I
DREI LEICHEN IN EINEM BRUNNEN
Verlobungsanzeige aus der Londoner Times
vom 15. Juli 1959:
Asa Vajda, Prinzessin von Moldawien, wird Vlad
ehelichen, Graf Dracula, ehemals Prinz der Walachei, Woiwode von
Transsylvanien und Prinzgemahl von Großbritannien. Der Bräutigam
war zuvor verheiratet mit Elisabeta von Transsylvanien (1448-62),
Prinzessin Ilona Szylagi von Ungarn (1466-76), Marguerite Chopin
aus Courtempierre (1709-11), Königin Viktoria von Großbritannien
(1886-88) und Sari Gabòr aus Ungarn und Kalifornien (1948- 49). Die
Braut, eine entfernte Verwandte der Mutter des Bräutigams,
Prinzessin Cneajna Musatina von Moldawien, stammt aus dem Geblüt
derer von Javutich. Seit sie 1938 ihre Heimat verlassen musste, hat
sie in Monaco und Finnland ihren Wohnsitz. Die Hochzeit wird am 31.
Oktober dieses Jahres im Palazzo Otranto im italienischen Fregene
stattfinden.
1
Dracula Cha-Cha-Cha
Alitalia bot im vorderen Teil des Flugzeugs
eine spezielle Klasse für Vampire an. Die Fenster waren mit
schwarzen Vorhängen gegen die Sonne verhüllt. Entsprechend teuer
war der Flug. Warmblütige konnten gegen Aufpreis ebenfalls dort
buchen, was aber niemand getan hatte. Umgekehrt stand Kate der
normale Passagierraum nicht zur Verfügung. Die Fluggesellschaft
ging davon aus, dass die Untoten daran vor lauter Reichtum ohnehin
kein Interesse hatten, was in Kates Fall eine Fehleinschätzung
war.
Das Flugzeug startete am Nachmittag bei trübem
Wetter in Heathrow und sollte bei Sonnenuntergang in Rom landen. In
der Luft las Kate sich gut in Samstagnacht und Sonntagmorgen
ein. Sie nahm das Motto »Lasst euch von den Blutsaugern nicht
kaputtmachen« nicht persönlich und identifizierte sich mehr mit
Arthur Seaton als mit den Vampiren, die die Fahrradfabrik leiteten,
in der er arbeitete. Alan Sillitoe machte keine Stimmung gegen ihre
Art, er gebrauchte Metaphern. Wobei man in einigen Gegenden
Englands tatsächlich auf Intoleranz stieß: Sie war im vergangenen
Jahr in die Blutkrawalle von Notting Hill geraten, und von
kruzifixschwenkenden Halbstarken, die sie im Waschsalon bedrängten,
konnte sie auch ein Lied singen.
In den zwanziger Jahren hatte sie Venedig besucht
und während der alliierten Invasion in Sizilien und Süditalien
gedient, aber in Rom war sie noch nie gewesen. Geneviève hatte ihr
angeboten, sie am Flughafen Fiumicino abzuholen, aber Kate wollte
die Fahrt in die Stadt lieber allein machen. Geneviève blieb besser
bei Charles. Sie verbrachten gerade ihre letzten gemeinsamen Tage
miteinander. Sie konnten die ungestörte Zeit gebrauchen,
bevor Kate kam, um Geneviève etwas unter die Arme zu greifen, und
damit zwangläufig auch den Anstandswauwau spielen würde.
So nah wie Geneviève hatte sie Charles nie
gestanden, nicht einmal 1888, als sie noch eine junge Frau und
Geneviève seine erste Vampirin gewesen war. Natürlich liebte Kate
ihn, was albern war und traurig und bald dazu führen würde, sich
allein und verloren vorzukommen. Sie kam bei Charles Beauregard
immer an letzter Stelle: nach seiner Frau Pamela, seiner Verlobten
Penelope, seiner Königin Viktoria und - wegen ihrer
Allgegenwärtigkeit am schwersten zu ertragen - nach der
anbetungswürdigen Geneviève Dieudonné.
Kate musste sich oft vor Augen führen, dass sie
Geneviève gernhatte. Was es wahrscheinlich nur noch schlimmer
machte.
Gegen Ende des Fluges wurde ein Imbiss serviert,
eine lebende weiße Maus. Da sie sich nicht gern in der
Öffentlichkeit nährte, lehnte Kate ab. Als sie zu der Stewardess in
der flotten Uniform aufsah, fiel ihr zwischen Kragen und Kehle ein
himmelblaues Seidentuch auf. Kate spürte die Bissmale der
warmblütigen jungen Frau und fragte sich, ob Alitalia vom
Bordpersonal wohl verlangte, dass es wichtigen vampirischen Kunden
den Hals darbot. Wahrscheinlich hatte sie eher einen untoten
Freund, der sich nicht beherrschen konnte.
»Wenn ich vielleicht Ihre noch haben dürfte?«,
fragte ein Passagier, ein Ältester mit schmalem Gesicht. »Mir
knurrt der Magen.«
Er hatte bereits eine sich windende Maus in der
linken Hand.
Kate zuckte höflich die Achseln. Er beugte sich
über den Gang und griff in den kleinen Käfig der Stewardess.
»Vielen Dank, Signora«, sagte er, als er seine
Beute hatte.
Der Vampir öffnete den Mund wie eine Python. Rote
Membranen entfalteten sich, als die Kiefer ausrenkten und eine
Doppelreihe
Fangnadeln entblößten. Er warf sich beide Happen in den Schlund
und zerbiss krachend ihre kleinen Leben. Er walkte die Mäuse durch
wie Kaugummi und schluckte, die breiigen Fellbündel in den
Backentaschen, den Saft in winzigen Portionen hinunter.
Der Älteste trug vollen Putz: weißes Rüschenhemd,
schwarze Frackschleife, Cutaway aus Samt, Brokatweste, Siegelring
vom Playboy-Club, Schnallenstiefel, Armbanduhr von Patek Lioncourt,
schwarzer Abendumhang mit rotem Futter. Er sah aus wie ein
mitteleuropäischer Habicht: das gelackte schwarze Haar streng vom
spitzen Ansatz zurückgekämmt, weißes Gesicht, rote Augen,
Scharlachlippen.
»Oder wäre Signorina richtig?«, fragte er mit
vollem Mund.
»Miss«, gab sie zu. »Katharine Reed.«
Der Älteste spie Haut und Knochen dezent in eine
Papierserviette, die er zu einem kleinen Bündel faltete und zur
Beseitigung an die Stewardess weitergab.
Mit einem förmlichen Nicken stellte er sich
vor.
»Graf Gabor Kernassy, aus dem Geblüt des Vlad
Dracula, ehemals in der Karpatischen Garde des principe
tätig.«
In seinem italienischen Exil wurde Dracula il
principe genannt, der Fürst. Ein Titel, der ihm zustand und der
ihn von den zahllosen Grafen wie diesem hier abhob, die in seinem
Gefolge umherschwebten. Eine Anspielung auf Machiavellis Anleitung
für geniale Tyrannen war ebenfalls beabsichtigt.
»Dies ist meine Nichte«, wies Graf Kernassy auf die
Vampirin auf dem Fensterplatz neben sich. »Malenka.«
Ein kurzer Blick genügte, um zu wissen, welche
Sorte »Nichte« Malenka für den Grafen darstellte. Sie war für einen
großen Auftritt zurechtgemacht, in einem bodenlangen scharlachroten
Abendkleid, das ganz auf die Betonung ihres enormen Busens
ausgelegt war. Der Ausschnitt bot freien Blick auf ein tiefes Tal
und reichte fast bis zum Bauchnabel hinab. Auf den oberen
Wölbungen ihrer Brüste glitzerten Diamanten. Ihre hellblonde Mähne
war von vergleichbarer Üppigkeit, und ihr rasiermesserscharfes
Lächeln verdankte sie entweder dem Blutgeschlecht oder der
schwedischen Zahnmedizin. Ihre kastanienbraunen Augen blitzten
ebenso arrogant wie belustigt.
Kate rügte sich dafür, dass sie Malenka gleich in
eine Schublade steckte. Sie hatte sie mit einem Blick als eine
nouveau eingestuft, eine dieser neugeborenen Vampirdamen,
die sich an geeignete Älteste heranmachten, weil sie gern zu
vornehmen Leuten gehören wollten, die dreihundert Jahre älter
waren.
Sie winkte der Frau mit den Fingerspitzen. Malenka
klappte gezupfte Brauen hoch.
Die drei waren die einzigen Vampire auf diesem
Flug. Kate fand einen gewissen Gefallen an dem alten Halunken von
einem Grafen, der sich des Eindrucks, den Malenka machte, durchaus
bewusst zu sein schien. Kernassy hielt gerade lange genug in der
Darstellung seiner Rolle während der höfischen Intrigen mehrerer
Jahrhunderte inne, um sie zu fragen, was sie beruflich tat und
warum sie nach Rom wollte. Sie wich der letzteren Frage aus, indem
sie die erstere beantwortete.
»Ich bin Journalistin. Für den Manchester
Guardian und den New Statesman.«
»Journalisssten!«, fauchte Malenka, das erste Wort,
das Kate von ihr hörte. »Die reinssten Tiere!«
Malenka lächelte, als möge sie Tiere, und zwar am
liebsten roh.
»Meine Nichte ist von Ihrer Presse verfolgt worden.
Sie ist sehr leicht zu erkennen.«
Kate schenkte den Gesellschaftsspalten nicht viel
Aufmerksamkeit, meinte sich aber zu erinnern, dass sie Malenka
schon einmal auf Fotos im Tatler gesehen hatte, wie sie
hinreißend gelangweilt in einem Café in Soho saß oder in Ascot
einen atompilzförmigen
Hut präsentierte. Es gehörte zu ihrem Beruf, bei allen
erdenklichen Presseerzeugnissen auf dem Laufenden zu bleiben.
Außerdem wusste sie gern, was man heutzutage trug.
»Die Filmgesellschaften sind an ihr interessiert«,
fuhr der Graf fort. »Sie ist fotogen.«
Die meisten Vampire waren das nicht. Nur wenige,
die Garbo etwa, waren Filmschauspielerinnen oder Fotomodelle.
Monsieur Erik, das Gespenst und die Engelsstimme der Pariser Oper,
war nicht nur nicht fotogen; seine Stimme eignete sich nicht einmal
für Schallplattenaufnahmen.
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Kate.
»Ihr Akzent? Er ist nicht englisch«, stellte
Kernassy fest. »Sind Sie vielleicht Kanadierin?«
»Ich bin vielleicht Irin.«
»In Irrrland lieben sie mich«, verkündete
Malenka.
»Malenka ist eine Spielzeit lang beim Gate Theatre
in Dublin gewesen. Sie war ein sehr großer Erfolg.«
Kate musste sich bei der Vorstellung von Malenka
als Molly Bloom ein Lachen verkneifen.
»Viele iiirrische Männer lieben mich«, ließ Malenka
wissen.
»Ganz bestimmt«, gab Kate ihr Recht. »Das sieht man
sofort.«
Kernassy erwiderte ihr verstecktes Schmunzeln. Es
gefiel ihm, als der liederliche »Onkel« dieses atemberaubenden,
wenn auch hirnlosen Geschöpfs angesehen zu werden. Kate fragte
sich, ob er sie warmblütig gefunden und verwandelt oder von einem
anderen, erschöpften Fangvater geerbt hatte.
»Ich glaube, die Rrrömer werden Sie auch lieben«,
erlaubte Kate sich zu sagen.
»Hörst du, Malenka? Unsere Miss Reed hier sagt dir
einen überwältigenden Erfolg voraus.«
Malenka streckte in einer Art sitzender Verneigung
die Brüste vor und nickte knapp zu unhörbarem Applaus.
»Sie hat die Hauptrolle bekommen, in einem
Spielfilm.«
»Ich bin … Medusa«, sagte sie und berührte
mit langen Fingernägeln ihre schlangenlosen Locken.
Kate sah das Vorsprechen richtig vor sich.
»Nein, mia cara«, tadelte Kernassy sie. »Du
bist Medea.«
»Gibt es Unterschied?« Malenka sah Kate um Beistand
an.
»Die eine hatte Nattern in der Frisur und ließ
Männer mit einem Blick zu Stein erstarren«, sagte Kate. »Die andere
half Aison, das goldene Vlies zu stehlen, wurde dann aber
sitzengelassen und schlug ihre Kinder tot.«
»Ich glaube, das Ende wird umgeschrieben«, sagte
Kernassy. »Das Original ist - wie drückte man es mir gegenüber noch
gleich aus? - ›kein Kassenschlager‹. Und wer würde schon Malenka
›sitzenlassen‹, wie Sie sagen?«
»Wen interrressieren Kassenschläger?« Malenka
lächelte. »Sie wollen nuurrr mich.«
Graf Kernassy hob die Schultern. Der Pilot
verkündete, dass sie ihr Ziel gleich erreicht hätten, und forderte
die Passagiere auf, sich wieder anzuschnallen, per favore.
Malenka brauchte Hilfe mit der Schließe. Der Gurt lag lose in ihrem
Schoß. In das korsettierte Kleid eingezwängt, war ihre Taille
winzig.
»Sind Sie wegen der Verlobung in Rom?«, fragte der
Graf.
Kate war verblüfft. Sie war gar nicht auf die Idee
gekommen, dass jemand das denken mochte, obwohl die neue königliche
Verbindung sogar in den Blättern, für die sie arbeitete,
ausführlichst behandelt wurde.
»Vielleicht schreibe ich irgendetwas darüber«,
sagte sie unverbindlich.
Bis zu diesem Moment hatte sie jeden Gedanken an
die Verlobung unterdrückt. Während sie und Geneviève an Charles’
Sterbebett säßen, würde die Kreatur, die ihnen in den letzten
siebzig Jahren das Leben verdorben hatte, sich in nie dagewesenem
Pomp wieder einmal eine Frau nehmen. Die politischen und
seelischen Implikationen waren vielfältig. Vielleicht würde sie am
Ende tatsächlich darüber schreiben, wenn sie ihren Abscheu in den
Griff bekam.
»Wirrr gehen zur Verlobung«, sagte Malenka.
»Persönliche Gäste von il principe.«
Kernassys Augenbrauen bildeten ein satanisches
Victory-Zeichen. Er war nicht der einzige Karpater, der wie eine
billige Imitation seines principe daherkam. Beabsichtigte
Malenka, ihn gegen einen vornehmeren Onkel auszutauschen? Wenn,
dann musste sie die königliche Verlobte ausstechen. Kate ging davon
aus, dass Asa Vajda - la principessa? - sich nicht von einer
Frau in die Tasche stecken ließ, die es nur aufs Geld abgesehen
hatte.
»Vielleicht haben Sie anderes zu erledigen?«,
bemerkte der Graf mit dem Verständnis eines Älteren. »Mamma
Roma hat viele ewige Reize, manche schmerzlich, manche
schön.«
Schmerzlich? Merkwürdiges Wort.
Das Flugzeug setzte weich auf und rollte zur
Abfertigungshalle.
Kernassy ließ Malenka und Kate beim Verlassen des
Flugzeuges den Vortritt. Natürlich ging Malenka als Erste und
posierte am Kopf der fahrbaren Treppe.
Es gab Explosionen und Blitze. Kate glaubte schon,
mit Salvenfeuer begrüßt zu werden. Es wäre nicht das erste Mal
gewesen. Kaltes, grelles Licht traf sie. Geblendet schloss sie die
Augen. In ihrem Kopf tanzten Blitze.
Ein kleines Orchester fing an zu spielen.
Unpassenderweise brachte es als Willkommensständchen »Arrivederci
Roma«.
Rufe kamen aus der Dunkelheit hinter den knallenden
Lichtern. »La bella Malenka … Signorina … die Hüfte raus,
Süße … bene, bene … Was für eine Wuchtbrumme!«
Kernassy half Kate zurück in den Fluggastraum. Sie
nahm ihre Brille ab und rieb sich die brennenden Augen. Kodak
bewarb gerade einen neuen Film zum Fotografieren von Vampiren. Die
Blitzbirnchen, die dafür benötigt wurden, waren die reinsten
Atombombenexplosionen.
»Wo Malenka hingeht, sind Paparazzi«, erklärte der
Graf.
In mehreren Sprachen wurden Fragen gerufen.
»Kommen Sie der Liebe wegen nach Rom?« - »Was
tragen Sie beim Schlafen?« - »Hat bei Ihrer Figur ein Chirurg
nachgeholfen?« - »Was halten Sie von der Verlobung?« - »Schmeckt
Ihnen das Blut von italienischen Männern besser?«
Malenka gab keine Antworten, sondern stellte die
Blitzlichter mit ihrem Lächeln in den Schatten. Sie drehte ihren
Körper, um ihre Silhouette zu betonen. Sie beugte sich vor und gab
Luftküsse, was ein wahres Wolfsheulen auslöste. Wieder kam eine
volle Breitseite von den Kameras.
Kate war bei Presseterminen am Londoner Flughafen
gewesen. Die hatten mit dem hier nicht viel zu tun. »Werden Sie
sich ein Kricketspiel ansehen, Mr. Sinatra?« - »Wie gefällt Ihnen
das englische Wetter, Miss Desmond?« - »Würde es Ihnen furchtbar
viel ausmachen, kurz für ein paar Schnappschüsse für unsere Leser
zu posieren, Mrs. Roosevelt?«
Die Gänge füllten sich mit gepäcktragenden
Passagieren, die gern aus dem Flugzeug wollten. Die Stewardess
erklärte, dass sie sich noch gedulden müssten. La bella
Berühmtheit ging vor.
Malenka stieg die Stufen hinab, als beträte sie
einen Botschaftsball, und schwenkte die üppigen Hüften. Fotografen
lagen auf dem Rollfeld, um sie von unten aufzunehmen, zappelten
herum wie auf den Rücken gefallene Käfer. Kate wartete, bis Malenka
aus dem Weg war und mit ihrem Pressepulk seitwärts verschwand,
bevor sie erneut einen Versuch machte, das Flugzeug zu
verlassen.
Das Orchester beendete seinen
Willkommensabschiedsgruß an Rom und packte die Instrumente
ein.
»Wir werden von einer Frau aus dem Hause Dracula
abgeholt«, erklärte der Graf. »Sie arrangiert die Fahrt in die
Stadt. Möchten Sie uns begleiten?«
»Das ist sehr freundlich, Graf …«
»Ich bestehe darauf. Sie haben Hotelzimmer?«
»Eine Pension, Graf. In Trastevere. Piazza Maria
24.«
»Sie werden wohlbehalten dort ankommen, Miss Reed.
Ich gebe Ihnen das Wort eines Kernassy.«
Der Älteste fand wahrscheinlich nichts dabei,
Bauernkinder abzuschlachten, um seinen roten Durst zu löschen, aber
eine Frau würde er nicht ohne Begleitung in der Stadt herumlaufen
lassen. Es war leichter, sich darauf einzulassen, als es ihm
auszureden.
Malenka setzte sich weiter in Szene. Immer noch
knallten Blitzbirnen, machte die Horde Fotografen und Reporter die
reinste Bodenakrobatik. Jetzt vermied Kate es, direkt in die
Blitzlichter zu sehen. Kameraleute von der Wochenschau waren dort
und rasende Radioreporter. Hatte sie im Picturegoer ein paar
Seiten zu viel überblättert? Entweder war Malenka die neue Marilyn
Monroe, oder in Rom erfuhr jede Frau, die im Film ein bisschen Haut
zeigte, eine solche Behandlung.
»Tangenti sind bezahlt, also wird der Zoll
unsere Pässe rasch abfertigen.« Graf Kernassy steuerte Kate an
Malenkas Darbietung vorbei zu einer gesitteteren Menge. »Bleiben
Sie dicht bei mir, und Sie kommen unter meinem Umhang mit
durch.«
Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er
es bildlich gemeint hatte.
Unter den Wartenden war eine hochgewachsene,
schlanke Vampirin in einem schicken violetten Zweiteiler und hob
eine Hand im dazu passenden Handschuh. Sie trug eine schwarz
gerahmte Sonnenbrille und ein Kopftuch mit Chinamuster, als wolle
sie nicht erkannt werden. Ihren schmalen Hals zierte eine
zweireihige Perlenkette.
»Dies wird unsere galoppina sein«, sagte
Kernassy. »Unsere Schmiererin, wie man bei Ihnen sagt.«
Die Frau nahm die dunkle Brille ab. Sie öffnete
erstaunt ihren kleinen Mund und entblößte Piranhazähne.
»Katie Reed«, entfuhr es ihr. »Ach, du liebe
Güte!«
Eigentlich hatte Kate gewusst, dass Penelope zum
Haushalt des principe gehörte und sich also in Rom aufhielt.
Aber da sie sich möglichst wenig mit Penny beschäftigte, wäre sie
gar nicht auf die Idee gekommen, ausgerechnet ihr als Erstes über
den Weg zu laufen.
»Penny«, sagte sie lahm. »Hallo.«
»Sie sind alte Freundinnen, wie ich sehe«, schloss
Kernassy nicht ganz zutreffend.
»Graf Kernassy, dies ist Penelope Churchward. Wir
kennen einander seit einer halben Ewigkeit.«
»Eine halbe Ewigkeit ist für unsereinen gar
nichts«, sagte er und ergriff galant Penelopes Hand.
Die Engländerin setzte ein Lächeln auf, das
wesentlich überzeugender als Malenkas Versuche war. Man musste sie
gut kennen, um zu durchschauen, woran es ihm mangelte.
»Da bist du also wieder, Katie«, sagte sie. »Du
willst Charles besuchen, nehme ich an.«
Zum Zeitpunkt ihres Todes war Penelope mit Charles
verlobt gewesen. Dass sie zu einem Vampir wurde, setzte der
Beziehung damals ein Ende. Geneviève hatte auch etwas damit zu tun,
nicht aber die arme Brillenschlange Katie Reed. Sie fragte sich, ob
Penny nicht wenigstens zum Teil wegen Charles in Rom war. Er hatte
eindeutig den Dreh heraus, wie man Vampirdamen um sich scharte.
Ganz ähnlich wie il principe.
»Hast du ihn schon besucht?«, fragte Katie wider
Willen.
»In letzter Zeit nicht. Es geht ihm nicht gut. Er
muss sich bald verwandeln, oder wir werden ihn verlieren.«
In diese Richtung hatte Kate sich auch schon
Gedanken gemacht. Dass Penelope eine solche Behandlung erwähnte,
war nicht gerade ermutigend. Wenn es Pennys Idee war, war er
wahrscheinlich strikt dagegen. Er würde doch vernünftig sein, wenn
sich die letzten Wolken sammelten und der Schnitter seine Sense
schärfte?
Malenka schwebte herüber, ganz Zähne und Zitzen.
Die Paparazzi hielten Schritt. Weggeworfene Blitzbirnchen
zerbarsten zu Glaskonfetti. Penelope setzte ihre Sonnenbrille
wieder auf und wurde vorgestellt.
Wie der Graf versprochen hatte, geleitete sie ein
Beamter an dem Gedränge vor der Passkontrolle vorbei. Die Hälfte
der Passagiere aus dem Flugzeug waren Briten und bildeten den
Anfang einer ordentlichen Schlange. Italiener drängelten sich vor
und schüttelten freundlich die Köpfe über die Exzentrik eines
Volkes, das dem Glauben anhing, dass es besser sei zu warten, bis
man an der Reihe war, anstatt die besten Plätze zu ergattern.
Kate war noch immer zu verblüfft über Penelopes
Anwesenheit, als dass sie Schuldgefühle wegen des leichten Falles
von Korruption hätte empfinden können, der zu ihrer Bevorzugung
führte. Sie kannte tangenti - Bestechungsgelder - aus dem
Krieg, als ohne Schwarzmarkt und der Parole »Eine Hand wäscht die
andere« nichts gelaufen war. Der Frieden hatte in Italien nicht
viel geändert.
Der Graf begleitete Malenka. Ein hochgewachsener
warmblütiger Chauffeur, den Penelope mit Klove anredete, trug ihr
zahlreiches Gepäck. Malenkas Kofferset war von Vuitton, wie Kate
auffiel. Penny und sie gingen nebeneinanderher und wussten nicht,
was sie sagen sollten.
Es war Jahrzehnte her.
»Danke für die Beileidskarte, Katie. Eine
freundliche Geste. Du warst schon immer so aufmerksam.«
»Ich habe deine Mutter sehr gemocht.«
Mrs. Churchward war 1937 gestorben.
»Mama hatte dich immer sehr gern. Du warst die
Vernünftige von uns beiden.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Hast du eine Brut?« Penelope lächelte
schneidend.
Kate schüttelte den Kopf. Sie hatte sich noch nie
dazu entschieden, jemandem den dunklen Kuss zu geben, ihr Geblüt zu
vergrößern. Da müsste schon jemand ganz Besonderes kommen, hatte
sie sich geschworen. Und nie jemand ganz Besonderes
kennengelernt.
»Ich habe mehrere Fangsöhne und -enkeltöchter. Es
ist eine schreckliche Verantwortung, meine Liebe. Ich bin
verpflichtet, das Geblüt der Godalmings zu erhalten. Zum Gedenken
an den armen Art.«
Arthur Holmwood, Lord Godalming, war Penelopes
Fangvater, der Vampir, der sie verwandelt hatte. Wie Kate und Penny
war auch er ein Neugeborener der 1880er-Jahre. Und hatte, wie viele
ihrer Altersgenossen, seine natürliche Lebensspanne nicht
überdauert. Eigentlich sollten Penelope und sie einander
näherstehen. Sie waren beinahe die einzigen Überlebenden ihrer
Welt.
»Ich hätte mein eigenes Haus gegründet«, fuhr
Penelope fort, »aber ich habe meine Pflichten. Was immer du über
ihn denkst, wir stehen tief in der Schuld des principe,
Katie. Ich weiß, du warst mit bei den Aufwieglern, die ihn aus
England vertrieben haben. Aber ob es dir nun schmeckt oder nicht,
er ist unser Führer.«
Weder Kate noch Penny gehörten unmittelbar zu
Draculas Geblüt. Ihnen waren einiges von dem üblen Erbe erspart
geblieben, das die meisten ihrer Generation verdorben hatte.
