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DREI LEICHEN IN EINEM BRUNNEN
Verlobungsanzeige aus der Londoner Times vom 15. Juli 1959:
Asa Vajda, Prinzessin von Moldawien, wird Vlad ehelichen, Graf Dracula, ehemals Prinz der Walachei, Woiwode von Transsylvanien und Prinzgemahl von Großbritannien. Der Bräutigam war zuvor verheiratet mit Elisabeta von Transsylvanien (1448-62), Prinzessin Ilona Szylagi von Ungarn (1466-76), Marguerite Chopin aus Courtempierre (1709-11), Königin Viktoria von Großbritannien (1886-88) und Sari Gabòr aus Ungarn und Kalifornien (1948- 49). Die Braut, eine entfernte Verwandte der Mutter des Bräutigams, Prinzessin Cneajna Musatina von Moldawien, stammt aus dem Geblüt derer von Javutich. Seit sie 1938 ihre Heimat verlassen musste, hat sie in Monaco und Finnland ihren Wohnsitz. Die Hochzeit wird am 31. Oktober dieses Jahres im Palazzo Otranto im italienischen Fregene stattfinden.

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Dracula Cha-Cha-Cha

Alitalia bot im vorderen Teil des Flugzeugs eine spezielle Klasse für Vampire an. Die Fenster waren mit schwarzen Vorhängen gegen die Sonne verhüllt. Entsprechend teuer war der Flug. Warmblütige konnten gegen Aufpreis ebenfalls dort buchen, was aber niemand getan hatte. Umgekehrt stand Kate der normale Passagierraum nicht zur Verfügung. Die Fluggesellschaft ging davon aus, dass die Untoten daran vor lauter Reichtum ohnehin kein Interesse hatten, was in Kates Fall eine Fehleinschätzung war.
Das Flugzeug startete am Nachmittag bei trübem Wetter in Heathrow und sollte bei Sonnenuntergang in Rom landen. In der Luft las Kate sich gut in Samstagnacht und Sonntagmorgen ein. Sie nahm das Motto »Lasst euch von den Blutsaugern nicht kaputtmachen« nicht persönlich und identifizierte sich mehr mit Arthur Seaton als mit den Vampiren, die die Fahrradfabrik leiteten, in der er arbeitete. Alan Sillitoe machte keine Stimmung gegen ihre Art, er gebrauchte Metaphern. Wobei man in einigen Gegenden Englands tatsächlich auf Intoleranz stieß: Sie war im vergangenen Jahr in die Blutkrawalle von Notting Hill geraten, und von kruzifixschwenkenden Halbstarken, die sie im Waschsalon bedrängten, konnte sie auch ein Lied singen.
In den zwanziger Jahren hatte sie Venedig besucht und während der alliierten Invasion in Sizilien und Süditalien gedient, aber in Rom war sie noch nie gewesen. Geneviève hatte ihr angeboten, sie am Flughafen Fiumicino abzuholen, aber Kate wollte die Fahrt in die Stadt lieber allein machen. Geneviève blieb besser bei Charles. Sie verbrachten gerade ihre letzten gemeinsamen Tage miteinander. Sie konnten die ungestörte Zeit gebrauchen, bevor Kate kam, um Geneviève etwas unter die Arme zu greifen, und damit zwangläufig auch den Anstandswauwau spielen würde.
So nah wie Geneviève hatte sie Charles nie gestanden, nicht einmal 1888, als sie noch eine junge Frau und Geneviève seine erste Vampirin gewesen war. Natürlich liebte Kate ihn, was albern war und traurig und bald dazu führen würde, sich allein und verloren vorzukommen. Sie kam bei Charles Beauregard immer an letzter Stelle: nach seiner Frau Pamela, seiner Verlobten Penelope, seiner Königin Viktoria und - wegen ihrer Allgegenwärtigkeit am schwersten zu ertragen - nach der anbetungswürdigen Geneviève Dieudonné.
Kate musste sich oft vor Augen führen, dass sie Geneviève gernhatte. Was es wahrscheinlich nur noch schlimmer machte.
Gegen Ende des Fluges wurde ein Imbiss serviert, eine lebende weiße Maus. Da sie sich nicht gern in der Öffentlichkeit nährte, lehnte Kate ab. Als sie zu der Stewardess in der flotten Uniform aufsah, fiel ihr zwischen Kragen und Kehle ein himmelblaues Seidentuch auf. Kate spürte die Bissmale der warmblütigen jungen Frau und fragte sich, ob Alitalia vom Bordpersonal wohl verlangte, dass es wichtigen vampirischen Kunden den Hals darbot. Wahrscheinlich hatte sie eher einen untoten Freund, der sich nicht beherrschen konnte.
»Wenn ich vielleicht Ihre noch haben dürfte?«, fragte ein Passagier, ein Ältester mit schmalem Gesicht. »Mir knurrt der Magen.«
Er hatte bereits eine sich windende Maus in der linken Hand.
Kate zuckte höflich die Achseln. Er beugte sich über den Gang und griff in den kleinen Käfig der Stewardess.
»Vielen Dank, Signora«, sagte er, als er seine Beute hatte.
Der Vampir öffnete den Mund wie eine Python. Rote Membranen entfalteten sich, als die Kiefer ausrenkten und eine Doppelreihe Fangnadeln entblößten. Er warf sich beide Happen in den Schlund und zerbiss krachend ihre kleinen Leben. Er walkte die Mäuse durch wie Kaugummi und schluckte, die breiigen Fellbündel in den Backentaschen, den Saft in winzigen Portionen hinunter.
Der Älteste trug vollen Putz: weißes Rüschenhemd, schwarze Frackschleife, Cutaway aus Samt, Brokatweste, Siegelring vom Playboy-Club, Schnallenstiefel, Armbanduhr von Patek Lioncourt, schwarzer Abendumhang mit rotem Futter. Er sah aus wie ein mitteleuropäischer Habicht: das gelackte schwarze Haar streng vom spitzen Ansatz zurückgekämmt, weißes Gesicht, rote Augen, Scharlachlippen.
»Oder wäre Signorina richtig?«, fragte er mit vollem Mund.
»Miss«, gab sie zu. »Katharine Reed.«
Der Älteste spie Haut und Knochen dezent in eine Papierserviette, die er zu einem kleinen Bündel faltete und zur Beseitigung an die Stewardess weitergab.
Mit einem förmlichen Nicken stellte er sich vor.
»Graf Gabor Kernassy, aus dem Geblüt des Vlad Dracula, ehemals in der Karpatischen Garde des principe tätig.«
In seinem italienischen Exil wurde Dracula il principe genannt, der Fürst. Ein Titel, der ihm zustand und der ihn von den zahllosen Grafen wie diesem hier abhob, die in seinem Gefolge umherschwebten. Eine Anspielung auf Machiavellis Anleitung für geniale Tyrannen war ebenfalls beabsichtigt.
»Dies ist meine Nichte«, wies Graf Kernassy auf die Vampirin auf dem Fensterplatz neben sich. »Malenka.«
Ein kurzer Blick genügte, um zu wissen, welche Sorte »Nichte« Malenka für den Grafen darstellte. Sie war für einen großen Auftritt zurechtgemacht, in einem bodenlangen scharlachroten Abendkleid, das ganz auf die Betonung ihres enormen Busens ausgelegt war. Der Ausschnitt bot freien Blick auf ein tiefes Tal und reichte fast bis zum Bauchnabel hinab. Auf den oberen Wölbungen ihrer Brüste glitzerten Diamanten. Ihre hellblonde Mähne war von vergleichbarer Üppigkeit, und ihr rasiermesserscharfes Lächeln verdankte sie entweder dem Blutgeschlecht oder der schwedischen Zahnmedizin. Ihre kastanienbraunen Augen blitzten ebenso arrogant wie belustigt.
Kate rügte sich dafür, dass sie Malenka gleich in eine Schublade steckte. Sie hatte sie mit einem Blick als eine nouveau eingestuft, eine dieser neugeborenen Vampirdamen, die sich an geeignete Älteste heranmachten, weil sie gern zu vornehmen Leuten gehören wollten, die dreihundert Jahre älter waren.
Sie winkte der Frau mit den Fingerspitzen. Malenka klappte gezupfte Brauen hoch.
Die drei waren die einzigen Vampire auf diesem Flug. Kate fand einen gewissen Gefallen an dem alten Halunken von einem Grafen, der sich des Eindrucks, den Malenka machte, durchaus bewusst zu sein schien. Kernassy hielt gerade lange genug in der Darstellung seiner Rolle während der höfischen Intrigen mehrerer Jahrhunderte inne, um sie zu fragen, was sie beruflich tat und warum sie nach Rom wollte. Sie wich der letzteren Frage aus, indem sie die erstere beantwortete.
»Ich bin Journalistin. Für den Manchester Guardian und den New Statesman.«
»Journalisssten!«, fauchte Malenka, das erste Wort, das Kate von ihr hörte. »Die reinssten Tiere!«
Malenka lächelte, als möge sie Tiere, und zwar am liebsten roh.
»Meine Nichte ist von Ihrer Presse verfolgt worden. Sie ist sehr leicht zu erkennen.«
Kate schenkte den Gesellschaftsspalten nicht viel Aufmerksamkeit, meinte sich aber zu erinnern, dass sie Malenka schon einmal auf Fotos im Tatler gesehen hatte, wie sie hinreißend gelangweilt in einem Café in Soho saß oder in Ascot einen atompilzförmigen Hut präsentierte. Es gehörte zu ihrem Beruf, bei allen erdenklichen Presseerzeugnissen auf dem Laufenden zu bleiben. Außerdem wusste sie gern, was man heutzutage trug.
»Die Filmgesellschaften sind an ihr interessiert«, fuhr der Graf fort. »Sie ist fotogen.«
Die meisten Vampire waren das nicht. Nur wenige, die Garbo etwa, waren Filmschauspielerinnen oder Fotomodelle. Monsieur Erik, das Gespenst und die Engelsstimme der Pariser Oper, war nicht nur nicht fotogen; seine Stimme eignete sich nicht einmal für Schallplattenaufnahmen.
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Kate.
»Ihr Akzent? Er ist nicht englisch«, stellte Kernassy fest. »Sind Sie vielleicht Kanadierin?«
»Ich bin vielleicht Irin.«
»In Irrrland lieben sie mich«, verkündete Malenka.
»Malenka ist eine Spielzeit lang beim Gate Theatre in Dublin gewesen. Sie war ein sehr großer Erfolg.«
Kate musste sich bei der Vorstellung von Malenka als Molly Bloom ein Lachen verkneifen.
»Viele iiirrische Männer lieben mich«, ließ Malenka wissen.
»Ganz bestimmt«, gab Kate ihr Recht. »Das sieht man sofort.«
Kernassy erwiderte ihr verstecktes Schmunzeln. Es gefiel ihm, als der liederliche »Onkel« dieses atemberaubenden, wenn auch hirnlosen Geschöpfs angesehen zu werden. Kate fragte sich, ob er sie warmblütig gefunden und verwandelt oder von einem anderen, erschöpften Fangvater geerbt hatte.
»Ich glaube, die Rrrömer werden Sie auch lieben«, erlaubte Kate sich zu sagen.
»Hörst du, Malenka? Unsere Miss Reed hier sagt dir einen überwältigenden Erfolg voraus.«
Malenka streckte in einer Art sitzender Verneigung die Brüste vor und nickte knapp zu unhörbarem Applaus.
»Sie hat die Hauptrolle bekommen, in einem Spielfilm.«
»Ich bin … Medusa«, sagte sie und berührte mit langen Fingernägeln ihre schlangenlosen Locken.
Kate sah das Vorsprechen richtig vor sich.
»Nein, mia cara«, tadelte Kernassy sie. »Du bist Medea.«
»Gibt es Unterschied?« Malenka sah Kate um Beistand an.
»Die eine hatte Nattern in der Frisur und ließ Männer mit einem Blick zu Stein erstarren«, sagte Kate. »Die andere half Aison, das goldene Vlies zu stehlen, wurde dann aber sitzengelassen und schlug ihre Kinder tot.«
»Ich glaube, das Ende wird umgeschrieben«, sagte Kernassy. »Das Original ist - wie drückte man es mir gegenüber noch gleich aus? - ›kein Kassenschlager‹. Und wer würde schon Malenka ›sitzenlassen‹, wie Sie sagen?«
»Wen interrressieren Kassenschläger?« Malenka lächelte. »Sie wollen nuurrr mich.«
Graf Kernassy hob die Schultern. Der Pilot verkündete, dass sie ihr Ziel gleich erreicht hätten, und forderte die Passagiere auf, sich wieder anzuschnallen, per favore. Malenka brauchte Hilfe mit der Schließe. Der Gurt lag lose in ihrem Schoß. In das korsettierte Kleid eingezwängt, war ihre Taille winzig.
»Sind Sie wegen der Verlobung in Rom?«, fragte der Graf.
Kate war verblüfft. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, dass jemand das denken mochte, obwohl die neue königliche Verbindung sogar in den Blättern, für die sie arbeitete, ausführlichst behandelt wurde.
»Vielleicht schreibe ich irgendetwas darüber«, sagte sie unverbindlich.
Bis zu diesem Moment hatte sie jeden Gedanken an die Verlobung unterdrückt. Während sie und Geneviève an Charles’ Sterbebett säßen, würde die Kreatur, die ihnen in den letzten siebzig Jahren das Leben verdorben hatte, sich in nie dagewesenem Pomp wieder einmal eine Frau nehmen. Die politischen und seelischen Implikationen waren vielfältig. Vielleicht würde sie am Ende tatsächlich darüber schreiben, wenn sie ihren Abscheu in den Griff bekam.
»Wirrr gehen zur Verlobung«, sagte Malenka. »Persönliche Gäste von il principe.«
Kernassys Augenbrauen bildeten ein satanisches Victory-Zeichen. Er war nicht der einzige Karpater, der wie eine billige Imitation seines principe daherkam. Beabsichtigte Malenka, ihn gegen einen vornehmeren Onkel auszutauschen? Wenn, dann musste sie die königliche Verlobte ausstechen. Kate ging davon aus, dass Asa Vajda - la principessa? - sich nicht von einer Frau in die Tasche stecken ließ, die es nur aufs Geld abgesehen hatte.
»Vielleicht haben Sie anderes zu erledigen?«, bemerkte der Graf mit dem Verständnis eines Älteren. »Mamma Roma hat viele ewige Reize, manche schmerzlich, manche schön.«
Schmerzlich? Merkwürdiges Wort.
Das Flugzeug setzte weich auf und rollte zur Abfertigungshalle.
 
Kernassy ließ Malenka und Kate beim Verlassen des Flugzeuges den Vortritt. Natürlich ging Malenka als Erste und posierte am Kopf der fahrbaren Treppe.
Es gab Explosionen und Blitze. Kate glaubte schon, mit Salvenfeuer begrüßt zu werden. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Kaltes, grelles Licht traf sie. Geblendet schloss sie die Augen. In ihrem Kopf tanzten Blitze.
Ein kleines Orchester fing an zu spielen. Unpassenderweise brachte es als Willkommensständchen »Arrivederci Roma«.
Rufe kamen aus der Dunkelheit hinter den knallenden Lichtern. »La bella Malenka … Signorina … die Hüfte raus, Süße … bene, bene … Was für eine Wuchtbrumme!«
Kernassy half Kate zurück in den Fluggastraum. Sie nahm ihre Brille ab und rieb sich die brennenden Augen. Kodak bewarb gerade einen neuen Film zum Fotografieren von Vampiren. Die Blitzbirnchen, die dafür benötigt wurden, waren die reinsten Atombombenexplosionen.
»Wo Malenka hingeht, sind Paparazzi«, erklärte der Graf.
In mehreren Sprachen wurden Fragen gerufen.
»Kommen Sie der Liebe wegen nach Rom?« - »Was tragen Sie beim Schlafen?« - »Hat bei Ihrer Figur ein Chirurg nachgeholfen?« - »Was halten Sie von der Verlobung?« - »Schmeckt Ihnen das Blut von italienischen Männern besser?«
Malenka gab keine Antworten, sondern stellte die Blitzlichter mit ihrem Lächeln in den Schatten. Sie drehte ihren Körper, um ihre Silhouette zu betonen. Sie beugte sich vor und gab Luftküsse, was ein wahres Wolfsheulen auslöste. Wieder kam eine volle Breitseite von den Kameras.
Kate war bei Presseterminen am Londoner Flughafen gewesen. Die hatten mit dem hier nicht viel zu tun. »Werden Sie sich ein Kricketspiel ansehen, Mr. Sinatra?« - »Wie gefällt Ihnen das englische Wetter, Miss Desmond?« - »Würde es Ihnen furchtbar viel ausmachen, kurz für ein paar Schnappschüsse für unsere Leser zu posieren, Mrs. Roosevelt?«
Die Gänge füllten sich mit gepäcktragenden Passagieren, die gern aus dem Flugzeug wollten. Die Stewardess erklärte, dass sie sich noch gedulden müssten. La bella Berühmtheit ging vor.
Malenka stieg die Stufen hinab, als beträte sie einen Botschaftsball, und schwenkte die üppigen Hüften. Fotografen lagen auf dem Rollfeld, um sie von unten aufzunehmen, zappelten herum wie auf den Rücken gefallene Käfer. Kate wartete, bis Malenka aus dem Weg war und mit ihrem Pressepulk seitwärts verschwand, bevor sie erneut einen Versuch machte, das Flugzeug zu verlassen.
Das Orchester beendete seinen Willkommensabschiedsgruß an Rom und packte die Instrumente ein.
»Wir werden von einer Frau aus dem Hause Dracula abgeholt«, erklärte der Graf. »Sie arrangiert die Fahrt in die Stadt. Möchten Sie uns begleiten?«
»Das ist sehr freundlich, Graf …«
»Ich bestehe darauf. Sie haben Hotelzimmer?«
»Eine Pension, Graf. In Trastevere. Piazza Maria 24.«
»Sie werden wohlbehalten dort ankommen, Miss Reed. Ich gebe Ihnen das Wort eines Kernassy.«
Der Älteste fand wahrscheinlich nichts dabei, Bauernkinder abzuschlachten, um seinen roten Durst zu löschen, aber eine Frau würde er nicht ohne Begleitung in der Stadt herumlaufen lassen. Es war leichter, sich darauf einzulassen, als es ihm auszureden.
Malenka setzte sich weiter in Szene. Immer noch knallten Blitzbirnen, machte die Horde Fotografen und Reporter die reinste Bodenakrobatik. Jetzt vermied Kate es, direkt in die Blitzlichter zu sehen. Kameraleute von der Wochenschau waren dort und rasende Radioreporter. Hatte sie im Picturegoer ein paar Seiten zu viel überblättert? Entweder war Malenka die neue Marilyn Monroe, oder in Rom erfuhr jede Frau, die im Film ein bisschen Haut zeigte, eine solche Behandlung.
»Tangenti sind bezahlt, also wird der Zoll unsere Pässe rasch abfertigen.« Graf Kernassy steuerte Kate an Malenkas Darbietung vorbei zu einer gesitteteren Menge. »Bleiben Sie dicht bei mir, und Sie kommen unter meinem Umhang mit durch.«
Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er es bildlich gemeint hatte.
Unter den Wartenden war eine hochgewachsene, schlanke Vampirin in einem schicken violetten Zweiteiler und hob eine Hand im dazu passenden Handschuh. Sie trug eine schwarz gerahmte Sonnenbrille und ein Kopftuch mit Chinamuster, als wolle sie nicht erkannt werden. Ihren schmalen Hals zierte eine zweireihige Perlenkette.
»Dies wird unsere galoppina sein«, sagte Kernassy. »Unsere Schmiererin, wie man bei Ihnen sagt.«
Die Frau nahm die dunkle Brille ab. Sie öffnete erstaunt ihren kleinen Mund und entblößte Piranhazähne.
»Katie Reed«, entfuhr es ihr. »Ach, du liebe Güte!«
Eigentlich hatte Kate gewusst, dass Penelope zum Haushalt des principe gehörte und sich also in Rom aufhielt. Aber da sie sich möglichst wenig mit Penny beschäftigte, wäre sie gar nicht auf die Idee gekommen, ausgerechnet ihr als Erstes über den Weg zu laufen.
»Penny«, sagte sie lahm. »Hallo.«
»Sie sind alte Freundinnen, wie ich sehe«, schloss Kernassy nicht ganz zutreffend.
»Graf Kernassy, dies ist Penelope Churchward. Wir kennen einander seit einer halben Ewigkeit.«
»Eine halbe Ewigkeit ist für unsereinen gar nichts«, sagte er und ergriff galant Penelopes Hand.
Die Engländerin setzte ein Lächeln auf, das wesentlich überzeugender als Malenkas Versuche war. Man musste sie gut kennen, um zu durchschauen, woran es ihm mangelte.
»Da bist du also wieder, Katie«, sagte sie. »Du willst Charles besuchen, nehme ich an.«
Zum Zeitpunkt ihres Todes war Penelope mit Charles verlobt gewesen. Dass sie zu einem Vampir wurde, setzte der Beziehung damals ein Ende. Geneviève hatte auch etwas damit zu tun, nicht aber die arme Brillenschlange Katie Reed. Sie fragte sich, ob Penny nicht wenigstens zum Teil wegen Charles in Rom war. Er hatte eindeutig den Dreh heraus, wie man Vampirdamen um sich scharte. Ganz ähnlich wie il principe.
»Hast du ihn schon besucht?«, fragte Katie wider Willen.
»In letzter Zeit nicht. Es geht ihm nicht gut. Er muss sich bald verwandeln, oder wir werden ihn verlieren.«
In diese Richtung hatte Kate sich auch schon Gedanken gemacht. Dass Penelope eine solche Behandlung erwähnte, war nicht gerade ermutigend. Wenn es Pennys Idee war, war er wahrscheinlich strikt dagegen. Er würde doch vernünftig sein, wenn sich die letzten Wolken sammelten und der Schnitter seine Sense schärfte?
Malenka schwebte herüber, ganz Zähne und Zitzen. Die Paparazzi hielten Schritt. Weggeworfene Blitzbirnchen zerbarsten zu Glaskonfetti. Penelope setzte ihre Sonnenbrille wieder auf und wurde vorgestellt.
Wie der Graf versprochen hatte, geleitete sie ein Beamter an dem Gedränge vor der Passkontrolle vorbei. Die Hälfte der Passagiere aus dem Flugzeug waren Briten und bildeten den Anfang einer ordentlichen Schlange. Italiener drängelten sich vor und schüttelten freundlich die Köpfe über die Exzentrik eines Volkes, das dem Glauben anhing, dass es besser sei zu warten, bis man an der Reihe war, anstatt die besten Plätze zu ergattern.
Kate war noch immer zu verblüfft über Penelopes Anwesenheit, als dass sie Schuldgefühle wegen des leichten Falles von Korruption hätte empfinden können, der zu ihrer Bevorzugung führte. Sie kannte tangenti - Bestechungsgelder - aus dem Krieg, als ohne Schwarzmarkt und der Parole »Eine Hand wäscht die andere« nichts gelaufen war. Der Frieden hatte in Italien nicht viel geändert.
Der Graf begleitete Malenka. Ein hochgewachsener warmblütiger Chauffeur, den Penelope mit Klove anredete, trug ihr zahlreiches Gepäck. Malenkas Kofferset war von Vuitton, wie Kate auffiel. Penny und sie gingen nebeneinanderher und wussten nicht, was sie sagen sollten.
Es war Jahrzehnte her.
»Danke für die Beileidskarte, Katie. Eine freundliche Geste. Du warst schon immer so aufmerksam.«
»Ich habe deine Mutter sehr gemocht.«
Mrs. Churchward war 1937 gestorben.
»Mama hatte dich immer sehr gern. Du warst die Vernünftige von uns beiden.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Hast du eine Brut?« Penelope lächelte schneidend.
Kate schüttelte den Kopf. Sie hatte sich noch nie dazu entschieden, jemandem den dunklen Kuss zu geben, ihr Geblüt zu vergrößern. Da müsste schon jemand ganz Besonderes kommen, hatte sie sich geschworen. Und nie jemand ganz Besonderes kennengelernt.
»Ich habe mehrere Fangsöhne und -enkeltöchter. Es ist eine schreckliche Verantwortung, meine Liebe. Ich bin verpflichtet, das Geblüt der Godalmings zu erhalten. Zum Gedenken an den armen Art.«
Arthur Holmwood, Lord Godalming, war Penelopes Fangvater, der Vampir, der sie verwandelt hatte. Wie Kate und Penny war auch er ein Neugeborener der 1880er-Jahre. Und hatte, wie viele ihrer Altersgenossen, seine natürliche Lebensspanne nicht überdauert. Eigentlich sollten Penelope und sie einander näherstehen. Sie waren beinahe die einzigen Überlebenden ihrer Welt.
»Ich hätte mein eigenes Haus gegründet«, fuhr Penelope fort, »aber ich habe meine Pflichten. Was immer du über ihn denkst, wir stehen tief in der Schuld des principe, Katie. Ich weiß, du warst mit bei den Aufwieglern, die ihn aus England vertrieben haben. Aber ob es dir nun schmeckt oder nicht, er ist unser Führer.«
Weder Kate noch Penny gehörten unmittelbar zu Draculas Geblüt. Ihnen waren einiges von dem üblen Erbe erspart geblieben, das die meisten ihrer Generation verdorben hatte.
»Du musst einmal in den Palazzo Otranto kommen«, sagte Penelope, und Kate überlief ein Schaudern. »Gerade geht es hektisch zu, wegen der Vorbereitungen des Verlobungsfests und der ganzen heimlichen Abstimmungen zwischen den Botschaften. Er würde dich bestimmt empfangen. Charles ist sogar eingeladen, zusammen mit dieser Französin. Wenn Dracula ihnen vergeben kann, dann wird er auch über deine kleinen revoluzzerhaften Anflüge hinwegsehen.«
Während des Kampfes, Dracula vom Thron Großbritanniens zu verdrängen, hatte Kate sieben Jahre als Geächtete verbracht, hatte sich vor den Karpatern, die sie pfählen wollten, versteckt gehalten und eine Untergrundzeitung herausgegeben. Später, im Ersten Weltkrieg, war sie unter einem der schönen Spielzeuge des principe begraben worden, einem der ersten Panzer. Sie hegte den starken Verdacht, dass das Monstrum sich ihr gegenüber mehr Versöhnlichkeit leisten konnte als andersherum. Außerdem ging ihr Pennys beiläufige Unterstellung gegen den Strich, politische Agitation sei ein flüchtiger Zeitvertreib, etwas, mit dem sich die unausgefüllten Jahre einer fangkinderlosen Ewigkeit herumbringen ließen.
Sie riss sich zusammen. Penelope drückte sämtliche Knöpfe bei ihr, wie immer. Aber diesmal würde Kate nicht wieder das bebrillte Mauerblümchen sein, das sich über seine hübschere Freundin entrüstete und zugleich an jeder spitzen Bemerkung hing. Schon zu Lebzeiten, als Kinder, als Kate sie öfter hatte beaufsichtigen müssen, war Penny sehr geschickt darin gewesen, andere zu manipulieren. Jetzt hatte sie die Kunst, sich durchzusetzen, jahreund jahrzehntelang perfektioniert.
»Hier sind die Wagen«, verkündete Penelope.
Sie waren durch den Flughafen und hinaus auf die Straße geeilt. Am Rinnstein standen ein roter Zweisitzer von Ferrari und ein leichenwagenähnlicher schwarzer Fiat. Der Ferrari diente als Kulisse für Malenka.
Erneut knallten Blitzbirnen, als Malenka sich in den winzigen Sportwagen helfen ließ. Sie stand aufrecht darin und blies der versammelten Menge wieder Luftküsse zu.
Penelope lachte leise und schüttelte den Kopf, was Kate besser von ihr denken ließ.
»Erinnert mich an ein Paar Torpedos, Katie, die gerade abgeschossen werden.«
Sie waren einmal Freundinnen gewesen.
»Wir anderen ersparen uns den Wind«, sagte Penelope. »Der Bus ist um einiges geräumiger als das Milchauto.«
Ein warmblütiger Mann stand bei den Wagen herum.
»Katie, das ist Tom.« Penelope ließ ihre Fingerspitzen über sein Revers gleiten, um die Besitzlage aufzuzeigen. »Er ist ein Amerikaner, den es nach Europa verschlagen hat.«
Der junge Mann gehörte auf eine unterwürfige, inoffizielle Weise zu der Gesellschaft. Sein Handschlag verriet gar nichts, er war vermutlich ein Trabant. Kate fielen an seinem Hals ein paar Kratzer auf. Sie sah seinen nachdenklichen Blick und konnte sich denken, dass er überschlug, was ihre Kleidung gekostet hatte. Im Moment hatte er die Aufgabe, den Ferrari zu lenken und den Kopf unten zu halten, damit er nicht mit auf die Fotos kam.
Klove hielt die hintere Tür des Fiat auf, und Kate stieg ein, anmutig gefolgt von Penelope. Sie sanken nebeneinander in einen tiefen Ledersitz. Jemand saß bereits gegenüber und rauchte eine Zigarette. Graf Kernassy raffte seinen Umhang und schlüpfte zu ihnen hinein. Der Chauffeur schloss leise die Tür und ging nach vorn.
Der Graf umarmte den Raucher und küsste ihn auf beide Wangen, ohne seiner Zigarette in die Quere zu kommen.
»Dies ist Signora Reed, die wir während des Fluges kennengelernt haben«, erklärte der Graf. »Sie ist in Ihrer Branche, Marcello. Eine Reporterin. Aus Irland.«
Der Reporter beugte sich vor ins Licht. Er sah bemerkenswert gut aus, auf eine gelangweilte, müde Art. Sein dunkles, welliges Haar hatte eine Spur unverdienten Graus an den Schläfen. Wie Penny trug er eine große, dunkle Sonnenbrille. Er lebte, darum fand Kate die Brille einigermaßen affektiert.
Marcello streckte eine Hand aus und ergriff die ihre.
Es war wie ein Stromschlag.
Sie musste aufpassen bei diesem römischen Reporter. Sein lässiges Lächeln mit hängender Kippe hatte etwas Aufreizendes. Er war gewandt und gepflegt, neigte jedoch zu einer Wohlgenährtheit, die Köstliches versprach. Unter dem Rasierwasser und dem Tabak war ein Hauch süßen Blutes zu riechen. Sein Hals war frei von Bissen.
Er hielt ihre Hand ein paar Sekunden länger als nötig, dann wandte er sich dem Grafen zu und plauderte mit ihm auf Italienisch, wobei er sie eine Spur zu absichtlich ignorierte.
Ihr Herz schlug schneller. Sie war sich bewusst, dass Penelope ihr erwachtes Interesse bemerkte. Das würde sie noch verfolgen. Penny war immer gut darin, für Regentage Munition zurückzulegen.
Aber Kate war in Rom. Und ihr gegenüber saß ein bildschöner Mann.
 
