Munde gelautet: »Ich will aber jetzt.«
Er war gewiss puterrot angelaufen. Dies ging gegen
jegliche Vernunft. Er taugte schwerlich für den Part des
ohnmächtigen Jünglings. Er war bereits einmal verheiratet gewesen …
Vor Penelope, mit Pamela. Der anderen, der älteren Miss Churchward.
Das musste ja Anlass zu Gerede geben.
»Charles«, sagte Arthur Holmwood - Lord Godalming
-, »meinen Glückwunsch.«
Mit sarkastischem Grinsen schüttelte ihm der Vampir
überschwänglich die freie Hand. Beauregard war überzeugt, dass der
Untote wusste, wie leicht er ihm mit seinem Händedruck die Knochen
hätte brechen können.
Seine Verlobte stand ein wenig abseits, von Damen
umringt. Kate Reed, die dank Brille und widerspenstiger Frisur wie
geschaffen schien, Penelopes engste Vertraute abzugeben, half ihr,
Platz zu nehmen, und betrachtete sie voller Bewunderung. Sie schalt
ihre Freundin, weil diese es unterlassen hatte, sie in ihr
Geheimnis einzuweihen. Penelope beschwichtigte sie mit honigsüßer
Stimme und entgegnete, sie solle doch nicht solch ein
Spielverderber sein. Kate gehörte zu den Neuen Frauen, schrieb für
›Titbits‹ Artikel über das Zweiradfahren und war in jüngster Zeit
ganz außer sich vor Begeisterung über den sogenannten
»pneumatischen Reifen«.
Penelope wurde bestürmt, als habe sie soeben
annonciert, sie sei entweder todkrank oder aber guter Hoffnung.
Wenn Penelope
in Beauregards Nähe weilte, war die Erinnerung an Pamela nicht
fern, die bei der Niederkunft gestorben war, ihre großen Augen im
Schmerz fest verschlossen. Vor sieben Jahren, in Jagadhri. Das
Kind, ein Junge, hatte seine Mutter um kaum eine Woche überlebt.
Beauregard dachte nur ungern daran zurück, dass man ihn gewaltsam
hatte hindern müssen, jenen Narren von Bezirksarzt auf der Stelle
zu erschießen.
Florence besprach sich mit Bessie, der letzten ihr
verbliebenen Hausangestellten. Sie betraute das dunkeläugige
Mädchen mit einem Geheimauftrag.
Whistler, der ewig grinsende Maler aus Amerika,
drängte sich neben Godalming und versetzte Beauregard einen
scherzhaften Knuff in die Seite.
»Charlie, Sie sind ein hoffnungsloser Fall«, sagte
er und fuchtelte mit einer dicken Zigarre vor Beauregards Gesicht
umher wie mit einem Messer. »Wieder einmal ist ein braver Mann dem
Feind in die Hände gefallen.«
Mit Mühe brachte Beauregard ein Lächeln zuwege. Er
hatte durchaus nicht die Absicht gehabt, bei Mrs. Stokers soirée
noire seine Verlobung bekanntzugeben. Seit seiner Rückkehr nach
London war er ein seltener Gast bei ihren nächtlichen
Zusammenkünften. Obgleich das Rätsel ihres verschwundenen Gatten
weiterhin der Lösung harrte, blieb Florence’ Stellung als
Gastgeberin illustrer Modehelden und Berühmtheiten unangefochten.
Niemand schien wagemutig oder gewissenlos genug, sich nach Brams
Verbleib zu erkundigen, der Gerüchten zufolge ob eines Wortstreits
mit dem Haushofmeister in einer Frage staatlicher Zensur nach
Devil’s Dyke verbracht worden war. Allein der ausgezeichneten
Intervention durch Henry Irving, Stokers Brotherrn, war es zu
verdanken, dass Bram das Schicksal erspart blieb, die Nachfolge
seines Freundes Van Helsing auf einem Pfahl vor den Toren des
Palastes anzutreten.