»Du musst einmal in den Palazzo Otranto kommen«,
sagte Penelope,
und Kate überlief ein Schaudern. »Gerade geht es hektisch zu,
wegen der Vorbereitungen des Verlobungsfests und der ganzen
heimlichen Abstimmungen zwischen den Botschaften. Er würde
dich bestimmt empfangen. Charles ist sogar eingeladen, zusammen mit
dieser Französin. Wenn Dracula ihnen vergeben kann, dann wird er
auch über deine kleinen revoluzzerhaften Anflüge
hinwegsehen.«
Während des Kampfes, Dracula vom Thron
Großbritanniens zu verdrängen, hatte Kate sieben Jahre als
Geächtete verbracht, hatte sich vor den Karpatern, die sie pfählen
wollten, versteckt gehalten und eine Untergrundzeitung
herausgegeben. Später, im Ersten Weltkrieg, war sie unter einem der
schönen Spielzeuge des principe begraben worden, einem der
ersten Panzer. Sie hegte den starken Verdacht, dass das Monstrum
sich ihr gegenüber mehr Versöhnlichkeit leisten konnte als
andersherum. Außerdem ging ihr Pennys beiläufige Unterstellung
gegen den Strich, politische Agitation sei ein flüchtiger
Zeitvertreib, etwas, mit dem sich die unausgefüllten Jahre einer
fangkinderlosen Ewigkeit herumbringen ließen.
Sie riss sich zusammen. Penelope drückte sämtliche
Knöpfe bei ihr, wie immer. Aber diesmal würde Kate nicht wieder das
bebrillte Mauerblümchen sein, das sich über seine hübschere
Freundin entrüstete und zugleich an jeder spitzen Bemerkung hing.
Schon zu Lebzeiten, als Kinder, als Kate sie öfter hatte
beaufsichtigen müssen, war Penny sehr geschickt darin gewesen,
andere zu manipulieren. Jetzt hatte sie die Kunst, sich
durchzusetzen, jahreund jahrzehntelang perfektioniert.
»Hier sind die Wagen«, verkündete Penelope.
Sie waren durch den Flughafen und hinaus auf die
Straße geeilt. Am Rinnstein standen ein roter Zweisitzer von
Ferrari und ein leichenwagenähnlicher schwarzer Fiat. Der Ferrari
diente als Kulisse für Malenka.
Erneut knallten Blitzbirnen, als Malenka sich in
den winzigen
Sportwagen helfen ließ. Sie stand aufrecht darin und blies der
versammelten Menge wieder Luftküsse zu.
Penelope lachte leise und schüttelte den Kopf, was
Kate besser von ihr denken ließ.
»Erinnert mich an ein Paar Torpedos, Katie, die
gerade abgeschossen werden.«
Sie waren einmal Freundinnen gewesen.
»Wir anderen ersparen uns den Wind«, sagte
Penelope. »Der Bus ist um einiges geräumiger als das
Milchauto.«
Ein warmblütiger Mann stand bei den Wagen
herum.
»Katie, das ist Tom.« Penelope ließ ihre
Fingerspitzen über sein Revers gleiten, um die Besitzlage
aufzuzeigen. »Er ist ein Amerikaner, den es nach Europa verschlagen
hat.«
Der junge Mann gehörte auf eine unterwürfige,
inoffizielle Weise zu der Gesellschaft. Sein Handschlag verriet gar
nichts, er war vermutlich ein Trabant. Kate fielen an seinem Hals
ein paar Kratzer auf. Sie sah seinen nachdenklichen Blick und
konnte sich denken, dass er überschlug, was ihre Kleidung gekostet
hatte. Im Moment hatte er die Aufgabe, den Ferrari zu lenken und
den Kopf unten zu halten, damit er nicht mit auf die Fotos
kam.
Klove hielt die hintere Tür des Fiat auf, und Kate
stieg ein, anmutig gefolgt von Penelope. Sie sanken nebeneinander
in einen tiefen Ledersitz. Jemand saß bereits gegenüber und rauchte
eine Zigarette. Graf Kernassy raffte seinen Umhang und schlüpfte zu
ihnen hinein. Der Chauffeur schloss leise die Tür und ging nach
vorn.
Der Graf umarmte den Raucher und küsste ihn auf
beide Wangen, ohne seiner Zigarette in die Quere zu kommen.
»Dies ist Signora Reed, die wir während des Fluges
kennengelernt haben«, erklärte der Graf. »Sie ist in Ihrer Branche,
Marcello. Eine Reporterin. Aus Irland.«
Der Reporter beugte sich vor ins Licht. Er sah
bemerkenswert
gut aus, auf eine gelangweilte, müde Art. Sein dunkles, welliges
Haar hatte eine Spur unverdienten Graus an den Schläfen. Wie Penny
trug er eine große, dunkle Sonnenbrille. Er lebte, darum fand Kate
die Brille einigermaßen affektiert.
Marcello streckte eine Hand aus und ergriff die
ihre.
Es war wie ein Stromschlag.
Sie musste aufpassen bei diesem römischen Reporter.
Sein lässiges Lächeln mit hängender Kippe hatte etwas Aufreizendes.
Er war gewandt und gepflegt, neigte jedoch zu einer
Wohlgenährtheit, die Köstliches versprach. Unter dem Rasierwasser
und dem Tabak war ein Hauch süßen Blutes zu riechen. Sein Hals war
frei von Bissen.
Er hielt ihre Hand ein paar Sekunden länger als
nötig, dann wandte er sich dem Grafen zu und plauderte mit ihm auf
Italienisch, wobei er sie eine Spur zu absichtlich
ignorierte.
Ihr Herz schlug schneller. Sie war sich bewusst,
dass Penelope ihr erwachtes Interesse bemerkte. Das würde sie noch
verfolgen. Penny war immer gut darin, für Regentage Munition
zurückzulegen.
Aber Kate war in Rom. Und ihr gegenüber saß ein
bildschöner Mann.
Bis sie in der eigentlichen Stadt waren, ging die
Sonne unter. Kate begriff, dass der Graf in der Innenstadt
logierte. Ihre Pension war in Trastevere, durch das sie gerade
fuhren. Sie versuchte den Ältesten zu überzeugen, dass er sie
hinausließ, aber er fegte die Bitte beiseite.
»Auf gar keinen Fall, mia cara Signorina
Reed. Wir sind mit Ihnen noch nicht fertig. Ich bestehe darauf,
dass Sie an unserem Fest heute Abend teilnehmen. Sie und Signorina
Churchward haben viel zu bereden. Und Sie müssen die Via Veneto bei
Nacht erleben. Es ist die aufregendste Straße der Welt.«
Kates Mietwohnung lag in der Holloway Road. Nicht
einmal die aufregendste Straße von Nord-London. Der Graf hatte sie
schon überzeugt.
»Sie, Marcello, werden Signorina Reed begleiten«,
ordnete Kernassy weltmännisch an.
»Aber selbstverständlich«, sagte Marcello, seine
ersten Worte auf Englisch.
»Ich fürchte, Marcello verachtet unsereins«, sagte
Penelope höflich. »Er sammelt Material für einen Roman, in dem er
mit uns abrechnen will. Sein Thema ist das hohle Nachtleben der
ewig Reichen.«
Seinem Mund war anzusehen, dass Marcello verstanden
hatte, was Penelope sagte. Sein Englisch war durchaus fließend, gut
zu wissen.
»Schreibst du immer noch für die Zeitungen,
Katie?«
»Ja.«
»Dachte ich mir.«
Penelope lehnte sich zurück. Kate hatte Angst, rot
zu werden.
»Werden Sie über Malenka schreiben?«, wandte sie
sich an Marcello.
Kate fragte sich, warum ihr Bauch so angespannt
war. Und ob ihr eine noch dümmere Frage hätte einfallen
können.
Marcello zuckte die Schultern und neigte
ausdrucksvoll den Kopf.
»Sie ist wie eine große Puppe«, sagte er und
versuchte höhnisch zu grinsen.
Kate wusste sofort, dass der Reporter in das
Filmsternchen vernarrt war, und kam sich unerklärlicherweise
betrogen vor. Diese Stadt setzte ihr zu. »Arrivederci, Roma« hatte
einen hypnotischen Zauber. Sie raubte Kate den Verstand.
Ihre Kehle prickelte vor rotem Durst.
»Aber selbstverständlich wird er über mia
cara schreiben.« Der
Graf ließ einen Arm um den Italiener gleiten. »Wir brauchen
hübsche kleine Wörter unter den ganzen großen Fotografien. Das
gehört sich so.«
Kate fragte sich, ob Marcello das herablassende
Schnurren des Grafen missfiel. Es war Stahl in Kernassys Samt, als
ob er den Reporter in der Hand hatte. Vielleicht war ein
italienischer Zeitungsmann ebenso leicht zu kaufen wie jemand bei
der Passkontrolle.
Der Fiat überquerte den Tiber an der Ponte Sisto
und folgte dem Ferrari durch die bevölkerten Straßen des Campo de’
Fiori und der Piazza della Rotunda. Autohupen tönten ein
Arrangement von Spike Jones, akzentuiert durch unverschämtes
Geschrei und dankbare Rufe. Paare auf Motorrollern schossen
zwischen den dahinzuckelnden Autos hindurch, junge Frauen mit
Schals strahlten feststeckende Autofahrer an. Fußgänger
schlenderten mehr die Straßen als die Gehwege entlang, quetschten
sich zwischen Fahrzeugen hindurch, redeten unbekümmert miteinander.
Unter den Laternen gab es sogar Herden blinzelnder Schafe, die von
aufmerksamen Kindern getrieben wurden.
»Italienische Wagen sind fürs Tempo«, sagte
Marcello, »aber italienische Städte sind nichts für Autos. Man
kommt nur im Schritttempo voran.«
Auf dem Largo di Torre Argentina war ein
Fußballspiel im Gange. Drei Dutzend Jugendliche traten zwischen den
Spaziergängern einen Ball umher. Als der Ferrari auf den Platz bog,
wurde das Spiel unterbrochen, und die Fußballer drängten sich
lärmend darum. Kate fragte sich, welches Fahrgestell sie mehr
anbeteten, das des Ferraris oder das von la Malenka.
Sie pfiffen und stampften mit den Füßen. Malenka
stand im Wagen auf und winkte.
Alle wollten rote Küsse. Malenka gewährte
ausgewählten jungen Kerlen diese Gunst und kostete von ihnen. Sie
leckte sich das
Blut von den Lippen und machte eine Geste, mit der sie die Menge
teilte. Sie konnten weiterfahren.
Bewundernde Rufe folgten ihnen.
Kates Zähne waren scharf, und ihr lief das Wasser
im Mund zusammen. Ein lästiges Bedürfnis meldete sich. Ein Vampir
zu sein hieß, mit einer Art Sucht zu leben: nach Blut. Ein paar
Tropfen genügten, um die Gier anzufachen. Die Warmblütigen gierten
natürlich nach Essen und Trinken und nach Luft. Aber die Gier des
Vampirs war stärker, grausamer, drängender.
»Für wen schreiben Sie?«, fragte sie
Marcello.
Er ratterte Namen von Publikationen hinunter, die
sie flüchtig kannte. Lo specchio, Oggi, Europeo.
Kernassy lachte. »Marcello hat einmal dieselbe
Story gleichzeitig an den Paese sera und den
L’Osservatore Romano verkauft.«
»Sie wird wohl kaum verstehen, was daran lustig
ist, Graf«, flötete Penelope. »Katie, der Paese sera ist die
Zeitung der Kommunistischen Partei Italiens, und der
L’Osservatore Romano gehört dem Vatikan.«
Marcello zuckte die Schultern; es war ihm wohl
nicht weiter peinlich.
»Die Kirchenleute und die Roten, sie können sich
auf den Tod nicht ausstehen, weißt du«, erklärte Penelope
weiter.
Kate fragte sich, ob wohl jemand etwas dagegen
hätte, wenn sie Penny den Hals umdrehte.
Der Graf hatte eine Suite im Hotel Hassler,
einem barocken Überrest der Glorie der Alten Welt, oben an der
Spanischen Treppe. Der Älteste gab dem Portier ein Trinkgeld, mit
dem Kate vermutlich einen Monat lang ihr Pensionszimmer hätte
bezahlen können.
Kate, Penelope, Tom und Marcello setzten sich in
die volle Bar, während Kernassy und Malenka sich oben häuslich
einrichteten.
Klove trug zahlreiche Koffer aus dem Fiat zur Suite hinauf. Kate
war sich ihres einen Köfferchens sehr bewusst. Penny machte eine
Bemerkung darüber, dass sie mit kleinem Gepäck reise, womit sie -
zutreffend - auf eine armselige Garderobe anspielte.
Marcello und Tom tranken Espresso, und Penelope
bestand darauf, dass Kate das Angebot für Vampire probierte. Sie
rief einen gut aussehenden jungen Ober mit ausdruckslosem Gesicht
herüber. Er trug eine schmal gestreifte Weste und sehr enge
schwarze Hosen. Penny bestellte ein Glas für sich - nur zur
Geselligkeit, sagte sie - und eines für Kate.
Der Ober öffnete geschickt einen Druckknopf an
seiner Manschette und krempelte den Ärmel hoch. Um seinen Ellbogen
war eine Aderpresse gebunden, und in einer dicken Vene an seinem
Unterarm steckte eine Stahlnadel, die durch ein kurzes
durchsichtiges Kunststoffröhrchen mit einem Hahn verbunden war. Er
öffnete den Hahn und ließ einen kleinen Spritzer seines Blutes in
ein schmales Cocktailglas laufen. Penelope machte viel Aufhebens
darum, zu schnuppern und zu kosten, dann bedeutete sie ihm
fortzufahren. Der Ober schüttete je zwei Fingerbreit des roten
Saftes über Eis und einen Limonenschnitz. Penny gab ihm eine
Handvoll Lire und winkte ihn fort. Viel Vampirkundschaft konnte er
nicht bedienen, bis er wiederbelebt werden musste. Kate fragte
sich, wie viele Nächte in der Woche er arbeitete. Vertröpfelten
hier verarmte Leute aus dem Süden ihr Leben, um ihren Familien Geld
schicken zu können? Oder wurden sie alle von einem wählerischen
Management sorgfältig unter die Lupe genommen?
Penelope hob ihr Glas und lächelte. Ihre zierlichen
Fangnadeln waren verlängert.
»Wohl bekomm’s.« Sie stieß mit Kate an und nahm
einen Schluck.
Kate sah zu Marcello und fragte sich, ob ihn dieser
Anblick
wohl abstieß. Sie konnte es nicht sagen. Er hob in der Parodie
eines Prosits seine winzige Kaffeetasse.
Ihre drei Begleiter sahen sie alle an, als sie den
Cocktail probierte.
Es war wie ein Hammerschlag. Sie hatte seit Wochen
kein Menschenblut gehabt. Sie zwang sich dazu, es nicht
hinunterzustürzen. Es war gehaltvoll und würde sie betrunken
machen, wenn sie es rasch trank. Sie genoss einen pfefferigen
Mundvoll, bewegte ihn am Gaumen, schluckte dann sittsam.
»Signorina Reed, stimmt es, was man über
italienische Männer sagt?«, fragte Marcello. »Ist unser Blut
heiß?«
»Das hier nicht«, sagte sie. »Es ist mit
Eis.«
Marcello lächelte mit aufrichtiger
Liebenswürdigkeit.
»Das geht nicht anders«, sagte Tom. »Sonst würden
Sie in Flammen aufgehen.«
Kate spürte eine gewisse Pingeligkeit bei Penelopes
amerikanischem Freund. Wenn ihm öffentliche Zurschaustellungen von
Vampirismus nicht gefielen, warum war er dann mit Penny zusammen?
War er eifersüchtig, weil sie das umgefüllte Blut eines anonymen
Obers trank anstatt seines direkt vom Fass?
Sie würde eine Weile brauchen, um aus diesen ganzen
Leuten schlau zu werden. Falls man sich nach heute Nacht überhaupt
wiedersah. Penny würde sie mit Freuden für den Rest ihres
Aufenthalts aus dem Weg gehen, und Tom zog es sicher auch vor, sie
nicht ständig um sich zu haben, aber Graf Kernassy war für einen
der ganz Alten doch ziemlich nett. Und Marcello …
Malenka kam in einem neuen Kleid in die Bar
geschritten und erregte großes Aufsehen.
Kate ging davon aus, dass sich die Via Veneto
nicht so leicht von Malenka aus dem Häuschen bringen ließ. Hier
versammelten sich allnächtlich die schönsten, berühmtesten,
berüchtigtsten
und interessantesten Leute der Welt. Sie war sicher, Jean-Paul
Sartre draußen vor dem Café de Paris erspäht zu haben, der
sich unter dem Sonnensegel ganz klein machte, als Simone de
Beauvoir Ernest Hemingway im Armdrücken bezwang. Audrey Hepburn und
Mel Ferrer spazierten Arm in Arm vorbei, eine Horde andächtiger
Gassenkinder im Schlepptau.
Aber Malenka eroberte sie alle.
Ihr Kleid aus dem Hause Massimo Morlacchi war ein
Meisterwerk der Hochbautechnik. Mitternachtschwarzer Samt, tief
ausgeschnitten, hoch geschlitzt, mit runden Fenstern an der Taille.
Malenka gehörte zu den Vampiren, die nicht mehr atmeten. Jede
Erweiterung ihres Brustkorbs hätte das Ensemble gesprengt. Um ihre
breiten, weißen Schultern - sie besaß die riesigen Schultern einer
Ringerin, wie Penny begeistert herausstellte - wand sich eine weiße
Wendigopelzstola, als wäre noch ein Rest Leben in ihr.
Der Graf stellte seine Nichte zur Schau. Sie legte
eine Hand auf seinen Arm. Ihr weißes Fleisch glühte, stellte den
Ältesten restlos in den Schatten.
Kate und Penelope gingen in der unschlüssigen
Begleitung von Marcello und Tom mehrere Schritte hinter der
Hauptattraktion. Der getreue Klove war irgendwo in der Nähe für den
Fall, dass es irgendwelche Passanten mit ihrer Aufmerksamkeit
übertrieben.
Die Paparazzi waren die reinste Meute und schossen
ein Foto nach dem anderen, ebenso aufdringlich wie unersättlich.
Kate war sicher, auf einigen am Rand als verwischter Fleck
aufzutauchen. Sie war nicht sonderlich fotogen.
Sie spazierten vom Rosati über das
Strega und das Zeppa zum Doney und tranken
jedes Mal etwas. Marcello blieb bei Espresso, aber Tom wechselte zu
Amaretto. Penelope stachelte Kate charmant zu weiteren
Vampircocktails an.
Sie wurde ziemlich betrunken. Vielleicht war ja
etwas dran an diesen Geschichten über das feurige Blut
italienischer Männer.
Sie ließ es zu, dass Marcello sie stützte, versteifte sich aber
jedes Mal, wenn sie dachte, dass sie anhänglich oder tollpatschig
wirkte.
Sie trank nichts mehr. Es fiel niemandem auf. Sie
hätte heute Nacht eine Nonne mit dem Brotmesser massakrieren
können, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Sie wurde in
Malenkas Kielwasser mitgezogen.
Bei jedem Einkehren boten junge Männer Malenka den
Hals an. Manche tätschelte sie, manche biss sie, manche trank sie
fast leer. Sie musste randvoll mit Blut sein, und doch war sie
immer noch so weiß wie Knochen und Eis. Kate bekam mit, dass ein
junger Kerl in ihren Armen kalt wurde und beinahe starb, selig,
ohne jede Klage.
Bei jedem Café und in den Straßen war Musik.
Orchester, tragbare Plattenspieler, kleine Transistorradios.
Summende, singende, stampfende, jubelnde Leute. Ein lästiges Lied
war allgegenwärtig. Als Kate begriff, wie es hieß, war sie
geistesgegenwärtig genug, entgeistert zu sein.
Malenka segelte auf dem Rhythmus dahin. Alle paar
Sekunden blieb sie stehen und machte drei plötzliche Stöße mit den
Hüften und den Ellbogen.
Cha-Cha-Cha …
»Es ist für die Hochzeit«, erklärte ihr Penelope.
»Peinlich, wirklich. Prinzessin Asa kann es nicht ausstehen
…«
Drac-u-la, Drac-u-la …
Dra! … Cha-Cha-Cha …
Malenka tanzte im Gehen. Reiche Müßiggänger, die
angeblich nichts mehr beeindrucken konnte, blieben stehen und
gafften. Berühmtheiten gestatteten sich vorübergehend, Nebenrollen
in der Breitwand-Technicolor-Darbietung ihres Festzugs zu
übernehmen. Der Fernsehautor Clare Quilty ignorierte die
vorbeiziehende Sensation ostentativ und machte eine giftige
Bemerkung
in Sachen Überentwickeltheit zu seiner ätherischen Vampirgefährtin
Vivian Darkbloom. Der Schauspieler Edmond Purdom legte mehr
Gefühlsausdruck und Begeisterung in sein Gesicht, als er auf der
Leinwand je zustande gebracht hatte. Der polnische Werwolf Waldemar
Daninski heulte und bellte wie der große böse Wolf in den
Zeichentrickfilmen von Tex Avery.
Ebenso verblüfft wie bestürzt sah Kate zu Marcello.
Ohne den Blick von Malenkas rotierendem Hinterteil abzuwenden,
zuckte er die Schultern und steckte sich die nächste Zigarette an.
Sie winkte mit den Fingerspitzen, um seine Aufmerksamkeit zu
erhaschen. Er bot ihr sein Zigarettenetui an, und sie nahm eine, um
den Blutgeschmack in ihrem Mund wegzurauchen. Er klappte ein
Zippo-Feuerzeug auf. Sie beugte sich vor, um die Flamme anzusaugen.
Sie stießen mit den Köpfen zusammen und entschuldigten sich.
Hier lief doch etwas.
Sie sah sich um. Penelope und Tom hinkten
hinterher. Penny erzählte dem Amerikaner konzentriert etwas und
hielt ihn beim Arm gefasst. Dort lief wohl auch etwas.
Herumstreunende Paparazzi, denen es nicht gelungen
war, zu Malenka und dem Grafen vorzudringen, belästigten Marcello
und Kate. Er erklärte ihnen, dass sie weitergehen sollten, weil er
ein Niemand sei wie sie, aber sie schossen trotzdem ihre Fotos.
Kate war klug genug, ihre Augen abzuschirmen.
»Ich muss mir auch so eine Sonnenbrille zulegen«,
sagte sie.
Marcello lachte. »Stimmt, jeder trägt eine. Wir
verstecken uns alle gern. Das ist eine römische Tradition.«
Penelope und Tom waren verschwunden. Der Graf war
mit Malenka beschäftigt. Sein Versprechen, Kate nach Trastevere zu
bringen, hatte sich wie die untergehende Sonne in nichts aufgelöst.
So viel zum Wort eines Kernassy.
Sie dachte, dass Marcello sich vielleicht um sie
kümmern würde,
aber der hatte, wie alle hier, nur Augen für Malenka. Nein, seine
Aufmerksamkeit war anderer Natur. Sie erkannte eine ironische
Distanz. Er blieb außen vor. Er nahm alles in sich auf, um später
darüber zu schreiben.
Ein bisschen wie sie.
Aber Malenka hatte ihn ebenso verhext wie die
anderen Männer auch. Es musste an diesen lachhaften Brüsten liegen.
Und an diesem Berg Haaren.
Ein satyrbärtiger Mann in einem Polohemd sprang aus
einer Palme, warf sich auf die Straße und flehte Malenka an, über
ihn hinweg zu cha-cha-cha-en. Klove klaubte ihn auf und warf ihn
zurück in die Menge.
Cha-Cha-Cha …
Auf einmal war das alles extrem komisch. Kate fing
zu lachen an, Marcello stimmte höflich mit ein.
»Drac-u-la … Dra! …
Cha-Cha-Cha«, japste sie und machte zuckende Armbewegungen.
»Cha-Cha-Cha.«
Es war alles zu albern.
Marcello bewahrte sie davor, hinzustürzen.
Alles verschwamm, ging rasch ineinander über. Mehr
Cafés, mehr berühmte Gesichter, mehr Gedränge. Ein Sternbild aus
Blitzlicht-Supernovas. Malenka wollte diese Bar besuchen, sich mit
jenem pittoresken Waisenkind fotografieren lassen, das Blut eines
ganz bestimmten Obers in einer gewissen ausgefallenen
trattoria probieren, vor allen berühmten Fassaden Roms
gesehen werden, einen verdatterten Landpriester umarmen und ihm
ihre Zähne zeigen.
Kate fragte sich, wie viele Leute aus der Menge bis
zum Ende dabeiblieben, weil sie hofften, dass Malenkas Wunderkleid
völlig auseinanderfallen würde. Ihr Cha-Cha-Cha ließ bereits
weitere Risse über den Hüften klaffen, was für große Aufregung
sorgte.
Es war beinahe die modische Entsprechung einer Eisskulptur, ein
ebenso vergängliches Kunstwerk. Noch vor der Dämmerung würde es
abfallen, und die Fotografen würden endlich die Aufnahmen bekommen,
die in ihren Mappen noch fehlten.
Marcello brachte Kate dort heil hindurch. Ohne ihn
wäre sie in irgendeinem Café zurückgelassen worden wie ihr Koffer
(der immer noch im Hassler war, fiel ihr ein). Sie ließ sich
ein Dutzend Möglichkeiten durch den Kopf gehen, ihn zu fragen, ob
er etwas dagegen hätte, wenn sie ihn beißen würde, weil sie es gern
auf eine Weise formulieren wollte, die deutlich machte, dass sie
sich höflich und keinesfalls penetrant anbot und auch nichts
vorhatte, das in die Nähe einer Vergewaltigung kam.