Bis sie in der eigentlichen Stadt waren, ging die Sonne unter. Kate begriff, dass der Graf in der Innenstadt logierte. Ihre Pension war in Trastevere, durch das sie gerade fuhren. Sie versuchte den Ältesten zu überzeugen, dass er sie hinausließ, aber er fegte die Bitte beiseite.
»Auf gar keinen Fall, mia cara Signorina Reed. Wir sind mit Ihnen noch nicht fertig. Ich bestehe darauf, dass Sie an unserem Fest heute Abend teilnehmen. Sie und Signorina Churchward haben viel zu bereden. Und Sie müssen die Via Veneto bei Nacht erleben. Es ist die aufregendste Straße der Welt.«
Kates Mietwohnung lag in der Holloway Road. Nicht einmal die aufregendste Straße von Nord-London. Der Graf hatte sie schon überzeugt.
»Sie, Marcello, werden Signorina Reed begleiten«, ordnete Kernassy weltmännisch an.
»Aber selbstverständlich«, sagte Marcello, seine ersten Worte auf Englisch.
»Ich fürchte, Marcello verachtet unsereins«, sagte Penelope höflich. »Er sammelt Material für einen Roman, in dem er mit uns abrechnen will. Sein Thema ist das hohle Nachtleben der ewig Reichen.«
Seinem Mund war anzusehen, dass Marcello verstanden hatte, was Penelope sagte. Sein Englisch war durchaus fließend, gut zu wissen.
»Schreibst du immer noch für die Zeitungen, Katie?«
»Ja.«
»Dachte ich mir.«
Penelope lehnte sich zurück. Kate hatte Angst, rot zu werden.
»Werden Sie über Malenka schreiben?«, wandte sie sich an Marcello.
Kate fragte sich, warum ihr Bauch so angespannt war. Und ob ihr eine noch dümmere Frage hätte einfallen können.
Marcello zuckte die Schultern und neigte ausdrucksvoll den Kopf.
»Sie ist wie eine große Puppe«, sagte er und versuchte höhnisch zu grinsen.
Kate wusste sofort, dass der Reporter in das Filmsternchen vernarrt war, und kam sich unerklärlicherweise betrogen vor. Diese Stadt setzte ihr zu. »Arrivederci, Roma« hatte einen hypnotischen Zauber. Sie raubte Kate den Verstand.
Ihre Kehle prickelte vor rotem Durst.
»Aber selbstverständlich wird er über mia cara schreiben.« Der Graf ließ einen Arm um den Italiener gleiten. »Wir brauchen hübsche kleine Wörter unter den ganzen großen Fotografien. Das gehört sich so.«
Kate fragte sich, ob Marcello das herablassende Schnurren des Grafen missfiel. Es war Stahl in Kernassys Samt, als ob er den Reporter in der Hand hatte. Vielleicht war ein italienischer Zeitungsmann ebenso leicht zu kaufen wie jemand bei der Passkontrolle.
Der Fiat überquerte den Tiber an der Ponte Sisto und folgte dem Ferrari durch die bevölkerten Straßen des Campo de’ Fiori und der Piazza della Rotunda. Autohupen tönten ein Arrangement von Spike Jones, akzentuiert durch unverschämtes Geschrei und dankbare Rufe. Paare auf Motorrollern schossen zwischen den dahinzuckelnden Autos hindurch, junge Frauen mit Schals strahlten feststeckende Autofahrer an. Fußgänger schlenderten mehr die Straßen als die Gehwege entlang, quetschten sich zwischen Fahrzeugen hindurch, redeten unbekümmert miteinander. Unter den Laternen gab es sogar Herden blinzelnder Schafe, die von aufmerksamen Kindern getrieben wurden.
»Italienische Wagen sind fürs Tempo«, sagte Marcello, »aber italienische Städte sind nichts für Autos. Man kommt nur im Schritttempo voran.«
Auf dem Largo di Torre Argentina war ein Fußballspiel im Gange. Drei Dutzend Jugendliche traten zwischen den Spaziergängern einen Ball umher. Als der Ferrari auf den Platz bog, wurde das Spiel unterbrochen, und die Fußballer drängten sich lärmend darum. Kate fragte sich, welches Fahrgestell sie mehr anbeteten, das des Ferraris oder das von la Malenka.
Sie pfiffen und stampften mit den Füßen. Malenka stand im Wagen auf und winkte.
Alle wollten rote Küsse. Malenka gewährte ausgewählten jungen Kerlen diese Gunst und kostete von ihnen. Sie leckte sich das Blut von den Lippen und machte eine Geste, mit der sie die Menge teilte. Sie konnten weiterfahren.
Bewundernde Rufe folgten ihnen.
Kates Zähne waren scharf, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Ein lästiges Bedürfnis meldete sich. Ein Vampir zu sein hieß, mit einer Art Sucht zu leben: nach Blut. Ein paar Tropfen genügten, um die Gier anzufachen. Die Warmblütigen gierten natürlich nach Essen und Trinken und nach Luft. Aber die Gier des Vampirs war stärker, grausamer, drängender.
»Für wen schreiben Sie?«, fragte sie Marcello.
Er ratterte Namen von Publikationen hinunter, die sie flüchtig kannte. Lo specchio, Oggi, Europeo.
Kernassy lachte. »Marcello hat einmal dieselbe Story gleichzeitig an den Paese sera und den L’Osservatore Romano verkauft.«
»Sie wird wohl kaum verstehen, was daran lustig ist, Graf«, flötete Penelope. »Katie, der Paese sera ist die Zeitung der Kommunistischen Partei Italiens, und der L’Osservatore Romano gehört dem Vatikan.«
Marcello zuckte die Schultern; es war ihm wohl nicht weiter peinlich.
»Die Kirchenleute und die Roten, sie können sich auf den Tod nicht ausstehen, weißt du«, erklärte Penelope weiter.
Kate fragte sich, ob wohl jemand etwas dagegen hätte, wenn sie Penny den Hals umdrehte.
 
Der Graf hatte eine Suite im Hotel Hassler, einem barocken Überrest der Glorie der Alten Welt, oben an der Spanischen Treppe. Der Älteste gab dem Portier ein Trinkgeld, mit dem Kate vermutlich einen Monat lang ihr Pensionszimmer hätte bezahlen können.
Kate, Penelope, Tom und Marcello setzten sich in die volle Bar, während Kernassy und Malenka sich oben häuslich einrichteten. Klove trug zahlreiche Koffer aus dem Fiat zur Suite hinauf. Kate war sich ihres einen Köfferchens sehr bewusst. Penny machte eine Bemerkung darüber, dass sie mit kleinem Gepäck reise, womit sie - zutreffend - auf eine armselige Garderobe anspielte.
Marcello und Tom tranken Espresso, und Penelope bestand darauf, dass Kate das Angebot für Vampire probierte. Sie rief einen gut aussehenden jungen Ober mit ausdruckslosem Gesicht herüber. Er trug eine schmal gestreifte Weste und sehr enge schwarze Hosen. Penny bestellte ein Glas für sich - nur zur Geselligkeit, sagte sie - und eines für Kate.
Der Ober öffnete geschickt einen Druckknopf an seiner Manschette und krempelte den Ärmel hoch. Um seinen Ellbogen war eine Aderpresse gebunden, und in einer dicken Vene an seinem Unterarm steckte eine Stahlnadel, die durch ein kurzes durchsichtiges Kunststoffröhrchen mit einem Hahn verbunden war. Er öffnete den Hahn und ließ einen kleinen Spritzer seines Blutes in ein schmales Cocktailglas laufen. Penelope machte viel Aufhebens darum, zu schnuppern und zu kosten, dann bedeutete sie ihm fortzufahren. Der Ober schüttete je zwei Fingerbreit des roten Saftes über Eis und einen Limonenschnitz. Penny gab ihm eine Handvoll Lire und winkte ihn fort. Viel Vampirkundschaft konnte er nicht bedienen, bis er wiederbelebt werden musste. Kate fragte sich, wie viele Nächte in der Woche er arbeitete. Vertröpfelten hier verarmte Leute aus dem Süden ihr Leben, um ihren Familien Geld schicken zu können? Oder wurden sie alle von einem wählerischen Management sorgfältig unter die Lupe genommen?
Penelope hob ihr Glas und lächelte. Ihre zierlichen Fangnadeln waren verlängert.
»Wohl bekomm’s.« Sie stieß mit Kate an und nahm einen Schluck.
Kate sah zu Marcello und fragte sich, ob ihn dieser Anblick wohl abstieß. Sie konnte es nicht sagen. Er hob in der Parodie eines Prosits seine winzige Kaffeetasse.
Ihre drei Begleiter sahen sie alle an, als sie den Cocktail probierte.
Es war wie ein Hammerschlag. Sie hatte seit Wochen kein Menschenblut gehabt. Sie zwang sich dazu, es nicht hinunterzustürzen. Es war gehaltvoll und würde sie betrunken machen, wenn sie es rasch trank. Sie genoss einen pfefferigen Mundvoll, bewegte ihn am Gaumen, schluckte dann sittsam.
»Signorina Reed, stimmt es, was man über italienische Männer sagt?«, fragte Marcello. »Ist unser Blut heiß?«
»Das hier nicht«, sagte sie. »Es ist mit Eis.«
Marcello lächelte mit aufrichtiger Liebenswürdigkeit.
»Das geht nicht anders«, sagte Tom. »Sonst würden Sie in Flammen aufgehen.«
Kate spürte eine gewisse Pingeligkeit bei Penelopes amerikanischem Freund. Wenn ihm öffentliche Zurschaustellungen von Vampirismus nicht gefielen, warum war er dann mit Penny zusammen? War er eifersüchtig, weil sie das umgefüllte Blut eines anonymen Obers trank anstatt seines direkt vom Fass?
Sie würde eine Weile brauchen, um aus diesen ganzen Leuten schlau zu werden. Falls man sich nach heute Nacht überhaupt wiedersah. Penny würde sie mit Freuden für den Rest ihres Aufenthalts aus dem Weg gehen, und Tom zog es sicher auch vor, sie nicht ständig um sich zu haben, aber Graf Kernassy war für einen der ganz Alten doch ziemlich nett. Und Marcello …
Malenka kam in einem neuen Kleid in die Bar geschritten und erregte großes Aufsehen.
 
Kate ging davon aus, dass sich die Via Veneto nicht so leicht von Malenka aus dem Häuschen bringen ließ. Hier versammelten sich allnächtlich die schönsten, berühmtesten, berüchtigtsten und interessantesten Leute der Welt. Sie war sicher, Jean-Paul Sartre draußen vor dem Café de Paris erspäht zu haben, der sich unter dem Sonnensegel ganz klein machte, als Simone de Beauvoir Ernest Hemingway im Armdrücken bezwang. Audrey Hepburn und Mel Ferrer spazierten Arm in Arm vorbei, eine Horde andächtiger Gassenkinder im Schlepptau.
Aber Malenka eroberte sie alle.
Ihr Kleid aus dem Hause Massimo Morlacchi war ein Meisterwerk der Hochbautechnik. Mitternachtschwarzer Samt, tief ausgeschnitten, hoch geschlitzt, mit runden Fenstern an der Taille. Malenka gehörte zu den Vampiren, die nicht mehr atmeten. Jede Erweiterung ihres Brustkorbs hätte das Ensemble gesprengt. Um ihre breiten, weißen Schultern - sie besaß die riesigen Schultern einer Ringerin, wie Penny begeistert herausstellte - wand sich eine weiße Wendigopelzstola, als wäre noch ein Rest Leben in ihr.
Der Graf stellte seine Nichte zur Schau. Sie legte eine Hand auf seinen Arm. Ihr weißes Fleisch glühte, stellte den Ältesten restlos in den Schatten.
Kate und Penelope gingen in der unschlüssigen Begleitung von Marcello und Tom mehrere Schritte hinter der Hauptattraktion. Der getreue Klove war irgendwo in der Nähe für den Fall, dass es irgendwelche Passanten mit ihrer Aufmerksamkeit übertrieben.
Die Paparazzi waren die reinste Meute und schossen ein Foto nach dem anderen, ebenso aufdringlich wie unersättlich. Kate war sicher, auf einigen am Rand als verwischter Fleck aufzutauchen. Sie war nicht sonderlich fotogen.
Sie spazierten vom Rosati über das Strega und das Zeppa zum Doney und tranken jedes Mal etwas. Marcello blieb bei Espresso, aber Tom wechselte zu Amaretto. Penelope stachelte Kate charmant zu weiteren Vampircocktails an.
Sie wurde ziemlich betrunken. Vielleicht war ja etwas dran an diesen Geschichten über das feurige Blut italienischer Männer. Sie ließ es zu, dass Marcello sie stützte, versteifte sich aber jedes Mal, wenn sie dachte, dass sie anhänglich oder tollpatschig wirkte.
Sie trank nichts mehr. Es fiel niemandem auf. Sie hätte heute Nacht eine Nonne mit dem Brotmesser massakrieren können, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Sie wurde in Malenkas Kielwasser mitgezogen.
Bei jedem Einkehren boten junge Männer Malenka den Hals an. Manche tätschelte sie, manche biss sie, manche trank sie fast leer. Sie musste randvoll mit Blut sein, und doch war sie immer noch so weiß wie Knochen und Eis. Kate bekam mit, dass ein junger Kerl in ihren Armen kalt wurde und beinahe starb, selig, ohne jede Klage.
Bei jedem Café und in den Straßen war Musik. Orchester, tragbare Plattenspieler, kleine Transistorradios. Summende, singende, stampfende, jubelnde Leute. Ein lästiges Lied war allgegenwärtig. Als Kate begriff, wie es hieß, war sie geistesgegenwärtig genug, entgeistert zu sein.
Malenka segelte auf dem Rhythmus dahin. Alle paar Sekunden blieb sie stehen und machte drei plötzliche Stöße mit den Hüften und den Ellbogen.
Cha-Cha-Cha …
»Es ist für die Hochzeit«, erklärte ihr Penelope. »Peinlich, wirklich. Prinzessin Asa kann es nicht ausstehen …«
Drac-u-la, Drac-u-la …
Dra! … Cha-Cha-Cha …
Malenka tanzte im Gehen. Reiche Müßiggänger, die angeblich nichts mehr beeindrucken konnte, blieben stehen und gafften. Berühmtheiten gestatteten sich vorübergehend, Nebenrollen in der Breitwand-Technicolor-Darbietung ihres Festzugs zu übernehmen. Der Fernsehautor Clare Quilty ignorierte die vorbeiziehende Sensation ostentativ und machte eine giftige Bemerkung in Sachen Überentwickeltheit zu seiner ätherischen Vampirgefährtin Vivian Darkbloom. Der Schauspieler Edmond Purdom legte mehr Gefühlsausdruck und Begeisterung in sein Gesicht, als er auf der Leinwand je zustande gebracht hatte. Der polnische Werwolf Waldemar Daninski heulte und bellte wie der große böse Wolf in den Zeichentrickfilmen von Tex Avery.
Ebenso verblüfft wie bestürzt sah Kate zu Marcello. Ohne den Blick von Malenkas rotierendem Hinterteil abzuwenden, zuckte er die Schultern und steckte sich die nächste Zigarette an. Sie winkte mit den Fingerspitzen, um seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Er bot ihr sein Zigarettenetui an, und sie nahm eine, um den Blutgeschmack in ihrem Mund wegzurauchen. Er klappte ein Zippo-Feuerzeug auf. Sie beugte sich vor, um die Flamme anzusaugen. Sie stießen mit den Köpfen zusammen und entschuldigten sich.
Hier lief doch etwas.
Sie sah sich um. Penelope und Tom hinkten hinterher. Penny erzählte dem Amerikaner konzentriert etwas und hielt ihn beim Arm gefasst. Dort lief wohl auch etwas.
Herumstreunende Paparazzi, denen es nicht gelungen war, zu Malenka und dem Grafen vorzudringen, belästigten Marcello und Kate. Er erklärte ihnen, dass sie weitergehen sollten, weil er ein Niemand sei wie sie, aber sie schossen trotzdem ihre Fotos. Kate war klug genug, ihre Augen abzuschirmen.
»Ich muss mir auch so eine Sonnenbrille zulegen«, sagte sie.
Marcello lachte. »Stimmt, jeder trägt eine. Wir verstecken uns alle gern. Das ist eine römische Tradition.«
Penelope und Tom waren verschwunden. Der Graf war mit Malenka beschäftigt. Sein Versprechen, Kate nach Trastevere zu bringen, hatte sich wie die untergehende Sonne in nichts aufgelöst. So viel zum Wort eines Kernassy.
Sie dachte, dass Marcello sich vielleicht um sie kümmern würde, aber der hatte, wie alle hier, nur Augen für Malenka. Nein, seine Aufmerksamkeit war anderer Natur. Sie erkannte eine ironische Distanz. Er blieb außen vor. Er nahm alles in sich auf, um später darüber zu schreiben.
Ein bisschen wie sie.
Aber Malenka hatte ihn ebenso verhext wie die anderen Männer auch. Es musste an diesen lachhaften Brüsten liegen. Und an diesem Berg Haaren.
Ein satyrbärtiger Mann in einem Polohemd sprang aus einer Palme, warf sich auf die Straße und flehte Malenka an, über ihn hinweg zu cha-cha-cha-en. Klove klaubte ihn auf und warf ihn zurück in die Menge.
Cha-Cha-Cha …
Auf einmal war das alles extrem komisch. Kate fing zu lachen an, Marcello stimmte höflich mit ein.
»Drac-u-la … Dra! … Cha-Cha-Cha«, japste sie und machte zuckende Armbewegungen. »Cha-Cha-Cha.«
Es war alles zu albern.
Marcello bewahrte sie davor, hinzustürzen.
 
Alles verschwamm, ging rasch ineinander über. Mehr Cafés, mehr berühmte Gesichter, mehr Gedränge. Ein Sternbild aus Blitzlicht-Supernovas. Malenka wollte diese Bar besuchen, sich mit jenem pittoresken Waisenkind fotografieren lassen, das Blut eines ganz bestimmten Obers in einer gewissen ausgefallenen trattoria probieren, vor allen berühmten Fassaden Roms gesehen werden, einen verdatterten Landpriester umarmen und ihm ihre Zähne zeigen.
Kate fragte sich, wie viele Leute aus der Menge bis zum Ende dabeiblieben, weil sie hofften, dass Malenkas Wunderkleid völlig auseinanderfallen würde. Ihr Cha-Cha-Cha ließ bereits weitere Risse über den Hüften klaffen, was für große Aufregung sorgte. Es war beinahe die modische Entsprechung einer Eisskulptur, ein ebenso vergängliches Kunstwerk. Noch vor der Dämmerung würde es abfallen, und die Fotografen würden endlich die Aufnahmen bekommen, die in ihren Mappen noch fehlten.
Marcello brachte Kate dort heil hindurch. Ohne ihn wäre sie in irgendeinem Café zurückgelassen worden wie ihr Koffer (der immer noch im Hassler war, fiel ihr ein). Sie ließ sich ein Dutzend Möglichkeiten durch den Kopf gehen, ihn zu fragen, ob er etwas dagegen hätte, wenn sie ihn beißen würde, weil sie es gern auf eine Weise formulieren wollte, die deutlich machte, dass sie sich höflich und keinesfalls penetrant anbot und auch nichts vorhatte, das in die Nähe einer Vergewaltigung kam.
Er war ein bisschen böse auf sie. Jedes Mal, wenn es so schien, als ob er dichter an Malenka herankommen könnte, war sie im Weg. Als sie spürte, wie es ihm damit ging, versuchte sie sich nüchtern zu geben, aber es gelang ihr nicht. Ihre ernsthafte Miene sah wohl sehr komisch aus, denn Marcello musste wider Willen lachen.
Die Cocktails hatten nicht geholfen. Der rote Durst war weg, aber das Sehnen war noch da. Blut reichte nicht. Es war sehr zivilisiert und auf der Höhe der Zeit, es in ein Glas zu füllen und wie ein stärkendes Getränk zu sich zu nehmen, aber sie sehnte sich nach menschlichem Kontakt, nach empfindsamer Haut unter ihrem Mund, nach etwas, in das sie die Fänge schlagen konnte, nach den Seufzern in ihren Ohren, dem widerstandslosen Körper in ihren Armen, dem Ansturm von Gefühlen.
Sie war albern, war fast ebenso dümmlich und plump wie Malenka. Penelope brauchte sich dieses ganze Fratzenschneiden nicht anzutun, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Oder Geneviève, die war Französin und musste nur jemanden ein paar Minuten lang ignorieren, um ihn für immer zu ihrem Sklaven zu machen.
Auf einmal fiel Kate auf, wie heiß es war. Mitternacht war gekommen und vorbeigegangen, aber die Nacht war immer noch mild und tropisch. Ihr brannte das Gesicht wie einer Warmblütigen. Blut pochte in ihren Schläfen, und sie war unsicher auf den Beinen.
 