Von Penelope in diesen kleinen Kreis gelockt,
bemerkte Beauregard, dass auch andere nicht erschienen waren. Mit
Ausnahme Godalmings war kein einziger Vampir zugegen. Viele von
Florence’ früheren Gästen - allen voran Irving und seine
Primadonna, die unvergleichliche Ellen Terry - hatten die
Verwandlung vollzogen. Andere mochten vermutlich nicht einmal
gerüchteweise mit dem republikanischen Gedanken in Verbindung
gebracht werden, obgleich die Hausherrin, die bei ihren soirées
noires zu Debatten ausdrücklich ermunterte, nicht selten ihr
Desinteresse an der Politik bekundete. Florence - deren
unermüdliche Anstrengungen, sich mit Männern zu umgeben, die sie an
Brillanz weit übertrafen, und Frauen, die es an Schönheit
schwerlich mit ihr aufzunehmen vermochten, Beauregard als etwas
ärgerlich empfand, wie er sich eingestehen musste - stellte das
Herrschaftsrecht der Königin nicht im mindesten infrage, ebenso
wenig, wie sie das Recht der Erde hinterfragte, um die Sonne zu
kreisen.
Bessie kam mit einer verstaubten Champagnerflasche
zurück. Diskret entledigte man sich der Teeschälchen und
Untertassen. Florence gab ihrer Bediensteten einen winzigen
Schlüssel, und das Mädchen öffnete einen kleinen Schrank, worauf
ein wahrer Gläserwald zum Vorschein kam.
»Einen Toast«, insistierte Florence, »auf Charles
und Penelope.«
Penelope war an seine Seite zurückgekehrt, drückte
seine Hand, führte ihn den Gästen vor.
Florence bekam die Flasche gereicht. Sie
betrachtete sie, als könne sie sich nicht entsinnen, an welchem
Ende sie zu öffnen sei. Gewöhnlich pflegte ein Butler die Flaschen
zu entkorken. Einen Moment lang war sie ratlos. Godalming sprang
ihr bei, machte sich mit überaus lebhafter Anmut, in der sich
Schnelligkeit und offensichtliche Begierde paarten, ans Werk und
ergriff die Flasche. Zwar war er mitnichten der erste Vampir, den
Beauregard
zu Gesicht bekam, doch war er der einzige, der sich seit seiner
Verwandlung derart augenscheinlich verändert hatte. Die meisten
Neugeborenen haderten mit ihren begrenzten Fähigkeiten, Seine
Herrlichkeit aber hatte sich, dank der Ausgeglichenheit und Ruhe,
die in seiner Herkunft gründete, mühelos damit
zurechtgefunden.
»Sie gestatten«, sagte er und drapierte wie ein
Kellner eine Serviette über seinen Arm.
»Ich danke Ihnen, Art«, plapperte Florence. »Ich
bin einfach zu schwach …«
Er setzte ein schiefes Lächeln auf, das einen
langen Augenzahn entblößte, stieß einen Fingernagel in den Korken
und schnippte ihn aus dem Flaschenhals, als wolle er eine Münze in
die Luft werfen. Der Champagner schäumte hervor, und Godalming
füllte die Gläser, die Florence unter die Flasche hielt. Seine
Herrlichkeit quittierte den verhaltenen Applaus mit einem
stattlichen Grinsen. Für einen Toten strotzte Godalming geradezu
vor Leben. Die anwesenden Frauen hatten nur noch Augen für den
Vampir. Penelope machte da keine Ausnahme, wie Beauregard unwillig
bemerkte.
Seine Verlobte war ihrer Cousine nicht sehr
ähnlich. Gleichwohl überraschte sie ihn bisweilen mit einer
Redensart Pamelas oder vollführte eine triviale Geste, die eine
Manieriertheit seiner verstorbenen Gattin auf das Genaueste
kopierte. Als er sich vor elf Jahren das erste Mal vermählt hatte,
war Penelope neun Jahre alt gewesen. Er entsann sich eines recht
boshaften kleinen Mädchens mit Matrosenhut und Schürzenkleid, das
seine Familie geschickt manipulierte, sodass im ganzen Hause sich
alles nur um es drehte. Er entsann sich, dass er mit Pamela auf der
Terrasse gesessen und der kleinen Penny zugesehen hatte, wie sie
den Gärtnerjungen mit Hohn und Spott zu Tränen trieb. Auch jetzt
noch verbarg sich eine scharfe Zunge im samtenen Mund seiner
zukünftigen Braut.