Er war ein bisschen böse auf sie. Jedes Mal, wenn
es so schien, als ob er dichter an Malenka herankommen könnte, war
sie im Weg. Als sie spürte, wie es ihm damit ging, versuchte sie
sich nüchtern zu geben, aber es gelang ihr nicht. Ihre ernsthafte
Miene sah wohl sehr komisch aus, denn Marcello musste wider Willen
lachen.
Die Cocktails hatten nicht geholfen. Der rote Durst
war weg, aber das Sehnen war noch da. Blut reichte nicht. Es war
sehr zivilisiert und auf der Höhe der Zeit, es in ein Glas zu
füllen und wie ein stärkendes Getränk zu sich zu nehmen, aber sie
sehnte sich nach menschlichem Kontakt, nach empfindsamer Haut unter
ihrem Mund, nach etwas, in das sie die Fänge schlagen konnte, nach
den Seufzern in ihren Ohren, dem widerstandslosen Körper in ihren
Armen, dem Ansturm von Gefühlen.
Sie war albern, war fast ebenso dümmlich und plump
wie Malenka. Penelope brauchte sich dieses ganze Fratzenschneiden
nicht anzutun, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Oder
Geneviève, die war Französin und musste nur jemanden ein paar
Minuten lang ignorieren, um ihn für immer zu ihrem Sklaven zu
machen.
Auf einmal fiel Kate auf, wie heiß es war.
Mitternacht war gekommen und vorbeigegangen, aber die Nacht war
immer noch mild und tropisch. Ihr brannte das Gesicht wie einer
Warmblütigen. Blut pochte in ihren Schläfen, und sie war unsicher
auf den Beinen.
Wie kam es dazu? Das Gedränge ließ nach. Ihre
Schritte hallten durch leere Straßen. Malenka summte immer noch den
»Dracula Cha-Cha-Cha«.
Kate fiel etwas Berühmtes ins Auge.
Der Trevi-Brunnen. Ein Figurenensemble, das König
Poseidon und seine Tritonen darstellte. Wasser ergoss sich aus
einer Art Muschel. Ein Triton kämpfte mit einem sich aufbäumenden
Meerespferd, der andere führte ein frommes Tier. Die Meerespferde
symbolisieren die unvorhersehbaren Launen der See, besagte ihr
Baedeker.
Sie hatte sich für ihre »Reise nach Rom« auch einen
Besuch der Piazza di Trevi vorgenommen und sogar mit dem Gedanken
gespielt, fünfzig Lire zu vergeuden und sich etwas zu
wünschen.
Ein Kater miaute. Er trottete elegant den Rand des
Wasserbeckens entlang und schmiegte sich an Malenkas bleichen Arm.
Sie nahm den Kater hoch und rieb ihr Gesicht an seinem. Sein weißes
Fell passte exakt zu ihrer Stola.
»Armer kleiner Streuner«, sagte sie. »Er muss Milch
bekommen.«
Es war ein Befehl. Sie sah Graf Kernassy an, der
Marcello ansah.
»Es ist überall geschlossen«, sagte er. »Sogar in
Rom …«
»Irgendwo nicht«, erklärte Malenka. »Man kann so
ein kleines Tier nicht verdursten lassen.«
Sie machte Kussgeräusche. Der Kater kletterte ihr
auf den Kopf.
Dort rollte er sich zusammen, wie eine Pelzmütze mit
Schlitzaugen.
»Marcello, kümmern Sie sich darum«, sagte der Graf
kühl. Er hielt ihm ein paar Geldscheine hin. Marcello steckte sie
ein.
Kate war das peinlich. Marcello zog sich höflich
zurück, um auf die Suche nach Milch zu gehen, aber hinter seiner
Sonnenbrille kochte er. Ihr wurde klar, dass er ebenso sehr ein
Haustier war wie dieser unvermittelt adoptierte Kater, und das
bereitete ihr ein schlechtes Gefühl, um seinetwillen, um
ihretwillen.
Sie hatte mehr mit ihm gemeinsam als mit diesen
Leuten.
Malenka hüpfte auf den Beckenrand. Der Kater
rutschte ihr vom Kopf und landete wenig überraschend in ihrem
Dekolleté, glitt in das gemütliche fleischige Tal. Malenka tippelte
wie eine Seiltänzerin den Rand entlang, trat dann ins Wasser. Es
ging ihr bis zu den Schenkeln. Ihr Kleid breitete sich aus wie eine
Seerose.
Der Kater bekam es mit der Angst zu tun. Er schrie
und kratzte. Malenka biss ihm in den Nacken und schleuderte ihn
weg. Sie wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund.
Sie würden keine Milch mehr brauchen.
Kate setzte sich auf eine Steinbank. Ihr drehte
sich der Kopf.
Was immer der Kater gespürt hatte, es machte sie
ganz kribbelig. Ihre Krallen begannen zu wachsen.
Malenkas Laune änderte sich erneut. Sie watete
durch das Becken, beschwor den Grafen, sich ihr anzuschließen, ließ
sich das Wasser auf das Haar, das Gesicht, die Brust
prasseln.
»Hier sind Münzen. Du kannst nach Schätzen
tauchen.«
»Du bist mio tesoro, cara.«
Malenka drapierte sich über ein Meerespferd, zeigte
mit den Brüsten zu den Sternen.
Einer der Ober mit den Cocktails vorhin litt
anscheinend an einer fieberhaften Erkrankung. Kate fühlte sich ganz
und gar nicht
gut. Eindrücke schossen ihr durch den Kopf, explodierten wie
Blitzbirnen. Eine heiße, staubige, leere Landschaft. Lachende,
berühmte Gesichter. Ein bedrohlicher scharlachroter Schatten.
Sie legte sich auf die Bank, mit pochenden
Kopfschmerzen.
Irgendetwas Schnelles und Rotes kam auf die Piazza
gesprungen. Kernassy fuhr herum, mit wirbelndem Umhang, und wurde
angegriffen. Der Älteste wurde hochgehoben und in den Brunnen
geworfen. Sein Kopf war weg. Blut spritzte aus seinem Halsstumpf.
Sein Körper taumelte rückwärts, verfing sich im Umhang. Der Kopf
wirbelte durch die Luft und krachte in eins der Becken, dabei
zerfiel das Gesicht zu Staub.
Kate versuchte sich aufzusetzen, aber es gelang ihr
nicht.
Malenka brüllte vor Zorn; Klauen und Fänge
sprossen. Sie machte einen Satz wie eine Löwin. Ein silbriges
Blitzen traf ihren Busen.
Kate stand auf und wollte einen Schritt nach vorn
machen. Eine Hand packte sie im Nacken und zwang sie zum Zusehen.
Sie hatte schon oft den richtigen Tod über Vampire kommen gesehen.
Die meisten Ältesten starben wie Kernassy, verwandelten sich sofort
in Staub und Knochen, holten Jahrhunderte des Alterns und
Zerfallens binnen Sekunden nach.
Das aber, was mit Malenka geschah, hatte sie noch
nie zuvor gesehen.
Wäre sie warmen Blutes alt geworden, hätte Malenka
Fett angesetzt. In ihrem Körpertyp lag eine Reife, eine
Bereitschaft anzuschwellen. Nun wölbten sich die Speckschichten
unter Malenkas Haut, trieben ihr Gesicht auf, ihren Bauch, ihre
Schenkel, ihren Körper, ihre Arme. Sie ging auf wie ein Ballon,
platzte wie eine Wurst in kochendem Wasser. Weißes, von roten Adern
durchzogenes Gewebe brodelte aus ihrer zerrissenen Haut. Ihr Kleid
explodierte.
Malenka kochte über. Ihre Wangen erweiterten sich
und mit
ihnen ihre Stirn, ihre Kinnlinie, ihre Kehle, sogar ihre Lippen.
Ihre Augen starrten in Panik aus dem Grund ihrer Fleischquellen,
voller Flehen. Kate quälten Schuldgefühle, dass sie dieser Frau so
kleinliche Verachtung entgegengebracht hatte. Blut troff aus
Malenka, zusammen mit Massen von Fettzellen. Ihre Hände waren
gigantisch, das Fleisch hing ihnen von den Rücken und den
Fingern.
Kate wurde festgehalten wie ein Kätzchen. Eine
riesige Hand war in ihre kurzgeschnittenen Nackenhaare gekrallt.
Sie sah nach unten. Der Umhang des Grafen trieb auf dem Wasser wie
eine Spanne schwarzer Entengrütze. Münzen lagen auf dem Beckengrund
wie verstreute Augen.
Sie stützte sich mit vergleichsweise winzigen
Händen auf der niedrigen Steineinfassung ab.
Opernhaftes Gelächter brandete durch die Piazza di
Trevi und zum Quirinal hinauf. Der Mörder schwelgte in triumphaler
Heiterkeit. Das Rauschen des Brunnens war einen Moment lang nicht
zu hören.
Sie wurde langsam nach vorn gedrückt. Ihre Ellbogen
begannen in die falsche Richtung umzuknicken. Ihre dicken
Brillengläser, die mit Tropfen bekleckert waren, rutschten ihr die
Nase hinunter und machten alles noch verschwommener. Fangzähne
schärften sich in ihrem Mund, eher ein instinktiver
Verteidigungsmechanismus als eine Reaktion auf vergossenes Blut.
Sie spürte nicht den Anflug von rotem Durst, nur Ekel und
Verwirrung.
Der Mörder zwang gleichmäßig ihr Gesicht Richtung
Wasser, als wolle er dieses Kätzchen ersäufen. Vielleicht nahm er
an, dass sie einem Geblüt angehörte, das anfällig gegen fließendes
Wasser oder, angesichts der nahen Kirche Santa Maria in Trivio,
Weihwasser war. Wenn ja, dann täuschte er sich. Sie war nicht
einmal katholisch: Wasser, das der Papst dreimal gesegnet hatte,
machte sie einfach nur nass.
Kernassys fleischloser Schädel grinste aus einem
der oberen Becken. Seine leeren Stiefel lagen zwischen Münzen.
Fäden alten Blutes trieben im Wasser, ohne sich zu vermischen, das
verderbte Blut derer von Dracula. Es wurde vom Becken abgesaugt und
von den Düsen wieder ausgespuckt, stürzte herab wie toter
Regen.
Mit dem Gesicht dicht über der Wasseroberfläche,
benommen von dem Gestank des verdorbenen Blutes, konzentrierte Kate
sich auf das sich kräuselnde Spiegelbild des Mörders: scharlachrote
Kapuze, schwarze Dominomaske, tunnelgroße Nasenlöcher,
Burt-Lancaster-Grinsen. Sein freier, extrem muskulöser Oberkörper
glänzte von Öl.
Ihre Hände glitten vom Beckenrand und klatschten in
kaltes Wasser. Sie wurde nach vorn gestoßen und krachte mit der
Brust gegen Stein. Ihre Brille fiel herunter ins Wasser. Ohne
Sehhilfe sah sie im bewegten Wasser einen dunklen Umriss. Ihr
eigenes, selten erblicktes Spiegelbild. Es war nicht völlig
verschwunden wie bei manchen Vampiren, auch nicht gestohlen worden
wie Peter Pans Schatten. Aber seit ihrer Verwandlung war es schwer
auszumachen. Nur unter außergewöhnlichen Umständen wie dem
bevorstehenden richtigen Tod kehrte ihr Spiegelbild zurück.
Einen verrückten Moment lang war sie abgelenkt. So
sah sie also mit kurzen Haaren aus. Nicht schlecht. Sehr modern,
wie eine Art existenzialistische Jeanne d’Arc. Seit den zwanziger
Jahren schon hatte sie Lust gehabt, sich das taillenlange rote
Geschnür abzuschneiden. Erst jetzt, wo in Europa kurzgeschnittene
Bubiköpfe in Mode waren, hatte sie es gewagt, ihre Friseuse zu
bitten, die Silberschere zu schwingen.
Der Mörder, der lachte wie ein Dämon des Hohns,
presste ihr ein Knie ins Kreuz, nagelte sie am Beckenrand fest. Er
ließ ihren Nacken los. Sie griff nach hinten und tastete über sein
muskulöses Bein. Er trug dicke Strumpfhosen.
Sie wurde von einem mexikanischen Ringer
umgebracht. Das war so absurd, da fiel einem nichts mehr ein.
Er würde ihr noch die Rippen brechen, wenn er so
weiterdrückte. Würde ihr ein gebrochener Knochen das Herz
durchstoßen, wäre sie tot. Wieder einmal. Nur diesmal
richtig.
Der Mörder war kein Vampir. Er konnte es an Kraft
mit den meisten Ältesten aufnehmen, aber seine Hand war heiß,
schweißig. Sie spürte den kräftigen Puls in seinem Schenkel. Er war
warmblütig, lebendig.
Die Geräusche ihres Körpers waren deutlicher als
das Tosen des Wassers. Blut pochte in ihren Ohren. Knochen krachten
in ihrer Brust. Ihr gespiegeltes Gesicht, das nun sogar für ihre
getrübten Augen scharf war, sah sie panisch an, hasenäugig. Sie sah
sehr jung aus, wie das fünfundzwanzigjährige Naivchen, das sie 1888
gewesen war. Sie hatte große Schmerzen, was sie nicht gewohnt
war.
Der Druck auf ihr Kreuz ließ etwas nach. Das
Gelächter verstummte.
Kates erster Gedanke war nicht, sich zu retten,
sondern zu verstehen - ein Grundinstinkt aller Journalisten. Sie
fischte ihre Brille aus dem Wasser und setzte sie auf.
Sie konnte sich immer noch nicht aufrichten. Selbst
als sie den Kopf so weit in den Nacken legte, wie es nur ging,
vermochte sie nicht über das breite Becken hinwegzusehen. Auf der
anderen Seite des Wassers spiegelte sich noch ein Gesicht.
Ein kleines Mädchen lugte über die Kante. In seinem
kopfstehenden Gesicht schwamm ein Mund mit heruntergezogenen
Mundwinkeln über einem traurigen Auge. Die Kleine hatte langes
Haar, so blond wie Geneviève. Die Wellen ließen sie schimmern, als
schüttele sie feierlich den Kopf. Eine Träne kroch ihr die hohle
Wange hinauf.
Kate überlegte, wie man auf Italienisch bloß »Lauf
weg« sagte.
»Va!«, versuchte sie zu rufen, aber es kam
nur ein Japsen heraus.
Die Kleine rührte sich nicht. Sie war ein Geist im
Wasser, hing fest in der Zeit.
Der Mörder nahm sein Knie von Kates Rücken. Sie
versuchte, ihre Vampirfähigkeiten zusammenzunehmen. Krallen glitten
leicht aus ihren Fingern. Ihre Zähne wurden Fänge. Stärke regte
sich in ihren Gliedern.
Sie sprang auf, machte einen Satz auf den
Beckenrand, fuhr herum und schlug ihre Krallen in … nichts.
Der Mörder war verschwunden, wie weggezaubert. Kate
sah über die Piazza nach dem kleinen Mädchen. Sie hörte das
schnelle Patschen seiner Füße, als es die Via della Muratte
hinunterlief, und sah nur noch kurz seinen Schatten ins Riesenhafte
vergrößert auf einer Wand. Das tosende Rauschen des Springbrunnens
kehrte wieder zurück, erfüllte ihre Ohren.
Ihr Zornausbruch verflog, ihre Zähne und Krallen
zogen sich zurück. Statt Kampfeszorn blieb nur Verwirrung zurück.
Sie hatte eindeutig irgendetwas verpasst. Sie stand allein auf der
Piazza di Trevi, neben den endgültig Toten.
Dann kam Marcello mit der Milch zurück. Er stellte
die Flasche sanft auf das Pflaster und kam herüber zu ihr. Am
Himmel dämmerte es. Kate hasste sich dafür, ein lebendes Klischee
abzugeben, aber sie wurde in seinen Armen ohnmächtig.
2
Im Geheimdienst Ihrer Majestät
Sie schob seinen Rollstuhl auf den breiten
Balkon und stellte ihn in den tiefen Schatten. Beauregard begrüßte
die ihn einhüllende Dunkelheit, als wäre sie eine kuschelige Decke.
In seinem Alter würde ihn direkte Sonneneinstrahlung schneller
töten als Geneviève, und sie war eine Vampirin. Sie stellte seinen
Tee in Reichweite. Grüner Gunpowder. Er ernährte sich praktisch
davon.
Vom Schatten aus sah er ins graue Licht hinaus,
hinunter in die Via Eudosiana. So früh am Morgen waren die feinen,
fast schon parfümiert duftenden Dunstschleier noch nicht ganz
weggebrannt. Heiß war es bereits; es kündigte sich ein Tag an, an
dem man auf den Fliesen in der Sonne Fladenbrot backen
konnte.
Ein schlanker, silbriger Aston Martin stand vor dem
Wohnblock geparkt. Er zog das ehrfürchtige Interesse zweier Kinder
auf sich. Beauregard schloss daraus, dass der zur Dämmerung
erwartete Gast auf dem Weg nach oben war.
Er hörte, wie Geneviève zur Tür ging und seinen
Besucher begrüßte. Es missfiel ihr, dass er dieses Gespräch
zugesagt hatte.
Sie führte den Gast auf den Balkon und zog sich in
die Wohnung zurück, um ostentativ aufzuräumen, wo es nichts
aufzuräumen gab. Er verstand ihre Haltung, war aber ebenso sehr aus
Neugierde wie aus Pflichtgefühl einverstanden gewesen, sich mit dem
Besucher zu unterhalten.
Wenn man ihn um Informationen anging, würde er auch
selbst einiges erfahren. Sich für die Welt zu interessieren, hieß,
noch ein Teil von ihr zu sein.
Der Vampirspion stand auf dem Balkon und zündete
sich mit einem Ronson-Feuerzeug eine Zigarette an. Die Flamme
rötete
sein energisches Gesicht. Er atmete aus und sah auf Beauregard
hinab. Sein gewitztes Lächeln enthüllte einen vorspringenden
Fangzahn.
»Mein Name ist Bond«, sagte er mit einem leichten
schottischen Akzent, »Hamish Bond.«
»Guten Morgen, Commander Bond«, sagte Beauregard.
»Willkommen in der Ewigen Stadt.«
Der Neugeborene warf einen flüchtigen Blick über
den Parco di Traiano, betrachtete die Ruine von Neros Domus Aurea
(eines von Roms zahlreichen Monumenten des Größenwahns) und den
unregelmäßigen Rand des Amphitheatrum Flavium, des Kolosseums.
Beauregard bemerkte mit Bedauern, dass Bond keinen Blick für die
Gegend hatte. Die Pflicht sollte einen nicht blind für die Aussicht
machen. Tatsächlich war es in ihrer beider Profession sogar
Pflicht, aufmerksam zu sein.
Obwohl er als Offizier der Marine unterwegs war,
trug Bond keine Uniform, sondern war angezogen wie fürs
Bakkaratspiel in Monte. Seine weiße Smokingjacke aus der Savile Row
war perfekt geschnitten, lose genug, um dem aufmerksamen Beobachter
die Möglichkeit eines Schulterholsters nahezulegen. Beauregard
kannte diesen Mann genau, er wusste sogar, was im Holster steckte.
Eine Walther PPK 7,65 mm Browning, getragen in einem Berns-Martin
Triple-Draw, im Magazin acht bleiummantelte Silberkugeln. Fieses
Stück.
Die Brise spielte mit einer schwarzen Haarlocke
Bonds, einem Komma auf seiner Stirn. Rauch trieb von seiner
Zigarette weg, einer handgemachten Orientmischung mit drei goldenen
Streifen. Zu auffällig für jemanden wie ihn, zu einprägsam. Diese
spezialgefertigten Glimmstängel deuteten auf eine bestimmte
Einstellung hin. Hier war ein Vampir, der wusste, wie man sich in
eine Smokingjacke wand, ohne den Kragen zu verknicken, der Hemden
aus Seal-Island-Baumwolle trug und eine Pistole so leicht
ziehen konnte wie sein Ronson-Feuerzeug aus der Innentasche. Man
konnte meinen, er legte es darauf an, einen Eindruck zu
hinterlassen, eine Pose für das Zielfernrohr einzunehmen.
Charles Beauregard hoffte, dass er nie so gewesen
war.
Wenn irgendein Diener der Krone es verdiente, sich
ins Privatleben zurückzuziehen, dann gewiss Beauregard. Nur war der
Diogenes-Club - der britische Geheimdienst, wenn das nicht ein
innerer Widerspruch war - keine Institution, von der man sich
umkompliziert in den Ruhestand verabschieden konnte. So wurde man
schon an der Vorstellung gehindert, dass seine Mitglieder ein
Privatleben haben könnten. Er hatte dem Club gedient, den Großteil
eines Jahrhunderts lang, und war dabei bis ins höchste Amt
aufgestiegen.
Beauregard sah hinaus ins heller werdende
Tageslicht, betrachtete den Anblick, den Bond bereits abgehakt
hatte, den er aber als Quelle endloser Faszination empfand. Diese
Stadt war älter als sie alle. Das war ein Trost.
»Sie sind so etwas wie eine Legende, Beauregard.
Ich wurde unter Sergeant Dravot ausgebildet. Er spendete das Blut
für meine Verwandlung. Es stammt aus einem guten Geblüt. Er spricht
oft von Ihnen.«
»Ach ja, Danny Dravot. Mein alter
Schutzengel.«
Beauregard nahm einen Widerhall Dravots in Bonds
voller Stimme wahr, sogar in seiner entspannten, aber bereiten
Haltung. Der Sergeant brachte Fangsöhne zustande, die einiges von
seinem Format hatten. Mit etwas Politur würde aus Bond ein guter
Mann werden, ein verlässlicher Agent.
Dravot, in den 1880ern zum Vampir gemacht, würde
bis ans Ende der Zeit ein Sergeant sein. Und dem Diogenes-Club zur
Verfügung stehen.
Beauregards Leben, das beträchtliche Gewicht, das
ihn an sein Bett und seinen Stuhl fesselte, war zu einem sehr
großen
Teil mit dem unscheinbaren Gebäude in der Pall Mall verbunden.
Wenn seine Gedanken abschweiften, wie es zunehmend der Fall war,
dann löschte eine fotografisch genaue Lebendigkeit die
verschwommene Gegenwart aus. Oft war er unvermittelt wieder dort:
in Indien 1879, in London 1888, in Frankreich 1918, in Berlin
1938.
An Gesichter und Stimmen erinnerte er sich
deutlich. Mycroft Holmes, Edwin Winthrop, Lord Ruthven. Geneviève,
Kate, Penelope. Lord Godalming, Dr. Seward, der Prinzgemahl. Der
Kaiser, der Rote Baron, Adolf Hitler. Sergeant Dravot, immer hart
auf seinen Fersen. Dracula, der immer wieder entwischt, immer
wieder ein Versteck findet, niemals lockerlässt.
Ihm fiel sein versilberter Degen wieder ein. War er
so protzig wie Bonds Walther gewesen? Wahrscheinlich.
Nun, es war keine Frage des Abschweifens. Es war
eher ein Auswerfen der Angel, ein Versuch, sich zu erinnern. Das
fiel ihm immer schwerer, was ihn erboste. Die Wildpastete, die ihm
1888 bei Simpson’s auf dem Strand serviert worden war, stand ihm
sofort vor Augen, lag ihm fast auf der trockenen Zunge. Aber was es
gestern Abend zu essen gegeben hatte, daran vermochte er sich nicht
zu erinnern.
»Die Zentrale nimmt an, dass Sie ein Auge auf
Dracula behalten haben«, sagte Bond. »Es widerspräche Ihrer Natur,
lockerzulassen. Zumal wenn er so nahe ist.«
»Die Zentrale?«
Der Jargon belustigte Beauregard. Zu seiner Zeit
waren die Bezeichnungen andere gewesen. Bevor er dazugehört hatte,
waren sie einfach nur »die herrschende Clique« des Diogenes-Clubs
genannt worden. Dann gingen ein paar Kricketspieler dazu über, sie
»die Umkleide« zu nennen. Eine Zeit lang war es dann »der Zirkus«.
Die Clique bestand aus ein bis fünf, normalerweise drei Personen.
In den 1920ern und während des letzten Krieges, als er
von seinem ersten Versuch als Privatier zurückgeholt worden war,
hatte er den Vorsitz gehabt. Nun saß der junge Winthrop auf diesem
Platz - jung war gut, mit dreiundsechzig!
»Bitte verzeihen Sie, Sir.«
Er hatte sich zu viele Gedanken um seine
Erinnerungen gemacht und war wieder aus der Gegenwart abgeschweift.
Er musste sich konzentrieren. Er brachte das hier besser schnell
hinter sich, wenn schon nicht um seiner selbst willen, dann für
Geneviève. Wenn er sich überanstrengte, wurde sie böse.
Sie sollte sich allmählich daran gewöhnt haben,
dass er starb. Er redete lange genug davon.
»Ja, Commander Bond«, antwortete er schließlich.
»Ich bin immer noch interessiert. Das ist ein Knochen, den man
nicht so leicht loslässt.«
»Sie gelten als die Autorität schlechthin.«
»Dem alten Trottel ein bisschen Honig um den Bart
schmieren, hm?«
»Ganz und gar nicht.«
»Sie wollen etwas über ihn erfahren? Über
Dracula?«
Wenn er seine Memoiren veröffentlichen würde - ein
Unternehmen, das ihm gesetzlich verboten war -, dann würde er sie
Anni Draculae nennen, die Draculajahre. Der Verbannte im
Palazzo Otranto war der bestimmende Einfluss seines überlangen
Lebens. Was ihm am Sterben am wenigstens gefiel, war, dass er vor
dem Grafen abtreten und nicht dabei sein würde, wenn dem König der
Vampire ein Ende gemacht würde.
»Dragulya«, wiederholte er und zog den Namen in die
Länge, wie es Churchill immer tat. »Wie wäre dieses Jahrhundert
verlaufen, wenn es ihn nicht gegeben hätte? Haben Sie Stokers Buch
gelesen? Darüber, wie man ihn gleich am Anfang hätte aufhalten
können?«
»Ich habe nicht viel Zeit zum Lesen.«
Weil er zu viel damit zu tun hatte, warmblütigen
Weibern hinterherzulaufen und sich Ärger einzuhandeln, hätte
Beauregard wetten können.