Wie kam es dazu? Das Gedränge ließ nach. Ihre Schritte hallten durch leere Straßen. Malenka summte immer noch den »Dracula Cha-Cha-Cha«.
Kate fiel etwas Berühmtes ins Auge.
Der Trevi-Brunnen. Ein Figurenensemble, das König Poseidon und seine Tritonen darstellte. Wasser ergoss sich aus einer Art Muschel. Ein Triton kämpfte mit einem sich aufbäumenden Meerespferd, der andere führte ein frommes Tier. Die Meerespferde symbolisieren die unvorhersehbaren Launen der See, besagte ihr Baedeker.
Sie hatte sich für ihre »Reise nach Rom« auch einen Besuch der Piazza di Trevi vorgenommen und sogar mit dem Gedanken gespielt, fünfzig Lire zu vergeuden und sich etwas zu wünschen.
Ein Kater miaute. Er trottete elegant den Rand des Wasserbeckens entlang und schmiegte sich an Malenkas bleichen Arm. Sie nahm den Kater hoch und rieb ihr Gesicht an seinem. Sein weißes Fell passte exakt zu ihrer Stola.
»Armer kleiner Streuner«, sagte sie. »Er muss Milch bekommen.«
Es war ein Befehl. Sie sah Graf Kernassy an, der Marcello ansah.
»Es ist überall geschlossen«, sagte er. »Sogar in Rom …«
»Irgendwo nicht«, erklärte Malenka. »Man kann so ein kleines Tier nicht verdursten lassen.«
Sie machte Kussgeräusche. Der Kater kletterte ihr auf den Kopf. Dort rollte er sich zusammen, wie eine Pelzmütze mit Schlitzaugen.
»Marcello, kümmern Sie sich darum«, sagte der Graf kühl. Er hielt ihm ein paar Geldscheine hin. Marcello steckte sie ein.
Kate war das peinlich. Marcello zog sich höflich zurück, um auf die Suche nach Milch zu gehen, aber hinter seiner Sonnenbrille kochte er. Ihr wurde klar, dass er ebenso sehr ein Haustier war wie dieser unvermittelt adoptierte Kater, und das bereitete ihr ein schlechtes Gefühl, um seinetwillen, um ihretwillen.
Sie hatte mehr mit ihm gemeinsam als mit diesen Leuten.
Malenka hüpfte auf den Beckenrand. Der Kater rutschte ihr vom Kopf und landete wenig überraschend in ihrem Dekolleté, glitt in das gemütliche fleischige Tal. Malenka tippelte wie eine Seiltänzerin den Rand entlang, trat dann ins Wasser. Es ging ihr bis zu den Schenkeln. Ihr Kleid breitete sich aus wie eine Seerose.
Der Kater bekam es mit der Angst zu tun. Er schrie und kratzte. Malenka biss ihm in den Nacken und schleuderte ihn weg. Sie wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund.
Sie würden keine Milch mehr brauchen.
Kate setzte sich auf eine Steinbank. Ihr drehte sich der Kopf.
Was immer der Kater gespürt hatte, es machte sie ganz kribbelig. Ihre Krallen begannen zu wachsen.
Malenkas Laune änderte sich erneut. Sie watete durch das Becken, beschwor den Grafen, sich ihr anzuschließen, ließ sich das Wasser auf das Haar, das Gesicht, die Brust prasseln.
»Hier sind Münzen. Du kannst nach Schätzen tauchen.«
»Du bist mio tesoro, cara.«
Malenka drapierte sich über ein Meerespferd, zeigte mit den Brüsten zu den Sternen.
Einer der Ober mit den Cocktails vorhin litt anscheinend an einer fieberhaften Erkrankung. Kate fühlte sich ganz und gar nicht gut. Eindrücke schossen ihr durch den Kopf, explodierten wie Blitzbirnen. Eine heiße, staubige, leere Landschaft. Lachende, berühmte Gesichter. Ein bedrohlicher scharlachroter Schatten.
Sie legte sich auf die Bank, mit pochenden Kopfschmerzen.
Irgendetwas Schnelles und Rotes kam auf die Piazza gesprungen. Kernassy fuhr herum, mit wirbelndem Umhang, und wurde angegriffen. Der Älteste wurde hochgehoben und in den Brunnen geworfen. Sein Kopf war weg. Blut spritzte aus seinem Halsstumpf. Sein Körper taumelte rückwärts, verfing sich im Umhang. Der Kopf wirbelte durch die Luft und krachte in eins der Becken, dabei zerfiel das Gesicht zu Staub.
Kate versuchte sich aufzusetzen, aber es gelang ihr nicht.
Malenka brüllte vor Zorn; Klauen und Fänge sprossen. Sie machte einen Satz wie eine Löwin. Ein silbriges Blitzen traf ihren Busen.
Kate stand auf und wollte einen Schritt nach vorn machen. Eine Hand packte sie im Nacken und zwang sie zum Zusehen. Sie hatte schon oft den richtigen Tod über Vampire kommen gesehen. Die meisten Ältesten starben wie Kernassy, verwandelten sich sofort in Staub und Knochen, holten Jahrhunderte des Alterns und Zerfallens binnen Sekunden nach.
Das aber, was mit Malenka geschah, hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Wäre sie warmen Blutes alt geworden, hätte Malenka Fett angesetzt. In ihrem Körpertyp lag eine Reife, eine Bereitschaft anzuschwellen. Nun wölbten sich die Speckschichten unter Malenkas Haut, trieben ihr Gesicht auf, ihren Bauch, ihre Schenkel, ihren Körper, ihre Arme. Sie ging auf wie ein Ballon, platzte wie eine Wurst in kochendem Wasser. Weißes, von roten Adern durchzogenes Gewebe brodelte aus ihrer zerrissenen Haut. Ihr Kleid explodierte.
Malenka kochte über. Ihre Wangen erweiterten sich und mit ihnen ihre Stirn, ihre Kinnlinie, ihre Kehle, sogar ihre Lippen. Ihre Augen starrten in Panik aus dem Grund ihrer Fleischquellen, voller Flehen. Kate quälten Schuldgefühle, dass sie dieser Frau so kleinliche Verachtung entgegengebracht hatte. Blut troff aus Malenka, zusammen mit Massen von Fettzellen. Ihre Hände waren gigantisch, das Fleisch hing ihnen von den Rücken und den Fingern.
Kate wurde festgehalten wie ein Kätzchen. Eine riesige Hand war in ihre kurzgeschnittenen Nackenhaare gekrallt. Sie sah nach unten. Der Umhang des Grafen trieb auf dem Wasser wie eine Spanne schwarzer Entengrütze. Münzen lagen auf dem Beckengrund wie verstreute Augen.
Sie stützte sich mit vergleichsweise winzigen Händen auf der niedrigen Steineinfassung ab.
Opernhaftes Gelächter brandete durch die Piazza di Trevi und zum Quirinal hinauf. Der Mörder schwelgte in triumphaler Heiterkeit. Das Rauschen des Brunnens war einen Moment lang nicht zu hören.
Sie wurde langsam nach vorn gedrückt. Ihre Ellbogen begannen in die falsche Richtung umzuknicken. Ihre dicken Brillengläser, die mit Tropfen bekleckert waren, rutschten ihr die Nase hinunter und machten alles noch verschwommener. Fangzähne schärften sich in ihrem Mund, eher ein instinktiver Verteidigungsmechanismus als eine Reaktion auf vergossenes Blut. Sie spürte nicht den Anflug von rotem Durst, nur Ekel und Verwirrung.
Der Mörder zwang gleichmäßig ihr Gesicht Richtung Wasser, als wolle er dieses Kätzchen ersäufen. Vielleicht nahm er an, dass sie einem Geblüt angehörte, das anfällig gegen fließendes Wasser oder, angesichts der nahen Kirche Santa Maria in Trivio, Weihwasser war. Wenn ja, dann täuschte er sich. Sie war nicht einmal katholisch: Wasser, das der Papst dreimal gesegnet hatte, machte sie einfach nur nass.
Kernassys fleischloser Schädel grinste aus einem der oberen Becken. Seine leeren Stiefel lagen zwischen Münzen. Fäden alten Blutes trieben im Wasser, ohne sich zu vermischen, das verderbte Blut derer von Dracula. Es wurde vom Becken abgesaugt und von den Düsen wieder ausgespuckt, stürzte herab wie toter Regen.
Mit dem Gesicht dicht über der Wasseroberfläche, benommen von dem Gestank des verdorbenen Blutes, konzentrierte Kate sich auf das sich kräuselnde Spiegelbild des Mörders: scharlachrote Kapuze, schwarze Dominomaske, tunnelgroße Nasenlöcher, Burt-Lancaster-Grinsen. Sein freier, extrem muskulöser Oberkörper glänzte von Öl.
Ihre Hände glitten vom Beckenrand und klatschten in kaltes Wasser. Sie wurde nach vorn gestoßen und krachte mit der Brust gegen Stein. Ihre Brille fiel herunter ins Wasser. Ohne Sehhilfe sah sie im bewegten Wasser einen dunklen Umriss. Ihr eigenes, selten erblicktes Spiegelbild. Es war nicht völlig verschwunden wie bei manchen Vampiren, auch nicht gestohlen worden wie Peter Pans Schatten. Aber seit ihrer Verwandlung war es schwer auszumachen. Nur unter außergewöhnlichen Umständen wie dem bevorstehenden richtigen Tod kehrte ihr Spiegelbild zurück.
Einen verrückten Moment lang war sie abgelenkt. So sah sie also mit kurzen Haaren aus. Nicht schlecht. Sehr modern, wie eine Art existenzialistische Jeanne d’Arc. Seit den zwanziger Jahren schon hatte sie Lust gehabt, sich das taillenlange rote Geschnür abzuschneiden. Erst jetzt, wo in Europa kurzgeschnittene Bubiköpfe in Mode waren, hatte sie es gewagt, ihre Friseuse zu bitten, die Silberschere zu schwingen.
Der Mörder, der lachte wie ein Dämon des Hohns, presste ihr ein Knie ins Kreuz, nagelte sie am Beckenrand fest. Er ließ ihren Nacken los. Sie griff nach hinten und tastete über sein muskulöses Bein. Er trug dicke Strumpfhosen.
Sie wurde von einem mexikanischen Ringer umgebracht. Das war so absurd, da fiel einem nichts mehr ein.
Er würde ihr noch die Rippen brechen, wenn er so weiterdrückte. Würde ihr ein gebrochener Knochen das Herz durchstoßen, wäre sie tot. Wieder einmal. Nur diesmal richtig.
Der Mörder war kein Vampir. Er konnte es an Kraft mit den meisten Ältesten aufnehmen, aber seine Hand war heiß, schweißig. Sie spürte den kräftigen Puls in seinem Schenkel. Er war warmblütig, lebendig.
Die Geräusche ihres Körpers waren deutlicher als das Tosen des Wassers. Blut pochte in ihren Ohren. Knochen krachten in ihrer Brust. Ihr gespiegeltes Gesicht, das nun sogar für ihre getrübten Augen scharf war, sah sie panisch an, hasenäugig. Sie sah sehr jung aus, wie das fünfundzwanzigjährige Naivchen, das sie 1888 gewesen war. Sie hatte große Schmerzen, was sie nicht gewohnt war.
Der Druck auf ihr Kreuz ließ etwas nach. Das Gelächter verstummte.
Kates erster Gedanke war nicht, sich zu retten, sondern zu verstehen - ein Grundinstinkt aller Journalisten. Sie fischte ihre Brille aus dem Wasser und setzte sie auf.
Sie konnte sich immer noch nicht aufrichten. Selbst als sie den Kopf so weit in den Nacken legte, wie es nur ging, vermochte sie nicht über das breite Becken hinwegzusehen. Auf der anderen Seite des Wassers spiegelte sich noch ein Gesicht.
Ein kleines Mädchen lugte über die Kante. In seinem kopfstehenden Gesicht schwamm ein Mund mit heruntergezogenen Mundwinkeln über einem traurigen Auge. Die Kleine hatte langes Haar, so blond wie Geneviève. Die Wellen ließen sie schimmern, als schüttele sie feierlich den Kopf. Eine Träne kroch ihr die hohle Wange hinauf.
Kate überlegte, wie man auf Italienisch bloß »Lauf weg« sagte.
»Va!«, versuchte sie zu rufen, aber es kam nur ein Japsen heraus.
Die Kleine rührte sich nicht. Sie war ein Geist im Wasser, hing fest in der Zeit.
Der Mörder nahm sein Knie von Kates Rücken. Sie versuchte, ihre Vampirfähigkeiten zusammenzunehmen. Krallen glitten leicht aus ihren Fingern. Ihre Zähne wurden Fänge. Stärke regte sich in ihren Gliedern.
Sie sprang auf, machte einen Satz auf den Beckenrand, fuhr herum und schlug ihre Krallen in … nichts.
Der Mörder war verschwunden, wie weggezaubert. Kate sah über die Piazza nach dem kleinen Mädchen. Sie hörte das schnelle Patschen seiner Füße, als es die Via della Muratte hinunterlief, und sah nur noch kurz seinen Schatten ins Riesenhafte vergrößert auf einer Wand. Das tosende Rauschen des Springbrunnens kehrte wieder zurück, erfüllte ihre Ohren.
Ihr Zornausbruch verflog, ihre Zähne und Krallen zogen sich zurück. Statt Kampfeszorn blieb nur Verwirrung zurück. Sie hatte eindeutig irgendetwas verpasst. Sie stand allein auf der Piazza di Trevi, neben den endgültig Toten.
Dann kam Marcello mit der Milch zurück. Er stellte die Flasche sanft auf das Pflaster und kam herüber zu ihr. Am Himmel dämmerte es. Kate hasste sich dafür, ein lebendes Klischee abzugeben, aber sie wurde in seinen Armen ohnmächtig.

