IV
DAS ENDE EINER LANGEN REISE

38

Angriffsstreife

Winthrop erwachte gegen zwei Uhr morgens. Er zog den Eimer unter seiner Pritsche hervor und erbrach sich. Seit Beginn seiner Verwandlung hatte er Schwierigkeiten, Essen und Trinken bei sich zu behalten. In fünf Minuten würde sein Wecker gehen. Trotz der Dunkelheit konnte er die Umrisse der Gegenstände deutlich erkennen. Alles schien tiefschwarz zu glühen. Wie eine Fledermaus spürte er es im Innenohr, wenn andere Kreaturen am Himmel kreisten.
Er schwang die Beine über die Pritschenkante, zog Fliegerkluft und Stiefel an und versuchte seine Angst zu unterdrücken. Dies war seine erste Nachtstreife seit … seit dem ersten Mal.
Da er keine Nachteule war, brauchte Winthrop ein paar Stunden Schlaf. Die Vampire saßen unten und zechten. Die anderen Vampire? Ein heftiger Krampf durchzuckte ihn. Das flaue Gefühl im Magen verriet ihm, dass er noch immer warmen Blutes war. Die spitzen Zähne in seinem Mund verrieten ihm, dass auch er bald zu den Untoten gehören würde. Doch für derlei Bedenken war jetzt keine Zeit. Er musste sich auf Pflicht und Vergeltung konzentrieren.
Das Ankleiden ging automatisch. Er knöpfte und verschnürte sich und stapfte dann nach unten, was der dicken Gelenkschoner und der schweren Stiefel wegen nicht ganz einfach war. Am Boden war er steif und unbeweglich. In der Luft hingegen war er flink und behände wie seine Camel. Die Kälte drang selbst durch den dicksten Stoff.
»Hallo«, sagte Bertie. Für ihn war der Krieg ein einziger Witz. Wer in den Dutt ging, war nur schnell auf eine Kippe vor die Tür verschwunden und würde jeden Moment wiederkommen. »Warm eingepackt?«
»Du hast deine Kluft geschnürt wie Ball«, bemerkte Ginger.
Winthrop hatte die Messe durch die niedrige Tür betreten und sich instinktiv an Balls Handgriffe geklammert, damit er nicht umfiel wie ein Klotz. Er bekam in einem fort zu hören, er täte dies und jenes wie Albert Ball: fliegen, schießen, kriechen, kämpfen.
Die für die heutige Spritztour eingeteilten Flieger waren bereits in ihre Monturen geschlüpft. Zwar befand sich auch der eine oder andere Veteran des alten Geschwaders Condor unter den Auserwählten, doch die meisten waren, wie Winthrop, Neuzugänge, hauptsächlich amerikanische Vampire, Einzelkämpfer, die nur ein Ziel vor Augen hatten.
»Mach’s gut, alter Knabe«, rief Bertie, als Winthrop die Messe verließ. »Wir sehen uns bei Sonnenaufgang.«
Winthrop nickte vielsagend. Es hatte keinen Sinn zu leugnen, dass jeder Einsatz tödlich enden konnte. Er plante nie über den nächsten Flug hinaus.
Allard ließ die Männer wie zur Musterung antreten, um ein letztes Mal die Einzelheiten durchzugehen. Winthrop stellte sich neben Dandridge, einen Yank, der zwar ein unerfahrener Krieger, doch ein geschickter Jäger war. Der Älteste hatte jahrhundertelang unter Warmblütern gehaust und die Städte der Lebenden nach Beute durchstreift. Auch andere Neuzugänge - wie der tollkühne Severin, der unersättliche Brandberg und der idealistische Knight - waren alt, hatten sich bereits vor 1880 verwandelt. Mr. Croft war davon überzeugt, dass jeder, der so lange Zeit Verfolgungen erlitten hatte, den Instinkt zu töten und zu überleben in sich trug. Zwischen den Ältesten-Assen und Cundalls Zeitgenossen kam es immer wieder zu Spannungen. Keine offenen Auseinandersetzungen, nur kleinere Reibereien.
Da Winthrop kein Vampir war, saß er zwischen allen Stühlen. Von Allard wusste er, dass Croft ihn akzeptierte. Er war bereits mit Ältesten geflogen. Sie eigneten sich besser für Tagesflüge als die zarthäutigen Neugeborenen.
Allard löste sich aus dem Schatten und baute sich vor seinen Leuten auf.