»Das halte ich für einen Fehler, Commander Bond.
Aber ich hatte ja vielleicht auch immer viel Zeit. Ich habe alles
über Dracula gelesen, Dichtung und Wahrheit. Ich weiß mehr über ihn
als sonst ein Mensch.«
»Mit Verlaub, Sir, aber wir haben Leute in Draculas
nächster Umgebung, die seit Jahrhunderten dort sind.«
Eine der fixen Ideen Winthrops war es gewesen,
Vampirälteste zu rekrutieren, die ihren principe
bespitzelten. Also hatte Diogenes es endlich hinbekommen. Es gab
Maulwürfe in der Karpatischen Garde.
»Ich sagte Mensch.«
Er lachte glucksend. Das bereitete ihm Schmerzen in
der Brust. Sein Lachen ging in ein Husten über.
Geneviève, die auf übernatürliche Weise jedes
Pfeifen und jeden Krächzer mitbekam, teilte die Vorhänge und kam
durch die Balkontür getreten. Sie war bildschön in ihrem ärmellosen
cremefarbenen Polohemd, dem umgehängten Pullover und den violetten
Torerohosen. Rote Flecken auf den kalkweißen Wangen zeugten von
ihrem Zorn. Sie bedachte Bond mit einem frostigen Blick und kniete
sich neben Beauregard, begluckte ihn wie eine französische
Gouvernante. Sie zwang ihn dazu, die Tasse an den Mund zu heben und
einen Schluck von dem Tee zu trinken, den er vergessen hatte.
Wenig verlegen lehnte Bond an der Balkonbrüstung
und ließ Rauch aus seinen Nasenlöchern wehen. In seinen harten
Augen glitzerte mildes Sonnenlicht. Um für den Diogenes-Club zu
arbeiten, hatte er gewiss lernen müssen, grausam zu sein.
Vielleicht hatte er den Knoten schon immer in sich getragen, der
nur darauf gewartet hatte, gelöst zu werden. Er war warmen Blutes
rekrutiert
und auf wissenschaftliche Weise verwandelt worden, per Tubus und
Transfusion, dann ausgebildet und zu der Waffe geformt worden, die
man für diese Arbeit brauchte. Noch so eine von Winthrops
Ideen.
»Charles, chéri, so darfst du nicht
weitermachen.«
Geneviève schimpfte oder jammerte nicht. Sie machte
ein Affentheater, wusste aber ganz genau, wie viel sie für ihn tun
konnte und wie viel nicht. Sie legte kurz ihren Kopf in seinen
Schoß, damit er die rosafarbenen Tränen in ihren Augen nicht sah.
Ihr honigblondes Haar fiel über seine schmalen, von dicken Adern
bedeckten Hände. Seine Finger zuckten von dem Impuls, sie zu
streicheln.
Bond betrachtete die beiden.
Sein aufflammendes Einfühlungsvermögen, das
Beauregard während seiner Laufbahn entwickelt hatte und das noch
durch die Spuren, die Geneviève in ihm hinterlassen hatte,
verstärkt worden war, verriet ihm, was Bond dachte. Eine
pflichtbewusste Enkeltochter. Nein, Urenkeltochter.
Sie war bei weitem älter als er, aber ihm waren
sämtliche Jahre anzusehen, die sie an sich hatte abprallen lassen.
Geneviève war 1432 verwandelt worden, im Alter von sechzehn Jahren.
Nach fünf Jahrhunderten wirkte sie nicht älter als zwanzig.
Vorausgesetzt, man sah ihr nicht zu genau in die Augen.
Es dauerte frustrierende Sekunden, bis ihm wieder
einfiel, wie alt er eigentlich genau war. Er war 1853 geboren, 1953
hatte ihm die neue Königin ein Telegramm geschickt. Und jetzt
hatten sie …? Endlich fiel es ihm wieder ein, wie immer: 1959. Er
war hundertfünf Jahre alt; hundertsechs im nächsten Monat, August.
Er mochte zwar nicht gerade so alt aussehen - eine weitere Wirkung
ihrer Küsse, das war ihm klar -, aber alt war er zweifelsohne,
innerlich wie äußerlich, ein wandelndes Gespenst seines jüngeren
Selbst.
Den Schmerz hatte er schon fast hinter sich
gebracht. Vor zehn oder zwanzig Jahren hatte er mit all den
Schmerzen und Unannehmlichkeiten des Alters kämpfen müssen, aber
sie hatten nachgelassen. Sein Körper verlor die Angewohnheit zu
empfinden. Manchmal fühlte er sich wirklich wie ein Gespenst, das
durch ein schwachsinniges Medium mit der Welt kommunizierte und
nicht in der Lage war, seine Botschaft herüberzubringen. Nur
Geneviève verstand ihn, vermittels einer Art natürlicher
Telepathie.
Er brachte sein Husten unter Kontrolle.
»Sie sollten besser gehen«, sagte Geneviéve
entschieden zu Bond.
»Schon gut, Gené. Es geht mir gut.«
Sie sah zu ihm auf, sah ihn forschend an aus ihren
blauen Augen. Der Trick bei Geneviève war, nicht zu lügen. Sie
merkte es immer. Pamela, seine Frau, war genauso gewesen. Diese
Gabe besaßen nicht nur Vampire.
Der Trick war, seine Wahrheit zu sagen.
»Du kannst es auch nicht darauf beruhen lassen,
Liebste«, sagte er.
Sie sah weg, und er streichelte ihre weichen,
feinen Haare. Die elektrisierende Berührung trug ihn zurück zu
ihrem ersten Mal miteinander, zu den prickelnden Mustern ihrer
Zähne und Nägel auf seiner Haut, zum Kitzeln ihrer Katzenzunge auf
den Liebesmalen.
»Unsere Geneviève war die erste Frau, die je ihren
Fuß in den Diogenes-Club gesetzt hat, Commander Bond. Die erste
Frau, die der herrschenden Clique gegenübergestanden hat. Erscheint
Ihnen das rückständig? Vorsintflutlich?«
»Eigentlich nicht.«
»Sie sollten sie befragen. Sie hat den Knochen auch
nicht losgelassen. Den Draculaknochen. Und sie ist eher in der
Lage, etwas gegen ihn zu unternehmen, als ein lebendes Fossil wie
ich.«
»Er sollte tot sein«, sagte Geneviève. »Er sollte
schon lange tot sein. Richtig tot.«
»Da würden Ihnen viele beipflichten«, sagte der
Neugeborene.
Geneviève stand auf und sah dem jungen Vampir ins
kantige, attraktive Gesicht. Er hatte verheilte Narben.
»Viele hatten die Gelegenheit, dem ein Ende zu
setzen. Ihm ein Ende zu setzen. Einmal, da sind wir … Sie
kennen diese Geschichte natürlich.«
Beauregard verstand Genevièves Bitterkeit.
1943 war es den Alliierten ratsam erschienen, zu
einer finsteren Übereinkunft zu kommen. Daraufhin hatte Edwin
Winthrop das Croglin-Grange-Abkommen ausgehandelt, das den
Vampirkönig in den Krieg brachte. Der Jüngere, der nicht durch, wie
er es selbst nannte, »viktorianische Vorstellungen« behindert war,
wollte bereitwillig die Verantwortung und die Schande auf sich
nehmen. Beauregard hatte diese Politik trotz allem gebilligt.
Selbst Churchill, der Dracula ebenso verabscheute wie Hitler,
schloss sich der Allianz an, auch wenn er dem Grafen nie die Hand
schüttelte. Beauregard hingegen hatte das getan und sich von dem
grausamen Lächeln des Vampirkönigs abgewandt. Seine persönliche
Niederlage, bereitwillig dargebracht, hatte einem größeren Sieg
gedient.
Wie gut, dass Geneviève damals in Java gewesen war,
fern vom Lauf der Geschichte. Sie hätte alles getan, um Dracula die
Kehle herauszureißen.
»In diesem Jahrhundert hat man Vlad Tepes nicht
verstanden«, sagte Geneviève. »Man meinte stets, ihn mit
Zugeständnissen beschwichtigen zu können. Er war nie ein Politiker
wie Lord Ruthven. Er ist ein Mann des Mittelalters, ein Barbar.
Sein Thron wurde auf einem Berg von Schädeln errichtet.«
Die Kriege dieses modernen Zeitalters unterschieden
sich von denen früherer Jahrhunderte. Zum Teil wegen neuer Waffen,
die einen weltweiten Konflikt nicht nur möglich, sondern
unausweichlich machten. Zum Teil wegen des »Wandels«, der
Ausbreitung des Vampirismus, die mit Draculas Auftauchen in der
westlichen Welt ihren Anfang genommen hatte. Ohne Vampire, da war
Beauregard sich sicher, hätte es die Nazis nie gegeben; wenn
Dracula überhaupt je einen Thronerben gehabt hatte, dann Hitler.
Zwar hatte die Endlösung ebenso dem Geblüt derer von Dracula
gegolten wie den Juden, aber Hitler hatte beabsichtigt, sich zu
verwandeln, sobald sein Reich total geworden war, um die vollen
tausend Jahre zu überdauern. Die Erschaffung einer unsterblichen
Herrenrasse durch Wissenschaft und Magie war ein deutsches Projekt,
das bis in den Ersten Weltkrieg zurückreichte, und ironischerweise
eine Vision, die Dracula und Hitler teilten. Wäre sein
Blutgeschlecht nicht von den Nazis als unrein klassifiziert worden,
hätte Dracula sich mit ihnen verbündet.
»Man hat ihn zum Verbündeten gemacht«, sagte
Geneviève kühl.
Bond zuckte die Schultern. »Stalin war auch unser
Verbündeter. Und nach Jalta dann die Inkarnation des Bösen. Für
Politik bin ich nicht zuständig, Mademoiselle. Darüber
zerbrechen sich klügere Leute als ich den Kopf. Für mich heißt es
einfach nur es schaffen oder sterben, vorzugsweise Ersteres.«
»Wie man sieht, sind Sie schon einmal
gestorben.«
»Natürlich. Sie wissen doch, wie man sagt …«
»Nein. Was denn?«
»Man lebt nur zweimal.«
Geneviève stand auf, eine Hand auf Beauregards
Schulter. Er war ihre letzte Fessel, dessen war er sich bewusst.
Wenn er nicht mehr war, wozu würde sie sich dann hinreißen
lassen?
»Bitte verzeihen Sie, dass ich es ohne Umschweife
sage, Commander«, erklärte sie. »Aber manche von uns haben wenig
Zeit. Was genau wollen Sie hier in Erfahrung bringen?«
Der Spion konnte keine offene Antwort geben.
Winthrop dachte nach wie vor im Zickzack, und sein Agent wusste
vielleicht gar nicht, worum es bei seiner Mission ging.
»Ich schreibe einen Bericht über die königliche
Verlobung.«
»Dann sind Sie wohl ein Klatschkolumnist?«
Bond lächelte, entblößte scharfe Zähne. Mit einem
Anflug von Amüsiertheit bemerkte Beauregard, dass der Neugeborene
angetan von Geneviève war. Wenn sie es richtig anstellte, hatte sie
eine Eroberung zu verzeichnen.
»Dank Beauregard und Leuten seines Schlags wissen
wir eine Menge über Dracula«, sagte Bond. »Sie irren sich, wenn Sie
denken, wir hätten nie versucht, ihn zu durchschauen. Er steht seit
den 1880er-Jahren im Licht der Öffentlichkeit. Wir wissen, wie er
denkt. Wir wissen, was er will. Es geht immer nur um Macht. Noch
als er warmblütig war, betrachtete er sich als Eroberer. Er hat
sein Blutgeschlecht an ein ganzes Heer von Nachkommen
weitergegeben. Jedes Mal, wenn er heiratet, soll das seine Sache
voranbringen, seine Machtbasis vergrößern.«
Er hörte Edwin Winthrop aus Bonds Worten heraus.
Dies war Winthrops Weltsicht. Beauregard konnte sie nicht gerade
verwerfen, aber er war während der Zeiten von Hitler, Mussolini und
Stalin zu der Erkenntnis gekommen, dass der Graf keinen
einzigartigen oder auch nur ungewöhnlichen Typus darstellte. Der
kälteste Gedanke, der sich je in ihm breitgemacht hatte, war, dass
Dracula am Ende erfolgreich gewesen war. Jedes Land der Erde -
Großbritannien nicht ausgenommen - handelte, als würde es vom
Vampirkönig regiert.
»Die Prinzessin ist es, über die wir nichts
wissen«, fuhr Bond fort und atmete Rauch aus dabei. »Sie taucht mal
in Berichten auf und mal nicht und hinterlässt keine deutliche
Spur. Was die Zentrale gern wissen möchte, ist Folgendes: Warum Asa
Vajda? Sie gehört dem Geblüt derer von Javutich an, einer beinahe
ausgestorbenen
Brut. Geschichte hat Dracula genug. Was er braucht, wie immer, ist
Geografie. Landgüter, einen Thron, eine Feste. Wie die meisten
Ältesten«, Bond versenkte seinen Blick in Geneviève, »ist auch
il principe enteignet worden und ein Vagabund mit Geld.
Ceauşescu wird ihn sicher nicht wieder aufnehmen.«
Hunderte von transsylvanischen Vampiren, die die
Todeslager der Nazis überlebt hatten, waren nach dem Krieg zurück
in ihre Heimatländer verbracht und dort prompt von ihren
warmblütigen Landsleuten ermordet worden, schändlicherweise unter
den Augen der Alliierten. Nicolae Ceauşescu führte nach wie vor
eine Ausrottungskampagne gegen Vampire durch, die von ihrer Liebe
zur heimatlichen Scholle nicht lassen wollten - die zufälligerweise
innerhalb des modernen Rumänien lag. Obwohl er ebenso viel Angst
hatte wie seine sämtlichen bäuerlichen Vorfahren, erwählte der
Staatspräsident sich Schloss Dracula zum Sommersitz, um seine
Überlegenheit zu demonstrieren.
»Prinzessin Asa ist eine Moldawierin«, sagte
Beauregard. »Dracula ist ein Wallache. Ungefähr zwei Drittel aller
Vampirältesten weltweit stammen aus dem Hufeisen der Karpaten. Wenn
Dracula je wieder weltliche Macht erlangen will, dann muss er dort
beginnen, im heutigen Rumänien. Sobald man ein sehr hohes Alter
erreicht, wird das Heimatland umso wichtiger.«
Geneviève drückte seine Schulter.
»Die Zentrale schätzt das ganz ähnlich ein,
Beauregard. Aber für eine dynastische Bindung macht es wenig her.
Von Rechts wegen sollte Dracula sich mit einem starken
Blutgeschlecht verbinden. Gräfin Elisabeth aus dem Hause der
Báthory wäre eine offensichtliche Kandidatin.«
»Sie ist Lesbierin«, warf Geneviève ein.
»Es handelt sich nicht um eine Liebesheirat,
Mademoiselle Dieudonné. Sie müssen zugeben, dass es ein
Abstieg ist. Von der Königin von England zu einer
hinterwäldlerischen Giftziege mit
Zweigen in den Haaren und Erde in den Falten ihres
Totengewands?«
»Der Graf hatte schon seine Anwandlungen. Fragen
Sie Mrs. Harker.«
»Wenn es ihm ums Blutgeschlecht geht, Gené, dann
überrascht es mich, dass er dir nicht den Hof gemacht hat.«
Geneviève überlief ein Schauer. »Très
amusant, Charles chéri.«
Bond schüttelte den Kopf. »Er hat irgendetwas vor.
Dracula hat noch nie einen Zug gemacht, der ihn nicht in erster
Linie auf sein Ziel zuführte. Aber was ist sein Ziel?«
»Die vollständige und restlose Unterwerfung von
allem und jedem«, sagte Geneviève. »Für immer. So, nun kennen Sie
sein Geheimnis. Habe ich die Fünfhundert-Francs-Frage
gewonnen?«
Der Spion gab wieder sein schiefes Grinsen zum
Besten. Er meinte wohl, Manns genug zu sein, um Geneviève zu
bändigen. Beauregard lachte wieder und musste husten. Diesmal war
es schlimmer, die reinsten Glassplitter in der Brust. Atmen war
Schwerstarbeit.
»Dieses Gespräch ist beendet«, erklärte Geneviève
nachdrücklich.
Sie kniete sich neben ihn, half ihm zu trinken,
presste eine Hand an seine Brust, zwang ihn dazu, am Leben zu
bleiben. Sie vergaß, ihre Augen zu verbergen. Er sah, wie sich Rot
an den Tränendrüsen sammelte.
»Nun gut«, gab Bond sich geschlagen. »Wenn ich
vielleicht noch einmal wiederkommen dürfte? Falls andere Quellen
nichts hergeben sollten?«
Beauregard versuchte, mit dem Husten aufzuhören. Es
gelang ihm nicht.
»Es wäre mir lieber, wenn Sie das bleiben ließen«,
sagte Geneviève.
Er hätte sich gern gegen sie durchgesetzt, aber die
Worte wollten
ihm nicht über die Lippen kommen. Am besten überließ er ihr die
Entscheidung.
»Sie finden sicher allein hinaus«, sagte
Geneviève.
»Selbstverständlich.« Er drückte seine Zigarette
aus. »Einen guten Tag Ihnen beiden. Sie können mich im
D’Inghilterra erreichen.«
Er schlüpfte lautlos durch die Balkontür und
verließ die Wohnung.
Beauregard ließ den Krampf sich im eigenen Tempo
lösen. Er spuckte, Schaum trat ihm auf die Lippen. Geneviève
wischte ihm das Gesicht ab, als wäre sie sein Kindermädchen.
Wie er es inzwischen kannte, ließ der Schmerz rasch
nach. Seine Augen und Ohren waren immer noch scharf, aber seinen
Geschmacks- und Geruchssinn hatte er fast vollständig eingebüßt.
Nur noch Erinnerungen.
»Pauvre chéri«, sagte Geneviève.
Sie schob ihn nach drinnen.
Obwohl er erst seit zehn Jahren in der Via
Eudosiana wohnte, war das Apartment mit den Anschaffungen eines
Jahrhunderts gefüllt. Bücherregale bis hinauf zur hohen Decke
säumten die Wände. Eine große Zahl merkwürdiger Objekte,
zusammengetragen in allen Weltgegenden, sammelte sich unsortiert in
den Winkeln. Geneviève fand öfter eine afrikanische Maske oder
chinesische Jadefigur in einer Schachtel oder Schublade und sagte
etwas über ihre Qualität oder ihren Wert. Er hatte heimlich eine
Bestandsaufnahme gemacht - wenn er Listen erstellte, gefiel ihr das
gar nicht - und überlegt, wer wohl am meisten von dem jeweiligen
Stück hatte. Die Bibliothek würde an Edwin Winthrop gehen.
Geneviève half ihm vom Rollstuhl auf das Ruhebett
in seinem Arbeitszimmer. Er wog jetzt so wenig, dass ihn sogar ein
warmblütiges Mädchen hätte wie ein kleines Kind hochnehmen und
irgendwo
hinsetzen können. Geneviève ließ ihn so viel wie möglich allein
machen. Mit der letzten Kraft seiner schwindenden Muskeln stand er,
sich an ihrem Arm festhaltend, aus dem Rollstuhl auf, dann brach er
mehr oder weniger auf der Couch zusammen und überließ es ihr, seine
Beine zu ordnen und mit einer karierten Decke zu umhüllen.
Sie lächelte lieb. Es war wie ein Stich ins Herz.
Dieses Gefühl war noch nicht verschwunden.
Manchmal nannte er sie Pamela, und sie überging es
einfach. Seine Frau war nach zwei Jahren Ehe verstorben, vor
beinahe achtzig Jahren. Die Hitze machte Rom der Berglandschaft
Indiens sehr ähnlich, wo Pam und er gelebt hatten, während er das
Große Spiel verfolgte, wie Kipling es nannte, die Schachpartie
zwischen den Russen und dem Britischen Empire um die Aufteilung des
Subkontinents. Der erste Kalte Krieg. Pam hatte von Anfang an
gesagt, dass nichts Gutes daraus erwachsen würde, hatte ihn
fortwährend angestachelt, was seine Pflicht betraf, ihn dazu
gezwungen, sich zu fragen, wo diese wirklich lag. Geneviève war
zwar die letzte und andauerndste seiner Liebesbeziehungen, aber
seine kurze Zeit mit Pam, die Freude und das Leid, stand ihm klarer
vor Augen.
Schuldgefühle ließen ihn Geneviève nur umso mehr
lieben.
Er nahm ihre Hand und drückte sie, mit aller Kraft,
die ihm noch geblieben war.
Sie küsste seine Stirn.
Es musste ein grotesker Anblick sein, ein junges
Mädchen mit einem alten Mann. Ein Lied seiner Jugendzeit war »A
Bird in a Gilded Cage« gewesen. Aber Geneviève war kein Vogel im
goldenen Käfig, sie wirkte nur jung, und er war eigentlich
auch nicht mehr alt. Alles über hundert war unnatürlich. Ein Alter
für Bäume und Schildkröten, aber nicht für Menschen.
»Ich brauche dich, Charles«, hauchte sie.
Es war keine Lüge. Es war ihre Wahrheit, die sich
so, wie sie sie äußerte, nicht zurückweisen ließ.
Sie kletterte neben ihn auf die Couch. Wenn sie
beieinanderlagen, war er immer noch der Größere. Lag ihr Kopf neben
dem seinen, reichten ihre Füße kaum über seine Knie hinaus.
Sie küsste ihn auf die Wange und aufs Kinn, die
glatt waren, da sie ihn vor einer Stunde rasiert hatte. Auf dem
Kopf hatte er noch ziemlich viele Haare, aber seinen Schnurrbart
trug er nicht mehr. Seine Haare hatte er ihr zu verdanken und
wahrscheinlich auch sein Sehvermögen und den Großteil seiner
Zähne.
Sie lockerte seinen Bademantel am Hals und öffnete
den oberen Knopf seiner Pyjamajacke. Sie schnupperte an der
Vertiefung seiner Kehle und bewegte die Lippen, tastete nach den
alten Wunden.
Er war ruhig, die Krämpfe waren vorbei. In seinem
Innersten war er erregt. Sein Blut floss schneller. Auf eine Weise,
die ihn als junger Mann verblüfft hätte, genügte das.
»Das ist absurd, Gené«, sagte er leise. »Du bist
…«
»Alt genug, um zehnmal deine Urgroßmutter zu sein.
Du bist der jugendliche Liebhaber mit der älteren Geliebten.
Vergiss das nicht.«
Ihre Fangzähne glitten in die vielbenutzten Furchen
in seiner Schulter, ein gutes Stück von der Vene entfernt. Er
konnte sich nie entscheiden, ob die kitzelnden Stacheln heiße
Nadeln oder spitze Eiszapfen waren.
Er bebte vor Wonne. Ihre Zunge schlängelte über
seine Haut. Er spürte, wie ihr Körper sich anspannte, und wusste,
dass sein Geschmack in sie hineinströmte.
Früher hätte sie getrunken. Heute nippte sie.
Nein, sie kostete.
Ihm war klar, was sie da tat. Seit Jahren hatte sie
sein Blut nicht mehr getrunken. Sie öffnete seine Wunden und legte
ihren Mund
daran und nahm nicht Nahrung auf, sondern Nährkraft, die sie aus
seinem Herzen bezog und nicht von seinem Körper.
Und sie gab ihm von sich.
Er war ebenso sehr ein Vampir wie sie. Geneviève
hielt ihn mit ihrem Blut am Leben. Mit der rauen, scharfen Spitze
ihrer Zunge kratzte sie die Innenseite ihrer Wange auf und ließ
Tröpfchen in seine Wunden fließen. Es lag in ihrer Macht, ihn dazu
zu zwingen, ihr Blut zu trinken, ihn in ihren Fangsohn zu
verwandeln, ihn zu ihrem Vampirnachwuchs zu machen. Aber nicht in
ihrem Charakter.
Es gab drei Vampirfrauen in seinem Leben, alle von
unterschiedlichem Geblüt. Geneviève konnte ebenso wenig wie Kate
Reed einfach nur von ihren Geliebten nehmen. Sie musste etwas von
sich zurücklassen, im Geist und im Körper. Jeder, den sie berührte,
wurde von ihr verändert, beeinflusst.
Die andere hat ihn in den Hals gebissen und sich
sein Blut geholt, mit ebenso viel Verachtung wie Begehren. Wenn er
überhaupt an sie dachte, dann mit Mitleid.
Wie viele Jahre hatte er Geneviève zu
verdanken?
Ihr Blut hatte ihn jung gehalten, ohne dass er es
gemerkt hatte. Weil er es nicht hatte merken wollen. Nun wusste er,
dass sie ihn am Leben erhielt. Die Männer in seiner Familie waren
nicht alle langlebig. Ein Onkel hatte die neunzig erreicht, und ein
Neffe lebte mit einundachtzig immer noch. Aber sein Vater war am
Bombayfieber gestorben, mit achtundvierzig, und seine beiden
Großväter waren bei seiner Geburt schon tot. Für ihn war
hundertfünf kein natürliches Alter.
Während ihrer Verbundenheit schluchzte Geneviève
leise; ihr Kummer durchströmte sein Herz.
»Nicht doch, Liebste«, sagte er, um sie zu
trösten.
Er wollte die Hände heben und ihr Gesicht berühren,
ihr die Tränen abwischen, aber er war ganz benommen. Sein Verstand
war hellwach, aber die Glieder waren ihm schwer und reagierten
nicht.
»Es spielt keine Rolle«, sagte sie.
Jetzt wäre ein guter Moment, dachte er. Ihre Wärme
war in ihm, er würde sie mitnehmen. Er stellte sich vor, wie er in
seinem verbrauchten Körper immer kleiner wurde, wie Spiralen aus
Licht und Dunkelheit um ihn herum kreisten. Sein Gesicht brachte
ein Lächeln zustande.
Geneviève riss sich unvermittelt von seinem Hals
los. Er spürte die Luft auf seiner nassen Haut.