2

Im Geheimdienst Ihrer Majestät

Sie schob seinen Rollstuhl auf den breiten Balkon und stellte ihn in den tiefen Schatten. Beauregard begrüßte die ihn einhüllende Dunkelheit, als wäre sie eine kuschelige Decke. In seinem Alter würde ihn direkte Sonneneinstrahlung schneller töten als Geneviève, und sie war eine Vampirin. Sie stellte seinen Tee in Reichweite. Grüner Gunpowder. Er ernährte sich praktisch davon.
Vom Schatten aus sah er ins graue Licht hinaus, hinunter in die Via Eudosiana. So früh am Morgen waren die feinen, fast schon parfümiert duftenden Dunstschleier noch nicht ganz weggebrannt. Heiß war es bereits; es kündigte sich ein Tag an, an dem man auf den Fliesen in der Sonne Fladenbrot backen konnte.
Ein schlanker, silbriger Aston Martin stand vor dem Wohnblock geparkt. Er zog das ehrfürchtige Interesse zweier Kinder auf sich. Beauregard schloss daraus, dass der zur Dämmerung erwartete Gast auf dem Weg nach oben war.
Er hörte, wie Geneviève zur Tür ging und seinen Besucher begrüßte. Es missfiel ihr, dass er dieses Gespräch zugesagt hatte.
Sie führte den Gast auf den Balkon und zog sich in die Wohnung zurück, um ostentativ aufzuräumen, wo es nichts aufzuräumen gab. Er verstand ihre Haltung, war aber ebenso sehr aus Neugierde wie aus Pflichtgefühl einverstanden gewesen, sich mit dem Besucher zu unterhalten.
Wenn man ihn um Informationen anging, würde er auch selbst einiges erfahren. Sich für die Welt zu interessieren, hieß, noch ein Teil von ihr zu sein.
Der Vampirspion stand auf dem Balkon und zündete sich mit einem Ronson-Feuerzeug eine Zigarette an. Die Flamme rötete sein energisches Gesicht. Er atmete aus und sah auf Beauregard hinab. Sein gewitztes Lächeln enthüllte einen vorspringenden Fangzahn.
»Mein Name ist Bond«, sagte er mit einem leichten schottischen Akzent, »Hamish Bond.«
»Guten Morgen, Commander Bond«, sagte Beauregard. »Willkommen in der Ewigen Stadt.«
Der Neugeborene warf einen flüchtigen Blick über den Parco di Traiano, betrachtete die Ruine von Neros Domus Aurea (eines von Roms zahlreichen Monumenten des Größenwahns) und den unregelmäßigen Rand des Amphitheatrum Flavium, des Kolosseums. Beauregard bemerkte mit Bedauern, dass Bond keinen Blick für die Gegend hatte. Die Pflicht sollte einen nicht blind für die Aussicht machen. Tatsächlich war es in ihrer beider Profession sogar Pflicht, aufmerksam zu sein.
Obwohl er als Offizier der Marine unterwegs war, trug Bond keine Uniform, sondern war angezogen wie fürs Bakkaratspiel in Monte. Seine weiße Smokingjacke aus der Savile Row war perfekt geschnitten, lose genug, um dem aufmerksamen Beobachter die Möglichkeit eines Schulterholsters nahezulegen. Beauregard kannte diesen Mann genau, er wusste sogar, was im Holster steckte. Eine Walther PPK 7,65 mm Browning, getragen in einem Berns-Martin Triple-Draw, im Magazin acht bleiummantelte Silberkugeln. Fieses Stück.
Die Brise spielte mit einer schwarzen Haarlocke Bonds, einem Komma auf seiner Stirn. Rauch trieb von seiner Zigarette weg, einer handgemachten Orientmischung mit drei goldenen Streifen. Zu auffällig für jemanden wie ihn, zu einprägsam. Diese spezialgefertigten Glimmstängel deuteten auf eine bestimmte Einstellung hin. Hier war ein Vampir, der wusste, wie man sich in eine Smokingjacke wand, ohne den Kragen zu verknicken, der Hemden aus Seal-Island-Baumwolle trug und eine Pistole so leicht ziehen konnte wie sein Ronson-Feuerzeug aus der Innentasche. Man konnte meinen, er legte es darauf an, einen Eindruck zu hinterlassen, eine Pose für das Zielfernrohr einzunehmen.
Charles Beauregard hoffte, dass er nie so gewesen war.
Wenn irgendein Diener der Krone es verdiente, sich ins Privatleben zurückzuziehen, dann gewiss Beauregard. Nur war der Diogenes-Club - der britische Geheimdienst, wenn das nicht ein innerer Widerspruch war - keine Institution, von der man sich umkompliziert in den Ruhestand verabschieden konnte. So wurde man schon an der Vorstellung gehindert, dass seine Mitglieder ein Privatleben haben könnten. Er hatte dem Club gedient, den Großteil eines Jahrhunderts lang, und war dabei bis ins höchste Amt aufgestiegen.
Beauregard sah hinaus ins heller werdende Tageslicht, betrachtete den Anblick, den Bond bereits abgehakt hatte, den er aber als Quelle endloser Faszination empfand. Diese Stadt war älter als sie alle. Das war ein Trost.
»Sie sind so etwas wie eine Legende, Beauregard. Ich wurde unter Sergeant Dravot ausgebildet. Er spendete das Blut für meine Verwandlung. Es stammt aus einem guten Geblüt. Er spricht oft von Ihnen.«
»Ach ja, Danny Dravot. Mein alter Schutzengel.«
Beauregard nahm einen Widerhall Dravots in Bonds voller Stimme wahr, sogar in seiner entspannten, aber bereiten Haltung. Der Sergeant brachte Fangsöhne zustande, die einiges von seinem Format hatten. Mit etwas Politur würde aus Bond ein guter Mann werden, ein verlässlicher Agent.
Dravot, in den 1880ern zum Vampir gemacht, würde bis ans Ende der Zeit ein Sergeant sein. Und dem Diogenes-Club zur Verfügung stehen.
Beauregards Leben, das beträchtliche Gewicht, das ihn an sein Bett und seinen Stuhl fesselte, war zu einem sehr großen Teil mit dem unscheinbaren Gebäude in der Pall Mall verbunden. Wenn seine Gedanken abschweiften, wie es zunehmend der Fall war, dann löschte eine fotografisch genaue Lebendigkeit die verschwommene Gegenwart aus. Oft war er unvermittelt wieder dort: in Indien 1879, in London 1888, in Frankreich 1918, in Berlin 1938.
An Gesichter und Stimmen erinnerte er sich deutlich. Mycroft Holmes, Edwin Winthrop, Lord Ruthven. Geneviève, Kate, Penelope. Lord Godalming, Dr. Seward, der Prinzgemahl. Der Kaiser, der Rote Baron, Adolf Hitler. Sergeant Dravot, immer hart auf seinen Fersen. Dracula, der immer wieder entwischt, immer wieder ein Versteck findet, niemals lockerlässt.
Ihm fiel sein versilberter Degen wieder ein. War er so protzig wie Bonds Walther gewesen? Wahrscheinlich.
Nun, es war keine Frage des Abschweifens. Es war eher ein Auswerfen der Angel, ein Versuch, sich zu erinnern. Das fiel ihm immer schwerer, was ihn erboste. Die Wildpastete, die ihm 1888 bei Simpson’s auf dem Strand serviert worden war, stand ihm sofort vor Augen, lag ihm fast auf der trockenen Zunge. Aber was es gestern Abend zu essen gegeben hatte, daran vermochte er sich nicht zu erinnern.
»Die Zentrale nimmt an, dass Sie ein Auge auf Dracula behalten haben«, sagte Bond. »Es widerspräche Ihrer Natur, lockerzulassen. Zumal wenn er so nahe ist.«
»Die Zentrale?«
Der Jargon belustigte Beauregard. Zu seiner Zeit waren die Bezeichnungen andere gewesen. Bevor er dazugehört hatte, waren sie einfach nur »die herrschende Clique« des Diogenes-Clubs genannt worden. Dann gingen ein paar Kricketspieler dazu über, sie »die Umkleide« zu nennen. Eine Zeit lang war es dann »der Zirkus«. Die Clique bestand aus ein bis fünf, normalerweise drei Personen. In den 1920ern und während des letzten Krieges, als er von seinem ersten Versuch als Privatier zurückgeholt worden war, hatte er den Vorsitz gehabt. Nun saß der junge Winthrop auf diesem Platz - jung war gut, mit dreiundsechzig!
»Bitte verzeihen Sie, Sir.«
Er hatte sich zu viele Gedanken um seine Erinnerungen gemacht und war wieder aus der Gegenwart abgeschweift. Er musste sich konzentrieren. Er brachte das hier besser schnell hinter sich, wenn schon nicht um seiner selbst willen, dann für Geneviève. Wenn er sich überanstrengte, wurde sie böse.
Sie sollte sich allmählich daran gewöhnt haben, dass er starb. Er redete lange genug davon.
»Ja, Commander Bond«, antwortete er schließlich. »Ich bin immer noch interessiert. Das ist ein Knochen, den man nicht so leicht loslässt.«
»Sie gelten als die Autorität schlechthin.«
»Dem alten Trottel ein bisschen Honig um den Bart schmieren, hm?«
»Ganz und gar nicht.«
»Sie wollen etwas über ihn erfahren? Über Dracula?«
Wenn er seine Memoiren veröffentlichen würde - ein Unternehmen, das ihm gesetzlich verboten war -, dann würde er sie Anni Draculae nennen, die Draculajahre. Der Verbannte im Palazzo Otranto war der bestimmende Einfluss seines überlangen Lebens. Was ihm am Sterben am wenigstens gefiel, war, dass er vor dem Grafen abtreten und nicht dabei sein würde, wenn dem König der Vampire ein Ende gemacht würde.
»Dragulya«, wiederholte er und zog den Namen in die Länge, wie es Churchill immer tat. »Wie wäre dieses Jahrhundert verlaufen, wenn es ihn nicht gegeben hätte? Haben Sie Stokers Buch gelesen? Darüber, wie man ihn gleich am Anfang hätte aufhalten können?«
»Ich habe nicht viel Zeit zum Lesen.«
Weil er zu viel damit zu tun hatte, warmblütigen Weibern hinterherzulaufen und sich Ärger einzuhandeln, hätte Beauregard wetten können.
»Das halte ich für einen Fehler, Commander Bond. Aber ich hatte ja vielleicht auch immer viel Zeit. Ich habe alles über Dracula gelesen, Dichtung und Wahrheit. Ich weiß mehr über ihn als sonst ein Mensch.«
»Mit Verlaub, Sir, aber wir haben Leute in Draculas nächster Umgebung, die seit Jahrhunderten dort sind.«
Eine der fixen Ideen Winthrops war es gewesen, Vampirälteste zu rekrutieren, die ihren principe bespitzelten. Also hatte Diogenes es endlich hinbekommen. Es gab Maulwürfe in der Karpatischen Garde.
»Ich sagte Mensch.«
Er lachte glucksend. Das bereitete ihm Schmerzen in der Brust. Sein Lachen ging in ein Husten über.
Geneviève, die auf übernatürliche Weise jedes Pfeifen und jeden Krächzer mitbekam, teilte die Vorhänge und kam durch die Balkontür getreten. Sie war bildschön in ihrem ärmellosen cremefarbenen Polohemd, dem umgehängten Pullover und den violetten Torerohosen. Rote Flecken auf den kalkweißen Wangen zeugten von ihrem Zorn. Sie bedachte Bond mit einem frostigen Blick und kniete sich neben Beauregard, begluckte ihn wie eine französische Gouvernante. Sie zwang ihn dazu, die Tasse an den Mund zu heben und einen Schluck von dem Tee zu trinken, den er vergessen hatte.
Wenig verlegen lehnte Bond an der Balkonbrüstung und ließ Rauch aus seinen Nasenlöchern wehen. In seinen harten Augen glitzerte mildes Sonnenlicht. Um für den Diogenes-Club zu arbeiten, hatte er gewiss lernen müssen, grausam zu sein. Vielleicht hatte er den Knoten schon immer in sich getragen, der nur darauf gewartet hatte, gelöst zu werden. Er war warmen Blutes rekrutiert und auf wissenschaftliche Weise verwandelt worden, per Tubus und Transfusion, dann ausgebildet und zu der Waffe geformt worden, die man für diese Arbeit brauchte. Noch so eine von Winthrops Ideen.
»Charles, chéri, so darfst du nicht weitermachen.«
Geneviève schimpfte oder jammerte nicht. Sie machte ein Affentheater, wusste aber ganz genau, wie viel sie für ihn tun konnte und wie viel nicht. Sie legte kurz ihren Kopf in seinen Schoß, damit er die rosafarbenen Tränen in ihren Augen nicht sah. Ihr honigblondes Haar fiel über seine schmalen, von dicken Adern bedeckten Hände. Seine Finger zuckten von dem Impuls, sie zu streicheln.
Bond betrachtete die beiden.
Sein aufflammendes Einfühlungsvermögen, das Beauregard während seiner Laufbahn entwickelt hatte und das noch durch die Spuren, die Geneviève in ihm hinterlassen hatte, verstärkt worden war, verriet ihm, was Bond dachte. Eine pflichtbewusste Enkeltochter. Nein, Urenkeltochter.
Sie war bei weitem älter als er, aber ihm waren sämtliche Jahre anzusehen, die sie an sich hatte abprallen lassen. Geneviève war 1432 verwandelt worden, im Alter von sechzehn Jahren. Nach fünf Jahrhunderten wirkte sie nicht älter als zwanzig. Vorausgesetzt, man sah ihr nicht zu genau in die Augen.
Es dauerte frustrierende Sekunden, bis ihm wieder einfiel, wie alt er eigentlich genau war. Er war 1853 geboren, 1953 hatte ihm die neue Königin ein Telegramm geschickt. Und jetzt hatten sie …? Endlich fiel es ihm wieder ein, wie immer: 1959. Er war hundertfünf Jahre alt; hundertsechs im nächsten Monat, August. Er mochte zwar nicht gerade so alt aussehen - eine weitere Wirkung ihrer Küsse, das war ihm klar -, aber alt war er zweifelsohne, innerlich wie äußerlich, ein wandelndes Gespenst seines jüngeren Selbst.
Den Schmerz hatte er schon fast hinter sich gebracht. Vor zehn oder zwanzig Jahren hatte er mit all den Schmerzen und Unannehmlichkeiten des Alters kämpfen müssen, aber sie hatten nachgelassen. Sein Körper verlor die Angewohnheit zu empfinden. Manchmal fühlte er sich wirklich wie ein Gespenst, das durch ein schwachsinniges Medium mit der Welt kommunizierte und nicht in der Lage war, seine Botschaft herüberzubringen. Nur Geneviève verstand ihn, vermittels einer Art natürlicher Telepathie.
Er brachte sein Husten unter Kontrolle.
»Sie sollten besser gehen«, sagte Geneviéve entschieden zu Bond.
»Schon gut, Gené. Es geht mir gut.«
Sie sah zu ihm auf, sah ihn forschend an aus ihren blauen Augen. Der Trick bei Geneviève war, nicht zu lügen. Sie merkte es immer. Pamela, seine Frau, war genauso gewesen. Diese Gabe besaßen nicht nur Vampire.
Der Trick war, seine Wahrheit zu sagen.
»Du kannst es auch nicht darauf beruhen lassen, Liebste«, sagte er.
Sie sah weg, und er streichelte ihre weichen, feinen Haare. Die elektrisierende Berührung trug ihn zurück zu ihrem ersten Mal miteinander, zu den prickelnden Mustern ihrer Zähne und Nägel auf seiner Haut, zum Kitzeln ihrer Katzenzunge auf den Liebesmalen.
»Unsere Geneviève war die erste Frau, die je ihren Fuß in den Diogenes-Club gesetzt hat, Commander Bond. Die erste Frau, die der herrschenden Clique gegenübergestanden hat. Erscheint Ihnen das rückständig? Vorsintflutlich?«
»Eigentlich nicht.«
»Sie sollten sie befragen. Sie hat den Knochen auch nicht losgelassen. Den Draculaknochen. Und sie ist eher in der Lage, etwas gegen ihn zu unternehmen, als ein lebendes Fossil wie ich.«
»Er sollte tot sein«, sagte Geneviève. »Er sollte schon lange tot sein. Richtig tot.«
»Da würden Ihnen viele beipflichten«, sagte der Neugeborene.
Geneviève stand auf und sah dem jungen Vampir ins kantige, attraktive Gesicht. Er hatte verheilte Narben.
»Viele hatten die Gelegenheit, dem ein Ende zu setzen. Ihm ein Ende zu setzen. Einmal, da sind wir … Sie kennen diese Geschichte natürlich.«
Beauregard verstand Genevièves Bitterkeit.
1943 war es den Alliierten ratsam erschienen, zu einer finsteren Übereinkunft zu kommen. Daraufhin hatte Edwin Winthrop das Croglin-Grange-Abkommen ausgehandelt, das den Vampirkönig in den Krieg brachte. Der Jüngere, der nicht durch, wie er es selbst nannte, »viktorianische Vorstellungen« behindert war, wollte bereitwillig die Verantwortung und die Schande auf sich nehmen. Beauregard hatte diese Politik trotz allem gebilligt. Selbst Churchill, der Dracula ebenso verabscheute wie Hitler, schloss sich der Allianz an, auch wenn er dem Grafen nie die Hand schüttelte. Beauregard hingegen hatte das getan und sich von dem grausamen Lächeln des Vampirkönigs abgewandt. Seine persönliche Niederlage, bereitwillig dargebracht, hatte einem größeren Sieg gedient.
Wie gut, dass Geneviève damals in Java gewesen war, fern vom Lauf der Geschichte. Sie hätte alles getan, um Dracula die Kehle herauszureißen.
»In diesem Jahrhundert hat man Vlad Tepes nicht verstanden«, sagte Geneviève. »Man meinte stets, ihn mit Zugeständnissen beschwichtigen zu können. Er war nie ein Politiker wie Lord Ruthven. Er ist ein Mann des Mittelalters, ein Barbar. Sein Thron wurde auf einem Berg von Schädeln errichtet.«
Die Kriege dieses modernen Zeitalters unterschieden sich von denen früherer Jahrhunderte. Zum Teil wegen neuer Waffen, die einen weltweiten Konflikt nicht nur möglich, sondern unausweichlich machten. Zum Teil wegen des »Wandels«, der Ausbreitung des Vampirismus, die mit Draculas Auftauchen in der westlichen Welt ihren Anfang genommen hatte. Ohne Vampire, da war Beauregard sich sicher, hätte es die Nazis nie gegeben; wenn Dracula überhaupt je einen Thronerben gehabt hatte, dann Hitler. Zwar hatte die Endlösung ebenso dem Geblüt derer von Dracula gegolten wie den Juden, aber Hitler hatte beabsichtigt, sich zu verwandeln, sobald sein Reich total geworden war, um die vollen tausend Jahre zu überdauern. Die Erschaffung einer unsterblichen Herrenrasse durch Wissenschaft und Magie war ein deutsches Projekt, das bis in den Ersten Weltkrieg zurückreichte, und ironischerweise eine Vision, die Dracula und Hitler teilten. Wäre sein Blutgeschlecht nicht von den Nazis als unrein klassifiziert worden, hätte Dracula sich mit ihnen verbündet.
»Man hat ihn zum Verbündeten gemacht«, sagte Geneviève kühl.
Bond zuckte die Schultern. »Stalin war auch unser Verbündeter. Und nach Jalta dann die Inkarnation des Bösen. Für Politik bin ich nicht zuständig, Mademoiselle. Darüber zerbrechen sich klügere Leute als ich den Kopf. Für mich heißt es einfach nur es schaffen oder sterben, vorzugsweise Ersteres.«
»Wie man sieht, sind Sie schon einmal gestorben.«
»Natürlich. Sie wissen doch, wie man sagt …«
»Nein. Was denn?«
»Man lebt nur zweimal.«
Geneviève stand auf, eine Hand auf Beauregards Schulter. Er war ihre letzte Fessel, dessen war er sich bewusst. Wenn er nicht mehr war, wozu würde sie sich dann hinreißen lassen?
»Bitte verzeihen Sie, dass ich es ohne Umschweife sage, Commander«, erklärte sie. »Aber manche von uns haben wenig Zeit. Was genau wollen Sie hier in Erfahrung bringen?«
Der Spion konnte keine offene Antwort geben. Winthrop dachte nach wie vor im Zickzack, und sein Agent wusste vielleicht gar nicht, worum es bei seiner Mission ging.
»Ich schreibe einen Bericht über die königliche Verlobung.«
»Dann sind Sie wohl ein Klatschkolumnist?«
Bond lächelte, entblößte scharfe Zähne. Mit einem Anflug von Amüsiertheit bemerkte Beauregard, dass der Neugeborene angetan von Geneviève war. Wenn sie es richtig anstellte, hatte sie eine Eroberung zu verzeichnen.
»Dank Beauregard und Leuten seines Schlags wissen wir eine Menge über Dracula«, sagte Bond. »Sie irren sich, wenn Sie denken, wir hätten nie versucht, ihn zu durchschauen. Er steht seit den 1880er-Jahren im Licht der Öffentlichkeit. Wir wissen, wie er denkt. Wir wissen, was er will. Es geht immer nur um Macht. Noch als er warmblütig war, betrachtete er sich als Eroberer. Er hat sein Blutgeschlecht an ein ganzes Heer von Nachkommen weitergegeben. Jedes Mal, wenn er heiratet, soll das seine Sache voranbringen, seine Machtbasis vergrößern.«
Er hörte Edwin Winthrop aus Bonds Worten heraus. Dies war Winthrops Weltsicht. Beauregard konnte sie nicht gerade verwerfen, aber er war während der Zeiten von Hitler, Mussolini und Stalin zu der Erkenntnis gekommen, dass der Graf keinen einzigartigen oder auch nur ungewöhnlichen Typus darstellte. Der kälteste Gedanke, der sich je in ihm breitgemacht hatte, war, dass Dracula am Ende erfolgreich gewesen war. Jedes Land der Erde - Großbritannien nicht ausgenommen - handelte, als würde es vom Vampirkönig regiert.
»Die Prinzessin ist es, über die wir nichts wissen«, fuhr Bond fort und atmete Rauch aus dabei. »Sie taucht mal in Berichten auf und mal nicht und hinterlässt keine deutliche Spur. Was die Zentrale gern wissen möchte, ist Folgendes: Warum Asa Vajda? Sie gehört dem Geblüt derer von Javutich an, einer beinahe ausgestorbenen Brut. Geschichte hat Dracula genug. Was er braucht, wie immer, ist Geografie. Landgüter, einen Thron, eine Feste. Wie die meisten Ältesten«, Bond versenkte seinen Blick in Geneviève, »ist auch il principe enteignet worden und ein Vagabund mit Geld. Ceauşescu wird ihn sicher nicht wieder aufnehmen.«
Hunderte von transsylvanischen Vampiren, die die Todeslager der Nazis überlebt hatten, waren nach dem Krieg zurück in ihre Heimatländer verbracht und dort prompt von ihren warmblütigen Landsleuten ermordet worden, schändlicherweise unter den Augen der Alliierten. Nicolae Ceauşescu führte nach wie vor eine Ausrottungskampagne gegen Vampire durch, die von ihrer Liebe zur heimatlichen Scholle nicht lassen wollten - die zufälligerweise innerhalb des modernen Rumänien lag. Obwohl er ebenso viel Angst hatte wie seine sämtlichen bäuerlichen Vorfahren, erwählte der Staatspräsident sich Schloss Dracula zum Sommersitz, um seine Überlegenheit zu demonstrieren.
»Prinzessin Asa ist eine Moldawierin«, sagte Beauregard. »Dracula ist ein Wallache. Ungefähr zwei Drittel aller Vampirältesten weltweit stammen aus dem Hufeisen der Karpaten. Wenn Dracula je wieder weltliche Macht erlangen will, dann muss er dort beginnen, im heutigen Rumänien. Sobald man ein sehr hohes Alter erreicht, wird das Heimatland umso wichtiger.«
Geneviève drückte seine Schulter.
»Die Zentrale schätzt das ganz ähnlich ein, Beauregard. Aber für eine dynastische Bindung macht es wenig her. Von Rechts wegen sollte Dracula sich mit einem starken Blutgeschlecht verbinden. Gräfin Elisabeth aus dem Hause der Báthory wäre eine offensichtliche Kandidatin.«
»Sie ist Lesbierin«, warf Geneviève ein.
»Es handelt sich nicht um eine Liebesheirat, Mademoiselle Dieudonné. Sie müssen zugeben, dass es ein Abstieg ist. Von der Königin von England zu einer hinterwäldlerischen Giftziege mit Zweigen in den Haaren und Erde in den Falten ihres Totengewands?«
»Der Graf hatte schon seine Anwandlungen. Fragen Sie Mrs. Harker.«
»Wenn es ihm ums Blutgeschlecht geht, Gené, dann überrascht es mich, dass er dir nicht den Hof gemacht hat.«
Geneviève überlief ein Schauer. »Très amusant, Charles chéri.«
Bond schüttelte den Kopf. »Er hat irgendetwas vor. Dracula hat noch nie einen Zug gemacht, der ihn nicht in erster Linie auf sein Ziel zuführte. Aber was ist sein Ziel?«
»Die vollständige und restlose Unterwerfung von allem und jedem«, sagte Geneviève. »Für immer. So, nun kennen Sie sein Geheimnis. Habe ich die Fünfhundert-Francs-Frage gewonnen?«
Der Spion gab wieder sein schiefes Grinsen zum Besten. Er meinte wohl, Manns genug zu sein, um Geneviève zu bändigen. Beauregard lachte wieder und musste husten. Diesmal war es schlimmer, die reinsten Glassplitter in der Brust. Atmen war Schwerstarbeit.
»Dieses Gespräch ist beendet«, erklärte Geneviève nachdrücklich.
Sie kniete sich neben ihn, half ihm zu trinken, presste eine Hand an seine Brust, zwang ihn dazu, am Leben zu bleiben. Sie vergaß, ihre Augen zu verbergen. Er sah, wie sich Rot an den Tränendrüsen sammelte.
»Nun gut«, gab Bond sich geschlagen. »Wenn ich vielleicht noch einmal wiederkommen dürfte? Falls andere Quellen nichts hergeben sollten?«
Beauregard versuchte, mit dem Husten aufzuhören. Es gelang ihm nicht.
»Es wäre mir lieber, wenn Sie das bleiben ließen«, sagte Geneviève.
Er hätte sich gern gegen sie durchgesetzt, aber die Worte wollten ihm nicht über die Lippen kommen. Am besten überließ er ihr die Entscheidung.
»Sie finden sicher allein hinaus«, sagte Geneviève.
»Selbstverständlich.« Er drückte seine Zigarette aus. »Einen guten Tag Ihnen beiden. Sie können mich im D’Inghilterra erreichen.«
Er schlüpfte lautlos durch die Balkontür und verließ die Wohnung.
Beauregard ließ den Krampf sich im eigenen Tempo lösen. Er spuckte, Schaum trat ihm auf die Lippen. Geneviève wischte ihm das Gesicht ab, als wäre sie sein Kindermädchen.
Wie er es inzwischen kannte, ließ der Schmerz rasch nach. Seine Augen und Ohren waren immer noch scharf, aber seinen Geschmacks- und Geruchssinn hatte er fast vollständig eingebüßt. Nur noch Erinnerungen.
»Pauvre chéri«, sagte Geneviève.
Sie schob ihn nach drinnen.
 
Obwohl er erst seit zehn Jahren in der Via Eudosiana wohnte, war das Apartment mit den Anschaffungen eines Jahrhunderts gefüllt. Bücherregale bis hinauf zur hohen Decke säumten die Wände. Eine große Zahl merkwürdiger Objekte, zusammengetragen in allen Weltgegenden, sammelte sich unsortiert in den Winkeln. Geneviève fand öfter eine afrikanische Maske oder chinesische Jadefigur in einer Schachtel oder Schublade und sagte etwas über ihre Qualität oder ihren Wert. Er hatte heimlich eine Bestandsaufnahme gemacht - wenn er Listen erstellte, gefiel ihr das gar nicht - und überlegt, wer wohl am meisten von dem jeweiligen Stück hatte. Die Bibliothek würde an Edwin Winthrop gehen.
Geneviève half ihm vom Rollstuhl auf das Ruhebett in seinem Arbeitszimmer. Er wog jetzt so wenig, dass ihn sogar ein warmblütiges Mädchen hätte wie ein kleines Kind hochnehmen und irgendwo hinsetzen können. Geneviève ließ ihn so viel wie möglich allein machen. Mit der letzten Kraft seiner schwindenden Muskeln stand er, sich an ihrem Arm festhaltend, aus dem Rollstuhl auf, dann brach er mehr oder weniger auf der Couch zusammen und überließ es ihr, seine Beine zu ordnen und mit einer karierten Decke zu umhüllen.
Sie lächelte lieb. Es war wie ein Stich ins Herz. Dieses Gefühl war noch nicht verschwunden.
Manchmal nannte er sie Pamela, und sie überging es einfach. Seine Frau war nach zwei Jahren Ehe verstorben, vor beinahe achtzig Jahren. Die Hitze machte Rom der Berglandschaft Indiens sehr ähnlich, wo Pam und er gelebt hatten, während er das Große Spiel verfolgte, wie Kipling es nannte, die Schachpartie zwischen den Russen und dem Britischen Empire um die Aufteilung des Subkontinents. Der erste Kalte Krieg. Pam hatte von Anfang an gesagt, dass nichts Gutes daraus erwachsen würde, hatte ihn fortwährend angestachelt, was seine Pflicht betraf, ihn dazu gezwungen, sich zu fragen, wo diese wirklich lag. Geneviève war zwar die letzte und andauerndste seiner Liebesbeziehungen, aber seine kurze Zeit mit Pam, die Freude und das Leid, stand ihm klarer vor Augen.
Schuldgefühle ließen ihn Geneviève nur umso mehr lieben.
Er nahm ihre Hand und drückte sie, mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war.
Sie küsste seine Stirn.
Es musste ein grotesker Anblick sein, ein junges Mädchen mit einem alten Mann. Ein Lied seiner Jugendzeit war »A Bird in a Gilded Cage« gewesen. Aber Geneviève war kein Vogel im goldenen Käfig, sie wirkte nur jung, und er war eigentlich auch nicht mehr alt. Alles über hundert war unnatürlich. Ein Alter für Bäume und Schildkröten, aber nicht für Menschen.
»Ich brauche dich, Charles«, hauchte sie.
Es war keine Lüge. Es war ihre Wahrheit, die sich so, wie sie sie äußerte, nicht zurückweisen ließ.
Sie kletterte neben ihn auf die Couch. Wenn sie beieinanderlagen, war er immer noch der Größere. Lag ihr Kopf neben dem seinen, reichten ihre Füße kaum über seine Knie hinaus.
Sie küsste ihn auf die Wange und aufs Kinn, die glatt waren, da sie ihn vor einer Stunde rasiert hatte. Auf dem Kopf hatte er noch ziemlich viele Haare, aber seinen Schnurrbart trug er nicht mehr. Seine Haare hatte er ihr zu verdanken und wahrscheinlich auch sein Sehvermögen und den Großteil seiner Zähne.
Sie lockerte seinen Bademantel am Hals und öffnete den oberen Knopf seiner Pyjamajacke. Sie schnupperte an der Vertiefung seiner Kehle und bewegte die Lippen, tastete nach den alten Wunden.
Er war ruhig, die Krämpfe waren vorbei. In seinem Innersten war er erregt. Sein Blut floss schneller. Auf eine Weise, die ihn als junger Mann verblüfft hätte, genügte das.
»Das ist absurd, Gené«, sagte er leise. »Du bist …«
»Alt genug, um zehnmal deine Urgroßmutter zu sein. Du bist der jugendliche Liebhaber mit der älteren Geliebten. Vergiss das nicht.«
Ihre Fangzähne glitten in die vielbenutzten Furchen in seiner Schulter, ein gutes Stück von der Vene entfernt. Er konnte sich nie entscheiden, ob die kitzelnden Stacheln heiße Nadeln oder spitze Eiszapfen waren.
Er bebte vor Wonne. Ihre Zunge schlängelte über seine Haut. Er spürte, wie ihr Körper sich anspannte, und wusste, dass sein Geschmack in sie hineinströmte.
Früher hätte sie getrunken. Heute nippte sie.
Nein, sie kostete.
Ihm war klar, was sie da tat. Seit Jahren hatte sie sein Blut nicht mehr getrunken. Sie öffnete seine Wunden und legte ihren Mund daran und nahm nicht Nahrung auf, sondern Nährkraft, die sie aus seinem Herzen bezog und nicht von seinem Körper.
Und sie gab ihm von sich.
Er war ebenso sehr ein Vampir wie sie. Geneviève hielt ihn mit ihrem Blut am Leben. Mit der rauen, scharfen Spitze ihrer Zunge kratzte sie die Innenseite ihrer Wange auf und ließ Tröpfchen in seine Wunden fließen. Es lag in ihrer Macht, ihn dazu zu zwingen, ihr Blut zu trinken, ihn in ihren Fangsohn zu verwandeln, ihn zu ihrem Vampirnachwuchs zu machen. Aber nicht in ihrem Charakter.
Es gab drei Vampirfrauen in seinem Leben, alle von unterschiedlichem Geblüt. Geneviève konnte ebenso wenig wie Kate Reed einfach nur von ihren Geliebten nehmen. Sie musste etwas von sich zurücklassen, im Geist und im Körper. Jeder, den sie berührte, wurde von ihr verändert, beeinflusst.
Die andere hat ihn in den Hals gebissen und sich sein Blut geholt, mit ebenso viel Verachtung wie Begehren. Wenn er überhaupt an sie dachte, dann mit Mitleid.
Wie viele Jahre hatte er Geneviève zu verdanken?
Ihr Blut hatte ihn jung gehalten, ohne dass er es gemerkt hatte. Weil er es nicht hatte merken wollen. Nun wusste er, dass sie ihn am Leben erhielt. Die Männer in seiner Familie waren nicht alle langlebig. Ein Onkel hatte die neunzig erreicht, und ein Neffe lebte mit einundachtzig immer noch. Aber sein Vater war am Bombayfieber gestorben, mit achtundvierzig, und seine beiden Großväter waren bei seiner Geburt schon tot. Für ihn war hundertfünf kein natürliches Alter.
Während ihrer Verbundenheit schluchzte Geneviève leise; ihr Kummer durchströmte sein Herz.
»Nicht doch, Liebste«, sagte er, um sie zu trösten.
Er wollte die Hände heben und ihr Gesicht berühren, ihr die Tränen abwischen, aber er war ganz benommen. Sein Verstand war hellwach, aber die Glieder waren ihm schwer und reagierten nicht.
»Es spielt keine Rolle«, sagte sie.
Jetzt wäre ein guter Moment, dachte er. Ihre Wärme war in ihm, er würde sie mitnehmen. Er stellte sich vor, wie er in seinem verbrauchten Körper immer kleiner wurde, wie Spiralen aus Licht und Dunkelheit um ihn herum kreisten. Sein Gesicht brachte ein Lächeln zustande.
Geneviève riss sich unvermittelt von seinem Hals los. Er spürte die Luft auf seiner nassen Haut.
»Nein«, sagte sie mit plötzlicher Entschiedenheit, die an Egoismus grenzte.
Durch ihr Blut hatte er sie berührt. Sie wusste, was er dachte, was er empfand.
»Nein«, sagte sie erneut, sanft, flehend. »Noch nicht. Bitte.«
Seine Arme funktionierten. Sie schlossen sich um sie. Er war noch bereit zu leben.
»Dieser Mann hat gelogen, Charles«, sagte sie.
Das wusste er.
»Der macht keine Berichte. Dazu ist er nicht der Typ. Er handelt, wenn die Berichte vorliegen.«
»Braves Mädchen«, sagte er.
Als er wegdämmerte, eingelullt durch den Schlag seines Herzens, hörte er das Telefon klingeln.
»Geh … besser ran«, hauchte er.

