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Das Alte Jago
Es gibt Menschen auf dieser Welt, vor denen
sich sogar Vampire fürchten«, sagte er, während sie die Brick Lane
hinaufgingen.
»Ich weiß«, räumte sie ein.
Der Älteste verbarg sich im Nebel und wartete, bis
seine Zunge nachgewachsen war. Dann würde er ihr ein drittes Mal zu
Leibe rücken.
»Ich bin mit allen Teufeln in allen Kreisen der
Hölle wohlvertraut, Geneviève«, sagte Charles. »Es geht lediglich
darum, den rechten Dämon anzurufen.«
Sie hatte keinen Schimmer, wovon er sprach.
Er führte sie durch eines der schmalen,
übelriechenden Gässchen im schlimmsten Elendsquartier von ganz
London. Dann und wann löste sich ein Ziegelstein aus den
windschiefen Mauern und fiel aufs Pflaster. An jeder Ecke standen
übelgesinnte Neugeborene und steckten die Köpfe zusammen.
»Charles«, sagte sie. »Wir sind im Alten
Jago.«
Er pflichtete ihr schmunzelnd bei.
Sie fragte sich, ob er verrückt geworden sein
mochte. In ihrem Aufzug - wollte sagen, nicht in Lumpen gekleidet -
hätten sie ebenso gut als wandelnde Plakate einherstolzieren
können, welche
die Aufschrift BERAUBT UND ERMORDET MICH trugen. Rote Augen
glommen hinter zerbrochenen Fensterscheiben. Kinder mit Barthaaren
wie eine Ratte kauerten in Türeingängen und warteten darauf, sich
um den Abfall größerer Raubtiere schlagen zu können. Je tiefer sie
in dieses verrufene Viertel vordrangen, desto dichter wurde das
Menschengewühl. Unwillkürlich musste sie an Geier denken. Sie
befanden sich nicht mehr in England, sondern in einem Dschungel.
Doch nicht die Orte waren böse, versuchte sie sich einzureden:
sondern was die Menschen daraus machten. Im Dunkel lachte etwas,
und Geneviève schreckte zurück. Charles beruhigte sie und blickte
sich, auf seinen Stock gestützt, um, als genieße er die frische
Luft in Hampton Court.
Verkrümmte, bucklige Gestalten lauerten in
Hinterhöfen. Man konnte ihren Hass förmlich spüren. Im Jago endeten
die schlimmsten Fälle: Neugeborene, deren Gestalt so sehr verändert
war, dass sie nichts Menschliches mehr an sich hatten, derart
niederträchtige Verbrecher, dass selbst andere Übeltäter ihre
Gegenwart nicht dulden mochten. Eine Fahne der Kreuzfahrer Christi,
deren Kreuz wie mit Blut gefärbt schien, hing aus einem Fenster.
John Jagos Mission befand sich in dieser Gegend, wohin kaum ein
Polizist je seine Schritte setzte. Niemand kannte den wahren Namen
des komischen Heiligen.
»Was suchen wir?«, fragte Geneviève halblaut.
»Einen Chinesen.«
Ihr Herz machte einen Satz.
»Nein«, besänftigte er sie, »nicht den
Chinesen. In diesem Bezirk genügt vermutlich der erstbeste
Chinese.«
Ein stämmiger Neugeborener, über dessen nackter
Brust sich Hosenträger spannten, trat aus dem Schatten einer Mauer,
baute sich vor ihnen auf und blickte auf Charles herab. Sein
Grinsen entblößte gelbe Fangzähne. Seine Arme waren mit
Totenschädeln und Fledermäusen tätowiert. Nachdem Charles es vor
ihren eigenen
Augen mit Liz Stride aufgenommen hatte, war Geneviève gewiss, dass
er den Vampir mit silberner Klinge oder Kugel leicht zu bezwingen
vermochte. Er würde sich jedoch nicht allzu lange halten können,
wenn das gute Dutzend Kumpane des Raubeins, das indes umherstand
und sich mit schmutzigen Fingernägeln in den Zähnen stocherte, ihm
zu Hilfe eilte.