»Ich habe neue Anweisungen erhalten«, sagte Allard. Hinter ihm stand Caleb Croft, schwach schimmerndes Grau in schwarzem Samt. »Heute Nacht statten wir dem Château du Malinbois einen Besuch ab.«
Eiseskälte durchströmte Winthrops Adern. Erregung oder Angst konnte er sich jetzt nicht leisten. Er hatte gewusst, dass es so kommen würde.
»Oder, wie das deutsche Oberkommando es inzwischen nennt, Schloss Adler.«
Die Neuzugänge waren über Malinbois in groben Zügen unterrichtet. Winthrops Bericht über seinen Flug mit Courtney war die einzige verlässliche Information über die Gestaltwandler des JG1. Während Winthrop im Lazarett gelegen hatte, war Richthofens Fledermausstaffel wiederholt dabei gesehen worden, wie sie Beobachter und Späher jagte, Ballonfahrer abschoss und die Linien in geringer Höhe überflog. Nur Winthrop hatte den Kampf mit den geheimnisvollen Kreaturen überlebt.
Allard fuhr fort: »Richthofens Brut hat uns daran gehindert, gesicherte Erkenntnisse über die nächtlichen Truppenbewegungen der Deutschen zu gewinnen. Der Hunne bereitet eine Offensive vor und verstärkt seine Linien im Schutz der Dunkelheit mit Unmengen von Männern und Material. In diesem Sektor ist es bislang keinem einzigen Flugzeug gelungen, mit militärischen Informationen in seinen Heimathafen zurückzukehren. Uns sind weder Ballons noch Beobachter geblieben, die wir aufsteigen lassen könnten. Die Herrschaft des JG1 muss unter allen Umständen gebrochen werden. Zu diesem Zweck werden wir die deutschen Flieger in ein Gefecht verwickeln und beweisen, dass sie nicht unbesiegbar sind.«
Beim Anblick der betretenen Gesichter selbst der ältesten der Alten fing Allard urplötzlich, aus heiterem Himmel, an zu lachen. Es war kein aufmunterndes Lachen, sondern ein finsteres, unheimliches Kichern, das zu einem ebenso qualvollen wie gequälten Kreischen anwuchs. Winthrop bemerkte zum wiederholten Mal, dass Allard, selbst für einen verhältnismäßig jungen Neugeborenen, eine äußerst seltsame Figur abgab.
Die Piloten eilten zu ihren wartenden Flugzeugen. Winthrop saß in seinem Cockpit, noch bevor Allards Gelächter verklungen war.
 
Das Geschwader Condor war mit neuen Camels ausgestattet worden. Kaum zu bändigende Vögel, die es jedoch mühelos mit jeglicher Maschine aufnehmen konnten, die der Boche zu bieten hatte.
Allard bevorzugte eine sogenannte Vierfingerformation: Er selbst übernahm die Spitze, während die anderen links und rechts, über und unter ihm zurückblieben. Winthrop flog schräg über dem Geschwaderkommandeur, und Dandridge, in der Position des high man, hielt sich schräg über ihm.
Da der Boche keinen Treibstoff benötigte, war er gegen den gemeinen Todesschuss der Kampfflieger immun. Die Deutschen konnten nicht in einem Feuerball zur Erde stürzen. Dafür waren sie Vampire: Eine Silberkugel in den Kopf oder ins Herz erfüllte ihren Zweck. Jede zweite Patrone in den Trommelmagazinen seines Zwillings-Vickers war aus Silber. Ein zwanzigsekündiger Feuerstoß kostete hundert Guineas. Beide Kriegsparteien waren gezwungen, das Silber aus den amputierten Gliedmaßen und zerfetzten Leichen der Gefallenen zu bergen.
Winthrop ritzte Kreuze in die Spitzen all seiner Patronen. Was nichts mit der vermeintlichen Abneigung eines Vampirs gegen Kruzifixe zu tun hatte, sondern dafür sorgte, dass die Kugeln beim Aufprall zersplitterten und in der Wunde explodierten. Bei einem Dutzend Tagesflügen in nur einer Woche hatte er sechs feindliche Maschinen abgeschossen und war damit zum Ass avanciert. Es freute ihn am meisten, wenn sie in einem Feuerball zur Erde stürzten. Er fand Geschmack am Kampfgetümmel und besaß Albert Balls sicheren Instinkt. Jetzt wollte er bei Nacht auf Raub ausgehen. Er wollte Richthofen zur Strecke bringen. Vielleicht würde das Balls Gier befriedigen.