3

Giallo/Polizia

Inspektor Silvestri gab seinen uniformierten Untergebenen in hohem, melodischem Italienisch Anweisungen zu ihrem Vorgehen auf der Piazza di Trevi. Wenn er mit Kate Englisch sprach, hatte er eine völlig andere Stimme. Eine tiefere. Sie klang flach, wie bei einem schlechten Schauspieler.
»Sie haben den Attentäter gesehen?«, fragte er. »Il boia scarlatto?«
Il boia scarlatto. Der scharlachrote Henker.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihn noch immer. Ein Gesicht, das auf der Wasseroberfläche tanzte.
»Nur sein Spiegelbild«, gab sie zu.
Silvestri machte eine Notiz. Trotz des römischen Sommers trug er die inoffizielle Uniform eines europäischen Kriminalbeamten, einen Maigret-Regenmantel in gebrochenem Weiß. Er war mittleren Alters und stämmig.
»Er hatte ein Spiegelbild?«
»Dieser Mann war kein Vampir, Inspektor.«
Zwei Polizisten hoben Kernassys Umhang aus dem Wasser wie eine Hängematte, mit seinen zerbrechlichen Überresten darin. Assistenten aus der Gerichtsmedizin fischten mit Schmetterlingsnetzen nach Brocken, die wohl Malenka hinterlassen hatte.
Das Kleid von Morlacchi war spurlos verschwunden, was Silvestri erboste. Die Verlobte oder Geliebte irgendeines der Polizisten fragte besser nicht nach der Herkunft ihres Geburtstagsgeschenks. Kate hoffte, dass es vor dem Überreichen noch gereinigt und geflickt wurde.
Gnadenlose Sonne ergoss sich auf die Piazza. Dass die Hitze so schlimm würde, hatte Kate nicht gedacht. Sie transpirierte nicht - eine merkwürdige Eigenschaft ihrer veränderten Körperchemie -, aber damit war jedes Ansteigen der Temperatur über die englische Norm nur umso unangenehmer. Sie hatte sich zu einem Geschöpf der Nacht entwickelt.
Horden von Raritätenjägern wurden mit Absperrseilen ferngehalten. Die Paparazzi, die Malenka verfolgt hatten, waren durch weniger hektische, hungriger wirkende Polizeireporter ersetzt worden. Auf der Via San Vincenzo wurde aggressiv gehupt. Trotz der Absperrungen nahm ein Kerl auf einer Lambretta eine Abkürzung über die Piazza und wurde von bewaffneten Carabinieri verscheucht.
Der Schatten, den Kate an der Seite des Brunnens gefunden hatte, wurde kleiner. Das grelle Licht tat ihr in den Augen weh. Sie spürte das Stechen der Sonne auf Gesicht und Händen und wusste, dass sie knallrot werden würde. Verbrennungsnarben von der Sonne brauchten manchmal Jahrzehnte zum Heilen. Sie hatte vorgehabt, den Tag in geschlossenen Räumen zu verbringen, wie es sich für einen Vampir gehörte, und erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder auf der Bildfläche zu erscheinen.
Sie sah sich nach Marcello um. Er unterhielt sich entspannt mit ein paar uniformierten Polizisten sowie vermutlich einigen Reportern. Sie boten sich gegenseitig Zigaretten an und lachten. Kate erkannte die professionelle Kaltschnäuzigkeit von Leuten, die dort zu Gange waren, wo sich Grausiges abgespielt hatte, ob sie nun von der Presse waren oder von der Polizei. Sie war es ebenfalls gewohnt, bei einer Zigarette zu plaudern, während man an einer kugeldurchsiebten, blutbespritzten Wand lehnte, am Tatort irgendeines Massakers.
Was hatte Marcello dem Inspektor erzählt? Sie kannten einander eindeutig. Silvestri hatte bei seiner Ankunft als Erstes den italienischen Reporter beiseitegenommen und konzentriert dessen ausführlicher, gestenreicher Darstellung gelauscht.
Einer der Männer aus der Gerichtsmedizin stieß einen Laut des Ekels aus und fischte den toten, wassertriefenden Kater heraus. Alle drückten sie ihr Mitgefühl für das arme Ding aus. Daraus ließ sich vielleicht schließen, welches Ansehen Vampire in Rom besaßen. Wie schwarze Vogelscheuchen lugten aus der Menge immer wieder Nonnen und Priester und funkelten sie missbilligend an. Die katholische Kirche würde sich mit ihresgleichen nie abfinden können.
Kate ging davon aus, dass sie die Hauptverdächtige war. Marcello war zurück auf die Piazza gekommen und hatte sie allein mit den Überresten von Graf Kernassy und Malenka vorgefunden. Er hatte den Mörder nicht gesehen, hatte nicht einmal sein albernes Lachen gehört.
Sie hatte ihre Geschichte dreimal wiederholt und einem Polizeizeichner eine Beschreibung gegeben. Sie hatten gemeinsam eine Skizze zusammengebracht, die peinlich nach einem Bösewicht aus einer Bildergeschichte aussah, mit verrücktem Grinsen und allem Drum und Dran. Wenn sie das nächste Mal beinahe umgebracht wurde, würde sie darauf achten, dass es sich um einen Täter handelte, den man ernst nehmen konnte.
»Haben Sie das kleine Mädchen gefunden?«, fragte sie Silvestri. »Es sah traurig aus und verängstigt. Es hat den Mörder gesehen.«
»Ah ja«, sagte er und täuschte die Notwendigkeit vor, sein Gedächtnis anzustrengen, indem er in seinen Notizen blätterte. »Das kleine weinende Mädchen.«
»Es können nicht mehr viele Kinder auf der Straße gewesen sein. Es wurde schon fast hell.«
»Hier sind immer Kinder auf der Straße, Signorina. Wir sind hier in Rom.«
»Sie sah aber nicht danach aus …«
Was meinte sie damit? Sie hatte nur das Gesicht der Kleinen gesehen. Nein, das Spiegelbild ihres Gesichts. Verkehrt herum. Sie konnte nicht sagen, was die Kleine angehabt hatte. Sie hatte den Eindruck, dass es sich nicht um ein zerlumptes Gassenkind handelte, sondern dass das Mädchen im Gegenteil aus einem reichen Elternhaus stammte. Altes Geld. Warum dachte sie das?
»Ihre Haare«, dachte sie laut. »Sie waren lang, sauber. Gepflegt. Frisiert. Sie hingen ihr über das eine Auge, so wie Veronica Lake sie trägt.«
Silvestris Mund blieb starr, aber er lächelte mit den Augen.
»Sie sind eine aufmerksame Beobachterin«, sagte er.
»Ich bin Reporterin. Das gehört zu meinem Beruf.«
Seine Stimme veränderte sich erneut, als er seinem Assistenten, Sergeant Ginko, in schneller Folge Befehle gab. Kate verstand ein paar Wörter. Ragazza, Mädchen. Lunghi capella, lange Haare. Veronica Lake, hui-hui.
Sie nahmen sie jetzt ernst. Gut.
»Was haben Sie noch gesehen und können Sie berichten?«
Sie hätte beinahe etwas gesagt.
Dieses kopfstehende Gesicht. Blonde Locken, trauriges Clownsgesicht, Tränen. Der Mörder, kostümiert wie ein Henker. Maske, nackte Brust, Strumpfhosen. Ein Aufblitzen von tödlichem Rot, von scharfem Silber. Kernassys Schädel, Malenkas Augen.
Was stimmte nicht an diesem Bild?
»Nur los«, ermutigte sie Silvestri. »Alles, auch wenn Sie nicht ganz sicher sind …«
»Es ist ein Puzzle«, sagte sie. »Ich versuche, alles zusammenzufügen. Eines der Teile ist falsch, aber ich weiß nicht, welches. Es tut mir leid. Das ist für mich genauso frustrierend wie für Sie. Ich habe das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Irgendein winziges Detail. Etwas, das ich gesehen habe. Aber ich komme nicht darauf. Ich muss es mir weiter durch den Kopf gehen lassen.«
Der Inspektor war nicht enttäuscht. Er schrieb seine Telefonnummer auf eine Seite seines Notizbuchs, riss sie heraus und hielt sie ihr hin.
»Wenn das Puzzle zusammenpasst, rufen Sie mich an?«
Sie nahm die Nummer.
»Ja. Natürlich.«
Silvestri klappte sein Notizbuch wieder zu. Es war sein Lieblingsrequisit.
»Sie können gehen, Signorina Katharina Reed.«
Das verblüffte sie einigermaßen.
»Sie wollen mich nicht festnehmen? Als Verdächtige?«
Silvestri lachte.
»Nein. Sie haben falsch verstanden. Sie sind erst gestern Nacht in Rom angekommen, mit demselben Flug wie il conte und seine ›Nichte‹. Das wurde durch Alitalia bestätigt. Dies waren nicht die ersten Morde.«
Trotz der römischen Sonne bekam Kate eine Gänsehaut.
»Rom ist kein sicheres Pflaster für vampiri«, fuhr Silvestri fort. »Sie sehen sich gern als Jäger der Menschen, aber hier haben wir einen Menschen, der sich gern als ihr Jäger sieht. Dieser Boia Scarlatto hat andere getötet, Einzelne und Paare. Seit dem Krieg. Alles Älteste.«
Damit gab Silvestri ihr etwas zum Nachdenken.
»Malenka war doch bestimmt eine Neugeborene. Sie wirkte so … modern.«
Silvestri schüttelte den Kopf. »Sie hatte ihre Jahrhunderte.«
Nur Vampirälteste. Warum Kernassy und Malenka töten, nicht aber Kate Reed?
Es gab kein scharf abgegrenztes Alter, ab dem man ein Ältester war. Sie ging davon aus, dass man wohl seine natürliche Lebenserwartung überleben und dann mindestens noch eine Lebensspanne hinter sich bringen musste. Nach zwei Jahrhunderten kam man langsam in die Nähe. Dracula zählte zu den Ältesten, Lord Ruthven, Geneviève. Kate war sechsundneunzig. Wäre sie warmblütig geblieben, würde sie vielleicht auch noch leben.
Charles, der zehn Jahre älter war, lebte jedenfalls noch.
Hatte das kleine Mädchen den scharlachroten Henker verscheucht? Das klang nicht besonders wahrscheinlich.
Silvestri wies seine Männer an, Kernassys Umhang auf den Boden zu legen, und besah sich die Leiche. Die Presse fotografierte die Szene mit dem berühmten Brunnen pittoresk im Hintergrund verschwommen. Der Inspektor setzte eine ernste Miene auf. Wie Malenka bot er den Fotografen verschiedene Blickwinkel. Er experimentierte mit Gesichtsausdrücken: nachdenklich, entschlossen, resolut.
Die Reporter spitzten die Ohren, als Silvestri verkündete: »I corpi presentano tracce di violenza supernaturale«, und eine Stellungnahme herunterrasselte, die sie alle eifrig mitschrieben.
Hundert Jahre altes Schulmädchenitalienisch rumpelte in ihrem Kopf herum, verdorben durch derbes Sizilianisch, das sie während des Kriegs aufgeschnappt hatte. Sie musste nicht jedes Wort verstehen, um zu begreifen, in welcher Richtung der Polizist sich erging. Die Rede am Tatort war überall auf der Welt dieselbe: Man werde alles Menschenmögliche tun und sämtliche Spuren verfolgen. Für die nahe, aber nicht weiter bestimmte Zukunft wurde eine Festnahme in Aussicht gestellt. Kate hatte dieses Lied zum ersten Mal am Tatort eines der Morde von Jack the Ripper gehört, wo es der Künstler zum Besten gegeben hatte, der es berühmt gemacht hatte, Inspektor Lestrade von Scotland Yard.
Jack war natürlich nie gefasst worden.
Kate fragte sich, ob sie Marcello sagen sollte, dass die Polizei sie als unschuldig ansah. Er war im Moment der Entdeckung erschrocken genug gewesen. Der Schock und das Misstrauen waren ihm trotz seiner Mich-kratzt-nichts-an-Sonnenbrille anzusehen gewesen. Ihr war klar, dass sich dieser Eindruck nur schwer revidieren ließe. Für ihn blieb sie vielleicht immer ein blutdurstiges Monstrum.
Mist aber auch. Irgendetwas war immer.
Sie schalt sich dafür. Zwei Leben waren zerstört worden, und sie machte sich Sorgen, wie sie einen warmblütigen Mann beeindrucken sollte, der sie jetzt sicher so attraktiv fand, wie einen toten Fisch um die Ohren gehauen zu bekommen.
Gabor Kernassy war ihr nicht unsympathisch gewesen. Und Malenka war eher lächerlich als sonst irgendetwas gewesen. Sie mochten oberflächlich gewesen sein, aber sie waren freundlicher zu ihr gewesen, als die Etikette es erfordert hätte. Sogar Malenka hatte Witz gehabt. Kate hatte über den Zirkus um das Filmsternchen schreiben wollen. Sie hätte Geld mit den beiden verdient. Wenn man den Nachrichtenwert von Mordtaten bedachte, würde sie das vielleicht sogar noch tun.
Sie waren vor ihren Augen abgeschlachtet worden.
Ein Silbermesser mit langer Klinge hatte Kernassys Kopf abgetrennt und Malenkas Herz durchbohrt. Die Polizei fand die Waffe im Brunnen, sauber gewaschen. Silvestri achtete darauf, dass sie nicht ebenso verschwand wie Malenkas Kleid.
Kate wusste, dass sie das hier nicht auf sich beruhen lassen würde. Sie hatte viel in der Stadt zu tun, hatte Sachen zu erledigen, die schon lange anstanden. Aber das hier war jetzt auch ihre Sache.
Jemand rief ihren Namen.
Einen Moment lang dachte sie, es wäre Marcello. Aber es war eine Frau.
Geneviève.
Sie stand hinter dem Absperrseil, trug einen weißen Strohhut und eine Sonnenbrille. Sie winkte Kate mit einem weiteren Hut zu.
»Sie wollen mich nicht durchlassen.« Geneviève zuckte die Achseln und lächelte. Sie sah so jung aus.
Ihre von der Sonne gebleichten Haare schimmerten. Ihr Lächeln hätte fast einem kleinen Mädchen gehören können. Ihre alten Augen waren nicht zu sehen. Sie freute sich wirklich, dass Kate hier war.
Kate hatte der Polizei die Telefonnummer gegeben. Silvestri hatte offenbar jemanden dort anrufen lassen. Das war sehr aufmerksam.
»Man hat mir gesagt, dass ich gehen kann. Ich bin unschuldig.«
»Das bezweifle ich, Kate.«
Sie sprach Englisch mit dem Hauch eines französischen Akzents.
Sie umarmten sich über das Seil hinweg, küssten einander die Wangen. Kate fühlte sich nicht ganz wohl dabei, als ob jemand zwischen ihnen stünde.
Charles natürlich.
Sie waren nur durch Charles miteinander befreundet, und vielleicht noch durch den principe. Ihre Beziehungen zueinander waren sehr kompliziert. Edwin Winthrop gehörte auch mit dazu. Und Penelope.
»Ich habe dir einen chapeau mitgebracht«, sagte Geneviève. »Ich wusste, dass du nicht an die Sonne denken würdest. Das tun Engländer nie, und dieses eine Mal nahm ich an, dass sich die Iren da nicht von ihnen unterscheiden würden.«
Ein Polizist hob das Seil hoch. Kate duckte sich darunter hindurch und nahm den Hut. Er hielt das schlimmste Licht von ihrem Gesicht fern. Kate besah sich ihre Handrücken. Sie waren rot.
»Du musst aufpassen«, sagte Geneviève, »oder du gehst hoch wie ein Feuerwerk. In diesem reizenden Klima besteht das Risiko einer spontanen Selbstentzündung.«

