36
Das Alte Jago
Es gibt Menschen auf dieser Welt, vor denen sich sogar Vampire fürchten«, sagte er, während sie die Brick Lane hinaufgingen.
»Ich weiß«, räumte sie ein.
Der Älteste verbarg sich im Nebel und wartete, bis seine Zunge nachgewachsen war. Dann würde er ihr ein drittes Mal zu Leibe rücken.
»Ich bin mit allen Teufeln in allen Kreisen der Hölle wohlvertraut, Geneviève«, sagte Charles. »Es geht lediglich darum, den rechten Dämon anzurufen.«
Sie hatte keinen Schimmer, wovon er sprach.
Er führte sie durch eines der schmalen, übelriechenden Gässchen im schlimmsten Elendsquartier von ganz London. Dann und wann löste sich ein Ziegelstein aus den windschiefen Mauern und fiel aufs Pflaster. An jeder Ecke standen übelgesinnte Neugeborene und steckten die Köpfe zusammen.
»Charles«, sagte sie. »Wir sind im Alten Jago.«
Er pflichtete ihr schmunzelnd bei.
Sie fragte sich, ob er verrückt geworden sein mochte. In ihrem Aufzug - wollte sagen, nicht in Lumpen gekleidet - hätten sie ebenso gut als wandelnde Plakate einherstolzieren können, welche die Aufschrift BERAUBT UND ERMORDET MICH trugen. Rote Augen glommen hinter zerbrochenen Fensterscheiben. Kinder mit Barthaaren wie eine Ratte kauerten in Türeingängen und warteten darauf, sich um den Abfall größerer Raubtiere schlagen zu können. Je tiefer sie in dieses verrufene Viertel vordrangen, desto dichter wurde das Menschengewühl. Unwillkürlich musste sie an Geier denken. Sie befanden sich nicht mehr in England, sondern in einem Dschungel. Doch nicht die Orte waren böse, versuchte sie sich einzureden: sondern was die Menschen daraus machten. Im Dunkel lachte etwas, und Geneviève schreckte zurück. Charles beruhigte sie und blickte sich, auf seinen Stock gestützt, um, als genieße er die frische Luft in Hampton Court.
Verkrümmte, bucklige Gestalten lauerten in Hinterhöfen. Man konnte ihren Hass förmlich spüren. Im Jago endeten die schlimmsten Fälle: Neugeborene, deren Gestalt so sehr verändert war, dass sie nichts Menschliches mehr an sich hatten, derart niederträchtige Verbrecher, dass selbst andere Übeltäter ihre Gegenwart nicht dulden mochten. Eine Fahne der Kreuzfahrer Christi, deren Kreuz wie mit Blut gefärbt schien, hing aus einem Fenster. John Jagos Mission befand sich in dieser Gegend, wohin kaum ein Polizist je seine Schritte setzte. Niemand kannte den wahren Namen des komischen Heiligen.
»Was suchen wir?«, fragte Geneviève halblaut.
»Einen Chinesen.«
Ihr Herz machte einen Satz.
»Nein«, besänftigte er sie, »nicht den Chinesen. In diesem Bezirk genügt vermutlich der erstbeste Chinese.«
Ein stämmiger Neugeborener, über dessen nackter Brust sich Hosenträger spannten, trat aus dem Schatten einer Mauer, baute sich vor ihnen auf und blickte auf Charles herab. Sein Grinsen entblößte gelbe Fangzähne. Seine Arme waren mit Totenschädeln und Fledermäusen tätowiert. Nachdem Charles es vor ihren eigenen Augen mit Liz Stride aufgenommen hatte, war Geneviève gewiss, dass er den Vampir mit silberner Klinge oder Kugel leicht zu bezwingen vermochte. Er würde sich jedoch nicht allzu lange halten können, wenn das gute Dutzend Kumpane des Raubeins, das indes umherstand und sich mit schmutzigen Fingernägeln in den Zähnen stocherte, ihm zu Hilfe eilte.
»Nun denn«, begann Charles, seine Worte in die Länge ziehend wie ein regelrechter Narr aus Mayfair, »führen Sie mich zur nächsten Opiumhöhle, guter Mann. Je übler, desto besser, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Zwischen Charles’ Fingern blitzte etwas auf. Eine Münze. Sie verschwand erst in der Faust des Raubeins und dann in seinem Mund. Er biss den Shilling entzwei und spuckte die beiden Hälften aus. Sie waren kaum aufs Pflaster geklirrt, als sich auch schon ein Pulk von Kindern um sie prügelte. Der Mann blickte Charles unverwandt an, suchte seine neu gewonnene Macht der Bezauberung über ihn auszuüben. Nach einer kleinen Weile - Geneviève wurde immer mulmiger zumute - wandte er sich ächzend fort. Charles hatte seine Prüfung bestanden. Mit einem Nicken deutete das Raubein auf einen nahe gelegenen Türeingang und latschte davon.
Vor dem Bogen, durch den man auf einen geschlossenen Hinterhof gelangte, hing an einer Schnur eine schmierige graue Decke. Eine schlanke Hand zog den behelfsmäßigen Vorhang beiseite, und eine warme Wolke parfümierten Rauchs wehte sie aus der Öffnung an. Wie Glühwürmchen erhellten Opiumpfeifen hohlwangige Gesichter. Ein warmblütiger Matrose mit schorfbedecktem Hals und leerem Blick wankte auf die Straße hinaus; seine Heuer war in traumseligem Rauch aufgegangen. Er konnte von Glück sagen, wenn er das Jago mitsamt seinen Seemannsstiefeln verlassen durfte.