Die Gläser wurden verteilt. Penelope brachte es
fertig, ihres
entgegenzunehmen, ohne seine Hand auch nur einen Augenblick
loszulassen. Nun, da sie ihren Preis errungen hatte, ließ sie ihn
sich nicht mehr nehmen.
Es blieb selbstredend Godalming vorbehalten, den
Toast auszubringen. Er hob sein Glas, die Luftblasen brachen das
Licht, und sprach: »Was mich betrifft, so ist dies ein trauriger
Moment, denn ich erleide einen großen Verlust. Erneut hat mir mein
guter Freund Charles Beauregard das Nachsehen gegeben. Ich werde es
wohl nie verwinden, und doch muss ich anerkennen, dass Charles der
Bessere von uns beiden ist. Ich hoffe zuversichtlich, dass er
meiner allerliebsten Penny zur Seite stehen wird, wie es sich für
einen guten Ehemann gebührt.«
Beauregard befand sich im Blickpunkt des
Interesses, und ihn beschlich leises Unbehagen. Es widerstrebte
ihm, auf diese Weise angestarrt zu werden. Für einen Mann seines
Faches war es unklug, auch nur die geringste Aufmerksamkeit auf
sich zu lenken.
»Auf die wunderschöne Penelope«, brachte Godalming
einen Toast aus, »und den beneidenswerten Charles …«
»Penelope und Charles«, hallte es von allen Seiten
wider.
Penelope schnurrte wie eine Katze, denn die
Luftblasen kitzelten sie in der Nase; Beauregard nahm einen
unvermutet kräftigen Schluck. Alle tranken, mit Ausnahme
Godalmings, der sein Glas unberührt auf das Tablett
zurückstellte.
»Pardon«, sagte Florence, »ich hatte ganz
vergessen.«
Die Hausherrin rief abermals nach Bessie.
»Lord Godalming trinkt keinen Champagner«, erklärte
sie. Verständig knöpfte das Mädchen die Manschette seiner Bluse
auf.
»Danke, Bessie«, sagte Godalming. Er nahm ihre
Hand, als wollte er sie küssen, dann kehrte er sie nach oben, wie
um daraus wahrzusagen.
Beauregard konnte sich eines schwachen Ekelgefühls
nicht erwehren,
doch niemand sonst verlor auch nur ein Wort darüber. Er fragte
sich, wessen Gleichmut vorgespiegelt sein mochte und wer
tatsächlich mit den Gewohnheiten jener Kreatur vertraut war, in die
Arthur Holmwood sich verwandelt hatte.
»Penelope, Charles«, sagte Godalming, »auf euer
Wohl …«
Dank eines Mundwerks wie das einer Kobra riss
Godalming den Schlund weit auf, fasste Bessies Handgelenk, ritzte
mit seinen spitzen Schneidezähnen leicht die Haut und leckte ein
schmales Blutrinnsal fort. Die Gesellschaft war wie verzaubert;
Penelope schmiegte sich näher an Charles. Sie presste die Wange
gegen seine Schulter, ohne den Blick von Godalming und dem
Dienstmädchen zu wenden. Entweder war Bessies Seelenruhe
geheuchelt, oder es scherte sie wahrhaftig nicht, dass der Vampir
sich von ihr nährte. Während Godalming noch schlürfte, begann sie
unsicher zu wanken. Ihre Lider flatterten, gefangen zwischen Lust
und Schmerz. Schließlich sank das Mädchen ohne einen Laut in
Ohnmacht, und Godalming ließ von seinem Handgelenk ab, hielt seinem
Sturz mit der Gewandtheit eines hingebungsvollen Don Juan auf und
hielt es aufrecht.
»So wirke ich auf Frauen nun einmal«, sagte er, und
seine Zähne waren blutgerändert, »eine überaus lästige
Angelegenheit.«
Er fand einen Diwan und bettete die bewusstlose
Bessie darauf. Aus der Wunde des Mädchens trat kein Blut hervor.
Godalming hatte ihm allem Anschein nach nicht sehr viel entnommen.