Sein Magen verkrampfte sich von neuem. Er hatte gelernt, mit seinen Schmerzen zu leben, sie sich nicht anmerken zu lassen. Kate hatte ihn vor den Gefahren seines Tuns gewarnt. Wenn alles vorbei war, wollte er mit Kate ins Reine kommen. Nein, er durfte nicht an Kate, Catriona oder Beauregard denken. Nur an das Hier und Jetzt.
Er umfasste den Steuerknüppel und hielt die Maschine in der Waagerechten. Der Schmerz ließ nach. Der Nachthimmel war dicht bevölkert. Er brauchte sich nicht umzudrehen, denn er wusste, wo die anderen Camels waren. Das Bild der Vierfingerformation hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt.
Am Boden schlängelte sich eine Fahrzeugkolonne über das Niemandsland, die Männer und matériel hinter die deutschen Linien brachte. Er ignorierte sie. Dies war keine Aufklärungsstaffel. Dies war eine Angriffsstreife, eine Jagdgesellschaft.
Ein winziges Geräusch. Ein einsamer Hunne schoss auf gut Glück in den Himmel, auf die Camels. Winthrops Daumen lagen auf den MG-Knöpfen. Albert Ball riet ihm, ruhig Blut zu bewahren. Winthrop war hin- und hergerissen zwischen Ball und Kate. Kein angenehmes Gefühl.
Die Streife nahm dieselbe Strecke, die Winthrop mit Courtney geflogen war. Vor ihnen lag das frisch getaufte Schloss Adler. Der Schlupfwinkel des Roten Barons.
Den letzten Frontberichten zufolge war das JG1 in Richtung Amiens ausgeflogen und hatte eine Reihe geflickter Ballons attackiert, mit denen man allenfalls Strohpuppen aufsteigen lassen konnte. Bei ihrer Rückkehr würden sie sich unversehens in ein Luftgefecht verwickelt finden. Die Gestaltwandler waren noch nie angegriffen worden. Das war ein leichter, doch nicht zu unterschätzender Vorteil.
Er spürte sie, noch ehe er sie sah. Er spitzte die Ohren. Ein Verband kehrte lautlos ins Schloss zurück. Sie segelten wie Fledermäuse, schlugen nur hin und wieder mit den Flügeln, glitten auf unbekannten Luftströmen dahin.
Auch Allard hatte den Boche gesehen. Er hob die Hand. Die vierfingrige Pfeilspitze wurde stumpf. Der Abstand zwischen den Camels wuchs, doch die Piloten blieben in Formation.
Nicht vergessen, kurze Stöße. Genau zielen, nicht wild durch die Gegend ballern.
Mit einem Mal war sein Verstand glasklar, und alle überflüssigen Gefühle und Gedanken fielen von ihm ab. Er war ein neuer Mensch, befreit von inneren Zwängen. Eins mit seinem Zwillings-Vickers.
Da sahen sie die Camels.
Allard näherte sich der Flanke des feindlichen Verbandes und schoss. Flammendes Silber explodierte in den Schwingen einer Kreatur. Der entsetzlich menschliche Schrei war lauter als das Trompeten eines Elefanten. Das verletzte Ungeheuer verließ die Formation. Seine Schwingen hingen in Fetzen, doch die Kugeln gingen ungehindert hindurch. Nur ein Treffer in Rumpf oder Kopf konnte ihm ernstlichen Schaden zufügen.
Winthrop sah, wie der Flieger in die Tiefe stürzte, die Schwingen umgestülpt wie ein vom Wind gepeitschter Schirm. Severin war dem verwundeten Vampir dicht auf den Fersen, juchzend und um sich schießend wie Bronco Billy. Der Älteste litt tödlichen Durst und scherte sich einen Teufel um die vorgegebene Taktik. Wenn seine Magazine leer waren, würde sich der Gegner fangen und auf ihn stürzen.
Die beiden Verbände kreuzten sich. Winthrop witterte den Moschusgeruch der Gestaltwandler und spürte den Eishauch ihrer Schwingen. Im Zickzackflug versuchte er, einen vorbeihuschenden Schatten ins Visier zu nehmen. Fast hätte er gefeuert, ließ es dann aber doch bleiben, um die wertvolle Munition nicht zu vergeuden.