»Nein«, sagte sie mit plötzlicher Entschiedenheit,
die an Egoismus grenzte.
Durch ihr Blut hatte er sie berührt. Sie wusste,
was er dachte, was er empfand.
»Nein«, sagte sie erneut, sanft, flehend. »Noch
nicht. Bitte.«
Seine Arme funktionierten. Sie schlossen sich um
sie. Er war noch bereit zu leben.
»Dieser Mann hat gelogen, Charles«, sagte
sie.
Das wusste er.
»Der macht keine Berichte. Dazu ist er nicht der
Typ. Er handelt, wenn die Berichte vorliegen.«
»Braves Mädchen«, sagte er.
Als er wegdämmerte, eingelullt durch den Schlag
seines Herzens, hörte er das Telefon klingeln.
»Geh … besser ran«, hauchte er.
3
Giallo/Polizia
Inspektor Silvestri gab seinen
uniformierten Untergebenen in hohem, melodischem Italienisch
Anweisungen zu ihrem Vorgehen auf der Piazza di Trevi. Wenn er mit
Kate Englisch sprach, hatte er eine völlig andere Stimme. Eine
tiefere. Sie klang flach, wie bei einem schlechten
Schauspieler.
»Sie haben den Attentäter gesehen?«, fragte er.
»Il boia scarlatto?«
Il boia scarlatto. Der scharlachrote
Henker.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihn noch immer.
Ein Gesicht, das auf der Wasseroberfläche tanzte.
»Nur sein Spiegelbild«, gab sie zu.
Silvestri machte eine Notiz. Trotz des römischen
Sommers trug er die inoffizielle Uniform eines europäischen
Kriminalbeamten, einen Maigret-Regenmantel in gebrochenem Weiß. Er
war mittleren Alters und stämmig.
»Er hatte ein Spiegelbild?«
»Dieser Mann war kein Vampir, Inspektor.«
Zwei Polizisten hoben Kernassys Umhang aus dem
Wasser wie eine Hängematte, mit seinen zerbrechlichen Überresten
darin. Assistenten aus der Gerichtsmedizin fischten mit
Schmetterlingsnetzen nach Brocken, die wohl Malenka hinterlassen
hatte.
Das Kleid von Morlacchi war spurlos verschwunden,
was Silvestri erboste. Die Verlobte oder Geliebte irgendeines der
Polizisten fragte besser nicht nach der Herkunft ihres
Geburtstagsgeschenks. Kate hoffte, dass es vor dem Überreichen noch
gereinigt und geflickt wurde.
Gnadenlose Sonne ergoss sich auf die Piazza. Dass
die Hitze so schlimm würde, hatte Kate nicht gedacht. Sie
transpirierte
nicht - eine merkwürdige Eigenschaft ihrer veränderten
Körperchemie -, aber damit war jedes Ansteigen der Temperatur über
die englische Norm nur umso unangenehmer. Sie hatte sich zu einem
Geschöpf der Nacht entwickelt.
Horden von Raritätenjägern wurden mit Absperrseilen
ferngehalten. Die Paparazzi, die Malenka verfolgt hatten, waren
durch weniger hektische, hungriger wirkende Polizeireporter ersetzt
worden. Auf der Via San Vincenzo wurde aggressiv gehupt. Trotz der
Absperrungen nahm ein Kerl auf einer Lambretta eine Abkürzung über
die Piazza und wurde von bewaffneten Carabinieri verscheucht.
Der Schatten, den Kate an der Seite des Brunnens
gefunden hatte, wurde kleiner. Das grelle Licht tat ihr in den
Augen weh. Sie spürte das Stechen der Sonne auf Gesicht und Händen
und wusste, dass sie knallrot werden würde. Verbrennungsnarben von
der Sonne brauchten manchmal Jahrzehnte zum Heilen. Sie hatte
vorgehabt, den Tag in geschlossenen Räumen zu verbringen, wie es
sich für einen Vampir gehörte, und erst nach Einbruch der
Dunkelheit wieder auf der Bildfläche zu erscheinen.
Sie sah sich nach Marcello um. Er unterhielt sich
entspannt mit ein paar uniformierten Polizisten sowie vermutlich
einigen Reportern. Sie boten sich gegenseitig Zigaretten an und
lachten. Kate erkannte die professionelle Kaltschnäuzigkeit von
Leuten, die dort zu Gange waren, wo sich Grausiges abgespielt
hatte, ob sie nun von der Presse waren oder von der Polizei. Sie
war es ebenfalls gewohnt, bei einer Zigarette zu plaudern, während
man an einer kugeldurchsiebten, blutbespritzten Wand lehnte, am
Tatort irgendeines Massakers.
Was hatte Marcello dem Inspektor erzählt? Sie
kannten einander eindeutig. Silvestri hatte bei seiner Ankunft als
Erstes den italienischen Reporter beiseitegenommen und konzentriert
dessen ausführlicher, gestenreicher Darstellung gelauscht.
Einer der Männer aus der Gerichtsmedizin stieß
einen Laut des Ekels aus und fischte den toten, wassertriefenden
Kater heraus. Alle drückten sie ihr Mitgefühl für das arme Ding
aus. Daraus ließ sich vielleicht schließen, welches Ansehen Vampire
in Rom besaßen. Wie schwarze Vogelscheuchen lugten aus der Menge
immer wieder Nonnen und Priester und funkelten sie missbilligend
an. Die katholische Kirche würde sich mit ihresgleichen nie
abfinden können.
Kate ging davon aus, dass sie die Hauptverdächtige
war. Marcello war zurück auf die Piazza gekommen und hatte sie
allein mit den Überresten von Graf Kernassy und Malenka
vorgefunden. Er hatte den Mörder nicht gesehen, hatte nicht einmal
sein albernes Lachen gehört.
Sie hatte ihre Geschichte dreimal wiederholt und
einem Polizeizeichner eine Beschreibung gegeben. Sie hatten
gemeinsam eine Skizze zusammengebracht, die peinlich nach einem
Bösewicht aus einer Bildergeschichte aussah, mit verrücktem Grinsen
und allem Drum und Dran. Wenn sie das nächste Mal beinahe
umgebracht wurde, würde sie darauf achten, dass es sich um einen
Täter handelte, den man ernst nehmen konnte.
»Haben Sie das kleine Mädchen gefunden?«, fragte
sie Silvestri. »Es sah traurig aus und verängstigt. Es hat den
Mörder gesehen.«
»Ah ja«, sagte er und täuschte die Notwendigkeit
vor, sein Gedächtnis anzustrengen, indem er in seinen Notizen
blätterte. »Das kleine weinende Mädchen.«
»Es können nicht mehr viele Kinder auf der Straße
gewesen sein. Es wurde schon fast hell.«
»Hier sind immer Kinder auf der Straße, Signorina.
Wir sind hier in Rom.«
»Sie sah aber nicht danach aus …«
Was meinte sie damit? Sie hatte nur das Gesicht der
Kleinen gesehen.
Nein, das Spiegelbild ihres Gesichts. Verkehrt herum. Sie konnte
nicht sagen, was die Kleine angehabt hatte. Sie hatte den Eindruck,
dass es sich nicht um ein zerlumptes Gassenkind handelte, sondern
dass das Mädchen im Gegenteil aus einem reichen Elternhaus stammte.
Altes Geld. Warum dachte sie das?
»Ihre Haare«, dachte sie laut. »Sie waren lang,
sauber. Gepflegt. Frisiert. Sie hingen ihr über das eine Auge, so
wie Veronica Lake sie trägt.«
Silvestris Mund blieb starr, aber er lächelte mit
den Augen.
»Sie sind eine aufmerksame Beobachterin«, sagte
er.
»Ich bin Reporterin. Das gehört zu meinem
Beruf.«
Seine Stimme veränderte sich erneut, als er seinem
Assistenten, Sergeant Ginko, in schneller Folge Befehle gab. Kate
verstand ein paar Wörter. Ragazza, Mädchen. Lunghi
capella, lange Haare. Veronica Lake, hui-hui.
Sie nahmen sie jetzt ernst. Gut.
»Was haben Sie noch gesehen und können Sie
berichten?«
Sie hätte beinahe etwas gesagt.
Dieses kopfstehende Gesicht. Blonde Locken,
trauriges Clownsgesicht, Tränen. Der Mörder, kostümiert wie ein
Henker. Maske, nackte Brust, Strumpfhosen. Ein Aufblitzen von
tödlichem Rot, von scharfem Silber. Kernassys Schädel, Malenkas
Augen.
Was stimmte nicht an diesem Bild?
»Nur los«, ermutigte sie Silvestri. »Alles, auch
wenn Sie nicht ganz sicher sind …«
»Es ist ein Puzzle«, sagte sie. »Ich versuche,
alles zusammenzufügen. Eines der Teile ist falsch, aber ich weiß
nicht, welches. Es tut mir leid. Das ist für mich genauso
frustrierend wie für Sie. Ich habe das Gefühl, dass etwas nicht
stimmt. Irgendein winziges Detail. Etwas, das ich gesehen habe.
Aber ich komme nicht darauf. Ich muss es mir weiter durch den Kopf
gehen lassen.«
Der Inspektor war nicht enttäuscht. Er schrieb
seine Telefonnummer
auf eine Seite seines Notizbuchs, riss sie heraus und hielt sie
ihr hin.
»Wenn das Puzzle zusammenpasst, rufen Sie mich
an?«
Sie nahm die Nummer.
»Ja. Natürlich.«
Silvestri klappte sein Notizbuch wieder zu. Es war
sein Lieblingsrequisit.
»Sie können gehen, Signorina Katharina Reed.«
Das verblüffte sie einigermaßen.
»Sie wollen mich nicht festnehmen? Als
Verdächtige?«
Silvestri lachte.
»Nein. Sie haben falsch verstanden. Sie sind erst
gestern Nacht in Rom angekommen, mit demselben Flug wie il
conte und seine ›Nichte‹. Das wurde durch Alitalia bestätigt.
Dies waren nicht die ersten Morde.«
Trotz der römischen Sonne bekam Kate eine
Gänsehaut.
»Rom ist kein sicheres Pflaster für
vampiri«, fuhr Silvestri fort. »Sie sehen sich gern als
Jäger der Menschen, aber hier haben wir einen Menschen, der sich
gern als ihr Jäger sieht. Dieser Boia Scarlatto hat andere getötet,
Einzelne und Paare. Seit dem Krieg. Alles Älteste.«
Damit gab Silvestri ihr etwas zum Nachdenken.
»Malenka war doch bestimmt eine Neugeborene. Sie
wirkte so … modern.«
Silvestri schüttelte den Kopf. »Sie hatte ihre
Jahrhunderte.«
Nur Vampirälteste. Warum Kernassy und Malenka
töten, nicht aber Kate Reed?
Es gab kein scharf abgegrenztes Alter, ab dem man
ein Ältester war. Sie ging davon aus, dass man wohl seine
natürliche Lebenserwartung überleben und dann mindestens noch eine
Lebensspanne hinter sich bringen musste. Nach zwei Jahrhunderten
kam man langsam in die Nähe. Dracula zählte zu den Ältesten,
Lord Ruthven, Geneviève. Kate war sechsundneunzig. Wäre sie
warmblütig geblieben, würde sie vielleicht auch noch leben.
Charles, der zehn Jahre älter war, lebte jedenfalls
noch.
Hatte das kleine Mädchen den scharlachroten Henker
verscheucht? Das klang nicht besonders wahrscheinlich.
Silvestri wies seine Männer an, Kernassys Umhang
auf den Boden zu legen, und besah sich die Leiche. Die Presse
fotografierte die Szene mit dem berühmten Brunnen pittoresk im
Hintergrund verschwommen. Der Inspektor setzte eine ernste Miene
auf. Wie Malenka bot er den Fotografen verschiedene Blickwinkel. Er
experimentierte mit Gesichtsausdrücken: nachdenklich, entschlossen,
resolut.
Die Reporter spitzten die Ohren, als Silvestri
verkündete: »I corpi presentano tracce di violenza
supernaturale«, und eine Stellungnahme herunterrasselte, die
sie alle eifrig mitschrieben.
Hundert Jahre altes Schulmädchenitalienisch
rumpelte in ihrem Kopf herum, verdorben durch derbes Sizilianisch,
das sie während des Kriegs aufgeschnappt hatte. Sie musste nicht
jedes Wort verstehen, um zu begreifen, in welcher Richtung der
Polizist sich erging. Die Rede am Tatort war überall auf der Welt
dieselbe: Man werde alles Menschenmögliche tun und sämtliche Spuren
verfolgen. Für die nahe, aber nicht weiter bestimmte Zukunft wurde
eine Festnahme in Aussicht gestellt. Kate hatte dieses Lied zum
ersten Mal am Tatort eines der Morde von Jack the Ripper gehört, wo
es der Künstler zum Besten gegeben hatte, der es berühmt gemacht
hatte, Inspektor Lestrade von Scotland Yard.
Jack war natürlich nie gefasst worden.
Kate fragte sich, ob sie Marcello sagen sollte,
dass die Polizei sie als unschuldig ansah. Er war im Moment der
Entdeckung erschrocken genug gewesen. Der Schock und das Misstrauen
waren ihm trotz seiner Mich-kratzt-nichts-an-Sonnenbrille
anzusehen gewesen. Ihr war klar, dass sich dieser Eindruck nur
schwer
revidieren ließe. Für ihn blieb sie vielleicht immer ein
blutdurstiges Monstrum.
Mist aber auch. Irgendetwas war immer.
Sie schalt sich dafür. Zwei Leben waren zerstört
worden, und sie machte sich Sorgen, wie sie einen warmblütigen Mann
beeindrucken sollte, der sie jetzt sicher so attraktiv fand, wie
einen toten Fisch um die Ohren gehauen zu bekommen.
Gabor Kernassy war ihr nicht unsympathisch gewesen.
Und Malenka war eher lächerlich als sonst irgendetwas gewesen. Sie
mochten oberflächlich gewesen sein, aber sie waren freundlicher zu
ihr gewesen, als die Etikette es erfordert hätte. Sogar Malenka
hatte Witz gehabt. Kate hatte über den Zirkus um das Filmsternchen
schreiben wollen. Sie hätte Geld mit den beiden verdient. Wenn man
den Nachrichtenwert von Mordtaten bedachte, würde sie das
vielleicht sogar noch tun.
Sie waren vor ihren Augen abgeschlachtet
worden.
Ein Silbermesser mit langer Klinge hatte Kernassys
Kopf abgetrennt und Malenkas Herz durchbohrt. Die Polizei fand die
Waffe im Brunnen, sauber gewaschen. Silvestri achtete darauf, dass
sie nicht ebenso verschwand wie Malenkas Kleid.
Kate wusste, dass sie das hier nicht auf sich
beruhen lassen würde. Sie hatte viel in der Stadt zu tun, hatte
Sachen zu erledigen, die schon lange anstanden. Aber das hier war
jetzt auch ihre Sache.
Jemand rief ihren Namen.
Einen Moment lang dachte sie, es wäre Marcello.
Aber es war eine Frau.
Geneviève.
Sie stand hinter dem Absperrseil, trug einen weißen
Strohhut und eine Sonnenbrille. Sie winkte Kate mit einem weiteren
Hut zu.
»Sie wollen mich nicht durchlassen.« Geneviève
zuckte die Achseln und lächelte. Sie sah so jung aus.
Ihre von der Sonne gebleichten Haare schimmerten.
Ihr Lächeln hätte fast einem kleinen Mädchen gehören können. Ihre
alten Augen waren nicht zu sehen. Sie freute sich wirklich, dass
Kate hier war.
Kate hatte der Polizei die Telefonnummer gegeben.
Silvestri hatte offenbar jemanden dort anrufen lassen. Das war sehr
aufmerksam.
»Man hat mir gesagt, dass ich gehen kann. Ich bin
unschuldig.«
»Das bezweifle ich, Kate.«
Sie sprach Englisch mit dem Hauch eines
französischen Akzents.
Sie umarmten sich über das Seil hinweg, küssten
einander die Wangen. Kate fühlte sich nicht ganz wohl dabei, als ob
jemand zwischen ihnen stünde.
Charles natürlich.
Sie waren nur durch Charles miteinander befreundet,
und vielleicht noch durch den principe. Ihre Beziehungen
zueinander waren sehr kompliziert. Edwin Winthrop gehörte auch mit
dazu. Und Penelope.
»Ich habe dir einen chapeau mitgebracht«,
sagte Geneviève. »Ich wusste, dass du nicht an die Sonne denken
würdest. Das tun Engländer nie, und dieses eine Mal nahm ich an,
dass sich die Iren da nicht von ihnen unterscheiden würden.«
Ein Polizist hob das Seil hoch. Kate duckte sich
darunter hindurch und nahm den Hut. Er hielt das schlimmste Licht
von ihrem Gesicht fern. Kate besah sich ihre Handrücken. Sie waren
rot.
»Du musst aufpassen«, sagte Geneviève, »oder du
gehst hoch wie ein Feuerwerk. In diesem reizenden Klima besteht das
Risiko einer spontanen Selbstentzündung.«
4
Die Rätsel von Otranto
Der Palazzo Otranto hätte ebenso gut
gewachsen wie erbaut worden sein können. Er war so gelungen wie ein
Schneckenhaus oder das menschliche Herz, eine architektonische
Spirale. Der Hauptkorridor begann als ein Sims ganz oben im Turm,
wand sich wie die Züge eines Gewehrlaufs durch das Gebäude hinab,
wobei die von ihm abgehenden Räume zum Erdgeschoss hin immer größer
wurden, und endete schließlich in einem kreisrunden Gang um die
tiefen Keller herum. Keine Treppen, nur eine durchgehende
spiralförmige Rutschbahn, die gelegentlich von einer steilen Stufe
durchbrochen wurde. Die reinste Hölle für die Kniegelenke.
Der Palazzo stand in Fregene, ein paar Meilen
außerhalb Roms an der Küste, zwischen Kiefernwäldern und den
üblichen Ruinen. Es gab einen dem Pan geweihten Tempel auf dem
Gelände. Der Dracula’sche Haushalt feierte ewige Saturnalien, ein
unübersichtliches, endloses Fest, das Gäste anzog wie
Fliegen.
Tom war seit dem Frühling hier und wusste nicht
recht, ob er noch länger bleiben sollte. Es gab keinen besonderen
Grund weiterzuziehen, und er hatte ganz bestimmt nicht vor, in den
Amtsbezirk der New Yorker Polizei zurückzukehren. Er hatte die
Staaten ursprünglich verlassen, weil er Fragen wegen einer albernen
Geschichte vermeiden wollte, die manche Leute vielleicht als Betrug
betrachten mochten, obwohl sie gar nicht lange genug gelaufen war,
damit Geld für ihn heraussprang. Ein Pech aber auch. Die
ausschließliche Gesellschaft von Toten vertiefte sein übliches
Ennui noch. Jemand Gefährliches mochte die Verärgerung erspüren,
die er hinter modischem Desinteresse zu verbergen suchte. Die Toten
waren Clowns, aber zugleich auch Mörder.
Andererseits war dies das müßige, kultivierte
Leben, von dem er immer angenommen hatte, dass es ihm am besten
liegen würde. Allerdings gab es hier so einige Gemälde, meist in
alten und überladenen Stilen, die er nicht schätzte. In seinem
Turmzimmer hing ein aufgeblähtes zorniges Pferd mit Alptraumaugen.
Renaissancekitsch zierte die Ballsäle; Bibelszenen, die von
verfluchten Gewitterwolken und abstoßenden Akten wimmelten.
Die Toten hielten an den Moden ihrer Lebenszeiten
fest. Mit Ausnahme von il principe, dessen frühe
Begeisterung für Van Gogh - er war der Einzige, der dem Künstler
etwas abgekauft hatte - sich im Exil immer wieder bezahlt gemacht
hatte. Leinwände, die beim Kauf nichts wert gewesen waren, bildeten
nun die Sicherheit für Kredite, die den Haushalt unter den
reichsten Europas bleiben ließen. Diese Klecksereien, auf die Tom
gern einmal einen Blick geworfen hätte, waren in Draculas
Privatgemächern unter Verschluss, in den untersten Kellern.
In dieser auf den Kopf gestellten Welt befanden
sich die luxuriösesten und gesuchtesten Wohnlagen tief unter der
Erde, so dicht wie möglich an der Hölle, und hatten die
Ausstrahlung von Grabmalen oder Grüften. Dachwohnungen, die jeden
amerikanischen Millionär zufriedenstellen würden, wurden halb
lebendigen Dienern und versklavten Blutspendern angedreht.
Während seiner Monate hier hatte Tom il
principe nur einmal zu sehen bekommen, mit Penelope. Er blieb
in seinen Räumlichkeiten und besuchte kaum einmal das Fest, dessen
Gastgeber er war. Er schien ihm wie jeder andere uralte Tote mit
seinem langen weißen, militärischen Schnurrbart und den dunklen
Brillengläsern, die ihn an die Flügel eines schwarzen Käfers
erinnerten. Dennoch bewunderte Tom Dracula, und wenn auch nur wegen
seiner Begeisterung für Van Gogh. Dieser Geschmack, der einmal
gewagt und radikal gewesen war, deutete auf eine Offenheit dem
Neuen gegenüber hin, die für die Toten uncharakteristisch war.
Und weil er - trotz seiner gegenwärtigen Lebensumstände - immer
noch gefährlich sein konnte, ein Raubtier. Tom hegte Respekt für
ihn. Er würde il principe in Ruhe lassen und darauf hoffen,
dass Dracula es mit ihm genauso hielt.
An den Morgenden, bevor der Haushalt sich regte,
nahm Tom sich eine kostbare Auszeit. Er saß gern im Kristallsaal,
einem Wintergarten im Erdgeschoss, und sah durch dessen zwölf Meter
hohe Glaswände zum Grundstück hinaus. Noch vor der Mittagszeit war
der Raum ein Kaleidoskop aus Sonnenlicht; hier wurde Tom kaum
einmal von den Toten belästigt.
Er nahm seinen Lieblingssessel in Beschlag, um die
International Herald Tribune zu lesen und eine
Fingerhut-Tasse bitteren, starken Espresso nach der anderen zu
trinken. Die warmblütigen Diener der Tagesschicht, die selten lange
blieben, setzten alles daran, ihn zufriedenzustellen. Er war kein
grausamer Mensch, aber eine gelegentliche Verbeugung oder ein
Kratzfuß waren doch ganz schön. Er fand, dass er sich diese
Mußezeit verdient hatte. Es hatte einigen Einfallsreichtum und
harte Arbeit gebraucht, hierherzukommen.
Überall tanzte Sonnenlicht, spiegelte sich in den
drachenschuppenartigen Scheiben des Wintergartendachs, ließ Balken
wirbelnden Staubs aufstrahlen, malte eckige Muster auf den alten
Teppich. Tom spürte die Wärme auf seinem Gesicht und war versucht,
die Augen zu schließen und zu dösen. Er brauchte den Tag zwar nicht
in einem Sarg mit Bostoner Erde zu verbringen, aber er war immer
noch die ganze Nacht über auf gewesen. Selbst der aufs Herz
schlagende Kaffee konnte ihn nicht ewig wach halten. Seine
Gewohnheit war es, am Nachmittag und frühen Abend Siesta zu machen,
um aus dem Weg zu sein, wenn die Toten sich erhoben.
War sein Widerwille nur die Voreingenommenheit
eines Amerikaners? In den Staaten gab es nicht viele lebende Tote.
Die Prohibition
hatte sie in den Zwanzigern nicht komplett hinausjagen können,
aber sie führten weiterhin eine Existenz im Untergrund und schossen
anders als in Europa nicht wie Pilze aus dem Boden. Gesetzliche
Einschränkungen ihrer Praktiken wurden konsequent angewandt. Tom
betrachtete sich gern als frei von den meisten Konventionen, aber
irgendetwas an diesen Kreaturen ließ ihm keine Ruhe.
Er lockerte seinen Morgenmantel am Hals und öffnete
die obersten Knöpfe seines Hemdes von Ascot Chang. Dickies Hemd
ursprünglich. Er hoffte, etwas Farbe zu bekommen. Mittelmeerbräune
würde die Bisswunden weniger herausstechen lassen. Und er wollte
nicht für einen der Toten gehalten werden. Er war so viel mit ihnen
zusammen, dass um ihn herum allmählich eine Wand wuchs, die ihn von
den Lebenden trennte.
Erst als er nach Europa gekommen war, den Kopf
randvoll mit Gruselgeschichten seiner Tante über blutsaugende
Monstren an jeder Straßenecke, hatte er wirklich etwas über die
Toten erfahren. So furchterregend waren sie gar nicht.
Auf seine eigene unscheinbare Weise war er ein
Raubtier, das sich von den Toten nährte.
In Griechenland, wo Tom sich aus keinem sonderlich
guten Grunde aufgehalten hatte, war er Richard Fountain über den
Weg gelaufen, einem ziemlich jungen Neutoten. Sie kannten einander
von einer Wochenendgesellschaft in den Hamptons her, zu der Tom
nicht direkt eingeladen gewesen war. Dickie, der inzwischen einer
lästigen Freundin und einem schrecklichen College in Cambridge
entflohen war, freute sich über die Wiederbegegnung und nahm ihn
mit in sein Strandhaus auf Zypern. Irgendwie war der Engländer auf
die Idee gekommen, dass Tom aus einer reichen Familie stammte, von
der er sich entzweit hatte und nun von ihren Schecks lebte. Tom
gelang es nie herauszufinden, warum Dickie unmöglich weiter in
England leben konnte, aber es hatte ihn
jedenfalls nach Südosten getrieben, auf der rastlosen Suche nach
etwas Undefinierbarem. Sein Kurs hatte ihn zu einem toten Bauern
namens Chriseis geführt, der ihn gleich in der ersten Nacht
verwandelt und in der Dunkelheit liegengelassen hatte.
Zusammen kamen Tom und Dickie ganz schön herum,
hüpften von Insel zu Insel und erlebten die üblichen Abenteuer.
