29
Monsieur le Vampire II
Charles’ Träne prickelte ihr auf der Zunge.
Sie hatte nicht von seinem Kummer kosten wollen, war jedoch unfähig
gewesen, sich zu beherrschen. Infolge ihres hohen Alters wurde sie
allmählich etwas wundersam und unergründlich. Die meisten Ältesten
wurden verrückt. Wie Vlad Tepes. Von Charles hatte sie eine Perle
der Erinnerung bekommen. Die Berührung einer zarten Hand, der
Geruch des Blutes einer Sterbenden, Schmutz und Hitze eines fernen
Landes, der wütende Kampf einer Frau um ihr Leben, um neues Leben
in die Welt zu setzen. Fremde Gefühle, fremder Schmerz. Geneviève
konnte nicht schwanger werden, konnte nicht gebären. Hieß das
vielleicht, dass sie im Grunde gar nicht lebte? Dass sie gar keine
Frau war? Man sagte, Vampire seien
ungeschlechtlich und ihre Zeugungsorgane ebenso funktional wie die
Augen auf den Federn eines Pfaus. Zwar fand sie am Liebesakt - auf
gewisse Weise - durchaus Vergnügen, doch vermochte diese Empfindung
dem Vergleich mit einem Liebesbiss keineswegs standzuhalten.
All dies wegen einer Träne. Sie schluckte und
leckte ihren Gaumen, bis der Geschmack der Erinnerung verschwunden
war.
»Gleich sind wir bei Toynbee Hall«, sagte
Charles.
Sie befanden sich am Spitalfields Market, in der
Lamb Street, um die Ecke von der Commercial Street. Der Markt,
welcher bis weit nach Einbruch der Dämmerung geöffnet hatte, war
hell erleuchtet und voller Menschen. Lärm und Geruch waren ihr
wohlvertraut.
Der Wagen blieb schlagartig stehen. Geneviève wurde
nach vorn geschleudert, gegen die hölzerne Blende, mit der die
Front des Hansom verkleidet war. Charles bremste ihren Sturz und
stützte sie, doch fand sie sich kniend in dem winzigen Fußraum
wieder. Sie konnte nicht hinaussehen. Das Pferd wieherte
hysterisch, während der Fuhrmann es mit einem »Ho!« und einem
festen Ruck der Zügel im Zaum zu halten suchte.
Geneviève wusste sofort, dass etwas nicht
stimmte.
Mit einem fürchterlichen Knacken fand das Wiehern
jäh ein Ende. Der Kutscher fluchte, und den Umstehenden entfuhr ein
Aufschrei des Entsetzens. Charles’ Miene verriet keinerlei
Empfindung. Er war ein Soldat, wenige Sekunden nur vor der Attacke.
Seit Jahrhunderten schon beobachtete sie diesen Ausdruck in den
Gesichtern todgeweihter Männer. Ihre Augenzähne glitten hervor, und
sie erregte einen Speichelfluss, zum Angriff ebenso wie zur
Verteidigung bereit.
Vom Dach des Wagens her ertönte ein dumpfer Schlag.
Sie blickte hinauf. Fünf gelbe Finger mit Nägeln wie gebogene
Messer ragten durch das Holz. Sie krümmten sich wie
knochengliederige
Würmer, und eine Faust riss rings um die Klappe einen Teil des
Daches fort. Durch die splittrige Öffnung erblickte sie eine Falte
gelber Seide. Ihr hüpfender Verfolger war zurückgekehrt. Ein
runzliges Gesicht presste sich gegen das Loch und riss den Schlund
auf, in dem sich mehrere Reihen von Lampretenzähnen verbargen. Er
wurde größer und größer, bis die Wangen barsten und mit
schimmernden Muskeln bewehrtes Zahnfleisch entblößten. Der Älteste
schnatterte, seine Lippen schrumpften, und vereinzelte Barthaare
entsprossen rohem, feucht glänzendem Fleisch.
Starke Klauen krallten sich in die Öffnung und
brachen noch mehr Holz fort. Ganze Lagen gefirnissten Kutschholzes
zerschellten jaulend wie eine gerissene Violinsaite.
Charles hatte den Stockdegen gezogen und suchte
nach einer Gelegenheit, seinen Stoß anzubringen. Geneviève musste
dem Feind entgegentreten, ehe Charles bei dem Versuch, sich als ihr
Beschützer aufzuspielen, ums Leben kam.