4

Die Rätsel von Otranto

Der Palazzo Otranto hätte ebenso gut gewachsen wie erbaut worden sein können. Er war so gelungen wie ein Schneckenhaus oder das menschliche Herz, eine architektonische Spirale. Der Hauptkorridor begann als ein Sims ganz oben im Turm, wand sich wie die Züge eines Gewehrlaufs durch das Gebäude hinab, wobei die von ihm abgehenden Räume zum Erdgeschoss hin immer größer wurden, und endete schließlich in einem kreisrunden Gang um die tiefen Keller herum. Keine Treppen, nur eine durchgehende spiralförmige Rutschbahn, die gelegentlich von einer steilen Stufe durchbrochen wurde. Die reinste Hölle für die Kniegelenke.
Der Palazzo stand in Fregene, ein paar Meilen außerhalb Roms an der Küste, zwischen Kiefernwäldern und den üblichen Ruinen. Es gab einen dem Pan geweihten Tempel auf dem Gelände. Der Dracula’sche Haushalt feierte ewige Saturnalien, ein unübersichtliches, endloses Fest, das Gäste anzog wie Fliegen.
Tom war seit dem Frühling hier und wusste nicht recht, ob er noch länger bleiben sollte. Es gab keinen besonderen Grund weiterzuziehen, und er hatte ganz bestimmt nicht vor, in den Amtsbezirk der New Yorker Polizei zurückzukehren. Er hatte die Staaten ursprünglich verlassen, weil er Fragen wegen einer albernen Geschichte vermeiden wollte, die manche Leute vielleicht als Betrug betrachten mochten, obwohl sie gar nicht lange genug gelaufen war, damit Geld für ihn heraussprang. Ein Pech aber auch. Die ausschließliche Gesellschaft von Toten vertiefte sein übliches Ennui noch. Jemand Gefährliches mochte die Verärgerung erspüren, die er hinter modischem Desinteresse zu verbergen suchte. Die Toten waren Clowns, aber zugleich auch Mörder.
Andererseits war dies das müßige, kultivierte Leben, von dem er immer angenommen hatte, dass es ihm am besten liegen würde. Allerdings gab es hier so einige Gemälde, meist in alten und überladenen Stilen, die er nicht schätzte. In seinem Turmzimmer hing ein aufgeblähtes zorniges Pferd mit Alptraumaugen. Renaissancekitsch zierte die Ballsäle; Bibelszenen, die von verfluchten Gewitterwolken und abstoßenden Akten wimmelten.
Die Toten hielten an den Moden ihrer Lebenszeiten fest. Mit Ausnahme von il principe, dessen frühe Begeisterung für Van Gogh - er war der Einzige, der dem Künstler etwas abgekauft hatte - sich im Exil immer wieder bezahlt gemacht hatte. Leinwände, die beim Kauf nichts wert gewesen waren, bildeten nun die Sicherheit für Kredite, die den Haushalt unter den reichsten Europas bleiben ließen. Diese Klecksereien, auf die Tom gern einmal einen Blick geworfen hätte, waren in Draculas Privatgemächern unter Verschluss, in den untersten Kellern.
In dieser auf den Kopf gestellten Welt befanden sich die luxuriösesten und gesuchtesten Wohnlagen tief unter der Erde, so dicht wie möglich an der Hölle, und hatten die Ausstrahlung von Grabmalen oder Grüften. Dachwohnungen, die jeden amerikanischen Millionär zufriedenstellen würden, wurden halb lebendigen Dienern und versklavten Blutspendern angedreht.
Während seiner Monate hier hatte Tom il principe nur einmal zu sehen bekommen, mit Penelope. Er blieb in seinen Räumlichkeiten und besuchte kaum einmal das Fest, dessen Gastgeber er war. Er schien ihm wie jeder andere uralte Tote mit seinem langen weißen, militärischen Schnurrbart und den dunklen Brillengläsern, die ihn an die Flügel eines schwarzen Käfers erinnerten. Dennoch bewunderte Tom Dracula, und wenn auch nur wegen seiner Begeisterung für Van Gogh. Dieser Geschmack, der einmal gewagt und radikal gewesen war, deutete auf eine Offenheit dem Neuen gegenüber hin, die für die Toten uncharakteristisch war. Und weil er - trotz seiner gegenwärtigen Lebensumstände - immer noch gefährlich sein konnte, ein Raubtier. Tom hegte Respekt für ihn. Er würde il principe in Ruhe lassen und darauf hoffen, dass Dracula es mit ihm genauso hielt.
An den Morgenden, bevor der Haushalt sich regte, nahm Tom sich eine kostbare Auszeit. Er saß gern im Kristallsaal, einem Wintergarten im Erdgeschoss, und sah durch dessen zwölf Meter hohe Glaswände zum Grundstück hinaus. Noch vor der Mittagszeit war der Raum ein Kaleidoskop aus Sonnenlicht; hier wurde Tom kaum einmal von den Toten belästigt.
Er nahm seinen Lieblingssessel in Beschlag, um die International Herald Tribune zu lesen und eine Fingerhut-Tasse bitteren, starken Espresso nach der anderen zu trinken. Die warmblütigen Diener der Tagesschicht, die selten lange blieben, setzten alles daran, ihn zufriedenzustellen. Er war kein grausamer Mensch, aber eine gelegentliche Verbeugung oder ein Kratzfuß waren doch ganz schön. Er fand, dass er sich diese Mußezeit verdient hatte. Es hatte einigen Einfallsreichtum und harte Arbeit gebraucht, hierherzukommen.
Überall tanzte Sonnenlicht, spiegelte sich in den drachenschuppenartigen Scheiben des Wintergartendachs, ließ Balken wirbelnden Staubs aufstrahlen, malte eckige Muster auf den alten Teppich. Tom spürte die Wärme auf seinem Gesicht und war versucht, die Augen zu schließen und zu dösen. Er brauchte den Tag zwar nicht in einem Sarg mit Bostoner Erde zu verbringen, aber er war immer noch die ganze Nacht über auf gewesen. Selbst der aufs Herz schlagende Kaffee konnte ihn nicht ewig wach halten. Seine Gewohnheit war es, am Nachmittag und frühen Abend Siesta zu machen, um aus dem Weg zu sein, wenn die Toten sich erhoben.
War sein Widerwille nur die Voreingenommenheit eines Amerikaners? In den Staaten gab es nicht viele lebende Tote. Die Prohibition hatte sie in den Zwanzigern nicht komplett hinausjagen können, aber sie führten weiterhin eine Existenz im Untergrund und schossen anders als in Europa nicht wie Pilze aus dem Boden. Gesetzliche Einschränkungen ihrer Praktiken wurden konsequent angewandt. Tom betrachtete sich gern als frei von den meisten Konventionen, aber irgendetwas an diesen Kreaturen ließ ihm keine Ruhe.
Er lockerte seinen Morgenmantel am Hals und öffnete die obersten Knöpfe seines Hemdes von Ascot Chang. Dickies Hemd ursprünglich. Er hoffte, etwas Farbe zu bekommen. Mittelmeerbräune würde die Bisswunden weniger herausstechen lassen. Und er wollte nicht für einen der Toten gehalten werden. Er war so viel mit ihnen zusammen, dass um ihn herum allmählich eine Wand wuchs, die ihn von den Lebenden trennte.
Erst als er nach Europa gekommen war, den Kopf randvoll mit Gruselgeschichten seiner Tante über blutsaugende Monstren an jeder Straßenecke, hatte er wirklich etwas über die Toten erfahren. So furchterregend waren sie gar nicht.
Auf seine eigene unscheinbare Weise war er ein Raubtier, das sich von den Toten nährte.
In Griechenland, wo Tom sich aus keinem sonderlich guten Grunde aufgehalten hatte, war er Richard Fountain über den Weg gelaufen, einem ziemlich jungen Neutoten. Sie kannten einander von einer Wochenendgesellschaft in den Hamptons her, zu der Tom nicht direkt eingeladen gewesen war. Dickie, der inzwischen einer lästigen Freundin und einem schrecklichen College in Cambridge entflohen war, freute sich über die Wiederbegegnung und nahm ihn mit in sein Strandhaus auf Zypern. Irgendwie war der Engländer auf die Idee gekommen, dass Tom aus einer reichen Familie stammte, von der er sich entzweit hatte und nun von ihren Schecks lebte. Tom gelang es nie herauszufinden, warum Dickie unmöglich weiter in England leben konnte, aber es hatte ihn jedenfalls nach Südosten getrieben, auf der rastlosen Suche nach etwas Undefinierbarem. Sein Kurs hatte ihn zu einem toten Bauern namens Chriseis geführt, der ihn gleich in der ersten Nacht verwandelt und in der Dunkelheit liegengelassen hatte.
Zusammen kamen Tom und Dickie ganz schön herum, hüpften von Insel zu Insel und erlebten die üblichen Abenteuer. Dickie war, bedingt durch seine kürzliche Erfahrung, von den Toten Griechenlands besessen. Er forschte überall nach Spuren von Chriseis’ Blutgeschlecht, das seiner Meinung nach bis zu den vorvolukas der jüngsten Zeit und den lamiae des Altertums zurückreichte. Das war schon zum Gähnen, aber nichts, mit dem man nicht fertig wurde. Langeweile war immer noch besser, als im Gefängnis zu sitzen. Wenn Tom eines vermeiden wollten, dann einen Knastaufenthalt. Er verabscheute die Vorstellung erzwungener Nähe, in einem beengten Raum mit einem oder mehreren anderen Männern zu sitzen, die er sich nicht aussuchen konnte.
Durch Dickie wurde Tom etwas Wichtiges über die Toten klar. Wenn ihre Zähne einem im Hals steckten und ihnen das eigene Blut durch den Mund lief, dann waren sie nicht in der Lage zu bemerken, dass man ihre Taschen durchsuchte.
In seiner Unwissenheit hatte Tom geglaubt, die Toten brauchten Blut zum Überleben wie die Lebenden Wasser. Das war falsch. Warmes Blut konnte wie Rauschgift sein oder Alkohol oder Sex oder Espresso oder Zucker. Alles von einer verzweifelten Abhängigkeit bis hin zu einer leichten Schwäche. Wenn sie der rote Durst überkam, blieb von ihrem berühmten Scharfblick und ihrer Suggestivkraft nicht mehr viel übrig.
Am Anfang entschuldigte Dickie sich dafür, Tom bluten zu lassen, und war anschließend immer zutiefst dankbar. Er kannte sich nicht aus. Jedes Mal, wenn er einen armen warmen Teufel biss, sagte er »Verzeihung«, »bitte« und »vielen Dank«. Dann begann er einen arroganten Zug zu entwickeln, als hätte er sich Tom zum Sklaven gemacht oder so. In langen, weitschweifigen Monologen erging Dickie sich kurz vor der Dämmerung im Strandhaus über die Sünde und das Böse und die Genugtuung, über die Notwendigkeit, die Sünde hinter sich zu lassen und sich das volle menschliche Potenzial zu eigen zu machen. Wörter wie »Sünde«, »böse« und »Schuld« waren für Tom bedeutungslos. Er hatte sie oft in der Schule gehört und war fasziniert von ihrer Bedeutung gewesen, aber nur in akademischer Hinsicht, als wären es unglaubwürdige wissenschaftliche Theorien, für die Jahrhunderte verschwendet worden waren. Es war ein Wunder, dass Dickie an diesem ganzen Quatsch immer noch etwas fand.
Allmählich wurde Tom klar, dass dieses Arrangement nicht ewig bestehen konnte. Er musste nach einem angenehmen Ausweg suchen.
Ein paar Tropfen Blut benebelten Dickie völlig, machten ihn ungewöhnlich beeinflussbar. Nach etwa einem Monat dieser Verbundenheit bemerkte der Tote nicht länger, wenn Tom sich Sachen dauerhaft lieh. Er trug gern Dickies englische Garderobe, die von einer Qualität war, wie er sie schätzte. Es war ein Glück, dass sie etwa dieselbe Größe hatten.
Als er den Tod akzeptierte, warf Richard Fountain sein Leben weg. Es war nur recht und billig, wenn Tom es aufhob. Er war schließlich am besten in der Lage, es zu genießen.
Am Ende wurde die Situation reichlich enervierend. Dickies empörte Verlobte spürte sie auf Zypern auf. Sie brachte Anschuldigungen vor, die Tom verletzend und beleidigend fand. Um die Sache zu klären, fuhren Tom und Dickie eines Nachts zum Reden mit einem Boot hinaus, und Tom stieß Dickie ein abgebrochenes Rundholz in die Brust. Da er noch nicht lange genug tot war, um zu Staub zu zerfallen, war er losgegangen wie verdorbenes Fleisch. Tom hatte ihn über die Seite gehievt und zugesehen, wie er unterging.
Er drehte es so, dass Dickie anscheinend auf der verrückten Suche nach dem Ursprung von Chriseis’ Blutgeschlecht zu einer nicht bestimmbaren griechischen Insel aufgebrochen sei und Tom ein kleines regelmäßiges Entgelt für die »Instandhaltung des Hauses« angewiesen hatte. Wichtiger noch, Dickie hatte schriftliche Anweisungen hinterlassen, dass Tom seine Reisegarderobe benutzen dürfe. Niemand war glücklich darüber, besonders die Verlobte und ihre Familie nicht. Die Polizei wurde eingeschaltet, aber die Ermittlungen und Unterstellungen führten ins Leere.
Dickie war bereits verstorben, also konnte keine Morduntersuchung angestellt werden. Griechenland zählte zu den Ländern, die es versäumt hatten, ihre Gesetze an den Umstand von wandelnden Toten anzupassen. Wenn jemand wegen Mordes hätte gesucht werden können, dann der unauffindbare Chriseis. Die Behörden hatten wenig Anreiz, nach einer Leiche zu suchen, die wahrscheinlich ohnehin schon bis zur Unkenntlichkeit verwest war.
Das Geld brachte Tom nach Italien und spülte ihn schließlich, trotz seiner Abneigung, sich noch einmal mit den Toten einzulassen, in den Palazzo Otranto.
Und zu Penelope.
Sie war schon lange tot gewesen. Dickie hätte gesagt, sie würde wissen, wie der Hase läuft. Von nahem blieb einem ihr Alter nicht verborgen. Ihre Haut war weiß, aber mit einem Stich ins Blaue, der auf Verfall hindeutete. Wenn sie mit Silber gekratzt wurde, nahm Tom an, würden ihre Wunden sich schälen und schwären. Ihr Gesicht und ihre Figur waren vollkommen, aber sie hatte Narben auf den Brüsten und dem Bauch, grellrote Kreise, wie Einschusslöcher.
Auf Malta wurde er von einem englischen Subalternoffizier angesprochen, der ihn zunächst seiner Kleidung wegen für Dickie hielt, mit dem zusammen er auf der Schule die Prügelstrafe erduldet hatte. Der junge Militär hatte ein Päckchen dabei, das er aus England mitgebracht hatte, um eine Schuld abzutragen. Es sollte einem Exilanten in Rom übergeben werden. Tom wurde die Benutzung eines bereits gebuchten Zimmers im Rinascimento in Campo de’ Fiori in Aussicht gestellt, wenn er das Päckchen überbrachte. Tom hatte ohnehin vorgehabt, nach Rom zu gehen, und auf diese Weise dorthin zu kommen, war ihm durchaus recht.
Er war natürlich verlockt gewesen, einen Blick in das Päckchen zu werfen. Es war klein genug, um einen Füllfederhalter oder ein Spritzbesteck zu enthalten. Die umständliche Methode der Zustellung deutete in seinen Augen darauf hin, dass es sich um einen Gegenstand auf dem Weg zu seinem neuen Besitzer handelte, vielleicht ohne dass der alte sein Einverständnis gegeben hatte.
Die Empfängerin war Penelope Churchward. Sie trafen sich in seinem Hotel, und er übergab ihr das Päckchen, bei dem es sich ihren Worten zufolge um ein Verlobungsgeschenk handelte. Anschließend sprach sie eine Einladung aus, die er einige Tage später dankend annahm. Er wusste vom ersten Moment an, dass sie Interesse daran hatte, sein Blut zu trinken. Dies war eine verhältnismäßig neue Erfahrung für ihn, aber er gewöhnte sich langsam daran. War er einer von den Männern, die Tote anzogen?
Penny fand Tom nicht nur wegen seines Blutes nützlich. Ihre Position im Haushalt des principe war nicht näher definiert. Sie kümmerte sich um alles und war ebenso sehr Haushälterin wie Hausherrin. Es gab ständig Aufgaben für Tom, etwa diese tote Kuh Malenka durch Horden hingerissener Bewunderer zu fahren oder am helllichten Tag in der Stadt Waren zu besorgen. Er hatte nichts dagegen. Es hatte seinen Vorteil, zum Gefolge des principe zu gehören und dennoch weiterhin am Leben zu sein.
Wenn sie sein Blut trank, war sie ebenso hilflos wie Dickie; sein Geschmack benebelte sie ganz genauso. Aber sie war fordernder, durstiger. Ihre roten Küsse erschöpften ihn. Er fragte sich, wie lange sie sich noch halten konnte. Manchmal machte es Spaß mit ihr. In ihren warmblütigen Tagen war sie mit Whistler und Wilde bekannt gewesen, wenngleich sie deren Werke nicht verstanden hatte.
Seine Bisse juckten. Er zog seinen Morgenmantel zurecht. Tom wusste noch nicht recht, was er mit Penny machen sollte. Irgendetwas würde ihm schon einfallen.
Es musste inzwischen Nachmittag sein. Die Sonne hatte ihren Zenit überschritten. Schatten sammelten sich im Kristallsaal wie Vorhänge.
Tote Hände glitten um seinen Nacken.
Tom brauchte nicht zu raten, wessen.
 
Penelope hatte schlechte Laune, spürte er. Sie gab sich zu viel Mühe mit ihrer unbekümmerten Sprödigkeit, als sie sich über einen Sessel drapierte, als wäre es der Schoß eines Kunden, und mit einem Bein schaukelte wie eine kokette Vierzehnjährige. Ihr Fuß schwang wie ein Metronom. Wahrscheinlich hätte sie gern jemanden getreten.
Sie trug Hosen, die halb die Wade hinauf geschlitzt waren, um ihre schönen Knöchel zur Geltung zu bringen, und Ballerinaschuhe. Ihre Nehru-Jacke war aus dunkelblauem Stoff, in den verspielt glitzernde Fäden hineingewebt waren. Ihr Haar war hochgesteckt und verbarg sich unter einer übergroßen Matrosenmütze mit roter Bommel.
Eine Sonnenbrille baumelte am Bügel von ihrem Mund. Sie hatte die Angewohnheit, an den Bügeln zu kauen, und biss sie manchmal ab. Er sah einen winzigen Fangzahn funkeln.
»Du musst mich aufmuntern, Tom«, verkündete sie. »Ich brauche Aufmunterung. Dringend.«
Wegen dem Ältesten gestern Nacht, der zusammen mit seiner einfältigen »Nichte« dem hiesigen Mörder in die Arme gelaufen war. Penelope hätte die beiden glatt selbst umbringen können, aber sie verabscheute den Wirbel, der um diese schillernde Gräueltat gemacht wurde.
Die römischen Morgenzeitungen strotzten von Fotos. Malenka war allgegenwärtig, ihr strahlendes Lächeln und der alberne Schmollmund kontrastierten mit körnigeren, weniger glanzvollen Schnappschüssen der Polizisten am Tatort.
»Malenka kam nach Rom, um ein Star zu werden«, stellte Tom fest. »Und hat ihren Wunsch erfüllt bekommen.«
Penelope schnaubte eher, als dass sie lachte.
»Du glaubst nicht, dass die kleine Hexe heil wieder auftaucht, oder?«, erwiderte sie. »Dass das nur ein Werbegag war? Den Zeitungen zufolge gab es kaum etwas zum Identifizieren. Sogar dieses verflixte Kleid hat sich in Luft aufgelöst.«
»Graf Kernassy ist eindeutig identifiziert worden.«
»Sie hätte für Schlagzeilen einen Mord begangen. Er schon für eine warme Mahlzeit.«
Penelope setzte sich zum Schneidersitz auf, verknotete ihre Beine wie ein Yogi und stemmte sich mit den Armen hoch, schaukelte leicht hin und her wie einer dieser Wackelhunde, mit denen geschmacklose Autofahrer ihre Hutablage schmückten.
»Deine englische Freundin hat alles mit angesehen«, sagte Tom.
»Meine irische Freundin. Katie ist Irin.«
»Sie hat eine vollständige Beschreibung der Morde abgegeben. Und von ihrem Mörder, diesem scharlachroten Henker. Sie könnte freilich ihre eigenen Gründe für eine Lüge haben.«
Penelope lächelte böse bei der Vorstellung, dass ihre Freundin in einen Mord verwickelt wäre.
»Sie kann man da nicht mit hineinziehen. Sie hat Kernassy im Flugzeug kennengelernt.«
»Sagt sie.«
Tom glaubte nicht für einen Moment, was er da andeutete. Er spann eine Geschichte zusammen, um Penelope abzulenken. Um sie aufzumuntern. Sie dachte immer gern das Schlechteste von Leuten. Außer von ihm, merkwürdigerweise.
»So etwas würde Katie Reed nie tun, Tom«, sagte sie, nachdem sie es durchdacht hatte. »Du kennst sie nicht.«
»Wie gut können wir überhaupt je irgendjemanden kennen?«
»Ich bin ein Vampir, du amerikanisches Dummerchen. Ich kann den Leuten in die Köpfe und in die Herzen sehen und sie bis aufs Letzte aussaugen.«
Sie machte einen Salto aus dem Sessel und war schneller bei ihm, als sein Auge sehen konnte. Ein billiger Trick der Toten. Er sollte einen nervös machen und überwältigen.
Ihre Hände lagen auf seinen Schultern, und sie beugte sich vor für einen flüchtigen, blutlosen Kuss, die Brillenbügel immer noch im Mundwinkel.
Tom verspürte ein Ziehen vor Ekel über die Nähe der toten Frau. Er ertrug ihren hingehauchten Kuss.
Sie war wieder weg, auf der anderen Seite des Kristallsaals, an einen Kamin gelehnt. Dann war sie wieder in ihrem Stuhl, saß wohlgesittet da, die Knie geschlossen.
»Ich weiß nicht, was wir Prinzessin Asa sagen sollen«, erklärte sie. »Sie geht bestimmt an die Decke.«
So verärgert sie wegen Graf Kernassy und Malenka sein mochte, eigentlich störte sie sich an Prinzessin Asa Vajda, die königliche Verlobte. Ihr Eifersucht zu unterstellen, wäre zu kurz gegriffen, denn Tom wusste, dass sie nicht einmal daran zu denken wagte, als Gemahlin für il principe zu dienen. Zwar hatte sie die Organisation des Haushalts übernommen, aber sie war eindeutig keine von Draculas Schlampen. Die kannte Tom, es waren geistlose tote Weiber in Leichengewändern, eine gottverdammte Plage für jeden warmblütigen Mann in Reichweite.
Manchmal dachte Tom, dass Penelope die ganze Welt hasste, aber zu wohlerzogen war, um es zu zeigen.
Sie hatte eine Geschichte, aber die war zu langweilig, um sich näher damit zu beschäftigen. Es war, als ob man gerade ins Kino kam, während die letzte Rolle eines komplizierten, aber nicht gerade fesselnden Melodramas lief. Das Beste, was man da tun konnte, war, gar nicht weiter darauf zu achten, ab und zu eine zustimmende oder amüsante Bemerkung abzugeben und die Toten ihre Angelegenheiten selbst klären zu lassen.
»Sieh es einmal so, Penny. Du hast jetzt zwei freie Plätze mehr für die Trauung in der Kapelle. Da kannst du noch ein paar Leute von der ärmeren Verwandtschaft aufwerten.«
Zu Penelopes Aufgaben zählte es, so viel von Draculas Brut wie möglich bei der Verlobung und der Hochzeit unterzubringen. Il principe hatte Jahrhunderte dem Laster gefrönt, hatte Geliebte und Untergebene verwandelt und sein Blutgeschlecht verbreitet, wie ein Hund Bäume markierte.
»Du hast keine Vorstellung, wie abergläubisch diese ganzen mitteleuropäischen Barbaren sind«, sagte sie. »Die wollen ihre Hinterteile nicht auf den Stuhl eines wirklich Toten pflanzen. Manche zünden in der Walpurgisnacht dem Teufel immer noch schwarze Kerzen an.«
Bis zur Hochzeit wollte Tom die Toten hinter sich gebracht haben. Die Zeremonie sollte in der Palastkapelle stattfinden, wahrscheinlich weil der Papst Dracula den Petersdom verweigerte. Otranto würde wimmeln von totem Fleisch.
Die Türen des Kristallsaals flogen auf. Prinzessin Asa setzte sich in Szene.
Sie trug Schuhe mit Fünfzehn-Zentimeter-Absätzen und einen schwarzen Bikini, kein ungewöhnliches Ensemble für sie. Bodenlange Schleier waren über ihren Kopf drapiert, gehalten von einem breiten schwarzen Schlapphut. Ihre taillenlangen Haare waren buchstäblich rabenschwarz. Hinter den vielen grauen Schleierschichten glühten ihre Augen wie rote Neonlampen. Ihre Wangenknochen waren wie aus Eis geformt, ihre Unterlippe galt als die üppigste von Europa, und ihr Bauch war so straff wie das Fell einer Trommel.
Sie führte zwei ponygroße Doggen an der Leine.
»Signorina Churchward«, keifte sie. »Kann man Ihnen denn nicht die einfachste Aufgabe anvertrauen? Können Sie nicht einmal einen geschätzten Freund vom Flughafen abholen, ohne ihn an den Mob zu verlieren?«
Penelope stand auf und täuschte Unbekümmertheit vor.
»Sollen wir denn alle in unseren Särgen gefunden und vernichtet werden, wie es früher einmal war? Ihr Modernen wisst nichts mehr von den Verfolgungen. Warum wurden keine Sicherheitsvorkehrungen getroffen? Warum ließ man diese Gräueltat einfach zu?«
Während sie das sagte, mit einer hohlen, giftigen Stimme, waberten die Schleier um sie herum wie Tentakel von Seeanemonen. Sie stolzierte durchs Zimmer. Ihre Pfennigabsätze kerbten den alten Teppich, die Schleier trieben hinter ihr wie wütende Schaumwogen, die schmalen weißen Schenkel durchschnitten die Luft.
Penelope wusste es besser, als mit den Achseln zu zucken.
»Il principe wird betrübt sein«, keifte Asa.
Tom war nicht sicher, dass die Prinzessin ihrem Prinzen je begegnet war. Ihre künftige Beziehung war mehr Allianz als Ehe und sorgfältig vorverhandelt worden. Dennoch war sie anscheinend jederzeit in der Lage, für ihn zu sprechen. Es wäre interessant gewesen, einmal zu sehen, wie viel Autorität sie wirklich besaß.
Einer der Hunde knurrte Tom an. Tiere mochten ihn nicht sonderlich, was ein Jammer war.
Prinzessin Asa wirbelte zu ihm herum.
Ihre Blicke sengten sich durch die Schleier. Ihre Augenlider kräuselten sich wie Lefzen. Sie ließ weiße Zähne blitzen.
»Ich sollte ihn dir wegnehmen, deinen Gespielen«, sagte sie zu Penelope. »Zur Strafe.«
Ihr totes Gesicht hing vor ihm, mit Augen wie Untertassen. Sie hatte eine Fahne. Grabeshauch.
»Aber an dich wäre eine solche Behandlung verschwendet«, sagte die Prinzessin und wehte durchs Zimmer, tänzelte auf Penelope zu. »Du bist ein dummes, gefühlloses Weib. Du empfindest für nichts und niemanden etwas.«
»Wie Ihr meint, Prinzessin.«
Prinzessin Asa hob einen chinesischen Blumentopf hoch, der älter war als sie, und zerschmetterte ihn auf dem Boden, spießte erdige Wurzeln mit dem Absatz auf.
»Auf die Knie, Engländerin!«
Penelopes Gesichtsmuskeln spannten sich.
Die Prinzessin richtete sich auf, die Schleier gerafft, und starrte auf Penelope hinab. Eine Tyrannin des Mittelalters in feudaler Verstimmung, eine viktiorianische Lady mit Stahl im Rückgrat.
Prinzessin Asa hob befehlend eine krallenbewehrte Hand. Die Schleier bildeten Spitzen über den Fingernägeln.
Penelope ging auf ein Knie, senkte jedoch nicht den Kopf.
»Knie so, als ob du es ernst meintest, Weib.«
»Wie Ihr wünscht.«
Penelope sah kurz zum Teppich und stand auf, wischte sich Erde von den Knien.
»Zufrieden?«, fragte sie Prinzessin Asa.
»Sehr.«
»Gut. Wenn Ihr mich entschuldigt, ich habe Besorgungen zu machen.« Sie sah auf die Porzellanscherben und die zertrampelte Pflanze hinab. »Ich werde einen Diener schicken, der das wegräumt. Das war übrigens Tang-Dynastie. Neuntes Jahrhundert. Ein Geschenk des Priesters Kah aus Ping-kuei an den Prinzen Dracula. Kah dachte sicher nicht, dass sein Tribut einmal als Blumentopf Verwendung finden würde. Ein hässliches Stück, fand ich immer. Aber anscheinend ziemlich wertvoll.«
Penelope zog sich mit befremdlicher Würde zurück. Tom war stolz auf das alte Mädchen.
Er war mit der königlichen Verlobten allein.
Sie knurrte ihn an wie einer ihrer Hunde. Er entspannte sich etwas. Prinzessin Asa machte zwar viel Wind um ihren Zorn, aber sie war eine weitaus weniger gefährliche Kreatur als Penelope Churchward. Für Tom war die königliche Verlobte ein Leichtgewicht, fast schon eine Enttäuschung.
Er zog den Kragen zurecht, berührte die ständig offenen Bisswunden. Er bekam etwas Blut an seine Fingerspitzen und rieb sie aneinander.
Prinzessin Asa, die der rote Durst überkam, vergaß sein Gesicht und starrte auf seine schlüpfrigen Finger. Tom gab vor, ihr Interesse erst jetzt zu bemerken, und entschuldigte sich, suchte nach einem Taschentuch. Dann streckte er schüchtern, als wäre ihm der Einfall gerade erst gekommen, die Hand aus, mit schlaffen Fingern.
Die Prinzessin zögerte, sah sich um. Sie waren allein. Sie raffte ihre Schleier und warf sie nach oben über den Hut, streifte sie hinter die weißen Schultern zurück. Ihre Haut war wie polierter Knochen.
Sie bewegte sich so schnell wie Penelope vorhin, schoss dicht an Tom heran, senkte den Kopf und leckte seine Finger sauber, dann zog sie sich zurück, säuberte sich den Mund mit Gaze.
Er sah die Wirkung, die sein Geschmack auf sie hatte. Ihre hervorstehenden Rippen hoben und senkten sich wie die Beine eines zufriedenen Tausendfüßlers. Sie erschauerte vor Wonne.
Sie sollte nie wieder an ihn denken.