Dickie war, bedingt durch seine kürzliche Erfahrung, von den Toten
Griechenlands besessen. Er forschte überall nach Spuren von
Chriseis’ Blutgeschlecht, das seiner Meinung nach bis zu den
vorvolukas der jüngsten Zeit und den lamiae des
Altertums zurückreichte. Das war schon zum Gähnen, aber nichts, mit
dem man nicht fertig wurde. Langeweile war immer noch besser, als
im Gefängnis zu sitzen. Wenn Tom eines vermeiden wollten, dann
einen Knastaufenthalt. Er verabscheute die Vorstellung erzwungener
Nähe, in einem beengten Raum mit einem oder mehreren anderen
Männern zu sitzen, die er sich nicht aussuchen konnte.
Durch Dickie wurde Tom etwas Wichtiges über die
Toten klar. Wenn ihre Zähne einem im Hals steckten und ihnen das
eigene Blut durch den Mund lief, dann waren sie nicht in der Lage
zu bemerken, dass man ihre Taschen durchsuchte.
In seiner Unwissenheit hatte Tom geglaubt, die
Toten brauchten Blut zum Überleben wie die Lebenden Wasser. Das war
falsch. Warmes Blut konnte wie Rauschgift sein oder Alkohol oder
Sex oder Espresso oder Zucker. Alles von einer verzweifelten
Abhängigkeit bis hin zu einer leichten Schwäche. Wenn sie der rote
Durst überkam, blieb von ihrem berühmten Scharfblick und ihrer
Suggestivkraft nicht mehr viel übrig.
Am Anfang entschuldigte Dickie sich dafür, Tom
bluten zu lassen, und war anschließend immer zutiefst dankbar. Er
kannte sich nicht aus. Jedes Mal, wenn er einen armen warmen Teufel
biss, sagte er »Verzeihung«, »bitte« und »vielen Dank«. Dann begann
er einen arroganten Zug zu entwickeln, als hätte er sich Tom
zum Sklaven gemacht oder so. In langen, weitschweifigen Monologen
erging Dickie sich kurz vor der Dämmerung im Strandhaus über die
Sünde und das Böse und die Genugtuung, über die Notwendigkeit, die
Sünde hinter sich zu lassen und sich das volle menschliche
Potenzial zu eigen zu machen. Wörter wie »Sünde«, »böse« und
»Schuld« waren für Tom bedeutungslos. Er hatte sie oft in der
Schule gehört und war fasziniert von ihrer Bedeutung gewesen, aber
nur in akademischer Hinsicht, als wären es unglaubwürdige
wissenschaftliche Theorien, für die Jahrhunderte verschwendet
worden waren. Es war ein Wunder, dass Dickie an diesem ganzen
Quatsch immer noch etwas fand.
Allmählich wurde Tom klar, dass dieses Arrangement
nicht ewig bestehen konnte. Er musste nach einem angenehmen Ausweg
suchen.
Ein paar Tropfen Blut benebelten Dickie völlig,
machten ihn ungewöhnlich beeinflussbar. Nach etwa einem Monat
dieser Verbundenheit bemerkte der Tote nicht länger, wenn Tom sich
Sachen dauerhaft lieh. Er trug gern Dickies englische Garderobe,
die von einer Qualität war, wie er sie schätzte. Es war ein Glück,
dass sie etwa dieselbe Größe hatten.
Als er den Tod akzeptierte, warf Richard Fountain
sein Leben weg. Es war nur recht und billig, wenn Tom es aufhob. Er
war schließlich am besten in der Lage, es zu genießen.
Am Ende wurde die Situation reichlich enervierend.
Dickies empörte Verlobte spürte sie auf Zypern auf. Sie brachte
Anschuldigungen vor, die Tom verletzend und beleidigend fand. Um
die Sache zu klären, fuhren Tom und Dickie eines Nachts zum Reden
mit einem Boot hinaus, und Tom stieß Dickie ein abgebrochenes
Rundholz in die Brust. Da er noch nicht lange genug tot war, um zu
Staub zu zerfallen, war er losgegangen wie verdorbenes Fleisch. Tom
hatte ihn über die Seite gehievt und zugesehen, wie er
unterging.
Er drehte es so, dass Dickie anscheinend auf der
verrückten Suche nach dem Ursprung von Chriseis’ Blutgeschlecht zu
einer nicht bestimmbaren griechischen Insel aufgebrochen sei und
Tom ein kleines regelmäßiges Entgelt für die »Instandhaltung des
Hauses« angewiesen hatte. Wichtiger noch, Dickie hatte schriftliche
Anweisungen hinterlassen, dass Tom seine Reisegarderobe benutzen
dürfe. Niemand war glücklich darüber, besonders die Verlobte und
ihre Familie nicht. Die Polizei wurde eingeschaltet, aber die
Ermittlungen und Unterstellungen führten ins Leere.
Dickie war bereits verstorben, also konnte keine
Morduntersuchung angestellt werden. Griechenland zählte zu den
Ländern, die es versäumt hatten, ihre Gesetze an den Umstand von
wandelnden Toten anzupassen. Wenn jemand wegen Mordes hätte gesucht
werden können, dann der unauffindbare Chriseis. Die Behörden hatten
wenig Anreiz, nach einer Leiche zu suchen, die wahrscheinlich
ohnehin schon bis zur Unkenntlichkeit verwest war.
Das Geld brachte Tom nach Italien und spülte ihn
schließlich, trotz seiner Abneigung, sich noch einmal mit den Toten
einzulassen, in den Palazzo Otranto.
Und zu Penelope.
Sie war schon lange tot gewesen. Dickie hätte
gesagt, sie würde wissen, wie der Hase läuft. Von nahem blieb einem
ihr Alter nicht verborgen. Ihre Haut war weiß, aber mit einem Stich
ins Blaue, der auf Verfall hindeutete. Wenn sie mit Silber gekratzt
wurde, nahm Tom an, würden ihre Wunden sich schälen und schwären.
Ihr Gesicht und ihre Figur waren vollkommen, aber sie hatte Narben
auf den Brüsten und dem Bauch, grellrote Kreise, wie
Einschusslöcher.
Auf Malta wurde er von einem englischen
Subalternoffizier angesprochen, der ihn zunächst seiner Kleidung
wegen für Dickie hielt, mit dem zusammen er auf der Schule die
Prügelstrafe erduldet
hatte. Der junge Militär hatte ein Päckchen dabei, das er aus
England mitgebracht hatte, um eine Schuld abzutragen. Es sollte
einem Exilanten in Rom übergeben werden. Tom wurde die Benutzung
eines bereits gebuchten Zimmers im Rinascimento in Campo de’
Fiori in Aussicht gestellt, wenn er das Päckchen überbrachte. Tom
hatte ohnehin vorgehabt, nach Rom zu gehen, und auf diese Weise
dorthin zu kommen, war ihm durchaus recht.
Er war natürlich verlockt gewesen, einen Blick in
das Päckchen zu werfen. Es war klein genug, um einen
Füllfederhalter oder ein Spritzbesteck zu enthalten. Die
umständliche Methode der Zustellung deutete in seinen Augen darauf
hin, dass es sich um einen Gegenstand auf dem Weg zu seinem neuen
Besitzer handelte, vielleicht ohne dass der alte sein
Einverständnis gegeben hatte.
Die Empfängerin war Penelope Churchward. Sie trafen
sich in seinem Hotel, und er übergab ihr das Päckchen, bei dem es
sich ihren Worten zufolge um ein Verlobungsgeschenk handelte.
Anschließend sprach sie eine Einladung aus, die er einige Tage
später dankend annahm. Er wusste vom ersten Moment an, dass sie
Interesse daran hatte, sein Blut zu trinken. Dies war eine
verhältnismäßig neue Erfahrung für ihn, aber er gewöhnte sich
langsam daran. War er einer von den Männern, die Tote
anzogen?
Penny fand Tom nicht nur wegen seines Blutes
nützlich. Ihre Position im Haushalt des principe war nicht
näher definiert. Sie kümmerte sich um alles und war ebenso sehr
Haushälterin wie Hausherrin. Es gab ständig Aufgaben für Tom, etwa
diese tote Kuh Malenka durch Horden hingerissener Bewunderer zu
fahren oder am helllichten Tag in der Stadt Waren zu besorgen. Er
hatte nichts dagegen. Es hatte seinen Vorteil, zum Gefolge des
principe zu gehören und dennoch weiterhin am Leben zu
sein.
Wenn sie sein Blut trank, war sie ebenso hilflos
wie Dickie; sein Geschmack benebelte sie ganz genauso. Aber sie war
fordernder, durstiger. Ihre roten Küsse erschöpften ihn. Er fragte
sich, wie
lange sie sich noch halten konnte. Manchmal machte es Spaß mit
ihr. In ihren warmblütigen Tagen war sie mit Whistler und Wilde
bekannt gewesen, wenngleich sie deren Werke nicht verstanden
hatte.
Seine Bisse juckten. Er zog seinen Morgenmantel
zurecht. Tom wusste noch nicht recht, was er mit Penny machen
sollte. Irgendetwas würde ihm schon einfallen.
Es musste inzwischen Nachmittag sein. Die Sonne
hatte ihren Zenit überschritten. Schatten sammelten sich im
Kristallsaal wie Vorhänge.
Tote Hände glitten um seinen Nacken.
Tom brauchte nicht zu raten, wessen.
Penelope hatte schlechte Laune, spürte er. Sie gab
sich zu viel Mühe mit ihrer unbekümmerten Sprödigkeit, als sie sich
über einen Sessel drapierte, als wäre es der Schoß eines Kunden,
und mit einem Bein schaukelte wie eine kokette Vierzehnjährige. Ihr
Fuß schwang wie ein Metronom. Wahrscheinlich hätte sie gern
jemanden getreten.
Sie trug Hosen, die halb die Wade hinauf geschlitzt
waren, um ihre schönen Knöchel zur Geltung zu bringen, und
Ballerinaschuhe. Ihre Nehru-Jacke war aus dunkelblauem Stoff, in
den verspielt glitzernde Fäden hineingewebt waren. Ihr Haar war
hochgesteckt und verbarg sich unter einer übergroßen Matrosenmütze
mit roter Bommel.
Eine Sonnenbrille baumelte am Bügel von ihrem Mund.
Sie hatte die Angewohnheit, an den Bügeln zu kauen, und biss sie
manchmal ab. Er sah einen winzigen Fangzahn funkeln.
»Du musst mich aufmuntern, Tom«, verkündete sie.
»Ich brauche Aufmunterung. Dringend.«
Wegen dem Ältesten gestern Nacht, der zusammen mit
seiner einfältigen »Nichte« dem hiesigen Mörder in die Arme
gelaufen
war. Penelope hätte die beiden glatt selbst umbringen können, aber
sie verabscheute den Wirbel, der um diese schillernde Gräueltat
gemacht wurde.
Die römischen Morgenzeitungen strotzten von Fotos.
Malenka war allgegenwärtig, ihr strahlendes Lächeln und der alberne
Schmollmund kontrastierten mit körnigeren, weniger glanzvollen
Schnappschüssen der Polizisten am Tatort.
»Malenka kam nach Rom, um ein Star zu werden«,
stellte Tom fest. »Und hat ihren Wunsch erfüllt bekommen.«
Penelope schnaubte eher, als dass sie lachte.
»Du glaubst nicht, dass die kleine Hexe heil wieder
auftaucht, oder?«, erwiderte sie. »Dass das nur ein Werbegag war?
Den Zeitungen zufolge gab es kaum etwas zum Identifizieren. Sogar
dieses verflixte Kleid hat sich in Luft aufgelöst.«
»Graf Kernassy ist eindeutig identifiziert
worden.«
»Sie hätte für Schlagzeilen einen Mord begangen. Er
schon für eine warme Mahlzeit.«
Penelope setzte sich zum Schneidersitz auf,
verknotete ihre Beine wie ein Yogi und stemmte sich mit den Armen
hoch, schaukelte leicht hin und her wie einer dieser Wackelhunde,
mit denen geschmacklose Autofahrer ihre Hutablage schmückten.
»Deine englische Freundin hat alles mit angesehen«,
sagte Tom.
»Meine irische Freundin. Katie ist Irin.«
»Sie hat eine vollständige Beschreibung der Morde
abgegeben. Und von ihrem Mörder, diesem scharlachroten Henker. Sie
könnte freilich ihre eigenen Gründe für eine Lüge haben.«
Penelope lächelte böse bei der Vorstellung, dass
ihre Freundin in einen Mord verwickelt wäre.
»Sie kann man da nicht mit hineinziehen. Sie hat
Kernassy im Flugzeug kennengelernt.«
»Sagt sie.«
Tom glaubte nicht für einen Moment, was er da
andeutete. Er spann eine Geschichte zusammen, um Penelope
abzulenken. Um sie aufzumuntern. Sie dachte immer gern das
Schlechteste von Leuten. Außer von ihm, merkwürdigerweise.
»So etwas würde Katie Reed nie tun, Tom«, sagte
sie, nachdem sie es durchdacht hatte. »Du kennst sie nicht.«
»Wie gut können wir überhaupt je irgendjemanden
kennen?«
»Ich bin ein Vampir, du amerikanisches Dummerchen.
Ich kann den Leuten in die Köpfe und in die Herzen sehen und sie
bis aufs Letzte aussaugen.«
Sie machte einen Salto aus dem Sessel und war
schneller bei ihm, als sein Auge sehen konnte. Ein billiger Trick
der Toten. Er sollte einen nervös machen und überwältigen.
Ihre Hände lagen auf seinen Schultern, und sie
beugte sich vor für einen flüchtigen, blutlosen Kuss, die
Brillenbügel immer noch im Mundwinkel.
Tom verspürte ein Ziehen vor Ekel über die Nähe der
toten Frau. Er ertrug ihren hingehauchten Kuss.
Sie war wieder weg, auf der anderen Seite des
Kristallsaals, an einen Kamin gelehnt. Dann war sie wieder in ihrem
Stuhl, saß wohlgesittet da, die Knie geschlossen.
»Ich weiß nicht, was wir Prinzessin Asa sagen
sollen«, erklärte sie. »Sie geht bestimmt an die Decke.«
So verärgert sie wegen Graf Kernassy und Malenka
sein mochte, eigentlich störte sie sich an Prinzessin Asa Vajda,
die königliche Verlobte. Ihr Eifersucht zu unterstellen, wäre zu
kurz gegriffen, denn Tom wusste, dass sie nicht einmal daran zu
denken wagte, als Gemahlin für il principe zu dienen. Zwar
hatte sie die Organisation des Haushalts übernommen, aber sie war
eindeutig keine von Draculas Schlampen. Die kannte Tom, es waren
geistlose tote Weiber in Leichengewändern, eine gottverdammte Plage
für jeden warmblütigen Mann in Reichweite.
Manchmal dachte Tom, dass Penelope die ganze Welt
hasste, aber zu wohlerzogen war, um es zu zeigen.
Sie hatte eine Geschichte, aber die war zu
langweilig, um sich näher damit zu beschäftigen. Es war, als ob man
gerade ins Kino kam, während die letzte Rolle eines komplizierten,
aber nicht gerade fesselnden Melodramas lief. Das Beste, was man da
tun konnte, war, gar nicht weiter darauf zu achten, ab und zu eine
zustimmende oder amüsante Bemerkung abzugeben und die Toten ihre
Angelegenheiten selbst klären zu lassen.
»Sieh es einmal so, Penny. Du hast jetzt zwei freie
Plätze mehr für die Trauung in der Kapelle. Da kannst du noch ein
paar Leute von der ärmeren Verwandtschaft aufwerten.«
Zu Penelopes Aufgaben zählte es, so viel von
Draculas Brut wie möglich bei der Verlobung und der Hochzeit
unterzubringen. Il principe hatte Jahrhunderte dem Laster
gefrönt, hatte Geliebte und Untergebene verwandelt und sein
Blutgeschlecht verbreitet, wie ein Hund Bäume markierte.
»Du hast keine Vorstellung, wie abergläubisch diese
ganzen mitteleuropäischen Barbaren sind«, sagte sie. »Die wollen
ihre Hinterteile nicht auf den Stuhl eines wirklich Toten pflanzen.
Manche zünden in der Walpurgisnacht dem Teufel immer noch schwarze
Kerzen an.«
Bis zur Hochzeit wollte Tom die Toten hinter sich
gebracht haben. Die Zeremonie sollte in der Palastkapelle
stattfinden, wahrscheinlich weil der Papst Dracula den Petersdom
verweigerte. Otranto würde wimmeln von totem Fleisch.
Die Türen des Kristallsaals flogen auf. Prinzessin
Asa setzte sich in Szene.
Sie trug Schuhe mit Fünfzehn-Zentimeter-Absätzen
und einen schwarzen Bikini, kein ungewöhnliches Ensemble für sie.
Bodenlange Schleier waren über ihren Kopf drapiert, gehalten von
einem breiten schwarzen Schlapphut. Ihre taillenlangen Haare
waren buchstäblich rabenschwarz. Hinter den vielen grauen
Schleierschichten glühten ihre Augen wie rote Neonlampen. Ihre
Wangenknochen waren wie aus Eis geformt, ihre Unterlippe galt als
die üppigste von Europa, und ihr Bauch war so straff wie das Fell
einer Trommel.
Sie führte zwei ponygroße Doggen an der
Leine.
»Signorina Churchward«, keifte sie. »Kann man Ihnen
denn nicht die einfachste Aufgabe anvertrauen? Können Sie nicht
einmal einen geschätzten Freund vom Flughafen abholen, ohne ihn an
den Mob zu verlieren?«
Penelope stand auf und täuschte Unbekümmertheit
vor.
»Sollen wir denn alle in unseren Särgen gefunden
und vernichtet werden, wie es früher einmal war? Ihr Modernen wisst
nichts mehr von den Verfolgungen. Warum wurden keine
Sicherheitsvorkehrungen getroffen? Warum ließ man diese Gräueltat
einfach zu?«
Während sie das sagte, mit einer hohlen, giftigen
Stimme, waberten die Schleier um sie herum wie Tentakel von
Seeanemonen. Sie stolzierte durchs Zimmer. Ihre Pfennigabsätze
kerbten den alten Teppich, die Schleier trieben hinter ihr wie
wütende Schaumwogen, die schmalen weißen Schenkel durchschnitten
die Luft.
Penelope wusste es besser, als mit den Achseln zu
zucken.
»Il principe wird betrübt sein«, keifte
Asa.
Tom war nicht sicher, dass die Prinzessin ihrem
Prinzen je begegnet war. Ihre künftige Beziehung war mehr Allianz
als Ehe und sorgfältig vorverhandelt worden. Dennoch war sie
anscheinend jederzeit in der Lage, für ihn zu sprechen. Es wäre
interessant gewesen, einmal zu sehen, wie viel Autorität sie
wirklich besaß.
Einer der Hunde knurrte Tom an. Tiere mochten ihn
nicht sonderlich, was ein Jammer war.
Prinzessin Asa wirbelte zu ihm herum.
Ihre Blicke sengten sich durch die Schleier. Ihre
Augenlider kräuselten sich wie Lefzen. Sie ließ weiße Zähne
blitzen.
»Ich sollte ihn dir wegnehmen, deinen Gespielen«,
sagte sie zu Penelope. »Zur Strafe.«
Ihr totes Gesicht hing vor ihm, mit Augen wie
Untertassen. Sie hatte eine Fahne. Grabeshauch.
»Aber an dich wäre eine solche Behandlung
verschwendet«, sagte die Prinzessin und wehte durchs Zimmer,
tänzelte auf Penelope zu. »Du bist ein dummes, gefühlloses Weib. Du
empfindest für nichts und niemanden etwas.«
»Wie Ihr meint, Prinzessin.«
Prinzessin Asa hob einen chinesischen Blumentopf
hoch, der älter war als sie, und zerschmetterte ihn auf dem Boden,
spießte erdige Wurzeln mit dem Absatz auf.
»Auf die Knie, Engländerin!«
Penelopes Gesichtsmuskeln spannten sich.
Die Prinzessin richtete sich auf, die Schleier
gerafft, und starrte auf Penelope hinab. Eine Tyrannin des
Mittelalters in feudaler Verstimmung, eine viktiorianische Lady mit
Stahl im Rückgrat.
Prinzessin Asa hob befehlend eine krallenbewehrte
Hand. Die Schleier bildeten Spitzen über den Fingernägeln.
Penelope ging auf ein Knie, senkte jedoch nicht den
Kopf.
»Knie so, als ob du es ernst meintest, Weib.«
»Wie Ihr wünscht.«
Penelope sah kurz zum Teppich und stand auf,
wischte sich Erde von den Knien.
»Zufrieden?«, fragte sie Prinzessin Asa.
»Sehr.«
»Gut. Wenn Ihr mich entschuldigt, ich habe
Besorgungen zu machen.« Sie sah auf die Porzellanscherben und die
zertrampelte Pflanze hinab. »Ich werde einen Diener schicken, der
das wegräumt. Das war übrigens Tang-Dynastie. Neuntes Jahrhundert.
Ein Geschenk des Priesters Kah aus Ping-kuei an den Prinzen
Dracula. Kah dachte sicher nicht, dass sein Tribut einmal als
Blumentopf Verwendung finden würde. Ein hässliches Stück, fand ich
immer. Aber anscheinend ziemlich wertvoll.«
Penelope zog sich mit befremdlicher Würde zurück.
Tom war stolz auf das alte Mädchen.
Er war mit der königlichen Verlobten allein.
Sie knurrte ihn an wie einer ihrer Hunde. Er
entspannte sich etwas. Prinzessin Asa machte zwar viel Wind um
ihren Zorn, aber sie war eine weitaus weniger gefährliche Kreatur
als Penelope Churchward. Für Tom war die königliche Verlobte ein
Leichtgewicht, fast schon eine Enttäuschung.
Er zog den Kragen zurecht, berührte die ständig
offenen Bisswunden. Er bekam etwas Blut an seine Fingerspitzen und
rieb sie aneinander.
Prinzessin Asa, die der rote Durst überkam, vergaß
sein Gesicht und starrte auf seine schlüpfrigen Finger. Tom gab
vor, ihr Interesse erst jetzt zu bemerken, und entschuldigte sich,
suchte nach einem Taschentuch. Dann streckte er schüchtern, als
wäre ihm der Einfall gerade erst gekommen, die Hand aus, mit
schlaffen Fingern.
Die Prinzessin zögerte, sah sich um. Sie waren
allein. Sie raffte ihre Schleier und warf sie nach oben über den
Hut, streifte sie hinter die weißen Schultern zurück. Ihre Haut war
wie polierter Knochen.
Sie bewegte sich so schnell wie Penelope vorhin,
schoss dicht an Tom heran, senkte den Kopf und leckte seine Finger
sauber, dann zog sie sich zurück, säuberte sich den Mund mit
Gaze.
Er sah die Wirkung, die sein Geschmack auf sie
hatte. Ihre hervorstehenden Rippen hoben und senkten sich wie die
Beine eines zufriedenen Tausendfüßlers. Sie erschauerte vor
Wonne.
Sie sollte nie wieder an ihn denken.
5
Gelati
Sie musterte Genevièves Vespa mit einiger
Beklommenheit. Der kleine Motorroller war weiß mit roten
Zierleisten, aerodynamisch gestaltet wie ein amerikanisches
Transistorradio. Kate war in jüngeren Jahren zwar eine begeisterte
Fahrradfahrerin gewesen, aber mit motorisierten Fahrzeugen hatte
sie nicht viel Glück gehabt. Ihrer Erfahrung nach neigten schicke
neue Erfindungen zu Mordversuchen.
»Auf andere Weise kommt man hier nicht vom Fleck«,
erklärte Geneviève. »So kann ich durch die Staus schlüpfen.«
»Ich möchte wetten, dass du oft angehupt
wirst.«
»Das versteht sich von selbst.«
Geneviève lächelte sie an, als wäre Kate nur in der
Stadt, um das Nachtleben zu genießen und sich die Ruinen
anzusehen.
Sie hatten sich noch gar nicht richtig unterhalten.
Über Charles.
Geneviève rutschte auf der langen Sitzbank nach
vorn und sagte, Kate solle hinten aufsteigen und sich festhalten.
Die Fahrt war schnell und aufregend, sie bot die willkommene
Annehmlichkeit einer frischen Brise und ein paar routinemäßige
Flirts mit dem Tod. Geneviève kannte sich in den engen Gassen aus,
in den versteckten Höfen und Piazzas. Sie lenkte ihr treues Ross
gekonnt, schoss an den feststeckenden Autos vorbei und winkte
fröhlich, wenn die Fahrer wütend hupten.
Kate presste sich gegen Genevièves Rücken, bekam
ihre blonden Haare ins Gesicht und merkte, dass sie der Verführung
zu erliegen drohte. Schon spielte sie mit dem Gedanken, sich selbst
einen Roller zuzulegen, wenn sie wieder zurück in London war. Auf
einer solchen kleinen Traummaschine gäbe sie am Highbury
Corner sicher eine gute Figur ab. Vor den Cafés der Old Compton
Street würde sie bewundernde Seufzer auslösen. Und sie könnte die
Halbstarken auseinandertreiben, die ihr gern den Weg zum Waschsalon
versperrten.
Sie fuhren im Zickzack von der Piazza di Trevi
Richtung Piazza di Spagna und dann eine steile Seitenstraße hinauf.
Kate hielt ihren Hut fest. Geneviève fuhr sie zum Hassler
zurück.
In der Hotellobby ließ sie sich von einem
herrischen uniformierten Funktionär ihren Koffer geben. Sie fragte
sich, ob das Management bereits Graf Kernassys Suite ausgeräumt
hatte.
Sergeant Ginko, Silvestris Assistent, befragte
einige Zimmermädchen. Die Ermittlungen bewegten sich anscheinend in
den üblichen Bahnen; man versuchte in der Vergangenheit des Grafen
etwas zu finden, das zu seinem Mörder führte. Diese Vorgehensweise
versprach nicht gerade viel Erfolg: Kate ging davon aus, dass
Kernassy für das ermordet worden war, was er war, und nicht für
irgendetwas, das er getan hatte.