Sie stieß sich mit aller Kraft vom Boden des Wagens
in die Höhe, ergriff die Ränder des Lochs und zog sich hinauf. Sie
brach durch den Spalt; die scharfen Kanten wurden stumpf an ihrer
Haut und zerrissen ihr das gute Kleid. Der Wagen schaukelte unter
dem Gewicht des Chinesen, der auf dem Kutschbock balancierte. Sie
erblickte den Fuhrmann ein Dutzend Yards entfernt inmitten einer
Ansammlung von Gaffern auf das Trottoir hingestreckt; er unternahm
soeben einen halbherzigen Versuch, sich aufzurichten. Ein kalter
Windstoß wehte ihr das Haar ins Gesicht und peitschte das Kleid um
ihre Knie. Der Wagen krängte unter ihrer beider Last, nur das tote
Pferd diente ihm als Anker.
»Herr«, richtete sie das Wort an den Vampir, »warum
hadert Ihr mit mir?«
Der Chinese wandelte die Gestalt. Der Hals wurde
ihm lang und länger, gliederte sich in stoppelbehaarte
Insektenringe. Die
Arme, die aus seinen glockenförmigen Manschetten ragten, waren
mehrfach gebeugt und hatten menschliche Hände, groß wie Paddel. Der
Kopf auf seinem Schlangenhals pendelte hin und her, und ein
meterlanger Ringelzopf schlang sich um seine Schultern. Der
queue endete in einem mit dem Haarseil verwobenen
Dornenknäuel.
Weich und stachelig in einem, streifte etwas ihre
Wange. Ein spinnwebenes Geschling, das dem Gesicht des Vampirs
entwucherte. Während sie auf seine Hände achtgegeben hatte, war er
ihr mit seinen verwachsenen Augenbrauen zu Leibe gerückt. Haare wie
Präriegras zerkratzen ihr die Haut. Ein Rinnsal tröpfelte über ihre
Stirn. Das Wesen hatte es auf ihre Augen abgesehen. Sie ballte die
Faust, holte mit dem Unterarm gegen die Brauenschlange aus und
wickelte sie mehrmals um ihr Handgelenk. Sie zog fest daran; dünne
Fäden durchschnitten ihre Ärmel und umfingen ihr Handgelenk, doch
der Vampir war aus dem Gleichgewicht gebracht.
Während der Chinese vom Bock stürzte, riss er sie
aus ihrer Hocke. Wie ein Fisch durchs Wasser glitt er durch die
Luft und landete mühelos auf seinen gefederten Sohlen. Die
Brauenschlange ließ von ihrem Arm ab. Mit den Füßen voran krachte
Geneviève gegen eine Mauer. Dann stürzte sie aufs Pflaster. Der
Aufprall hatte ihr die Knöchel gestaucht, und unter Schmerzen
versuchte sie sich aufzurichten. Ihr Handballen versank in einer
faulen Kohlkopfhälfte, sie glitschte aus und lag wiederum auf der
Straße. Sie schmeckte Unrat. Vorsichtig erhob sie sich erst auf die
Ellbogen, dann auf die Beine. Der Älteste hatte es mit einigem
Geschick fertiggebracht, ihr wehzutun, was für gewöhnlich nicht
ganz einfach war. Gegen seine Macht war sie schwach wie ein kleines
Kind.
Sie stemmte den Rücken gegen die Mauer und sammelte
ihre Kräfte. Ihre Haut spannte sich, und ihr Gesicht begann zu
glühen.
Nägel und Zähne sprossen hervor, sprengten das Fleisch an Fingern
und Kiefer. Sie schmeckte ihr eigenes Blut.
Sie befanden sich auf dem Markt, im schmutzigen
Durchgang zwischen zwei Buden. Eine Reihe schwankender
Rinderhälften säumte, an Eisenhaken baumelnd, den Fahrweg. Überall
stank es nach dem Blut toter Tiere. Die Menge hatte einen Kreis
gebildet, der den Ältesten zwar Platz zum Kämpfen einräumte, ihnen
jedoch auch jeglichen Fluchtweg abschnitt.
Sie stieß sich von der Mauer fort und stürzte sich
auf den Vampir. Ihre Hände streiften sein Gewand, als er, eine
Viertelsekunde, ehe sie ihn erreichte, einen Schritt zur Seite tat.
Als sie an ihm vorüberkam, stach er ihr die spitzen Finger in die
Flanke. Ihr Kleid hing in Fetzen, ihre Haut war durchbohrt. Sie
klatschte gegen eine kalte Rinderhälfte und kollidierte rückwärts
taumelnd mit einigen Zuschauern. Diese fingen sie auf und stießen
sie unter lauten Rufen erneut gegen den Chinesen hin. Es war wie
ein Boxkampf mit bloßen Fäusten, bei dem die Menge die beiden
Kontrahenten in einem fort gegeneinander aufhetzte. Bis entweder
der eine oder der andere sich weigerte, noch einmal
aufzustehen.