5

Gelati

Sie musterte Genevièves Vespa mit einiger Beklommenheit. Der kleine Motorroller war weiß mit roten Zierleisten, aerodynamisch gestaltet wie ein amerikanisches Transistorradio. Kate war in jüngeren Jahren zwar eine begeisterte Fahrradfahrerin gewesen, aber mit motorisierten Fahrzeugen hatte sie nicht viel Glück gehabt. Ihrer Erfahrung nach neigten schicke neue Erfindungen zu Mordversuchen.
»Auf andere Weise kommt man hier nicht vom Fleck«, erklärte Geneviève. »So kann ich durch die Staus schlüpfen.«
»Ich möchte wetten, dass du oft angehupt wirst.«
»Das versteht sich von selbst.«
Geneviève lächelte sie an, als wäre Kate nur in der Stadt, um das Nachtleben zu genießen und sich die Ruinen anzusehen.
Sie hatten sich noch gar nicht richtig unterhalten. Über Charles.
Geneviève rutschte auf der langen Sitzbank nach vorn und sagte, Kate solle hinten aufsteigen und sich festhalten. Die Fahrt war schnell und aufregend, sie bot die willkommene Annehmlichkeit einer frischen Brise und ein paar routinemäßige Flirts mit dem Tod. Geneviève kannte sich in den engen Gassen aus, in den versteckten Höfen und Piazzas. Sie lenkte ihr treues Ross gekonnt, schoss an den feststeckenden Autos vorbei und winkte fröhlich, wenn die Fahrer wütend hupten.
Kate presste sich gegen Genevièves Rücken, bekam ihre blonden Haare ins Gesicht und merkte, dass sie der Verführung zu erliegen drohte. Schon spielte sie mit dem Gedanken, sich selbst einen Roller zuzulegen, wenn sie wieder zurück in London war. Auf einer solchen kleinen Traummaschine gäbe sie am Highbury Corner sicher eine gute Figur ab. Vor den Cafés der Old Compton Street würde sie bewundernde Seufzer auslösen. Und sie könnte die Halbstarken auseinandertreiben, die ihr gern den Weg zum Waschsalon versperrten.
Sie fuhren im Zickzack von der Piazza di Trevi Richtung Piazza di Spagna und dann eine steile Seitenstraße hinauf. Kate hielt ihren Hut fest. Geneviève fuhr sie zum Hassler zurück.
In der Hotellobby ließ sie sich von einem herrischen uniformierten Funktionär ihren Koffer geben. Sie fragte sich, ob das Management bereits Graf Kernassys Suite ausgeräumt hatte.
Sergeant Ginko, Silvestris Assistent, befragte einige Zimmermädchen. Die Ermittlungen bewegten sich anscheinend in den üblichen Bahnen; man versuchte in der Vergangenheit des Grafen etwas zu finden, das zu seinem Mörder führte. Diese Vorgehensweise versprach nicht gerade viel Erfolg: Kate ging davon aus, dass Kernassy für das ermordet worden war, was er war, und nicht für irgendetwas, das er getan hatte.
Hatte Penelope schon davon erfahren? Stand es schon in der Zeitung? Bestimmt hatte Marcello die Story verkauft. Kate hätte es in London jedenfalls getan.
Geneviève hob die Sonnenbrille und begutachtete Marmor und Vergoldungen. Unablässig strömten reiche Leute mit teuren Gepäckstücken in die Lobby.
»Du bist von Fiumicino schnurstracks hierhergekommen? Du lebst anscheinend gern in großem Stil, Kate.«
Kate schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich hier fehl am Platze, eine graue Maus beim Festmahl.
»Ich bin mitgelaufen, weil es so einfacher war. Wie üblich hat es mich in Schwierigkeiten gebracht.«
Sie erinnerte sich an den Kader von Hoteljungen, die hinter Malenka hergeschwärmt waren und versucht hatten, von Klove ihr Gepäck zu ergattern. Es war erst einen halben Tag her.
»Die Ober hier sollen très délicieux sein«, sagte Geneviève mit einem Blick in die leere, dunkle Bar.
»Das sind sie«, bestätigte Kate.
»Stille Wasser sind tief.«
Geneviève begeisterte sich für stehende Redewendungen. Sie schnappte sie bei Charles auf.
Kate hatte auch eine zu bieten. »Man soll die Feste feiern, wie sie fallen.«
»Ich glaube, du bist eine ganz Schlimme«, sagte Geneviève liebevoll. »Charles hätte mich warnen sollen.«
Es war das erste Mal, dass Geneviève ihn erwähnte. Sie mussten reden. Bald.
Geneviève merkte es auch und schlug vor, dass sie ein Eis essen gingen. Kate war einverstanden. Sie verließen die Lobby, Kate trug ihren Koffer. Genevièves Vespa sah dreist aus, wie sie dort vor dem Hassler geparkt stand, so dicht bei der Spanischen Treppe. Geneviève gab ihrem Roller einen liebevollen Klapser und dem Portier ein Trinkgeld, damit er ihn im Auge behielt.
Sie gingen gegen den Strom die Treppe hinab. Warmblüter in Sommerkleidung spazierten vorbei. Die wenigen Vampire dazwischen, die früh aufgestanden waren, hatten Umhänge wie Wüstenscheichs umgelegt. Alle trugen riesige Hüte und dunkle Brillen. Kate bekam Mode zu sehen, die gegen Weihnachten London erreichen würde.
Am Fuß der Treppe saßen eine Reihe junger Künstler - alle mit Baskenmütze und Bart, als hätten sie sich dafür verkleidet - auf Stühlen und fertigten Skizzen von den Touristen an. Kate konnte in London oder Paris nie an einer solchen Gruppe vorbeigehen, ohne dass es sie reizte. Nach ungefähr siebzig Jahren ohne Spiegelbild nagte beständig die Neugierde an ihr, wie sie aussah. Ihr fiel der Schatten ein, den sie im Wasser des Trevibrunnens gesehen hatte, und es überlief sie kalt.
Geneviève kannte ein Café gegenüber des Hauses, in dem John Keats gestorben war. Überraschenderweise ließen die Touristen es links liegen und gingen lieber ins Museo Keats-Shelley.
»Ein beliebter Treffpunkt von Vampiren«, erklärte sie. »Nachts geht es hier richtig rund.«
Sie bekamen einen Tisch unter einer schwarzen Markise. Der kalte Schatten war herrlich. Kate berührte ihr Gesicht. Es war immer noch heiß von der Sonne. Geneviève bestellte auf Italienisch, und ihnen wurden zwei hohe Gläser mit hellroter Eiscreme serviert. Kate nahm den langen Löffel und löste die obenauf thronende Kirsche.
»Die Inhaber behaupten, abessinische Jungfrauen zu importieren, aber in Wirklichkeit nehmen sie Schafsblut dafür.«
Kate hatte schon früher Bluteis probiert. Es war eher verharscht als cremig, und die Aromen bissen sich. Das hier war etwas anderes.
»Wirklich köstlich«, gab sie zu. Es kitzelte richtig den Gaumen.
»Rom ist eine Stadt für die Sinne«, sagte Geneviève. »Für das Herz statt für den Kopf. Wenn man denken möchte, fährt man nach Paris; wenn man fühlen möchte, kommt man nach Rom. Nach einer Weile treibt es einen in den Wahnsinn. Ich weiß nicht, wie lange ich es hier noch aushalten werde danach.«
Sie sprach es nicht aus.
»Wie geht es ihm?«, fragte Kate ohne Umschweife.
Geneviève legte nachdenklich den Kopf schief und runzelte leicht die Stirn. Sie schob die Sonnenbrille zurück wie einen Haarreif. Kate sah Schmerz in ihren Augen.
»Von Tag zu Tag ist weniger von ihm da. Es ist keine Krankheit. Nur das hohe Alter. Es ist nicht mehr viel da, das ihn hier hält.«
»Ist es zu spät? Für seine Verwandlung?«
Geneviève dachte einen Moment nach. Kate wusste genau, dass sie sich darüber schon den Kopf zerbrochen hatte. Warum hatte sie nichts unternommen, keine Entscheidung gefällt?
»Die Kirche behauptet, es gäbe so etwas wie eine Bekehrung auf dem Sterbebett«, sagte Geneviève. »Ich wüsste nicht, warum es nicht möglich wäre. Um sich zu verwandeln, muss man nur nahe am Sterben sein.«
»Du hast keine Brut?«
Die andere Vampirin schüttelte den Kopf.
»Niemanden, in diesen ganzen Jahrhunderten nicht?«
Geneviève machte ein leicht trauriges Gesicht und zuckte die Achseln, eine sehr französische Geste.
»Die ersten vierhundert Jahre lang musste ich mich verstecken. Du hast die damaligen Zeiten nicht erlebt, Kate. Bevor Dracula nach London kam und die untote Bevölkerung explodierte, empfanden viele Vampire die Verwandlung als einen Fluch, nicht als eine Gnade. Sie glaubten, sie hätten so schrecklich gesündigt, dass ihnen der Himmel verschlossen blieb. Selbst heute bin ich mir nicht sicher, dass der Wandel nur Gutes hatte.«
»Das kannst du nicht ernst meinen, Geneviève.«
»Du bist immer noch sehr jung, Kate.«
Kate spürte, wie Ärger in ihr aufwallte. Geneviève führte sich auf wie das Klischee einer Ältesten. Kennt alles, kann alles, weiß alles. Und angeödet bis zum Gehtnichtmehr.
»Du hast ja auch keine Brut.«
»Ich weiß nicht so recht, mit meinem Blutgeschlecht«, sagte Kate. »Trotz der Unmengen, die mein Fangvater verwandelt hat, bin ich die einzige Überlebende.«
Die Mehrheit derjenigen, die in Vampire verwandelt wurden, erreichten nicht einmal die übliche Lebenserwartung, geschweige denn dass sie Älteste wurden. Neugeborene aus einem verdorbenen Blutgeschlecht entwickelten sich schlecht. Wenn eine warmblütige Person verwandelt wurde, durchlief sie einen Moment der fließenden Formbarkeit. Man brauchte einen starken Willen, um das durchzustehen. Viele verurteilten sich zu einem kurzen, schmerzvollen Taumel durch die Finsternis.
»Charles ist nur wegen uns noch am Leben, Kate. Du und ich, wir haben von ihm getrunken. Seine Lebenskraft berührt. Wir haben ihn nicht verwandelt, aber verändert. Er ist ein Teil von uns, und wir sind ein Teil von ihm. Manchmal verwechselt er uns beide. Er schaut mich an und sieht dich.«
»Und Pamela?«
Nun war Geneviève schmerzerfüllt. Da sie beide geübt darin waren, Gefühle wahrzunehmen, konnten sie ein Gespräch mittels winzigster Gesichtsausdrücke aufrechterhalten.
Kate bereute ihre Bemerkung. Sie durfte die Gefühle der Frau für Charles nicht geringschätzen. Was Geneviève Dieudonné von den meisten Ältesten unterschied, war ihre Fähigkeit, wahrhaftig zu lieben. Viele Älteste waren nicht einmal zur Selbstliebe imstande.
»Ja«, gab Geneviève zu. »Pamela spielt eine immer größere Rolle.«
»Du hast sie nie gekannt.«
Pamela Churchward, Penelopes Cousine, war ein paar Jahre älter als Kate gewesen. Sie hatte gewusst, was Kate, damals ein so gut wie blinder, warmblütiger pubertärer Rotschopf, Charles gegenüber empfand, und sich immer die Mühe gemacht, freundlich zu sein. Pam war jung gestorben, in Indien, als sie von Charles schwanger war. Die schreckliche, blutige Angelegenheit hatte Charles sehr mitgenommen, und er hatte sich in die Pflicht gestürzt, in die Selbstverleugnung.
Seine Verlobung mit Penelope war ein vergeblicher Versuch gewesen, Pamela zurückzuholen. Eine unschöne Sache, vor allem für Penny. Ihr Unvermögen, ihm Pam zu ersetzen, hatte sie wahrscheinlich zu Lord Godalming getrieben, zum dunklen Kuss.
»Du hast viel mehr Ähnlichkeit mit Pamela als Penelope«, sagte Kate.
»Und du viel mehr als ich.«
»Aber nur, weil ich wie sie sein wollte. Penny auch. Sogar Mina Murray. Pam war das Original und wir die jämmerlichen Kopien.«
»Tscha! Du hattest achtzig Jahre, um eine richtige Frau zu werden, Kate. Pamela hatte eine Handvoll Sommer der scheinbaren Vollkommenheit. Wäre sie am Leben geblieben, wäre sie auch nicht viel anders als wir gewesen, das weiß selbst Charles. Keine Heilige mehr, sondern eine, die sich durchkämpft.«
Unvermittelt nahm sie Kates Hand.
»Eine von uns muss ihn verwandeln«, sagte sie mit roten Tränen in den Augen. »Wir dürfen ihn nicht gehen lassen.«
»Selbst wenn es das ist, was er sich am meisten wünscht? Bei Pamela zu sein statt …«
»Bei mir? Oder bei dir, Kate.«
Charles’ Tod würde für Kate das Ende der warmblütigen Welt bedeuten. Er war der letzte lebende Überlebende ihrer Jugend. Aber es war der Mann Charles, den sie festhalten wollte, nicht der viktorianische Charles, der vernünftige, ehrenwerte, gutherzige Diener an Königin und Vaterland.
In diesem Jahrhundert war einfach der Wurm drin.
»Nach dem richtigen Tod, kommt da noch etwas?«, fragte Kate.
Geneviève ließ Kates Hand los, als hätte sie einen Schlag bekommen.
»Woher soll ich das wissen?«
»Deine ganzen Jahre, als übernatürliches Wesen.«
»Wir sind alle übernatürliche Wesen, die Warmblütigen genauso wie die Untoten. Als Mädchen konnte ich die Religion nicht von der Kirche trennen. Das war eine weltliche Institution, die sich der Bewahrung ihrer Macht verschrieben hatte. Als ich verwandelt wurde, hat man uns verfolgt. Diejenigen, die uns jagten und vernichteten, taten dies im Namen Gottes. In diesem Jahrhundert sind wir alle Geschöpfe der Wissenschaft, werden unsere Rätsel seziert. Diejenigen, die uns zu vernichten versucht haben, taten es im Namen der Wissenschaft, in einem kalkulierten Versuch, einen evolutionären Konkurrenten auszulöschen. Es läuft auf dasselbe hinaus.«
Die Nazis hatten versucht, den Volkskörper von den meisten Vampirgeschlechtern zu säubern. Selbst heute hörte Kate gelegentlich noch Warmblüter flüstern, dass Hitler da schon Recht gehabt hatte.
Seit Kate selbstständig denken konnte, war sie Agnostikerin gewesen. Jetzt fragte sie sich, ob die Seele unsterblich war.
»Es gibt Vampire, Geneviève. Es gibt Werwölfe. Gibt es auch Gespenster?«
»Ich denke schon, auch wenn ich noch nie einem begegnet bin.«
»Als junge Frau habe ich mir eingebildet, Dutzende zu sehen. Ich hatte einen spiritistischen Fimmel, wie die halbe Welt. Ektoplasma und Tischerücken. Es war alles sehr ›wissenschaftlich‹, weißt du. Wir Viktorianer hätten das Leben nach dem Tode gern genauso kartografiert wie Afrika. Wir wollten glauben, dass der Tod eine Veränderung darstellt, keinen Schlusspunkt. Wie sich natürlich herausstellte, war er für einige von uns, mich eingeschlossen, genau das. Nach meiner Verwandlung verlor ich das Interesse. Erst kürzlich ist mir klargeworden, dass das Rätsel nicht gelöst wurde, sondern nur links liegen blieb. Am Anfang kam mir das Vampirdasein wie Unsterblichkeit vor. Dann wurde mir bewusst, wie wenige von uns auch nur die normale Lebenserwartung erreichen. Gestern Nacht sah ich zwei Älteste von einem Augenblick auf den anderen sterben, wie alle Leute. Wir werden beide sterben, Geneviève. Und dann?«
Ihre Eisbecher waren geleert.
»Das ist vielleicht ein zu gewichtiges Thema für die Zeit und diesen Ort«, sagte Geneviève. »Dies ist eine Stadt des Lebens und des Todes. Diese Dinge klären sich ohne uns. Wir sind nur zwei schöne alte Damen …«
»Erspar mir das mit dem ›alten‹ Großmütterchen.«
»Wir sollten uns junge Liebhaber nehmen und uns von ihnen Kleider kaufen lassen.«
Kate dachte an Marcello und wurde rot.
Verdammt. Geneviève würde das natürlich nicht entgehen.
Kate sah weg, so dass der Schatten ihres Hutes über ihr Gesicht fiel.
»Kate?«
Sie wischte Tränen weg und ertappte sich dabei zu kichern.
»Kate, du bist noch keinen ganzen Tag hier …«
Geneviève machte ein verblüfftes Gesicht, kein missbilligendes. Sie lachte laut auf.
»Kate Reed, du bist ein stilles Wasser. Das steht mal fest.«

6

Liebesgrüße aus Moldawien

Während der Abend sich herabsenkte, wallte sein Blut auf. Seine Augen sprangen im Dunkeln auf. Den Nachmittag hindurch hatte er in einem abgedunkelten Zimmer im Hotel D’Inghilterra den Schlaf der Toten geschlafen.
Hamish Bond bedauerte den Verlust jener Übergänge des Halbschlafs, die er als warmblütiger Mann genossen hatte. Nach einem guten Essen, einem anstrengenden Tag oder einer Liebesnacht mit einer schönen Frau hatte er das langsame Dahinschwinden des Bewusstseins ausgekostet. Als Vampir schlief er einfach willentlich ein, als ob man das Licht löschte. Sein Geist blieb zusammen mit seinem Herzen stehen. Immerhin brauchte er jetzt nur noch drei oder vier Stunden Schlaf - Sargzeit, wie sie es nannten - im Monat.
Er wusste augenblicklich, dass er nicht allein war.
Er hatte die Tür und die Fenster natürlich versiegelt. Das Fallen der Siegel hätte ihn geweckt.
»Still liegen bringt nichts, Commander Bond«, schnurrte eine seidige Stimme. »Ich habe Ihre offenen Augen gesehen.«
Der Raum war stockdunkel. Sein Gegenüber war vampirisch, wie er.
Beiläufig setzte er sich im Bett auf und schloss die Hand um die Walther PPK unter den Laken. Er schlief in einer japanischen Pyjamajacke, die um die Taille straff zugeknotet war.
Er konnte ebenfalls im Dunklen sehen.
Sie befand sich auf der anderen Seite des Zimmers und atmete Rauch aus, durch große, elegante Nasenlöcher. Eine seiner Zigaretten baumelte wie ein Skalpell zwischen ihren langen, schmalen Fingern.
Sie saß nackt im Sessel, ein Knie sittsam über das andere gelegt. Obwohl sie den Hals für Jade besaß und die Ohrläppchen für Diamanten, trug sie keinen Schmuck. Eine mitternachtsschwarze Mähne wuchs glatt von einem spitzen Haaransatz weg und ergoss sich über breite Schultern und stolze Brüste.
Ihr Gesicht war breit, slawisch, mit einem fast mongolischen Schnitt. Ihre fluoreszierenden violetten Augen hatten den Ansatz einer Epikanthusfalte. Ihr Gesicht war die schöne Maske eines heidnischen Götzenbilds; üppige Lippen teilten sich und gaben den Blick auf grausame Fänge frei.
Er wusste sofort, dass sie eine Älteste war.
Ihre übereinandergeschlagenen Beine waren lang. Ihm gefiel, wie sich unter der samtigen Haut zwischen Hüfte und Knie die Muskeln abzeichneten. Auf halber Höhe ihrer Schienbeine lösten sich Fleisch und Knochen auf, gingen in dünne Nebelschleier über.
Er hatte von dem Trick gehört, ihn aber noch nie miterlebt. Sie hatte sich willentlich in lebendigen Nebel verwandelt, war unter der verschlossenen und präparierten Tür hindurchgeflossen und hatte sich in seinem Sessel wieder zusammengesetzt.
Der letzte Nebelhauch verfestigte sich zu wohlgeformten weißen Füßen.
»Bravo«, machte er ihr ein Kompliment.
»Ich weiß gar nicht, warum ich mir die Mühe gemacht habe.« Die Vokale glätteten einen alten Akzent. »Ein überaus teures Kleid von Balmain liegt zerknittert auf dem Korridor, zusammen mit einem Paar Smaragdohrringen, die bestimmt jemand stiehlt. Ach, und noch zwanzig kleine Blütenblätter aus getrocknetem Nagellack.«
Sie schnippte die noch brennende Zigarette weg und stand auf, wunderbar unanständig. Dann trat sie ans Fenster und stieß die Läden auf. Das letzte Licht des Sonnenuntergangs verlieh ihrer Haut ein einladendes Glühen. Ein Windstoß zauste ihre Mähne. Sie hatte volles Haar, es bog sich leicht an den Enden, wie eine Reihe winziger Angelhaken.
»Ich heiße Anibas«, sagte sie und drehte sich zu ihm um, die rechte Hand aufs Herz gepresst. »Sie wissen, wer ich bin.«
Durchaus.
»Meine Urgroßtante ist Prinzessin Asa Vajda, die königliche Verlobte. Ich werde eine der Brautjungfern sein. Sie sollten das grässliche Kleid sehen, das ich anziehen soll.«
Er entspannte sich ein wenig, erfreute sich an der Gegenwart dieses wilden Geschöpfs, ohne jedoch in seiner Wachsamkeit nachzulassen, auf die er bei jemandem wie ihr nie verzichten würde.
Unvermittelt war sie auf dem Bett, auf allen vieren, wie eine Füchsin. Seine Hand schloss sich um nichts.
»Suchen Sie das hier?«
Sie ließ die Pistole von ihrem Zeigefinger baumeln.
»Sie sind eine von der flinken Sorte.«
Sie kicherte. Es klang böse. »Und Sie sind ein Glückspilz.«
Anibas schleuderte die Pistole beiseite und berührte sein Gesicht.
»Ihr Mr. Winthrop sagte, er würde mir ein Geschenk schicken«, sagte sie. »Glauben Sie, es gefällt mir?«
»Sie können mich immer noch zurück ins Meer werfen.«
»Ich glaube nicht.« Rasiermesserscharfe Nägel strichen über sein Gesicht, gerade so sanft, dass die Haut heil blieb. »Ich werde es wohl behalten.«
Selbst eine Warmblütige von Anibas’ Statur konnte einen beherzten Kampf liefern. Sie besaß die Beine einer Läuferin und die Hände einer Expertin im Karate. Sie war eine Vampirälteste, um Jahrhunderte älter als er. Sie spielte mit ihm. Wenn sie ihm unmittelbar Böses wollte, hätte sie ihm im Schlaf das Herz herausreißen können.
Er hatte Beauregard gesagt, dass Winthrop Leute in Draculas Umgebung hatte. Das war eine gewisse Übertreibung gewesen. Die Vampire aus dem Haushalt des principe, die im Dienst des Diogenes-Clubs standen, waren wahrscheinlich Doppelagenten, die nur weitergaben, was ihr Herr wollte. Aber das änderte sich jetzt womöglich.
Dies war die Frau, die er in Rom treffen sollte.
Anibas fuhr die ausgefransten Narben auf seiner Brust entlang, streifte ihm die Jacke von der Schulter.
Mit der Hochzeit würde das Haus Vajda vom Haus Dracula absorbiert werden. Eine Hackordnung, die seit Jahrhunderten bestanden hatte, würde sich verändern. Tiefe Unzufriedenheit regte sich und konnte zum Vorteil Englands genutzt werden.
»Meine Urgroßtante ist eine entsetzlich dumme Person«, flüsterte Anibas. »Sie würde Ihnen ganz und gar nicht gefallen.«
»Weiß sie, wo Sie sind?«
»Zweifelsohne. Sie ist schon immer misstrauisch gewesen und wittert überall Verschwörungen gegen sich. Sie denkt, jedes unbekannte Gesicht wäre ein Jesuit, der geschworen hat, ihr Eisenspieße in die Augen zu treiben. Sie ist die reinste Blamage.«
Anibas wollte natürlich gern die Stelle der Prinzessin einnehmen. Die langen Leben der Ältesten waren eine leidige Angelegenheit für arme Verwandte, die darauf warteten, Besitztümer, Titel und Positionen zu erben.
»Ich habe mich unter einem anderen Namen ins Hotel eingetragen. Sabina. Clever, hm? Das ist mein Name in einem Spiegel. Sabina. Anibas.«
Warum waren Vampire von diesem Trick so angetan? War je irgendwer auf einen Tarnnamen wie »Alucard« hereingefallen? Wenn er sich als »D. Nob« ins Hotelregister einschrieb, würde kein Mensch darauf hereinfallen. War das eine Ältestenschrulle, die er auch noch entwickeln würde?
»Sie und ich«, sagte sie, ihr Gesicht dicht vor dem seinen, »werden gemeinsam etwas aushecken, nicht wahr? Einen Plan, ein Komplott, wie Schlange und Schwein. Zum Verderben von Prinzessin Asa und zur Aufgabe dieser unklugen Verbindung? Wozu brauchen wir Vajda mit dem dünnen Blut des Vlad Tepes? Wir waren schon alt und ehrwürdig, da hat er noch Türken mit langen Stangen sodomiert. Gerechterweise müsste er vor uns im Staub kriechen.«
Winthrop hatte ihn gewarnt, Anibas gut im Auge zu behalten. In diesem Augenblick schienen sie dasselbe Ziel zu haben. Aber wer wusste, wie es am Ende kam? Und es mischten immer noch andere mit.
Sie krabbelte über ihn, ihr Haar hing ihm ins Gesicht, ihre Brüste lagen auf seiner Brust. Unternehmungslustig fuhr sie sich mit der Zunge über die prallen Lippen.
Er verstand sehr gut, welches Spiel hier gespielt wurde.
Er packte Anibas bei den Schultern und zwang sie auf die Matratze hinunter. Dann rollte er über sie, legte sich mit dem ganzen Gewicht auf sie, bezwang ihre Beine mit den seinen.
Sie wand sich, gab vor, gefangen zu sein, schnalzte mit der Zunge und schüttelte die Haare zurück. Ihre weiße Kehle bog sich.
Er biss sie wild in den Hals und trank ihr Ältestenblut.
 