Hatte Penelope schon davon erfahren? Stand es schon
in der Zeitung? Bestimmt hatte Marcello die Story verkauft. Kate
hätte es in London jedenfalls getan.
Geneviève hob die Sonnenbrille und begutachtete
Marmor und Vergoldungen. Unablässig strömten reiche Leute mit
teuren Gepäckstücken in die Lobby.
»Du bist von Fiumicino schnurstracks
hierhergekommen? Du lebst anscheinend gern in großem Stil,
Kate.«
Kate schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich hier fehl
am Platze, eine graue Maus beim Festmahl.
»Ich bin mitgelaufen, weil es so einfacher war. Wie
üblich hat es mich in Schwierigkeiten gebracht.«
Sie erinnerte sich an den Kader von Hoteljungen,
die hinter Malenka hergeschwärmt waren und versucht hatten, von
Klove ihr Gepäck zu ergattern. Es war erst einen halben Tag
her.
»Die Ober hier sollen très délicieux sein«,
sagte Geneviève mit einem Blick in die leere, dunkle Bar.
»Das sind sie«, bestätigte Kate.
»Stille Wasser sind tief.«
Geneviève begeisterte sich für stehende
Redewendungen. Sie schnappte sie bei Charles auf.
Kate hatte auch eine zu bieten. »Man soll die Feste
feiern, wie sie fallen.«
»Ich glaube, du bist eine ganz Schlimme«, sagte
Geneviève liebevoll. »Charles hätte mich warnen sollen.«
Es war das erste Mal, dass Geneviève ihn erwähnte.
Sie mussten reden. Bald.
Geneviève merkte es auch und schlug vor, dass sie
ein Eis essen gingen. Kate war einverstanden. Sie verließen die
Lobby, Kate trug ihren Koffer. Genevièves Vespa sah dreist aus, wie
sie dort vor dem Hassler geparkt stand, so dicht bei der
Spanischen Treppe. Geneviève gab ihrem Roller einen liebevollen
Klapser und dem Portier ein Trinkgeld, damit er ihn im Auge
behielt.
Sie gingen gegen den Strom die Treppe hinab.
Warmblüter in Sommerkleidung spazierten vorbei. Die wenigen Vampire
dazwischen, die früh aufgestanden waren, hatten Umhänge wie
Wüstenscheichs umgelegt. Alle trugen riesige Hüte und dunkle
Brillen. Kate bekam Mode zu sehen, die gegen Weihnachten London
erreichen würde.
Am Fuß der Treppe saßen eine Reihe junger Künstler
- alle mit Baskenmütze und Bart, als hätten sie sich dafür
verkleidet - auf Stühlen und fertigten Skizzen von den Touristen
an. Kate konnte in London oder Paris nie an einer solchen Gruppe
vorbeigehen, ohne dass es sie reizte. Nach ungefähr siebzig Jahren
ohne Spiegelbild nagte beständig die Neugierde an ihr, wie sie
aussah. Ihr fiel der Schatten ein, den sie im Wasser des
Trevibrunnens gesehen hatte, und es überlief sie kalt.
Geneviève kannte ein Café gegenüber des Hauses, in
dem John Keats gestorben war. Überraschenderweise ließen die
Touristen es links liegen und gingen lieber ins Museo
Keats-Shelley.
»Ein beliebter Treffpunkt von Vampiren«, erklärte
sie. »Nachts geht es hier richtig rund.«
Sie bekamen einen Tisch unter einer schwarzen
Markise. Der kalte Schatten war herrlich. Kate berührte ihr
Gesicht. Es war immer noch heiß von der Sonne. Geneviève bestellte
auf Italienisch, und ihnen wurden zwei hohe Gläser mit hellroter
Eiscreme serviert. Kate nahm den langen Löffel und löste die
obenauf thronende Kirsche.
»Die Inhaber behaupten, abessinische Jungfrauen zu
importieren, aber in Wirklichkeit nehmen sie Schafsblut
dafür.«
Kate hatte schon früher Bluteis probiert. Es war
eher verharscht als cremig, und die Aromen bissen sich. Das hier
war etwas anderes.
»Wirklich köstlich«, gab sie zu. Es kitzelte
richtig den Gaumen.
»Rom ist eine Stadt für die Sinne«, sagte
Geneviève. »Für das Herz statt für den Kopf. Wenn man denken
möchte, fährt man nach Paris; wenn man fühlen möchte, kommt man
nach Rom. Nach einer Weile treibt es einen in den Wahnsinn. Ich
weiß nicht, wie lange ich es hier noch aushalten werde
danach.«
Sie sprach es nicht aus.
»Wie geht es ihm?«, fragte Kate ohne
Umschweife.
Geneviève legte nachdenklich den Kopf schief und
runzelte leicht die Stirn. Sie schob die Sonnenbrille zurück wie
einen Haarreif. Kate sah Schmerz in ihren Augen.
»Von Tag zu Tag ist weniger von ihm da. Es ist
keine Krankheit. Nur das hohe Alter. Es ist nicht mehr viel da, das
ihn hier hält.«
»Ist es zu spät? Für seine Verwandlung?«
Geneviève dachte einen Moment nach. Kate wusste
genau, dass
sie sich darüber schon den Kopf zerbrochen hatte. Warum hatte sie
nichts unternommen, keine Entscheidung gefällt?
»Die Kirche behauptet, es gäbe so etwas wie eine
Bekehrung auf dem Sterbebett«, sagte Geneviève. »Ich wüsste nicht,
warum es nicht möglich wäre. Um sich zu verwandeln, muss man nur
nahe am Sterben sein.«
»Du hast keine Brut?«
Die andere Vampirin schüttelte den Kopf.
»Niemanden, in diesen ganzen Jahrhunderten
nicht?«
Geneviève machte ein leicht trauriges Gesicht und
zuckte die Achseln, eine sehr französische Geste.
»Die ersten vierhundert Jahre lang musste ich mich
verstecken. Du hast die damaligen Zeiten nicht erlebt, Kate. Bevor
Dracula nach London kam und die untote Bevölkerung explodierte,
empfanden viele Vampire die Verwandlung als einen Fluch, nicht als
eine Gnade. Sie glaubten, sie hätten so schrecklich gesündigt, dass
ihnen der Himmel verschlossen blieb. Selbst heute bin ich mir nicht
sicher, dass der Wandel nur Gutes hatte.«
»Das kannst du nicht ernst meinen,
Geneviève.«
»Du bist immer noch sehr jung, Kate.«
Kate spürte, wie Ärger in ihr aufwallte. Geneviève
führte sich auf wie das Klischee einer Ältesten. Kennt alles, kann
alles, weiß alles. Und angeödet bis zum Gehtnichtmehr.
»Du hast ja auch keine Brut.«
»Ich weiß nicht so recht, mit meinem
Blutgeschlecht«, sagte Kate. »Trotz der Unmengen, die mein
Fangvater verwandelt hat, bin ich die einzige Überlebende.«
Die Mehrheit derjenigen, die in Vampire verwandelt
wurden, erreichten nicht einmal die übliche Lebenserwartung,
geschweige denn dass sie Älteste wurden. Neugeborene aus einem
verdorbenen Blutgeschlecht entwickelten sich schlecht. Wenn eine
warmblütige Person verwandelt wurde, durchlief sie einen Moment
der fließenden Formbarkeit. Man brauchte einen starken Willen, um
das durchzustehen. Viele verurteilten sich zu einem kurzen,
schmerzvollen Taumel durch die Finsternis.
»Charles ist nur wegen uns noch am Leben, Kate. Du
und ich, wir haben von ihm getrunken. Seine Lebenskraft berührt.
Wir haben ihn nicht verwandelt, aber verändert. Er ist ein Teil von
uns, und wir sind ein Teil von ihm. Manchmal verwechselt er uns
beide. Er schaut mich an und sieht dich.«
»Und Pamela?«
Nun war Geneviève schmerzerfüllt. Da sie beide
geübt darin waren, Gefühle wahrzunehmen, konnten sie ein Gespräch
mittels winzigster Gesichtsausdrücke aufrechterhalten.
Kate bereute ihre Bemerkung. Sie durfte die Gefühle
der Frau für Charles nicht geringschätzen. Was Geneviève Dieudonné
von den meisten Ältesten unterschied, war ihre Fähigkeit,
wahrhaftig zu lieben. Viele Älteste waren nicht einmal zur
Selbstliebe imstande.
»Ja«, gab Geneviève zu. »Pamela spielt eine immer
größere Rolle.«
»Du hast sie nie gekannt.«
Pamela Churchward, Penelopes Cousine, war ein paar
Jahre älter als Kate gewesen. Sie hatte gewusst, was Kate, damals
ein so gut wie blinder, warmblütiger pubertärer Rotschopf, Charles
gegenüber empfand, und sich immer die Mühe gemacht, freundlich zu
sein. Pam war jung gestorben, in Indien, als sie von Charles
schwanger war. Die schreckliche, blutige Angelegenheit hatte
Charles sehr mitgenommen, und er hatte sich in die Pflicht
gestürzt, in die Selbstverleugnung.
Seine Verlobung mit Penelope war ein vergeblicher
Versuch gewesen, Pamela zurückzuholen. Eine unschöne Sache, vor
allem für Penny. Ihr Unvermögen, ihm Pam zu ersetzen, hatte sie
wahrscheinlich zu Lord Godalming getrieben, zum dunklen Kuss.
»Du hast viel mehr Ähnlichkeit mit Pamela als
Penelope«, sagte Kate.
»Und du viel mehr als ich.«
»Aber nur, weil ich wie sie sein wollte. Penny
auch. Sogar Mina Murray. Pam war das Original und wir die
jämmerlichen Kopien.«
»Tscha! Du hattest achtzig Jahre, um eine richtige
Frau zu werden, Kate. Pamela hatte eine Handvoll Sommer der
scheinbaren Vollkommenheit. Wäre sie am Leben geblieben, wäre sie
auch nicht viel anders als wir gewesen, das weiß selbst Charles.
Keine Heilige mehr, sondern eine, die sich durchkämpft.«
Unvermittelt nahm sie Kates Hand.
»Eine von uns muss ihn verwandeln«, sagte sie mit
roten Tränen in den Augen. »Wir dürfen ihn nicht gehen
lassen.«
»Selbst wenn es das ist, was er sich am meisten
wünscht? Bei Pamela zu sein statt …«
»Bei mir? Oder bei dir, Kate.«
Charles’ Tod würde für Kate das Ende der
warmblütigen Welt bedeuten. Er war der letzte lebende Überlebende
ihrer Jugend. Aber es war der Mann Charles, den sie festhalten
wollte, nicht der viktorianische Charles, der vernünftige,
ehrenwerte, gutherzige Diener an Königin und Vaterland.
In diesem Jahrhundert war einfach der Wurm
drin.
»Nach dem richtigen Tod, kommt da noch etwas?«,
fragte Kate.
Geneviève ließ Kates Hand los, als hätte sie einen
Schlag bekommen.
»Woher soll ich das wissen?«
»Deine ganzen Jahre, als übernatürliches
Wesen.«
»Wir sind alle übernatürliche Wesen, die
Warmblütigen genauso wie die Untoten. Als Mädchen konnte ich die
Religion nicht von der Kirche trennen. Das war eine weltliche
Institution, die sich der Bewahrung ihrer Macht verschrieben hatte.
Als ich verwandelt
wurde, hat man uns verfolgt. Diejenigen, die uns jagten und
vernichteten, taten dies im Namen Gottes. In diesem Jahrhundert
sind wir alle Geschöpfe der Wissenschaft, werden unsere Rätsel
seziert. Diejenigen, die uns zu vernichten versucht haben, taten es
im Namen der Wissenschaft, in einem kalkulierten Versuch, einen
evolutionären Konkurrenten auszulöschen. Es läuft auf dasselbe
hinaus.«
Die Nazis hatten versucht, den Volkskörper von den
meisten Vampirgeschlechtern zu säubern. Selbst heute hörte Kate
gelegentlich noch Warmblüter flüstern, dass Hitler da schon Recht
gehabt hatte.
Seit Kate selbstständig denken konnte, war sie
Agnostikerin gewesen. Jetzt fragte sie sich, ob die Seele
unsterblich war.
»Es gibt Vampire, Geneviève. Es gibt Werwölfe. Gibt
es auch Gespenster?«
»Ich denke schon, auch wenn ich noch nie einem
begegnet bin.«
»Als junge Frau habe ich mir eingebildet, Dutzende
zu sehen. Ich hatte einen spiritistischen Fimmel, wie die halbe
Welt. Ektoplasma und Tischerücken. Es war alles sehr
›wissenschaftlich‹, weißt du. Wir Viktorianer hätten das Leben nach
dem Tode gern genauso kartografiert wie Afrika. Wir wollten
glauben, dass der Tod eine Veränderung darstellt, keinen
Schlusspunkt. Wie sich natürlich herausstellte, war er für einige
von uns, mich eingeschlossen, genau das. Nach meiner Verwandlung
verlor ich das Interesse. Erst kürzlich ist mir klargeworden, dass
das Rätsel nicht gelöst wurde, sondern nur links liegen blieb. Am
Anfang kam mir das Vampirdasein wie Unsterblichkeit vor. Dann wurde
mir bewusst, wie wenige von uns auch nur die normale
Lebenserwartung erreichen. Gestern Nacht sah ich zwei Älteste von
einem Augenblick auf den anderen sterben, wie alle Leute. Wir
werden beide sterben, Geneviève. Und dann?«
Ihre Eisbecher waren geleert.
»Das ist vielleicht ein zu gewichtiges Thema für
die Zeit und diesen Ort«, sagte Geneviève. »Dies ist eine Stadt des
Lebens und des Todes. Diese Dinge klären sich ohne uns. Wir sind
nur zwei schöne alte Damen …«
»Erspar mir das mit dem ›alten‹
Großmütterchen.«
»Wir sollten uns junge Liebhaber nehmen und uns von
ihnen Kleider kaufen lassen.«
Kate dachte an Marcello und wurde rot.
Verdammt. Geneviève würde das natürlich nicht
entgehen.
Kate sah weg, so dass der Schatten ihres Hutes über
ihr Gesicht fiel.
»Kate?«
Sie wischte Tränen weg und ertappte sich dabei zu
kichern.
»Kate, du bist noch keinen ganzen Tag hier …«
Geneviève machte ein verblüfftes Gesicht, kein
missbilligendes. Sie lachte laut auf.
»Kate Reed, du bist ein stilles Wasser. Das
steht mal fest.«
6
Liebesgrüße aus Moldawien
Während der Abend sich herabsenkte, wallte
sein Blut auf. Seine Augen sprangen im Dunkeln auf. Den Nachmittag
hindurch hatte er in einem abgedunkelten Zimmer im Hotel
D’Inghilterra den Schlaf der Toten geschlafen.
Hamish Bond bedauerte den Verlust jener Übergänge
des Halbschlafs, die er als warmblütiger Mann genossen hatte. Nach
einem guten Essen, einem anstrengenden Tag oder einer Liebesnacht
mit einer schönen Frau hatte er das langsame Dahinschwinden des
Bewusstseins ausgekostet. Als Vampir schlief er einfach willentlich
ein, als ob man das Licht löschte. Sein Geist blieb zusammen mit
seinem Herzen stehen. Immerhin brauchte er jetzt nur noch drei oder
vier Stunden Schlaf - Sargzeit, wie sie es nannten - im
Monat.
Er wusste augenblicklich, dass er nicht allein
war.
Er hatte die Tür und die Fenster natürlich
versiegelt. Das Fallen der Siegel hätte ihn geweckt.
»Still liegen bringt nichts, Commander Bond«,
schnurrte eine seidige Stimme. »Ich habe Ihre offenen Augen
gesehen.«
Der Raum war stockdunkel. Sein Gegenüber war
vampirisch, wie er.
Beiläufig setzte er sich im Bett auf und schloss
die Hand um die Walther PPK unter den Laken. Er schlief in einer
japanischen Pyjamajacke, die um die Taille straff zugeknotet
war.
Er konnte ebenfalls im Dunklen sehen.
Sie befand sich auf der anderen Seite des Zimmers
und atmete Rauch aus, durch große, elegante Nasenlöcher. Eine
seiner Zigaretten baumelte wie ein Skalpell zwischen ihren langen,
schmalen Fingern.
Sie saß nackt im Sessel, ein Knie sittsam über das
andere gelegt. Obwohl sie den Hals für Jade besaß und die
Ohrläppchen für Diamanten, trug sie keinen Schmuck. Eine
mitternachtsschwarze Mähne wuchs glatt von einem spitzen Haaransatz
weg und ergoss sich über breite Schultern und stolze Brüste.
Ihr Gesicht war breit, slawisch, mit einem fast
mongolischen Schnitt. Ihre fluoreszierenden violetten Augen hatten
den Ansatz einer Epikanthusfalte. Ihr Gesicht war die schöne Maske
eines heidnischen Götzenbilds; üppige Lippen teilten sich und gaben
den Blick auf grausame Fänge frei.
Er wusste sofort, dass sie eine Älteste war.
Ihre übereinandergeschlagenen Beine waren lang. Ihm
gefiel, wie sich unter der samtigen Haut zwischen Hüfte und Knie
die Muskeln abzeichneten. Auf halber Höhe ihrer Schienbeine lösten
sich Fleisch und Knochen auf, gingen in dünne Nebelschleier
über.
Er hatte von dem Trick gehört, ihn aber noch nie
miterlebt. Sie hatte sich willentlich in lebendigen Nebel
verwandelt, war unter der verschlossenen und präparierten Tür
hindurchgeflossen und hatte sich in seinem Sessel wieder
zusammengesetzt.
Der letzte Nebelhauch verfestigte sich zu
wohlgeformten weißen Füßen.
»Bravo«, machte er ihr ein Kompliment.
»Ich weiß gar nicht, warum ich mir die Mühe gemacht
habe.« Die Vokale glätteten einen alten Akzent. »Ein überaus teures
Kleid von Balmain liegt zerknittert auf dem Korridor, zusammen mit
einem Paar Smaragdohrringen, die bestimmt jemand stiehlt. Ach, und
noch zwanzig kleine Blütenblätter aus getrocknetem
Nagellack.«
Sie schnippte die noch brennende Zigarette weg und
stand auf, wunderbar unanständig. Dann trat sie ans Fenster und
stieß die Läden auf. Das letzte Licht des Sonnenuntergangs verlieh
ihrer Haut ein einladendes Glühen. Ein Windstoß zauste ihre Mähne.
Sie hatte volles Haar, es bog sich leicht an den Enden, wie eine
Reihe winziger Angelhaken.
»Ich heiße Anibas«, sagte sie und drehte sich zu
ihm um, die rechte Hand aufs Herz gepresst. »Sie wissen, wer ich
bin.«
Durchaus.
»Meine Urgroßtante ist Prinzessin Asa Vajda, die
königliche Verlobte. Ich werde eine der Brautjungfern sein. Sie
sollten das grässliche Kleid sehen, das ich anziehen soll.«
Er entspannte sich ein wenig, erfreute sich an der
Gegenwart dieses wilden Geschöpfs, ohne jedoch in seiner
Wachsamkeit
nachzulassen, auf die er bei jemandem wie ihr nie verzichten
würde.
Unvermittelt war sie auf dem Bett, auf allen
vieren, wie eine Füchsin. Seine Hand schloss sich um nichts.
»Suchen Sie das hier?«
Sie ließ die Pistole von ihrem Zeigefinger
baumeln.
»Sie sind eine von der flinken Sorte.«
Sie kicherte. Es klang böse. »Und Sie sind ein
Glückspilz.«
Anibas schleuderte die Pistole beiseite und
berührte sein Gesicht.
»Ihr Mr. Winthrop sagte, er würde mir ein Geschenk
schicken«, sagte sie. »Glauben Sie, es gefällt mir?«
»Sie können mich immer noch zurück ins Meer
werfen.«
»Ich glaube nicht.« Rasiermesserscharfe Nägel
strichen über sein Gesicht, gerade so sanft, dass die Haut heil
blieb. »Ich werde es wohl behalten.«
Selbst eine Warmblütige von Anibas’ Statur konnte
einen beherzten Kampf liefern. Sie besaß die Beine einer Läuferin
und die Hände einer Expertin im Karate. Sie war eine Vampirälteste,
um Jahrhunderte älter als er. Sie spielte mit ihm. Wenn sie ihm
unmittelbar Böses wollte, hätte sie ihm im Schlaf das Herz
herausreißen können.
Er hatte Beauregard gesagt, dass Winthrop Leute in
Draculas Umgebung hatte. Das war eine gewisse Übertreibung gewesen.
Die Vampire aus dem Haushalt des principe, die im Dienst des
Diogenes-Clubs standen, waren wahrscheinlich Doppelagenten, die nur
weitergaben, was ihr Herr wollte. Aber das änderte sich jetzt
womöglich.
Dies war die Frau, die er in Rom treffen
sollte.
Anibas fuhr die ausgefransten Narben auf seiner
Brust entlang, streifte ihm die Jacke von der Schulter.
Mit der Hochzeit würde das Haus Vajda vom Haus
Dracula absorbiert
werden. Eine Hackordnung, die seit Jahrhunderten bestanden hatte,
würde sich verändern. Tiefe Unzufriedenheit regte sich und konnte
zum Vorteil Englands genutzt werden.
»Meine Urgroßtante ist eine entsetzlich dumme
Person«, flüsterte Anibas. »Sie würde Ihnen ganz und gar nicht
gefallen.«
»Weiß sie, wo Sie sind?«
»Zweifelsohne. Sie ist schon immer misstrauisch
gewesen und wittert überall Verschwörungen gegen sich. Sie denkt,
jedes unbekannte Gesicht wäre ein Jesuit, der geschworen hat, ihr
Eisenspieße in die Augen zu treiben. Sie ist die reinste
Blamage.«
Anibas wollte natürlich gern die Stelle der
Prinzessin einnehmen. Die langen Leben der Ältesten waren eine
leidige Angelegenheit für arme Verwandte, die darauf warteten,
Besitztümer, Titel und Positionen zu erben.
»Ich habe mich unter einem anderen Namen ins Hotel
eingetragen. Sabina. Clever, hm? Das ist mein Name in einem
Spiegel. Sabina. Anibas.«
Warum waren Vampire von diesem Trick so angetan?
War je irgendwer auf einen Tarnnamen wie »Alucard« hereingefallen?
Wenn er sich als »D. Nob« ins Hotelregister einschrieb, würde kein
Mensch darauf hereinfallen. War das eine Ältestenschrulle, die er
auch noch entwickeln würde?
»Sie und ich«, sagte sie, ihr Gesicht dicht vor dem
seinen, »werden gemeinsam etwas aushecken, nicht wahr? Einen Plan,
ein Komplott, wie Schlange und Schwein. Zum Verderben von
Prinzessin Asa und zur Aufgabe dieser unklugen Verbindung? Wozu
brauchen wir Vajda mit dem dünnen Blut des Vlad Tepes? Wir waren
schon alt und ehrwürdig, da hat er noch Türken mit langen Stangen
sodomiert. Gerechterweise müsste er vor uns im Staub
kriechen.«
Winthrop hatte ihn gewarnt, Anibas gut im Auge zu
behalten. In diesem Augenblick schienen sie dasselbe Ziel zu haben.
Aber
wer wusste, wie es am Ende kam? Und es mischten immer noch andere
mit.
Sie krabbelte über ihn, ihr Haar hing ihm ins
Gesicht, ihre Brüste lagen auf seiner Brust. Unternehmungslustig
fuhr sie sich mit der Zunge über die prallen Lippen.
Er verstand sehr gut, welches Spiel hier gespielt
wurde.
Er packte Anibas bei den Schultern und zwang sie
auf die Matratze hinunter. Dann rollte er über sie, legte sich mit
dem ganzen Gewicht auf sie, bezwang ihre Beine mit den
seinen.
Sie wand sich, gab vor, gefangen zu sein, schnalzte
mit der Zunge und schüttelte die Haare zurück. Ihre weiße Kehle bog
sich.
Er biss sie wild in den Hals und trank ihr
Ältestenblut.
Als er aus dem Badezimmer kam und sich die Haare
abtrocknete, badete sie im Mondlicht. Die Türen zum Balkon waren
geöffnet, und der Nachtwind kühlte den Raum. Die Wunden an ihrem
Hals, ihren Brüsten verblichen rasch, verschwanden, während er
zusah. Er würde die Narben, die sie ihm geschenkt hatte, wochenlang
haben, vielleicht noch länger.
Sie hatte sich in ihr Abendkleid gehüllt. Das
rückenfreie, trägerlose Kleid war kaum züchtiger als Nacktheit.
Ihre Ohrringe waren klobige Smaragdhaufen. Im Osten zählten Größe
und Kompliziertheit mehr als guter Geschmack.
Er war voller Leben. Buchstäblich.
Natürlich hatte er schon früher Vampirblut gehabt.
Auf diese Weise war er ja verwandelt worden, in einer Privatklinik
in der Nähe von Marble Arch, wo man eine gewisse Menge seines
warmen Lebenssaftes gegen Vampirblut von Sergeant Dravot
ausgetauscht hatte. Seitdem hatte er im Außeneinsatz vampirische
Feinde eliminiert und sich an ihnen vollgetrunken, direkt aus ihren
klaffenden Kehlen. Sie hatten ihn stärker gemacht, der chinesische
Doktor und der jamaikanische Voodoomeister. Ab und zu
stiegen immer noch Erinnerungen in ihm auf, als bestünden ihre
Blutgeschlechter in ihm fort.
Aber das Blut einer Ältesten hatte er noch nie
gekostet.