Sie hätte keinen roten Heller auf sich verwettet.
Folgte man dem Aberglauben, so konnte sie dem Angriff des Vampirs
Einhalt gebieten, indem sie ein Gebet an Buddha auf einen Zettel
schrieb und die Zauberformel an die Stirne des Chinesen heftete.
Oder indem sie ihm Klebreis vor die Füße streute, ihn auf diese
Weise an die Erde bannte, den Atem anhielt, so dass sie allen
Untoten als unsichtbar erschien, und ihn mit einem gesegneten,
blutgetränkten Draht in Stücke schnitt. Nichts von alledem schien
nun von großem Nutzen.
Der Älteste breitete die langen Arme aus wie ein
Kranich seine riesenhaften Schwingen und versetzte ihr einen Tritt
unter das Kinn. Mit der Sandalenspitze spießte er ihren Unterkiefer
und hob sie in die Höhe. Die Landung war schmerzhaft: Sie stürzte
schwerfällig auf ein Tischgestell, wo in Mehl auf Wachspapier
gereihte Nieren ausgebreitet waren. Die Böcke brachen unter ihrer
Last, und sie lag abermals am Boden, inmitten dunkelroter
Fleischklumpen. Eine Lampe rollte über das Pflaster, und eine
rußige Flamme schoss aus einem Luftloch an ihrer Seite, als sie
neben einer Glaskugel mit veilchenfarbenem Paraffinöl liegen
blieb.
Sie blickte auf und sah, wie der Chinese sich ihr
gemächlichen Schrittes näherte. Grüne Augen glühten in seinem
Gesicht, das einer verdorrten Ledermaske glich. Er platzierte seine
Tritte präzise wie ein Tänzer. Für ihn war dies ein Schauspiel,
eine Demonstration. Wie ein Stierkämpfer heischte er Beifall, indem
er sein Opfer zur Strecke brachte.
Im Rücken des Wesens regte sich etwas, und es hielt
inne, spitzte wollüstig die ohnehin spitzen Ohren. Charles machte
sich an den Ältesten heran, sein Degen ein silberner Blitz. Wenn er
ihm nur die Klinge in den Leib stoßen und das Herz durchbohren
könnte …
Der Vampir beugte den Arm dreifach nach hinten,
schloss seine Klauen um Charles’ Handgelenk und wehrte den
Degenhieb auf diese Weise ab. Als er Charles den Arm verrenkte,
drehte sich der Degen wie der Zeiger einer Uhr, ohne die Gewänder
des Chinesen auch nur zu streifen. Klirrend fiel der Degen aufs
Pflaster. Der Vampir ließ Charles einen Purzelbaum vollführen und
stieß ihn dann samt seiner Waffe von sich. Ein mitleidvolles Raunen
ging durch die Menge.
Geneviève versuchte sich aufzusetzen. Die Nieren
waren wie nackte, tote Riesenschnecken: Sie barsten unter
Genevièves Gewicht und befleckten sie mit ihrem Saft. Der Älteste
wandte sich wieder zu ihr um und streckte einen knochigen Arm aus,
dessen Ärmel wie von einer unmerklichen Brise gebläht schien. Aus
den finsteren Tiefen seines Gewandes brach eine flirrende Wolke
hervor, die größer und größer wurde, wie die fantastisch sich
bauschenden Tücher eines Zauberkünstlers. Schwirrend und zitternd
schwärmte die Wolke zu ihr hin. Eine Million winziger
Schmetterlinge, bunt schillernde Schönheiten, deren Flügel das
Licht brachen wie eine Handvoll hingeworfener Diamantsplitter, fiel
über sie her. Sie häuften sich auf den Nieren zusammen,
verschlangen sie in einem Nu und machten sich über Genevièves
Gesicht her, flatterten aufgeregt um die Fleischfetzen an ihrer
Haut, zerrten an ihren Augenwinkeln.
Sie hielt den Mund fest geschlossen und schüttelte
heftig den Kopf. Sie wischte sich mit den Handgelenken die Augen.
Ein jedes Mal, wenn sie sich eines Schwungs entledigt hatte,
sammelten sich die Schmetterlinge von neuem. Sie tastete nach der
Lampe auf dem Pflaster und löschte mit Daumen und Zeigefinger die
Flamme. Nachdem sie den zischenden Docht losgerissen hatte, leerte
sie die Lampe über ihren Kopf aus. Die Schmetterlinge wurden
fortgespült, und der stechende Geruch von Paraffinöl stieg ihr in
die Nase. Ein Funke, und ihr Kopf würde zur Kerzenflamme werden.
Sie strich tote Schmetterlinge aus ihrem Haar und warf die
garstigen Dinger mit vollen Händen fort.