Als er aus dem Badezimmer kam und sich die Haare abtrocknete, badete sie im Mondlicht. Die Türen zum Balkon waren geöffnet, und der Nachtwind kühlte den Raum. Die Wunden an ihrem Hals, ihren Brüsten verblichen rasch, verschwanden, während er zusah. Er würde die Narben, die sie ihm geschenkt hatte, wochenlang haben, vielleicht noch länger.
Sie hatte sich in ihr Abendkleid gehüllt. Das rückenfreie, trägerlose Kleid war kaum züchtiger als Nacktheit. Ihre Ohrringe waren klobige Smaragdhaufen. Im Osten zählten Größe und Kompliziertheit mehr als guter Geschmack.
Er war voller Leben. Buchstäblich.
Natürlich hatte er schon früher Vampirblut gehabt. Auf diese Weise war er ja verwandelt worden, in einer Privatklinik in der Nähe von Marble Arch, wo man eine gewisse Menge seines warmen Lebenssaftes gegen Vampirblut von Sergeant Dravot ausgetauscht hatte. Seitdem hatte er im Außeneinsatz vampirische Feinde eliminiert und sich an ihnen vollgetrunken, direkt aus ihren klaffenden Kehlen. Sie hatten ihn stärker gemacht, der chinesische Doktor und der jamaikanische Voodoomeister. Ab und zu stiegen immer noch Erinnerungen in ihm auf, als bestünden ihre Blutgeschlechter in ihm fort.
Aber das Blut einer Ältesten hatte er noch nie gekostet.
Es war wie eine Droge, es verschob seine Sinne auf eine ganz neue Ebene. Ihr Geist löschte seinen beinahe aus. Mit einem Mal wusste er vieles über Anibas, das sie ihm nicht erzählt hatte. Eindrücke aus ihrem langen Leben trieben durch sein Gedächtnis. Der eiskalte Palast, in dem sie geboren worden war, mit seinen schmutzigen Fußböden und kostbaren Wandteppichen. Er spürte den Mund ihres Fangvaters an ihrer Kehle und seine Hände unter ihren Röcken - der Methusalem hatte im Auftrag der Vajdas gehandelt, damit das Geschlecht erhalten blieb. Er teilte die Panik einer Flucht aus der Heimat: wütender Mob um die Kutsche herum, Fackeln, orthodoxe Priester mit langen Bärten und silbernen Sicheln, Scheiterhaufen blendend grell in der moldawischen Nacht.
Er war angespannt, wo er doch entspannt hätte sein sollen.
Nicht alle Eindrücke lagen weit zurück. Sie hatte ihren Spaß gehabt. Nun würde sie ihn töten. Ihr Arrangement mit Diogenes war nicht exklusiv. Sie hatte Moskau dieselben Dienste angeboten und war zu dem Schluss gekommen, dass der Kreml ihr am besten dabei helfen konnte, die Kontrolle über das Haus Vajda zu erringen. Schließlich lagen die Ländereien ihrer Vorfahren hinter dem Eisernen Vorhang.
Einen Moment lang spürte er Bedauern. Sie hatte ihn wirklich genossen. Das wusste er.
Sie wandte sich vom offenen Fenster um, und das schöne Gesicht dehnte sich. Ihr Mund erweiterte sich zu einem Maul, Fangzähne schossen aus den Kiefern.
Er nahm das Handtuch herunter und erschoss sie mit der Pistole, die er darin eingewickelt hatte.
Fast war Anibas schneller als die Kugel. Er hatte ihr das Silber ins Herz setzen wollen, aber die rote Wunde explodierte in ihrer Schulter.
Verdammt. Nun war er wohl tot.
Ein Zentner wütendes Tier sprang ihm an die Brust, warf ihn auf den Rücken und drängte ihn bis zur Badezimmertür zurück.
Sie war nicht wiederzuerkennen.
Eine schwarze Schnauze schnappte nach seiner Kehle. Wolfsaugen funkelten ihn an. Klauenbewehrte Vorderpfoten schlugen in seine Brust. Ihre Hinterpfoten kratzten über den gefliesten Boden.
Er hatte eine Hand unter ihrem Kiefer. Kiefernnadeldicke Borsten sprossen gegen seine Handfläche. Sein Unterarm war stahlhart angespannt, hielt die mörderischen Zähne von seiner Kehle fern.
Immer noch strömte Blut aus ihrer Schulter. Fellbewachsene Haut zog sich enger über die Wunde, zerschmolz aber sofort wieder, vermochte die von Silber zerfetzte Stelle nicht zu verschorfen.
Er hob die Pistole, versuchte ihr die Mündung ins Auge zu drücken. Sie schüttelte den Kopf und biss in die Walther; die Fänge hinterließen tiefe Kratzer im Lauf. Er verlor die Pistole und war froh, noch alle seine Finger zu haben.
Sie bildete ein menschliches Gesicht aus.
»Wie konntest du? Nach allem, was wir einander bedeutet haben?«
Sie übertrieb es mit ihrem Appell, hinter dem Säuseln war ein Knurren zu hören.
Sie war wieder ein Tier, mehr Bär als Wolf. Ihre Masse erdrückte ihn. Das Kleid von Balmain hing nur noch in Fetzen. An den hohen, spitzen Fuchs-Fledermaus-Ohren baumelten nach wie vor die Ohrringe. Er packte einen und riss ihn ab, zerfetzte das Ohr.
Anibas heulte auf.
Es war die Eitelkeit der Ältesten, Schmuck mit Silberfassungen zu tragen, um damit anzugeben, dass ihnen das tödliche Element nichts anhaben könne. Er versuchte der Vampirfrau das Flitterzeug ins linke Auge zu drücken.
Er schaffte es nur, sie wütend zu machen.
Ein Wirbel von Bewegungen, und das Gewicht ließ nach. Er hätte fast erleichtert aufgeatmet. Breite Kiefer schnappten nach seinem Körper, gleich unterhalb der linken Armbeuge. Fänge senkten sich hinein wie Fleischerhaken.
Sie würde ihm den Brustkorb aufreißen und sein Herz fressen.
Und das wäre es dann.
Die Umklammerung ließ nach, und auf einmal spritzte eine Unmenge Blut, überschwemmte ihn schier. Ein Fäulnisgestank ließ ihn würgen. Für einen Moment meinte er, tot zu sein. Nein, er konnte sich aufsetzen.
Anibas’ Maul löste sich von seiner Seite, und ihr Kopf rollte in seinen Schoß. Einen Augenblick später verwandelte ihr Kopf sich von dem eines Zeichentrickwolfs, Hals sauber abgetrennt, zu dem einer Frau. Blutbesudeltes Haar breitete sich über seine Knie aus. Dann war sie eine verschüttete Schale Nebel und trieb davon. Ein fingerbreiter weißer Schleier sammelte sich auf dem Badezimmerboden, waberte langsam.
Die Schlampe war tot.
Er spürte, wie seine Rippen wieder zusammenwuchsen.
In der Türöffnung sah er Beine stehen. Einen gut gebauten Mann in roten Strumpfhosen. Von seinen Händen baumelte eine Länge Käsedraht; er glänzte silbrig, wo er nicht rot verklebt war.
Wahnsinniges Gelächter erfüllte den Raum.
Er versuchte seinem Retter ins Gesicht zu sehen.
Etwas zog den Mann in Rot weg, führte ihn zurück ins Schlafzimmer.
Bond war zu kaputt, um aufzustehen und ihm zu folgen.
Das Gelächter wurde lauter.
Ihm wurde schwarz vor Augen. Er bekam kaum noch mit, wie jemand wild an die Tür klopfte und seinen Namen rief.

7

Die Lebenden

Sie fuhren mit dem Aufzug nach oben, in einer Kabine aus poliertem Messing und hölzernem Gitterwerk. Vor der Wohnung zögerte Geneviève aus Sorge um ihre Freundin. Sie schloss noch nicht auf, sondern sah Kate an und fragte sich, wie sie ihre Befürchtungen in Worte kleiden sollte.
»Es ist schon einige Jahre her, oder?«, fragte sie.
»Charles war Ende neunzig, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe«, sagte Kate. »Er war bereits alt. Ich werde schon keinen Schreck kriegen.«
Da war sich Geneviève nicht so sicher.
Die Warmblütigen alterten und starben. Sie nicht. Obwohl sie sich seit Jahrhunderten daran hatte gewöhnen können, ließ sie diese Tatsache oft bestürzt zurück, im Kampf gegen die Tränen. Ein ganzes Leben konnte doch nicht so schnell vorbei sein. Das war ungerecht.
Carmilla Karnstein, ein Vampirmädchen, das Geneviève im achtzehnten Jahrhundert gekannt hatte, hatte um den Verlust von Freunden getrauert, als wären die Warmblütigen ihre Schoßtiere, die während der endlosen Menschenkindheit ganz plötzlich alt an Hundejahren geworden waren. Carmilla war auch längst tot, war aufgespürt und vernichtet worden. Anscheinend war sie nie auf den Gedanken gekommen, dass ihre Lieblinge nicht gestorben wären, wenn sie nicht so angetan von ihnen gewesen wäre, dass sie dermaßen viel Blut von ihnen hatte trinken müssen. Das hatte schließlich zu ihrem Ende geführt.
Die Warmen wie Haustiere oder Vieh zu behandeln, war eine Möglichkeit der Ältesten, mit ihrer Entfremdung von der Menschenzeit fertigzuwerden.
In diesem Jahrhundert, wo es so viele nosferatu gab, hätte das anders sein müssen. Aber Geneviève hegte die Befürchtung, dass sie sich nicht ändern konnte. Evolution war Sache der Nachfolgenden. Vampire wie Kate Reed sollten mit so etwas fertigwerden.
»Er ist jetzt über hundert, Kate.«
»Dazu fehlt mir auch nicht mehr viel.«
»Du weißt, dass es für uns anders ist.«
»Ja. Tut mir leid. Das war eine dumme Bemerkung von mir.«
Geneviève öffnete die Flügeltüren aus dunklem Holz. Sie waren zwei Meter siebzig hoch und passten eher in ein Schloss als ein Wohnhaus. In Rom schätzte man eindrucksvolle Eingänge.
»Immer rein in die gute Stube«, drängte sie.
Kate trat über die Fußmatte hinweg und stellte ihren Koffer ab. Sie sah sich in der Diele um, bewunderte die Bücherregale und Messinglampen.
»Sehr viktorianisch«, sagte sie. »So kennt man Charles.«
Geneviève hatte Schalen mit getrockneten Rosenblütenblättern aufgestellt, des Duftes wegen.
»Komm hier entlang«, sagte sie und führte Kate um die Ecke des Flurs, Richtung Arbeitszimmer. Die Wohnung war geräumig, aber die Flure - und Küche und Badezimmer - waren eng, zwischen zwei große Zimmer, das Arbeitszimmer und ein Esszimmer gequetscht.
Die Balkontüren standen auf, und eine abendliche Brise ließ die Vorhänge wehen. Das letzte Stück Sonnenscheibe warf einen orangefarbenen Schleier über die Stadt.
»Charles sitzt gern auf dem Balkon«, erklärte Geneviève.
Von draußen kamen hektische Geräusche.
»Charles-Chéri«, sagte Geneviève recht laut. »Kate ist da.«
Sie ließ Kate stehen und trat auf den Balkon. Charles hatte es geschafft, den Rollstuhl mit den Füßen, die in Pantoffeln steckten, zu drehen, aber seine Hände konnten die Räder nicht bewegen. Er war frustriert über das Nachlassen seiner Kraft, aber eher amüsiert als verärgert. Er nahm die Gebrechlichkeit ebenso, wie er die Kraft stets genommen hatte, als etwas Relatives.
Ohne erst gebeten werden zu müssen, rollte sie Charles nach drinnen. Kate wartete dort, mit feuchten Augen hinter den dicken Gläsern, und nestelte am Saum ihres Schottenrocks. Er lächelte, und seine Altersfalten dehnten sich. Er sah merkwürdig kindlich aus, fast wie ein Baby.
Kate flog ihm entgegen und kniete sich hin. Sie ergriff seine Hände - was ihn wegen ihrer unbeherrschten Vampirkraft das Gesicht verziehen ließ - und legte den Kopf in seinen Schoß.
»Charles«, seufzte Kate, »Charles.«
Charles brachte ein hustendes Lachen zustande.
»Steh auf und lass mich dich ansehen«, verlangte er.
Geneviève machte das elektrische Licht an. Selbst nach Jahrzehnten noch hatte sie das Gefühl, nach einer dünnen Wachskerze zum Entzünden der Leuchter greifen zu müssen. Manchmal hatte sie einen Lichtschalter zu drehen versucht wie den Absperrhahn einer Gaslampe.
»Ich bin mir nicht sicher, ob dir diese Frisur steht«, sagte Charles besorgt. Kates Hände fuhren an ihren freien Nacken. »Es ist mehr ein Haarschnitt.«
Kate wurde rot, die Sommersprossen verschwanden fast. Sie wand sich immer regelrecht, weigerte sich zu glauben, dass sie in einem gewissen Licht attraktiv sein könnte. Viktorianer hatten Vorurteile gegen rote Haare, also hatte sie gelernt, sich für ihr Aussehen zu schämen. Nun hatte der Geschmack sich geändert, und sie konnte durchaus als modisch durchgehen. Sie war zierlich genug für den New Look. Selbst eine Brille galt heutzutage nicht mehr als Verunstaltung.
»Ich hatte kurzes Haar, als ich warmblütig war«, sagte Geneviève. »Es war in Mode. Wegen Jeanne d’Arc.«
Charles ließ sich das durch den Kopf gehen. »Du warst eines dieser Mädchen, die als Junge durchgingen und die Meere befahren und Piraten werden wollten. Kate hat einen seriöseren Beruf.«
»Das sehen viele anders, Darling.«
Kate stand auf und küsste ihn.
Geneviève durchzuckte es. Ihre Nägel schoben sich ansatzweise heraus.
Nach kurzem Nachdenken wusste sie, dass Kate den Kuss verdient hatte. Sie war da gewesen, als Geneviève gefehlt hatte. Während Geneviève dem zwanzigsten Jahrhundert aus dem Weg gegangen war, hatte Kate dazugehört und war während der Alptraumjahre an Charles’ Seite geblieben.
Kate tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch.
»Schau«, sagte sie. »Ich weine. Du hältst mich bestimmt für albern.«
»Ganz und gar nicht«, sagte Charles sanft.
»Kate ist bereits in einen Mordfall verwickelt«, sagte Geneviève.
»So liest man, ja.«
Charles wies auf die Nachmittagsausgaben von Il quotidiano und Paese sera. Sie lagen auf einem nierenförmigen Couchtisch, dem jüngsten Möbelstück im Raum.
»Ich musste sie vor der Polizei retten.«
»Wer leitet die Ermittlungen?«
Geneviève sah zu Kate.
»Ein Inspektor Silvestri«, sagte Kate. »Kennst du ihn?«
»Ich habe von ihm gehört. Er soll ein guter Mann sein. Letztes Jahr hat er dieses Pärchen gefasst, das blutige Schmetterlingsbroschen auf den Leichen seiner Opfer hinterließ. Aber diesem Mörder hat er natürlich noch kein Ende gesetzt. Den Zeitungen zufolge hast du den scharlachroten Henker gesehen?«
»Eigentlich nur sein Spiegelbild«, sagte Kate.
»Ein feiner Unterschied, den man durchaus machen sollte.«
Charles war lebhafter, als Geneviève ihn seit Wochen erlebt hatte, lebhafter sogar als bei dem Besuch des britischen Spions. Sie hatte gar nicht gewusst, dass er sich für die Morde an Vampirältesten interessierte, aber es überraschte sie nicht. Sorgte er sich um ihre Sicherheit? Er war gelegentlich sehr besorgt um sie, aber sie hatte sich das mit den Übertreibungen des fortgeschrittenen Alters erklärt. Sie hatte ihn unterschätzt. Wieder einmal.
»Letzte Nacht mitgezählt, hat es siebzehn Morde gegeben seit der Befreiung«, erzählte Charles Kate. »Alles Vampirälteste. Alle in Rom, und die meisten an öffentlichen Plätzen. An Touristenorten sogar. Professor Adelsberg wurde in der Engelsburg gepfählt. Dieser Leutnant von Dracula, den man Radu den Widerwärtigen genannt hat, wurde auf den Stufen des Museo Borghese enthauptet. Und die Herzogin Marguerite de Grand, die als große Schönheit galt, wurde im Schatten der Statuen von Castor und Pollux auf der Piazza del Quirinale vernichtet.«
»Adelsberg sagt mir etwas«, sagte Kate. »War er nicht ein Kriegsverbrecher? Einer von Hitlers Vampirärzten?«
»Möglicherweise war er kein Opfer des scharlachroten Henkers. Die anderen waren echte Älteste, vier- und fünfhundert Jahre alt, zumeist aus dem Geblüt Draculas und mit Titeln und Auszeichnungen, die es bewiesen. Der Professor hat nicht einmal sein Jahrhundert vollgemacht. Vielleicht haben die Israelis ihre Leute auf ihn angesetzt. Oder er ist aus Prinzip ermordet worden, von jemandem, der einen guten Grund hatte. Wie du weißt, passiert so etwas, wenn über Mörder lang und breit berichtet wird. Trittbrettfahrer begehen ähnliche Verbrechen, schieben ihnen Morde unter, die gar nichts damit zu tun haben. Das geht so leicht, wie man am Strand einen Kieselstein verstecken kann.«
»Für einen Ältesten wirkte Kernassy gar nicht so monströs.«
Da war sich Geneviève nicht so sicher. Kate hatte den Grafen nur ein paar Stunden am Ende eines vierhundert Jahre währenden Lebens gekannt. Kernassy gehörte zu il principes Karpatern, und die waren eine viehische Meute. Vielleicht hatte dieser eine hier nur etwas bessere Manieren gehabt.
»Trotzdem ist es schon merkwürdig«, sagte Charles, »dass du da mitten hineinspazierst.«
»Sie hat am Flughafen eine Bekannte getroffen und sollte ein bisschen was erleben«, sagte Geneviève. »Penelope.«
Für einen Moment sah Charles ganz ermattet aus.
»Arme Penny«, sagte er leise. Er machte sich zu viele Vorwürfe dafür, was aus Penelope Churchward geworden war, was sie aus sich gemacht hatte.
»Sie taucht wirklich auf wie die sprichwörtliche Böse«, sagte Kate. »Penny, meine ich. Was hat sie vor, dass sie jetzt bei Dracula mitmacht?«
Charles versuchte die Schultern zu zucken, bekam sie aber nicht hoch.
Es war immer noch ungeklärt, ob Geneviève ihr Charles weggenommen oder Penny ihn für ihren Fangvater verlassen hatte, den in schlechter Erinnerung behaltenen Lord Godalming. Geneviève war der Ansicht, dass keines von beidem richtig stimmte. Charles hatte Penelope sich selbst überlassen, weil er eine größere Verpflichtung empfand, und Geneviève war zufällig zeitgleich mit dieser Verpflichtung in sein Leben getreten. Wäre es anders gewesen, hätte er sein Versprechen Penelope gegenüber gehalten, ganz gleich wie unglücklich es sie beide gemacht hätte.
Er war, in vielerlei Hinsicht, ein unmöglicher Mann.
»Trefft ihr euch mit ihr?«, fragte Kate.
»Sie ist vorbeigekommen«, gab Geneviève zu. »Ab und zu mal.«
»Das wundert mich nicht.«
»Das ist alles lange her«, sagte Charles.
Das sah Geneviève aber anders. Und Penelope wahrscheinlich auch. Kate genauso.
Am Ende seines Lebens war Charles versöhnlich.
Freilich hatten Kate und er Penelope als warmblütiges Mädchen gut gekannt. Geneviève lernte sie im Grunde erst als eine dieser Neugeborenen kennen, die reinweg gar nichts begriffen. Gleich nach der Verwandlung hatte Penelope schlechtes Blut getrunken und sich für zehn Jahre zu einer Invalidin gemacht. Die Behandlung durch einen Quacksalber mit Blutegeln hatte auch nicht viel geholfen. Wenn überhaupt, dann hatte Geneviève - die damals als Ärztin arbeitete - ihr das Leben gerettet. Es war ihre Pflicht gewesen, also unterschied sie sich wohl gar nicht so sehr von Charles.
»Sie war die Erste, die fand, ich sollte mich verwandeln«, sagte Charles. »Sie wollte, dass wir zusammen Vampire wurden. Es schien das Richtige, wenn man fortschrittlich sein wollte.«
Kate warf Geneviève einen alarmierten Blick zu. Er nahm ihre sorgfältig aufgebaute Argumentation vorweg.
»Gené, Kate.« Charles sah sie an, als wären sie seine beschämten Enkelkinder. »Ich weiß, dass ihr es nicht so meint wie sie, aber ihr wollt dasselbe. Das, was ich nicht tun kann.«
Kate bedeckte ihr Gesicht, um die Tränen zu verbergen.
»Es tut mir leid, Kate.« Charles berührte sie am Ellenbogen. »Der Fehler liegt nicht bei dir. Oder bei dir, Gené. Sondern bei mir.«
Trotz der Stärke seiner Gefühle verging er vor ihren Augen. Mit jedem Tag, mit jeder Stunde vielleicht, wurde er schwächer, seine Ausstrahlung unbestimmter, verlor er Substanz.
»Du bist nicht zu alt dafür, Charles«, sagte Geneviève. »Du kannst dich noch verwandeln. Ganz bestimmt.«
Er schüttelte den Kopf.
»Du könntest wieder jung sein«, seufzte Kate.
»Er wurde wieder jung«, sagte Charles. »Graf Dracula. Ich bezweifle, dass er an seiner neuen Jugend viel Freude hatte. Er kam mir immer wie ein zutiefst trauriges Individuum vor. Als er sich verwandelte, ging ihm etwas verloren. Das ist bei den meisten Vampiren so. Selbst bei euch, meine unsterblichen Lieblinge.«
Er sah gelassen aus, aber Geneviève hörte seine Aufgeregtheit. Sein Herz schlug schneller. Seine Augen waren feucht. Seine Stimme brach beinahe.
»Ist es denn so egoistisch von mir?«, fragte er. »Gehen zu wollen?«
 
Später, nach Einbruch der Dunkelheit, saßen sie beisammen und redeten über die Vergangenheit, zwangen sich dazu, die Gegenwart und die Zukunft auszublenden. Kate drängte Charles, Geneviève von den vielen Dingen zu erzählen, die sie verpasst hatte, als sie in diesem Jahrhundert nicht bei ihm gewesen war.
Natürlich hatte sie mitbekommen, wie nahe Charles und Kate einander während des ersten Krieges gestanden hatten. Nun hörte sie, wie viele ihrer Hoffnungen sie an Edwin Winthrop vom Diogenes-Club geknüpft hatten, den sie selbst nie kennengelernt hatte, sich aber gut von ihren Geschichten her vorstellen konnte. Sie bereute es fast, nicht dort im blutigen Schlamm Frankreichs gewesen zu sein, im Dickicht einer ebenso absurden wie entsetzlichen Intrige.
Sie war das Geschöpf eines langsameren Zeitalters, in dem die Zeit durch Jahreszeiten gemessen wurde und nicht durch das Ticken der Armbanduhren. Sie hatte sich nie an dieses Jahrhundert der Düsenflüge und Sputniks, der Breitleinwandfilme und des Rock’n’Roll gewöhnt. Charles hatte mehr durchlebt, als sie je durchleben würde, und war davon mehr berührt worden. Dass nichts sie berührte, nahm sie nun als Schwäche wahr.
Dafür war eben Kate da. Sie erzählte vom zweiten Krieg, den sie am Boden miterlebt hatte, und Charles von Landkarten und Depeschen. Kates Engagement war so selbstlos, sie tat alles dafür, dass es gerechter in der Welt zuging. Ihre Leidenschaft brannte mit einer Heftigkeit, die Geneviève leider abging. Wenn es einen Gott gab, dann musste Kate Ihm näher sein.
Charles wurde müde, bestand aber darauf, bei »den Mädchen« zu bleiben. Ihm sackte ab und zu der Kopf herunter, er schlief sogar.
»Sieht ganz so aus, als ob Lord Ruthven nach der nächsten Wahl nicht mehr Premierminister ist«, sagte Kate. »Er hat sich von Suez nie erholt. Aber wir dachten schon einmal, dass er weg vom Fenster wäre. Als Winston im Krieg übernahm, war ich mir hundertprozentig sicher, dass wir ihn jetzt los wären. Aber er kehrte zurück. Das ist etwas, worauf ich gern verzichten würde, Politiker, deren Karrieren endlos weitergehen. Und Ruthven ist das reinste Chamäleon. Er fügt sich in die Umgebung ein, und auf einmal ist er wieder da, als ein anderer Mensch.«
Geneviève fragte Kate nach den neuen Filmen, Stücken, Büchern, der Musik. Wie sehr hatte London sich verändert? Wen hatte sie in der letzten Zeit kennengelernt? Wer war berühmt?
»Der Daily Mirror hat kürzlich eine Umfrage über Vampire gemacht, wer der am meisten bewunderte und wer der unbeliebteste ist. Im Zusammenhang mit einer Ausstellung bei Madame Tussaud. Was meinst du, wer ist der prominenteste britische Vampir heutzutage?«
Geneviève hatte keine Ahnung. »Edmund Hillary?«
»Auch nicht schlecht. Nein, Cliff Richard.«
»Wer?«
»Ein Popsänger. Living Doll?«
Dieses Lied hatte Geneviève schon gehört.
»Überleg dir das mal, Geneviève. Er wird nie alt werden, nie seine Stimme verlieren. Hätte es je einen Caruso gegeben, wenn Farinelli immer noch da gewesen wäre? Hätte Wagner gegen den hundertjährigen Mozart bestehen können? In vierzig Jahren, wenn Sänger, die heute noch gar nicht geboren sind, ihren eigenen Ausdruck finden sollen, wird Cliff Richard immer noch da sein und von seiner crying, talking, sleeping, walking living doll träumen.«
»Man sagt, dass nur wenige Vampire Künstler von Rang werden«, sagte Geneviève.
»Es gibt Ausnahmen. Glaub mir, Mr. Richard ist keine.«
Kate versuchte das Lied zu summen, über das sie geredet hatte. Geneviève lachte.
»Die Geschichte schnurrt zu einer Hitparade zusammen«, sagte Kate. »Und wir haben den Dracula Cha-Cha-Cha schon alle viel zu lang getanzt.«
Eine Glocke läutete.
Geneviève ging rasch zur Tür. Es war ein Diener in Livree, mit einer Botschaft.
Geneviève nahm sie und sagte ihm auf Wiedersehen, dann schlitzte sie den Briefumschlag mit einer verlängerten Daumenkralle auf. Drei Karten mit Goldrand fielen heraus. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Charles alarmiert und Kate beeindruckt war.
»Wir sind zu einem Fest eingeladen«, verkündete Geneviève, »vom Grafen Dracula und seiner Zukünftigen, Prinzessin Asa Vajda. Stellt euch bloß vor.«
Die Vampire
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