»Nun denn«, begann Charles, seine Worte in die
Länge ziehend wie ein regelrechter Narr aus Mayfair, »führen Sie
mich zur nächsten Opiumhöhle, guter Mann. Je übler, desto besser,
wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Zwischen Charles’ Fingern blitzte etwas auf. Eine
Münze. Sie verschwand erst in der Faust des Raubeins und dann in
seinem Mund. Er biss den Shilling entzwei und spuckte die beiden
Hälften aus. Sie waren kaum aufs Pflaster geklirrt, als sich auch
schon ein Pulk von Kindern um sie prügelte. Der Mann blickte
Charles unverwandt an, suchte seine neu gewonnene Macht der
Bezauberung über ihn auszuüben. Nach einer kleinen Weile -
Geneviève wurde immer mulmiger zumute - wandte er sich ächzend
fort. Charles hatte seine Prüfung bestanden. Mit einem Nicken
deutete das Raubein auf einen nahe gelegenen Türeingang und
latschte davon.
Vor dem Bogen, durch den man auf einen
geschlossenen Hinterhof gelangte, hing an einer Schnur eine
schmierige graue Decke. Eine schlanke Hand zog den behelfsmäßigen
Vorhang beiseite, und eine warme Wolke parfümierten Rauchs wehte
sie aus der Öffnung an. Wie Glühwürmchen erhellten Opiumpfeifen
hohlwangige Gesichter. Ein warmblütiger Matrose mit schorfbedecktem
Hals und leerem Blick wankte auf die Straße hinaus; seine Heuer war
in traumseligem Rauch aufgegangen. Er konnte von Glück sagen, wenn
er das Jago mitsamt seinen Seemannsstiefeln verlassen durfte.
»Da wären wir«, sagte Charles.
»Was machen wir hier?«, fragte sie ihn.
»Am Netz rütteln, um die Aufmerksamkeit der Spinne
auf uns zu lenken.«
»Wie schön.«
Eine junge Chinesin, zartgliedrig und neugeboren,
kam aus dem Hof hervor. Die Raubeine hegten offenbar große Achtung
vor ihr, was einiges besagen wollte. Sie trug einen blauen Pyjama
und trippelte in Seidenpantoffeln über das schmutzige Pflaster.
Ihre Haut schimmerte wie feines Porzellan. Ein fest geflochtener,
schwarzglänzender Haarzopf reichte ihr bis zu den Knien. Charles
verbeugte sich vor ihr, und sie erwiderte seinen Gruß, die Arme zum
Willkommen ausgestreckt.
»Charles Beauregard vom Diogenes-Club lässt sich
Eurem Gebieter, dem Herrn der seltsamen Tode, bestens
empfehlen.«
Das Mädchen schwieg. Geneviève schien es, als
hätten sich einige der Müßiggänger davongestohlen und wichtigeren
Dingen zugewandt.
»Ich zeige hiermit an, dass diese Frau, Geneviève
Dieudonné, unter meinem Schutz steht. Ich bitte, keine weiteren
Schritte gegen sie zu unternehmen, damit die freundschaftlichen
Bande zwischen Eurem Gebieter und mir keinen Schaden nehmen.«
Das Mädchen überlegte einen Augenblick und
antwortete dann mit einem jähen Nicken. Sie verbeugte sich abermals
und zog sich hinter den Vorhang zurück. Geneviève vermochte die
wabernden roten Punkte der Pfeifen selbst durch die dünne Decke zu
erkennen.
»Ich denke, das sollte genügen«, sagte
Charles.
Geneviève schüttelte den Kopf. Sie begriff nicht
recht, was zwischen Charles und der neugeborenen Asiatin
vorgegangen war.