Beauregard kam der Gedanke, dass man es nicht das erste Mal zur
Ader gelassen hatte, andernfalls hätte es sich gewiss nicht derart
ungerührt in ihr Los geschickt. Florence, die Godalming mit solcher
Selbstverständlichkeit die Gastfreundschaft ihres Dienstmädchens
angetragen hatte, nahm neben Bessie Platz und band ein Schnupftuch
um ihr Handgelenk. Sie ging dabei zu Werke, als lege sie einem
Pferd die Zügel an, voller Güte zwar, doch ohne übermäßiges
Interesse.
Plötzlich befiel Beauregard ein leichter
Schwindel.
»Was hast du, Herzliebster?«, fragte Penelope und
schlang einen Arm um ihn.
»Der Champagner«, log er.
»Ob es bei uns auch Champagner geben wird?«
»Wann immer du ihn trinken möchtest.«
»O Charles, du bist ja so gut zu mir.«
»Schon möglich.«
Florence hatte ihr Mädchen versorgt und mischte
sich wieder unter die Gäste.
»Na, na«, sagte sie, »dafür bleibt nach der Trauung
noch Zeit genug. Einstweilen seien Sie nicht so selbstsüchtig und
machen Sie uns die Freude Ihrer Gesellschaft.«
»Wohl wahr«, setzte Godalming hinzu. »Fürs Erste
möchte ich mein Recht als edelmütiger Verlierer einfordern.«
Beauregard war verwirrt. Zwar hatte Godalming sich
das Blut mit einem Schnupftuch von den Zähnen gewischt, doch auch
jetzt noch schimmerte sein Mund, und seine Oberzähne waren von
einer rosigen Färbung.
»Ein Kuss!«, rief Godalming aus und nahm Penelope
bei den Händen. »Ich fordere einen Kuss der Braut!«
Beauregards Hand, die Godalming zum Glück nicht
sehen konnte, ballte sich zur Faust, wie um das Heft seines
Stockdegens zu umfassen. Er witterte Gefahr, ebenso gewiss wie in
Natal, als eine schwarze Mamba, das tödlichste Reptil auf Erden,
sich seinem ungeschützten Bein genähert hatte. Mit einem diskreten
Hieb seines Messers hatte er der Giftschlange den Kopf abgetrennt,
noch ehe sie ihm etwas hatte antun können. Damals hatte er guten
Grund gehabt, für seine Seelenstärke dankbar zu sein; nun jedoch,
sagte er sich, ging seine Reaktion über die Maßen. Godalming zog
Penelope an sich, und sie bot ihm ihre Wange. Einen langen
Augenblick presste er seine Lippen auf ihr Gesicht. Dann ließ er
von ihr ab.
Die anderen, Männer wie Frauen, umringten sie und
erboten sich ebenfalls, sie zu küssen. Penelope wurde geradezu
überschüttet mit Bewunderung. Sie ließ es sich wohl gefallen. Nie
war sie schöner, Pamela ähnlicher gewesen.
»Charles«, sagte Kate Reed und trat auf ihn zu,
»Sie wissen schon … ähm, meinen herzlichen Glückwunsch … und so
weiter. Ausgezeichnete Neuigkeiten.«
Das arme Ding bekam einen hochroten Kopf, ihre
Stirn war ganz feucht.
»Danke, Katie.«
Er küsste sie auf die Wange, und sie sagte: »Herr
im Himmel.«
Verlegen grinsend deutete sie auf Penelope.
»Charles, ich muss … Penny möchte …«
Sie wurde herbeigerufen, den wunderbaren Ring an
Penelopes zierlichem Finger zu bestaunen.
Beauregard und Godalming standen ein wenig abseits
des Getümmels am Fenster. Der Mond war aufgegangen, ein schwacher
Schimmer hoch über dem Nebel. Beauregard konnte zwar den Zaun
erkennen, der das Stoker’sche Anwesen begrenzte, doch wenig sonst.
Er selbst wohnte in einem Haus ein Stück den Cheyne Walk hinab; es
lag hinter einer fahlgelb wirbelnden Wand verborgen, ganz so, als
ob es nicht mehr existierte.