Es war wie eine Droge, es verschob seine Sinne auf
eine ganz neue Ebene. Ihr Geist löschte seinen beinahe aus. Mit
einem Mal wusste er vieles über Anibas, das sie ihm nicht erzählt
hatte. Eindrücke aus ihrem langen Leben trieben durch sein
Gedächtnis. Der eiskalte Palast, in dem sie geboren worden war, mit
seinen schmutzigen Fußböden und kostbaren Wandteppichen. Er spürte
den Mund ihres Fangvaters an ihrer Kehle und seine Hände unter
ihren Röcken - der Methusalem hatte im Auftrag der Vajdas
gehandelt, damit das Geschlecht erhalten blieb. Er teilte die Panik
einer Flucht aus der Heimat: wütender Mob um die Kutsche herum,
Fackeln, orthodoxe Priester mit langen Bärten und silbernen
Sicheln, Scheiterhaufen blendend grell in der moldawischen
Nacht.
Er war angespannt, wo er doch entspannt hätte sein
sollen.
Nicht alle Eindrücke lagen weit zurück. Sie hatte
ihren Spaß gehabt. Nun würde sie ihn töten. Ihr Arrangement mit
Diogenes war nicht exklusiv. Sie hatte Moskau dieselben Dienste
angeboten und war zu dem Schluss gekommen, dass der Kreml ihr am
besten dabei helfen konnte, die Kontrolle über das Haus Vajda zu
erringen. Schließlich lagen die Ländereien ihrer Vorfahren hinter
dem Eisernen Vorhang.
Einen Moment lang spürte er Bedauern. Sie hatte ihn
wirklich genossen. Das wusste er.
Sie wandte sich vom offenen Fenster um, und das
schöne Gesicht dehnte sich. Ihr Mund erweiterte sich zu einem Maul,
Fangzähne schossen aus den Kiefern.
Er nahm das Handtuch herunter und erschoss sie mit
der Pistole, die er darin eingewickelt hatte.
Fast war Anibas schneller als die Kugel. Er hatte
ihr das Silber
ins Herz setzen wollen, aber die rote Wunde explodierte in ihrer
Schulter.
Verdammt. Nun war er wohl tot.
Ein Zentner wütendes Tier sprang ihm an die Brust,
warf ihn auf den Rücken und drängte ihn bis zur Badezimmertür
zurück.
Sie war nicht wiederzuerkennen.
Eine schwarze Schnauze schnappte nach seiner Kehle.
Wolfsaugen funkelten ihn an. Klauenbewehrte Vorderpfoten schlugen
in seine Brust. Ihre Hinterpfoten kratzten über den gefliesten
Boden.
Er hatte eine Hand unter ihrem Kiefer.
Kiefernnadeldicke Borsten sprossen gegen seine Handfläche. Sein
Unterarm war stahlhart angespannt, hielt die mörderischen Zähne von
seiner Kehle fern.
Immer noch strömte Blut aus ihrer Schulter.
Fellbewachsene Haut zog sich enger über die Wunde, zerschmolz aber
sofort wieder, vermochte die von Silber zerfetzte Stelle nicht zu
verschorfen.
Er hob die Pistole, versuchte ihr die Mündung ins
Auge zu drücken. Sie schüttelte den Kopf und biss in die Walther;
die Fänge hinterließen tiefe Kratzer im Lauf. Er verlor die Pistole
und war froh, noch alle seine Finger zu haben.
Sie bildete ein menschliches Gesicht aus.
»Wie konntest du? Nach allem, was wir einander
bedeutet haben?«
Sie übertrieb es mit ihrem Appell, hinter dem
Säuseln war ein Knurren zu hören.
Sie war wieder ein Tier, mehr Bär als Wolf. Ihre
Masse erdrückte ihn. Das Kleid von Balmain hing nur noch in Fetzen.
An den hohen, spitzen Fuchs-Fledermaus-Ohren baumelten nach wie vor
die Ohrringe. Er packte einen und riss ihn ab, zerfetzte das
Ohr.
Anibas heulte auf.
Es war die Eitelkeit der Ältesten, Schmuck mit
Silberfassungen zu tragen, um damit anzugeben, dass ihnen das
tödliche Element nichts anhaben könne. Er versuchte der Vampirfrau
das Flitterzeug ins linke Auge zu drücken.
Er schaffte es nur, sie wütend zu machen.
Ein Wirbel von Bewegungen, und das Gewicht ließ
nach. Er hätte fast erleichtert aufgeatmet. Breite Kiefer
schnappten nach seinem Körper, gleich unterhalb der linken
Armbeuge. Fänge senkten sich hinein wie Fleischerhaken.
Sie würde ihm den Brustkorb aufreißen und sein Herz
fressen.
Und das wäre es dann.
Die Umklammerung ließ nach, und auf einmal spritzte
eine Unmenge Blut, überschwemmte ihn schier. Ein Fäulnisgestank
ließ ihn würgen. Für einen Moment meinte er, tot zu sein. Nein, er
konnte sich aufsetzen.
Anibas’ Maul löste sich von seiner Seite, und ihr
Kopf rollte in seinen Schoß. Einen Augenblick später verwandelte
ihr Kopf sich von dem eines Zeichentrickwolfs, Hals sauber
abgetrennt, zu dem einer Frau. Blutbesudeltes Haar breitete sich
über seine Knie aus. Dann war sie eine verschüttete Schale Nebel
und trieb davon. Ein fingerbreiter weißer Schleier sammelte sich
auf dem Badezimmerboden, waberte langsam.
Die Schlampe war tot.
Er spürte, wie seine Rippen wieder
zusammenwuchsen.
In der Türöffnung sah er Beine stehen. Einen gut
gebauten Mann in roten Strumpfhosen. Von seinen Händen baumelte
eine Länge Käsedraht; er glänzte silbrig, wo er nicht rot verklebt
war.
Wahnsinniges Gelächter erfüllte den Raum.
Er versuchte seinem Retter ins Gesicht zu
sehen.
Etwas zog den Mann in Rot weg, führte ihn zurück
ins Schlafzimmer.
Bond war zu kaputt, um aufzustehen und ihm zu
folgen.
Das Gelächter wurde lauter.
Ihm wurde schwarz vor Augen. Er bekam kaum noch
mit, wie jemand wild an die Tür klopfte und seinen Namen
rief.
7
Die Lebenden
Sie fuhren mit dem Aufzug nach oben, in
einer Kabine aus poliertem Messing und hölzernem Gitterwerk. Vor
der Wohnung zögerte Geneviève aus Sorge um ihre Freundin. Sie
schloss noch nicht auf, sondern sah Kate an und fragte sich, wie
sie ihre Befürchtungen in Worte kleiden sollte.
»Es ist schon einige Jahre her, oder?«, fragte
sie.
»Charles war Ende neunzig, als ich ihn das letzte
Mal gesehen habe«, sagte Kate. »Er war bereits alt. Ich werde schon
keinen Schreck kriegen.«
Da war sich Geneviève nicht so sicher.
Die Warmblütigen alterten und starben. Sie nicht.
Obwohl sie sich seit Jahrhunderten daran hatte gewöhnen können,
ließ sie diese Tatsache oft bestürzt zurück, im Kampf gegen die
Tränen. Ein ganzes Leben konnte doch nicht so schnell vorbei sein.
Das war ungerecht.
Carmilla Karnstein, ein Vampirmädchen, das
Geneviève im achtzehnten Jahrhundert gekannt hatte, hatte um den
Verlust von Freunden getrauert, als wären die Warmblütigen ihre
Schoßtiere, die während der endlosen Menschenkindheit ganz
plötzlich alt an Hundejahren geworden waren. Carmilla war auch
längst tot, war aufgespürt und vernichtet worden. Anscheinend war
sie nie
auf den Gedanken gekommen, dass ihre Lieblinge nicht gestorben
wären, wenn sie nicht so angetan von ihnen gewesen wäre, dass sie
dermaßen viel Blut von ihnen hatte trinken müssen. Das hatte
schließlich zu ihrem Ende geführt.
Die Warmen wie Haustiere oder Vieh zu behandeln,
war eine Möglichkeit der Ältesten, mit ihrer Entfremdung von der
Menschenzeit fertigzuwerden.
In diesem Jahrhundert, wo es so viele
nosferatu gab, hätte das anders sein müssen. Aber Geneviève
hegte die Befürchtung, dass sie sich nicht ändern konnte. Evolution
war Sache der Nachfolgenden. Vampire wie Kate Reed sollten mit so
etwas fertigwerden.
»Er ist jetzt über hundert, Kate.«
»Dazu fehlt mir auch nicht mehr viel.«
»Du weißt, dass es für uns anders ist.«
»Ja. Tut mir leid. Das war eine dumme Bemerkung von
mir.«
Geneviève öffnete die Flügeltüren aus dunklem Holz.
Sie waren zwei Meter siebzig hoch und passten eher in ein Schloss
als ein Wohnhaus. In Rom schätzte man eindrucksvolle
Eingänge.
»Immer rein in die gute Stube«, drängte sie.
Kate trat über die Fußmatte hinweg und stellte
ihren Koffer ab. Sie sah sich in der Diele um, bewunderte die
Bücherregale und Messinglampen.
»Sehr viktorianisch«, sagte sie. »So kennt man
Charles.«
Geneviève hatte Schalen mit getrockneten
Rosenblütenblättern aufgestellt, des Duftes wegen.
»Komm hier entlang«, sagte sie und führte Kate um
die Ecke des Flurs, Richtung Arbeitszimmer. Die Wohnung war
geräumig, aber die Flure - und Küche und Badezimmer - waren eng,
zwischen zwei große Zimmer, das Arbeitszimmer und ein Esszimmer
gequetscht.
Die Balkontüren standen auf, und eine abendliche
Brise ließ
die Vorhänge wehen. Das letzte Stück Sonnenscheibe warf einen
orangefarbenen Schleier über die Stadt.
»Charles sitzt gern auf dem Balkon«, erklärte
Geneviève.
Von draußen kamen hektische Geräusche.
»Charles-Chéri«, sagte Geneviève recht laut.
»Kate ist da.«
Sie ließ Kate stehen und trat auf den Balkon.
Charles hatte es geschafft, den Rollstuhl mit den Füßen, die in
Pantoffeln steckten, zu drehen, aber seine Hände konnten die Räder
nicht bewegen. Er war frustriert über das Nachlassen seiner Kraft,
aber eher amüsiert als verärgert. Er nahm die Gebrechlichkeit
ebenso, wie er die Kraft stets genommen hatte, als etwas
Relatives.
Ohne erst gebeten werden zu müssen, rollte sie
Charles nach drinnen. Kate wartete dort, mit feuchten Augen hinter
den dicken Gläsern, und nestelte am Saum ihres Schottenrocks. Er
lächelte, und seine Altersfalten dehnten sich. Er sah merkwürdig
kindlich aus, fast wie ein Baby.
Kate flog ihm entgegen und kniete sich hin. Sie
ergriff seine Hände - was ihn wegen ihrer unbeherrschten
Vampirkraft das Gesicht verziehen ließ - und legte den Kopf in
seinen Schoß.
»Charles«, seufzte Kate, »Charles.«
Charles brachte ein hustendes Lachen
zustande.
»Steh auf und lass mich dich ansehen«, verlangte
er.
Geneviève machte das elektrische Licht an. Selbst
nach Jahrzehnten noch hatte sie das Gefühl, nach einer dünnen
Wachskerze zum Entzünden der Leuchter greifen zu müssen. Manchmal
hatte sie einen Lichtschalter zu drehen versucht wie den
Absperrhahn einer Gaslampe.
»Ich bin mir nicht sicher, ob dir diese Frisur
steht«, sagte Charles besorgt. Kates Hände fuhren an ihren freien
Nacken. »Es ist mehr ein Haarschnitt.«
Kate wurde rot, die Sommersprossen verschwanden
fast. Sie wand sich immer regelrecht, weigerte sich zu glauben,
dass sie
in einem gewissen Licht attraktiv sein könnte. Viktorianer hatten
Vorurteile gegen rote Haare, also hatte sie gelernt, sich für ihr
Aussehen zu schämen. Nun hatte der Geschmack sich geändert, und sie
konnte durchaus als modisch durchgehen. Sie war zierlich genug für
den New Look. Selbst eine Brille galt heutzutage nicht mehr als
Verunstaltung.
»Ich hatte kurzes Haar, als ich warmblütig war«,
sagte Geneviève. »Es war in Mode. Wegen Jeanne d’Arc.«
Charles ließ sich das durch den Kopf gehen. »Du
warst eines dieser Mädchen, die als Junge durchgingen und die Meere
befahren und Piraten werden wollten. Kate hat einen seriöseren
Beruf.«
»Das sehen viele anders, Darling.«
Kate stand auf und küsste ihn.
Geneviève durchzuckte es. Ihre Nägel schoben sich
ansatzweise heraus.
Nach kurzem Nachdenken wusste sie, dass Kate den
Kuss verdient hatte. Sie war da gewesen, als Geneviève gefehlt
hatte. Während Geneviève dem zwanzigsten Jahrhundert aus dem Weg
gegangen war, hatte Kate dazugehört und war während der
Alptraumjahre an Charles’ Seite geblieben.
Kate tupfte sich die Augen mit einem
Taschentuch.
»Schau«, sagte sie. »Ich weine. Du hältst mich
bestimmt für albern.«
»Ganz und gar nicht«, sagte Charles sanft.
»Kate ist bereits in einen Mordfall verwickelt«,
sagte Geneviève.
»So liest man, ja.«
Charles wies auf die Nachmittagsausgaben von Il
quotidiano und Paese sera. Sie lagen auf einem
nierenförmigen Couchtisch, dem jüngsten Möbelstück im Raum.
»Ich musste sie vor der Polizei retten.«
»Wer leitet die Ermittlungen?«
Geneviève sah zu Kate.
»Ein Inspektor Silvestri«, sagte Kate. »Kennst du
ihn?«
»Ich habe von ihm gehört. Er soll ein guter Mann
sein. Letztes Jahr hat er dieses Pärchen gefasst, das blutige
Schmetterlingsbroschen auf den Leichen seiner Opfer hinterließ.
Aber diesem Mörder hat er natürlich noch kein Ende gesetzt. Den
Zeitungen zufolge hast du den scharlachroten Henker gesehen?«
»Eigentlich nur sein Spiegelbild«, sagte
Kate.
»Ein feiner Unterschied, den man durchaus machen
sollte.«
Charles war lebhafter, als Geneviève ihn seit
Wochen erlebt hatte, lebhafter sogar als bei dem Besuch des
britischen Spions. Sie hatte gar nicht gewusst, dass er sich für
die Morde an Vampirältesten interessierte, aber es überraschte sie
nicht. Sorgte er sich um ihre Sicherheit? Er war gelegentlich sehr
besorgt um sie, aber sie hatte sich das mit den Übertreibungen des
fortgeschrittenen Alters erklärt. Sie hatte ihn unterschätzt.
Wieder einmal.
»Letzte Nacht mitgezählt, hat es siebzehn Morde
gegeben seit der Befreiung«, erzählte Charles Kate. »Alles
Vampirälteste. Alle in Rom, und die meisten an öffentlichen
Plätzen. An Touristenorten sogar. Professor Adelsberg wurde in der
Engelsburg gepfählt. Dieser Leutnant von Dracula, den man Radu den
Widerwärtigen genannt hat, wurde auf den Stufen des Museo Borghese
enthauptet. Und die Herzogin Marguerite de Grand, die als große
Schönheit galt, wurde im Schatten der Statuen von Castor und Pollux
auf der Piazza del Quirinale vernichtet.«
»Adelsberg sagt mir etwas«, sagte Kate. »War er
nicht ein Kriegsverbrecher? Einer von Hitlers Vampirärzten?«
»Möglicherweise war er kein Opfer des
scharlachroten Henkers. Die anderen waren echte Älteste, vier- und
fünfhundert Jahre alt, zumeist aus dem Geblüt Draculas und mit
Titeln und Auszeichnungen,
die es bewiesen. Der Professor hat nicht einmal sein Jahrhundert
vollgemacht. Vielleicht haben die Israelis ihre Leute auf ihn
angesetzt. Oder er ist aus Prinzip ermordet worden, von jemandem,
der einen guten Grund hatte. Wie du weißt, passiert so etwas, wenn
über Mörder lang und breit berichtet wird. Trittbrettfahrer begehen
ähnliche Verbrechen, schieben ihnen Morde unter, die gar nichts
damit zu tun haben. Das geht so leicht, wie man am Strand einen
Kieselstein verstecken kann.«
»Für einen Ältesten wirkte Kernassy gar nicht so
monströs.«
Da war sich Geneviève nicht so sicher. Kate hatte
den Grafen nur ein paar Stunden am Ende eines vierhundert Jahre
währenden Lebens gekannt. Kernassy gehörte zu il principes
Karpatern, und die waren eine viehische Meute. Vielleicht hatte
dieser eine hier nur etwas bessere Manieren gehabt.
»Trotzdem ist es schon merkwürdig«, sagte Charles,
»dass du da mitten hineinspazierst.«
»Sie hat am Flughafen eine Bekannte getroffen und
sollte ein bisschen was erleben«, sagte Geneviève.
»Penelope.«
Für einen Moment sah Charles ganz ermattet
aus.
»Arme Penny«, sagte er leise. Er machte sich zu
viele Vorwürfe dafür, was aus Penelope Churchward geworden war, was
sie aus sich gemacht hatte.
»Sie taucht wirklich auf wie die sprichwörtliche
Böse«, sagte Kate. »Penny, meine ich. Was hat sie vor, dass sie
jetzt bei Dracula mitmacht?«
Charles versuchte die Schultern zu zucken, bekam
sie aber nicht hoch.
Es war immer noch ungeklärt, ob Geneviève ihr
Charles weggenommen oder Penny ihn für ihren Fangvater verlassen
hatte, den in schlechter Erinnerung behaltenen Lord Godalming.
Geneviève war der Ansicht, dass keines von beidem richtig stimmte.
Charles hatte Penelope sich selbst überlassen, weil er eine
größere Verpflichtung empfand, und Geneviève war zufällig
zeitgleich mit dieser Verpflichtung in sein Leben getreten. Wäre es
anders gewesen, hätte er sein Versprechen Penelope gegenüber
gehalten, ganz gleich wie unglücklich es sie beide gemacht
hätte.
Er war, in vielerlei Hinsicht, ein unmöglicher
Mann.
»Trefft ihr euch mit ihr?«, fragte Kate.
»Sie ist vorbeigekommen«, gab Geneviève zu. »Ab und
zu mal.«
»Das wundert mich nicht.«
»Das ist alles lange her«, sagte Charles.
Das sah Geneviève aber anders. Und Penelope
wahrscheinlich auch. Kate genauso.
Am Ende seines Lebens war Charles
versöhnlich.
Freilich hatten Kate und er Penelope als
warmblütiges Mädchen gut gekannt. Geneviève lernte sie im Grunde
erst als eine dieser Neugeborenen kennen, die reinweg gar nichts
begriffen. Gleich nach der Verwandlung hatte Penelope schlechtes
Blut getrunken und sich für zehn Jahre zu einer Invalidin gemacht.
Die Behandlung durch einen Quacksalber mit Blutegeln hatte auch
nicht viel geholfen. Wenn überhaupt, dann hatte Geneviève - die
damals als Ärztin arbeitete - ihr das Leben gerettet. Es war ihre
Pflicht gewesen, also unterschied sie sich wohl gar nicht so sehr
von Charles.
»Sie war die Erste, die fand, ich sollte mich
verwandeln«, sagte Charles. »Sie wollte, dass wir zusammen Vampire
wurden. Es schien das Richtige, wenn man fortschrittlich sein
wollte.«
Kate warf Geneviève einen alarmierten Blick zu. Er
nahm ihre sorgfältig aufgebaute Argumentation vorweg.
»Gené, Kate.« Charles sah sie an, als wären sie
seine beschämten Enkelkinder. »Ich weiß, dass ihr es nicht so meint
wie sie, aber ihr wollt dasselbe. Das, was ich nicht tun
kann.«
Kate bedeckte ihr Gesicht, um die Tränen zu
verbergen.
»Es tut mir leid, Kate.« Charles berührte sie am
Ellenbogen. »Der Fehler liegt nicht bei dir. Oder bei dir, Gené.
Sondern bei mir.«
Trotz der Stärke seiner Gefühle verging er vor
ihren Augen. Mit jedem Tag, mit jeder Stunde vielleicht, wurde er
schwächer, seine Ausstrahlung unbestimmter, verlor er
Substanz.
»Du bist nicht zu alt dafür, Charles«, sagte
Geneviève. »Du kannst dich noch verwandeln. Ganz bestimmt.«
Er schüttelte den Kopf.
»Du könntest wieder jung sein«, seufzte Kate.
»Er wurde wieder jung«, sagte Charles. »Graf
Dracula. Ich bezweifle, dass er an seiner neuen Jugend viel Freude
hatte. Er kam mir immer wie ein zutiefst trauriges Individuum vor.
Als er sich verwandelte, ging ihm etwas verloren. Das ist bei den
meisten Vampiren so. Selbst bei euch, meine unsterblichen
Lieblinge.«
Er sah gelassen aus, aber Geneviève hörte seine
Aufgeregtheit. Sein Herz schlug schneller. Seine Augen waren
feucht. Seine Stimme brach beinahe.
»Ist es denn so egoistisch von mir?«, fragte er.
»Gehen zu wollen?«
Später, nach Einbruch der Dunkelheit, saßen sie
beisammen und redeten über die Vergangenheit, zwangen sich dazu,
die Gegenwart und die Zukunft auszublenden. Kate drängte Charles,
Geneviève von den vielen Dingen zu erzählen, die sie verpasst
hatte, als sie in diesem Jahrhundert nicht bei ihm gewesen
war.
Natürlich hatte sie mitbekommen, wie nahe Charles
und Kate einander während des ersten Krieges gestanden hatten. Nun
hörte sie, wie viele ihrer Hoffnungen sie an Edwin Winthrop vom
Diogenes-Club geknüpft hatten, den sie selbst nie kennengelernt
hatte, sich aber gut von ihren Geschichten her vorstellen konnte.
Sie bereute es fast, nicht dort im blutigen Schlamm Frankreichs
gewesen zu sein, im Dickicht einer ebenso absurden wie
entsetzlichen Intrige.
Sie war das Geschöpf eines langsameren Zeitalters,
in dem die Zeit durch Jahreszeiten gemessen wurde und nicht durch
das Ticken der Armbanduhren. Sie hatte sich nie an dieses
Jahrhundert der Düsenflüge und Sputniks, der Breitleinwandfilme und
des Rock’n’Roll gewöhnt. Charles hatte mehr durchlebt, als sie je
durchleben würde, und war davon mehr berührt worden. Dass nichts
sie berührte, nahm sie nun als Schwäche wahr.
Dafür war eben Kate da. Sie erzählte vom zweiten
Krieg, den sie am Boden miterlebt hatte, und Charles von Landkarten
und Depeschen. Kates Engagement war so selbstlos, sie tat alles
dafür, dass es gerechter in der Welt zuging. Ihre Leidenschaft
brannte mit einer Heftigkeit, die Geneviève leider abging. Wenn es
einen Gott gab, dann musste Kate Ihm näher sein.
Charles wurde müde, bestand aber darauf, bei »den
Mädchen« zu bleiben. Ihm sackte ab und zu der Kopf herunter, er
schlief sogar.
»Sieht ganz so aus, als ob Lord Ruthven nach der
nächsten Wahl nicht mehr Premierminister ist«, sagte Kate. »Er hat
sich von Suez nie erholt. Aber wir dachten schon einmal, dass er
weg vom Fenster wäre. Als Winston im Krieg übernahm, war ich mir
hundertprozentig sicher, dass wir ihn jetzt los wären. Aber er
kehrte zurück. Das ist etwas, worauf ich gern verzichten würde,
Politiker, deren Karrieren endlos weitergehen. Und Ruthven ist das
reinste Chamäleon. Er fügt sich in die Umgebung ein, und auf einmal
ist er wieder da, als ein anderer Mensch.«
Geneviève fragte Kate nach den neuen Filmen,
Stücken, Büchern, der Musik. Wie sehr hatte London sich verändert?
Wen hatte sie in der letzten Zeit kennengelernt? Wer war
berühmt?
»Der Daily Mirror hat kürzlich eine Umfrage
über Vampire gemacht, wer der am meisten bewunderte und wer der
unbeliebteste ist. Im Zusammenhang mit einer Ausstellung bei Madame
Tussaud. Was meinst du, wer ist der prominenteste britische Vampir
heutzutage?«
Geneviève hatte keine Ahnung. »Edmund
Hillary?«
»Auch nicht schlecht. Nein, Cliff Richard.«
»Wer?«
»Ein Popsänger. Living Doll?«
Dieses Lied hatte Geneviève schon gehört.
»Überleg dir das mal, Geneviève. Er wird nie alt
werden, nie seine Stimme verlieren. Hätte es je einen Caruso
gegeben, wenn Farinelli immer noch da gewesen wäre? Hätte Wagner
gegen den hundertjährigen Mozart bestehen können? In vierzig
Jahren, wenn Sänger, die heute noch gar nicht geboren sind, ihren
eigenen Ausdruck finden sollen, wird Cliff Richard immer noch da
sein und von seiner crying, talking, sleeping, walking living
doll träumen.«
»Man sagt, dass nur wenige Vampire Künstler von
Rang werden«, sagte Geneviève.
»Es gibt Ausnahmen. Glaub mir, Mr. Richard ist
keine.«
Kate versuchte das Lied zu summen, über das sie
geredet hatte. Geneviève lachte.
»Die Geschichte schnurrt zu einer Hitparade
zusammen«, sagte Kate. »Und wir haben den Dracula Cha-Cha-Cha schon
alle viel zu lang getanzt.«
Eine Glocke läutete.
Geneviève ging rasch zur Tür. Es war ein Diener in
Livree, mit einer Botschaft.
Geneviève nahm sie und sagte ihm auf Wiedersehen,
dann schlitzte sie den Briefumschlag mit einer verlängerten
Daumenkralle auf. Drei Karten mit Goldrand fielen heraus. Sie
kehrte
ins Wohnzimmer zurück, wo Charles alarmiert und Kate beeindruckt
war.
»Wir sind zu einem Fest eingeladen«, verkündete
Geneviève, »vom Grafen Dracula und seiner Zukünftigen, Prinzessin
Asa Vajda. Stellt euch bloß vor.«