Der Älteste stand vor ihr. Er beugte sich zu ihr
herab und hob sie an den Schultern in die Höhe. Sie baumelte von
seiner Hand wie ein Stück Stoff. Sie erschlaffte. Ihre Zehen
strichen über das Pflaster. Es mochte Belustigung sein, was sie
dort im schmutzigen Smaragdgrün seiner uralten Augen erblickte.
Sein nadelbewehrtes Maul näherte sich ihrem Gesicht, und sie roch
seinen parfümierten Atem. Aus dem scharfzahnigen roten Schlund
stach eine spitze, rohrförmige Zunge hervor wie der Rüssel einer
Mücke. Er konnte sie aussaugen, sie als leere Hülle zurücklassen.
Das Schlimmste jedoch wäre es, wenn sie am Leben bliebe.
Als sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte,
blickte sie zu dem Wesen hinauf. Sie warf den Kopf in den Nacken
und entblößte
demütig ihre Kehle. Die Zunge kam, sich wie eine Schlange windend,
zu ihr hingekrochen; ihre mit Wurmzähnen besetzte Öffnung
pulsierte. Geneviève gewährte ihm einige Sekunden, um seinen Sieg
gehörig auszukosten, dann packte sie ihn unmittelbar unter den
Achselgruben. Ihre Nägel bohrten sich durch sein Gewand, bis sie
auf seine nackten Rippen stießen. Mit offenem Mund reckte sie sich
nach seinem Gesicht und biss zu. Sie erhaschte seine Zunge und
schloss ihre Kiefer fest um das zuckende Fleisch. Ein pfefferiger
Geschmack überschwemmte ihren Mund und würgte sie im Hals. Die
Zunge setzte sich, stärker noch als eine Schlange, gegen ihren Biss
zur Wehr. Sie spürte, wie das widerliche Ding pochte. Der Vampir
kreischte vor Zorn. Er litt fürchterliche Schmerzen. Ihre Zähne
drangen wie eine Säge durch Knorpel und Muskeln und trafen
schließlich klackend aufeinander. Die Zungenspitze wand und krümmte
sich in ihrem Mund. Sie spuckte sie aus.
Der Vampir wirbelte herum, und ein ölig-schwarzer
Sturzbach brach aus seinem Mundloch und ergoss sich über sein
Gewand. Er kreischte noch immer, mit jedem Blutschwall sprudelten
neue Schreie aus seiner Gurgel hervor. Dieses Wesen würde sich
gewiss nicht von ihr nähren. Hustend und spuckend wischte sie sich
mit ihrem zerfetzten Ärmel die Lippen, um sich des Geschmackes zu
entledigen. Ihr ganzer Mund war wie betäubt, und ihre Kehle
brannte. Der Älteste wirbelte zu ihr herum und drosch blindlings
auf sie ein. Seine Schläge trieben sie gegen die Mauer, und er
begann sie zu traktieren wie ein Boxer, mit Hieben in den Bauch und
ins Genick. In seinem Zorn platzierte er seine Schläge nun nicht
mehr allzu präzise. Er besaß zwar Kraft, doch kein Geschick.
Schmerzen wüteten überall in ihrem Körper. Er packte sie beim
Schopf, wie er auch das Pferd gepackt haben mochte, und riss ihren
Kopf zur Seite. Ihre Nackenknochen brachen, und sie heulte auf in
ihrer Qual. Der Vampir stieß sie zu Boden und trat
ihr in die Flanke. Dann sprang er auf ihre Rippen. Sie hörte ihre
Knochen splittern.
Sie öffnete die Augen. Der Vampir blickte sie
höhnisch an, bellend wie ein verletzter Seehund. Die untere Hälfte
seines Gesichts war eine dampfende Masse aus Fleisch und Zähnen,
die sich wiederherzustellen suchte. Blut und Speichel troffen auf
Geneviève herab. Dann war er verschwunden, und andere Gesichter
scharten sich um sie.
»Aus dem Weg«, hörte sie jemanden rufen. »So machen
Sie doch Platz, um Himmels willen …«
Sie hatte Schmerzen. Ihre Rippen fügten sich, und
jeder neue Atemzug linderte die fürchterlichen Stiche. Doch um ihr
Genick war es geschehen. Ihre Knochen waren müde, ihr Blick von Rot
getrübt. Sie wusste um den Schmutz, in dem sie lag, ihr
blutverkrustetes Gesicht. Nun besaß sie nicht einmal mehr ein gutes
Kleid.
»Geneviève«, sagte eine Stimme, »sehen Sie mich an
…«
Ein Gesicht, ganz nahe. Charles.
»Geneviève …«