»Noch einmal, Charles«, sagte Godalming, »meine
aufrichtige Gratulation. Sie und Penny müssen wirklich glücklich
sein. Das ist ein Befehl.«
»Danke, Art.«
»Wir brauchen mehr Männer wie Sie«, sagte der
Vampir. »Sie müssen sich so bald wie nur möglich verwandeln. Die
Dinge geraten allmählich in Bewegung.«
Es war nicht das erste Mal, dass die Rede darauf
kam. Beauregard zögerte.
»Und Penny ebenfalls«, beharrte Godalming. »Sie ist
wunderschön.
Solche Schönheit darf nicht der Zeit geopfert werden. Das käme
einem Verbrechen gleich.«
»Wir werden darüber nachdenken.«
»Denken Sie nicht zu lange. Die Jahre vergehen wie
im Flug.«
Beauregard wünschte, er hätte etwas Stärkeres zu
trinken als Champagner. So nahe bei Godalming konnte er den Atem
des Neugeborenen nachgerade schmecken. Zwar entsprach es nicht ganz
der Wahrheit, dass Vampire stinkende Wolken ausstießen. Aber es lag
etwas in der Luft, süß und beißend in einem. Zudem erschienen
bisweilen rote Punkte in Godalmings Augen, wie winzige
Blutstropfen.
»Penelope wünscht sich Familie.« Vampire, so wusste
Beauregard, waren außerstande, auf natürlichem Wege zu
gebären.
»Kinder?«, fragte Godalming und blickte Beauregard
unverwandt an. »Wer das ewige Leben hat, braucht keine
Kinder.«
Beauregard war unbehaglich zumute.
Insgeheim hegte auch er Zweifel, was Familie
anbetraf. Sein berufliches Schicksal war ungewiss, und nach allem,
was mit Pamela geschehen war …
Der Kopf wurde ihm schwer, als wollte Godalming ihm
die Lebenskraft aussaugen. Manche Vampire konnten sich nähren, ohne
Blut zu trinken, indem sie durch psychische Osmose die Energien
anderer absorbierten.
»Wir brauchen Männer Ihres Schlages, Charles. Wir
besitzen die einmalige Gelegenheit, dieses Land groß zu machen.
Ihre Fähigkeiten werden dringend benötigt.«
Hätte Godalming geahnt, welche Fähigkeiten er sich
im Dienst der Krone angeeignet hatte, wäre der Lord, davon war
Beauregard fest überzeugt, gewiss erstaunt gewesen. Nach seinem
Aufenthalt in Indien war er zunächst in der internationalen
Niederlassung von Schanghai und danach in Ägypten gewesen, wo er
unter Lord Cromer gearbeitet hatte. Der Neugeborene schlug
Beauregard die
Klauen in den Arm. Er konnte seine eigenen Finger kaum noch
spüren.
»In Großbritannien wird es zwar niemals Sklaven
geben«, fuhr Godalming fort, »aber all jene, die Warmblüter
bleiben, werden uns instinktiv dienen, wie die treffliche Bessie
gerade mir gedient hat. Sehen Sie sich vor, sonst werden Sie noch
enden wie ein schäbiger Wasserträger der Armee.«
»In Indien kannte ich einen Wasserträger, der es
mit den meisten von uns an Menschlichkeit bequem aufnehmen
konnte.«
Florence befreite ihn aus seiner misslichen Lage
und geleitete ihn zu den anderen zurück. Whistler berichtete soeben
vom letzten Abtausch seiner nicht enden wollenden Fehde mit John
Ruskin und schüttete beißenden Spott über den Kritiker aus. Voll
der Dankbarkeit, dem Rampenlicht entronnen zu sein, postierte
Beauregard sich nahe einer Wand und verfolgte die Vorstellung des
Malers. Da er bei Florence’ soirées noires nur allzu gern
den leuchtenden Stern am Künstlerhimmel gab, war Whistler
offensichtlich hocherfreut, dass sich die Aufregung, die durch
Beauregards Bekanntmachung entstanden war, gelegt hatte. Penelope
war im Gedränge verschwunden.