»Ich habe Freunde in den sonderbarsten Positionen«,
gestand er.
Sie waren allein. Selbst die Kinder waren
verschwunden. Nachdem
Charles jenen »Herrn der seltsamen Tode« angerufen hatte, war die
Straße wie leergefegt.
»Von nun an stehe ich also unter Ihrem Schutz,
Charles?«
Er wirkte beinahe belustigt. »Ja.«
Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Zwar
fühlte sie sich auf gewisse Weise sicherer, und doch war sie ein
wenig aufgebracht. »Ich glaube, ich habe Ihnen zu danken.«
»Keine schlechte Idee.«
Sie seufzte. »Das war alles? Kein Messen
titanischer Kräfte, keine wundersame Vernichtung des Feindes, kein
heroisches letztes Gefecht?«
»Nichts weiter als ein wenig Diplomatie. Das beste
aller Mittel.«
»Und Ihr ›Freund‹ ist tatsächlich imstande, den
Ältesten zurückzurufen, wie ein Jäger einen Hund bei Fuß
ruft?«
»Zweifellos.«
Sie verließen das Jago, hin zu den »sichereren«
Gefilden von Whitechapel. Das Elendsquartier wurde allein von den
infernalisch glühenden Kohlenpfannen in den Hinterhöfen erhellt,
die das Dunkel in schwelendes Rot tauchten. Nun aber gingen sie
wieder im beruhigenden Schein der zischenden Straßenlaternen dahin.
Hier schien der Nebel beinahe freundlich.
»Die Chinesen glauben, dass, wenn man einen
Menschen vor dem Tod bewahrt hat, man bis an sein Lebensende für
diesen Menschen Sorge trägt. Charles, sind Sie bereit, diese Bürde
auf sich zu nehmen? Ich bin schon sehr alt und habe die Absicht,
noch einiges älter zu werden.«
»Geneviève, ich halte es für äußerst
unwahrscheinlich, dass Sie meinem Gewissen zu einer allzu großen
Last werden könnten.«
Sie blieben stehen, und sie blickte ihn an. Er
vermochte sein Amüsement kaum zu verbergen.
»Sie kennen mich bloß, wie ich jetzt bin«, sagte
sie. »Ich bin
nicht derselbe Mensch, der ich einmal gewesen bin oder der ich
einmal sein werde. Der Zahn der Zeit kann uns äußerlich zwar nichts
anhaben, aber innerlich … ist das etwas ganz anderes.«
»Dieser Gefahr will ich mich gern aussetzen.«
Bis Tagesanbruch blieb ihnen kaum mehr eine Stunde,
und sie wurde müde. Sie war immer noch schwach und hätte eigentlich
gar nicht aus dem Haus gehen dürfen. Der Schmerz im Genick war
schlimmer als zuvor. Die Amworth meinte, es müsse wehtun, wenn es
richtig heilen sollte.
»Ich habe den Ausdruck schon einmal gehört«, sagte
Geneviève.
»Den Ausdruck?«
»›Herr der seltsamen Tode‹. Der Träger dieses
Titels wird, wenn auch nur selten, mit einem verbrecherischen
tong in Zusammenhang gebracht. Sein Ruf ist nicht der
beste.«
»Wie ich schon sagte, er ist ein Dämon aus der
Hölle. Aber wenn es um sein Wort geht, ist er ein wahrer
Teufelskerl; er nimmt seine Verpflichtungen sehr ernst.«
»Er ist Ihnen verpflichtet?«
»So ist es.«
»Das heißt, Sie sind ihm verpflichtet?«
Charles schwieg. In seinem Kopf herrschte
vollkommene Leere, bis auf das Bild eines Bahnhofsschildes.
»Sie tun das mit Absicht, nicht wahr?«
»Was?«
»An Basingstoke denken.«
Charles lachte. Und gleich darauf lachte auch
sie.