»Da wären wir«, sagte Charles.
»Was machen wir hier?«, fragte sie ihn.
»Am Netz rütteln, um die Aufmerksamkeit der Spinne auf uns zu lenken.«
»Wie schön.«
Eine junge Chinesin, zartgliedrig und neugeboren, kam aus dem Hof hervor. Die Raubeine hegten offenbar große Achtung vor ihr, was einiges besagen wollte. Sie trug einen blauen Pyjama und trippelte in Seidenpantoffeln über das schmutzige Pflaster. Ihre Haut schimmerte wie feines Porzellan. Ein fest geflochtener, schwarzglänzender Haarzopf reichte ihr bis zu den Knien. Charles verbeugte sich vor ihr, und sie erwiderte seinen Gruß, die Arme zum Willkommen ausgestreckt.
»Charles Beauregard vom Diogenes-Club lässt sich Eurem Gebieter, dem Herrn der seltsamen Tode, bestens empfehlen.«
Das Mädchen schwieg. Geneviève schien es, als hätten sich einige der Müßiggänger davongestohlen und wichtigeren Dingen zugewandt.
»Ich zeige hiermit an, dass diese Frau, Geneviève Dieudonné, unter meinem Schutz steht. Ich bitte, keine weiteren Schritte gegen sie zu unternehmen, damit die freundschaftlichen Bande zwischen Eurem Gebieter und mir keinen Schaden nehmen.«
Das Mädchen überlegte einen Augenblick und antwortete dann mit einem jähen Nicken. Sie verbeugte sich abermals und zog sich hinter den Vorhang zurück. Geneviève vermochte die wabernden roten Punkte der Pfeifen selbst durch die dünne Decke zu erkennen.
»Ich denke, das sollte genügen«, sagte Charles.
Geneviève schüttelte den Kopf. Sie begriff nicht recht, was zwischen Charles und der neugeborenen Asiatin vorgegangen war.
»Ich habe Freunde in den sonderbarsten Positionen«, gestand er.
Sie waren allein. Selbst die Kinder waren verschwunden. Nachdem Charles jenen »Herrn der seltsamen Tode« angerufen hatte, war die Straße wie leergefegt.
»Von nun an stehe ich also unter Ihrem Schutz, Charles?«
Er wirkte beinahe belustigt. »Ja.«
Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Zwar fühlte sie sich auf gewisse Weise sicherer, und doch war sie ein wenig aufgebracht. »Ich glaube, ich habe Ihnen zu danken.«
»Keine schlechte Idee.«
Sie seufzte. »Das war alles? Kein Messen titanischer Kräfte, keine wundersame Vernichtung des Feindes, kein heroisches letztes Gefecht?«
»Nichts weiter als ein wenig Diplomatie. Das beste aller Mittel.«
»Und Ihr ›Freund‹ ist tatsächlich imstande, den Ältesten zurückzurufen, wie ein Jäger einen Hund bei Fuß ruft?«
»Zweifellos.«
Sie verließen das Jago, hin zu den »sichereren« Gefilden von Whitechapel. Das Elendsquartier wurde allein von den infernalisch glühenden Kohlenpfannen in den Hinterhöfen erhellt, die das Dunkel in schwelendes Rot tauchten. Nun aber gingen sie wieder im beruhigenden Schein der zischenden Straßenlaternen dahin. Hier schien der Nebel beinahe freundlich.
»Die Chinesen glauben, dass, wenn man einen Menschen vor dem Tod bewahrt hat, man bis an sein Lebensende für diesen Menschen Sorge trägt. Charles, sind Sie bereit, diese Bürde auf sich zu nehmen? Ich bin schon sehr alt und habe die Absicht, noch einiges älter zu werden.«
»Geneviève, ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, dass Sie meinem Gewissen zu einer allzu großen Last werden könnten.«
Sie blieben stehen, und sie blickte ihn an. Er vermochte sein Amüsement kaum zu verbergen.
»Sie kennen mich bloß, wie ich jetzt bin«, sagte sie. »Ich bin nicht derselbe Mensch, der ich einmal gewesen bin oder der ich einmal sein werde. Der Zahn der Zeit kann uns äußerlich zwar nichts anhaben, aber innerlich … ist das etwas ganz anderes.«
»Dieser Gefahr will ich mich gern aussetzen.«
Bis Tagesanbruch blieb ihnen kaum mehr eine Stunde, und sie wurde müde. Sie war immer noch schwach und hätte eigentlich gar nicht aus dem Haus gehen dürfen. Der Schmerz im Genick war schlimmer als zuvor. Die Amworth meinte, es müsse wehtun, wenn es richtig heilen sollte.
»Ich habe den Ausdruck schon einmal gehört«, sagte Geneviève.
»Den Ausdruck?«
»›Herr der seltsamen Tode‹. Der Träger dieses Titels wird, wenn auch nur selten, mit einem verbrecherischen tong in Zusammenhang gebracht. Sein Ruf ist nicht der beste.«
»Wie ich schon sagte, er ist ein Dämon aus der Hölle. Aber wenn es um sein Wort geht, ist er ein wahrer Teufelskerl; er nimmt seine Verpflichtungen sehr ernst.«
»Er ist Ihnen verpflichtet?«
»So ist es.«
»Das heißt, Sie sind ihm verpflichtet?«
Charles schwieg. In seinem Kopf herrschte vollkommene Leere, bis auf das Bild eines Bahnhofsschildes.
»Sie tun das mit Absicht, nicht wahr?«
»Was?«
»An Basingstoke denken.«
Charles lachte. Und gleich darauf lachte auch sie.
Die Vampire
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