Wiederum fragte er sich, ob er den richtigen Weg
eingeschlagen, ja, ob er überhaupt Anteil an dieser Entscheidung
gehabt hatte. Er war das Opfer einer Verschwörung mit dem Ziel, ihn
in die Fänge der Weiblichkeit zu treiben, angesiedelt zwischen
chinesischem Tee und Spitzendeckchen. Das London, wohin er im Mai
zurückgekehrt war, hatte kaum noch etwas mit jener Stadt gemein,
die er drei Jahre zuvor verlassen hatte. Ein patriotisches Gemälde
hing über dem Kamin; Viktoria, feist und jung wie nie zuvor, und,
rotäugig und mit wildem Schnurrbart, ihr Gemahl. Der namenlose
Künstler verfügte kaum über ausreichendes Talent, Whistler den Rang
streitig zu machen. Charles Beauregard diente seiner Königin; da
musste er wohl oder übel auch ihrem Gatten dienen.
Gerade als Whistler zu einer amüsanten Spekulation
über die lange zurückliegende Annullierung der Ehe seines
Kontrahenten anhob, die der vorwiegend weiblichen Zuhörerschaft
womöglich wenig angemessen war, läutete es an der Tür. Aufgebracht
wegen dieser Unterbrechung, setzte der Maler seine Rede erst wieder
fort, als Florence - ebenfalls aufgebracht, da Bessie außerstande
schien, ihren Pflichten nachzukommen - davoneilte, die Tür zu
öffnen.
Beauregard erblickte Penelope auf einem der
vorderen Plätze und sah sie artig lachen, als verstünde sie
Whistlers Anspielungen. Godalming stand hinter ihrem Stuhl und
hielt die Hände im Rücken unter seinem Bratenrock verschränkt, so
dass seine spitzen Finger den Stoff beulten. Das war nicht mehr der
Arthur Holmwood, den Beauregard gekannt hatte, als er England
verließ. Kurz vor seiner Verwandlung war es zu einem Skandal
gekommen. Wie auch Bram Stoker hatte Godalming es mit der falschen
Partei gehalten, als der Prinzgemahl in London eintraf. Nun musste
er seine Loyalität an die neue Regierung unter Beweis
stellen.
»Charles«, sagte Florence leise, um Whistler kein
zweites Mal zu unterbrechen, »draußen ist jemand für Sie. Von Ihrem
Club.«
Sie reichte ihm eine Visitenkarte. Statt eines
Namens trug sie die simple Aufschrift DIOGENES-CLUB.
»Dies ist so etwas wie eine Vorladung«, erklärte
er. »Bitte entschuldigen Sie mich bei Penelope.«
»Charles …?«
Er war bereits in der Diele; Florence folgte auf
dem Fuße. Er nahm Umhang, Hut und Stock. Bessie würde ihre
Pflichten fürs Erste nicht erfüllen können. Florence zuliebe hoffte
er, dass das Mädchen in der Lage wäre, sich ihrer Gäste anzunehmen,
wenn der Zeitpunkt zum Aufbruch gekommen war.
»Art wird sie bestimmt nach Hause begleiten«, sagte
er und bereute seinen Vorschlag sogleich. »Oder Miss Reed.«
»Ist das Ihr Ernst? Sie werden uns doch so früh
noch nicht verlassen wollen …?«
Der Bote, ein verschwiegener Bursche, wartete am
Straßenrand. Neben ihm, am Bordstein, stand ein Wagen.
»Ich kann nicht immer frei über meine Zeit
verfügen, Florence.« Er küsste ihr die Hand. »Haben Sie herzlichen
Dank für Ihre freundliche Einladung.«
Er verließ das Haus der Stokers, schritt über das
Trottoir und stieg in den Wagen. Der Bote, der ihm den Schlag
geöffnet hatte, tat es ihm nach. Der Kutscher kannte ihr Ziel und
fuhr unverzüglich los. Beauregard sah Florence die Tür vor der
Kälte verschließen. Der Nebel wurde dichter, und Beauregard wandte
den Blick vom Haus, ließ sich vom gleichmäßigen Rhythmus des
Fuhrwerks tragen. Der Bote sprach kein Wort. Eine Vorladung des
Diogenes-Clus hatte gewiss nichts Gutes zu bedeuten, und doch war
Beauregard erleichtert, Florence’ Salon und die Gesellschaft hinter
sich lassen zu können.