Auch die Deutschen schossen nicht. Vermutlich hatten sie ein Gutteil ihrer Feuerkraft an die Ballonattrappen verschwendet. Viele Flieger hatten die Angewohnheit, ihre Magazine auf dem Rückflug in die feindlichen Schützengräben zu entleeren, um sich von dem Ballast der Restmunition zu befreien.
Eine Schwinge nahm sein gesamtes Blickfeld ein, und er drückte die MG-Knöpfe. Grelle Blitze versengten ihm die Augen, als das Vickers losging. Die Schwinge verschwand, und er nahm die Daumen wieder von den Knöpfen.
Die Salve, nur wenige Augenblicke lang, hatte ihm fast das Trommelfell zerrissen. Instinktiv schoss er ein zweites Mal, Sekundenbruchteile bevor von neuem eine Schwinge an seinem Propeller vorüberflatterte. Diesmal flog der Gestaltwandler direkt in seine Schussbahn und wurde kreischend durch die Luft gewirbelt. Eine Reihe von Löchern erschien in seinem Schwingenvorhang. Er hatte dem Flieger ohne Zweifel ordentlich eins auf den Pelz gebrannt.
Er schmeckte Blut. Es war sein eigenes, vermischt mit dem von Ball und Kate. Seine Zähne waren korallenspitz. Ein Vorgeschmack auf das Vampirdasein, der ihm nicht recht gefallen wollte.
Wieder eine Salve. Wieder daneben. Das Fledermausgeschöpf vollführte einen perfekten Immelmann und schwang sich zur Mondsichel empor. Dandridge war ihm dicht auf den Fersen und traktierte es mit wohlgezielten Feuerstößen. Der Boche beendete die Kehre und spreizte die Schwingen. Dandridge hatte ihn erwischt. Rote Rinnsale sickerten in schwarzen Pelz.
Der Gestaltwandler ließ sich ein wenig sinken, fasste Dandridge von unten, heftete sich wie ein Neunauge an den Bauch der Camel und schlang, den Schwanz wie eine Peitsche schwingend, die Flügel um den Rumpf. Der Rahmen der Maschine brach, und der Motor geriet ins Stottern. Der Propeller bohrte sich in das Gesicht des Deutschen und blieb stecken.
Winthrop war entsetzt.
Die Camel ging entzwei. Dandridges oberer Tragflügel brach ab und wurde fortgerissen wie ein Papierdrachen im Sturm. Der Gestaltwandler ließ das Flugzeug los. Das zerdrückte Wrack der Camel stürzte zur Erde, der Wind pfiff laut durch die Verspannung. Im freien Fall entleerte Dandridge sein MG.
Die Kreatur, die Dandridge getötet hatte, hielt sich nur mit Mühe in der Luft. Sie hatte zahlreiche Treffer abbekommen, und die Schrunde, die der Propeller geschlagen hatte, war tief. Ihre Schwingen hingen in Fetzen. Aus ihren Wunden wehten dunkle Blutgirlanden.
War das der Rote Baron?
Winthrop hatte das verstümmelte Monstrum im Visier. Er feuerte, ließ Blei und Silber vom Himmel regnen. Dann stieß er hinab und fasste die Kreatur von oben. Einen Augenblick lang befürchtete er, sie könne sich an die Unterseite seiner Camel heften und das Manöver wiederholen, mit dem sie Dandridge zur Strecke gebracht hatte.
Das Blut kochte ihm in den Adern. Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Als er zu einer Kehre ansetzte, um einen erneuten Angriff zu wagen, sah er, dass Allard sich auf seine Beute stürzte. Das Ungeheuer nahm seine ganze Kraft zusammen und flog Allard entgegen. Mit einem einzigen Schuss jagte der Geschwaderkommandeur dem Monstrum einen Klumpen Silber in den Schädel. Der Flieger war sofort tot. Er schrumpfte auf menschliche Größe und stürzte, von schweren MGs hinabgezogen, in freiem Fall zur dunklen Erde.
Die Kreaturen ließen sich also doch vernichten.
Allard hatte ihm den Sieg entrissen, und Winthrop streifte suchend umher. Er befand sich im Herzen des Hahnenkampfes. Camels und Gestaltwandler bevölkerten den Himmel, feuerten aus allen Rohren, zerfetzten Tragflächen und Lederschwingen. Eine Camel (Rutledge, dachte Winthrop) explodierte in einem Feuerball. Ein heftiger Schwall heißer Luft erfasste seine Flügel und drängte ihn zurück.
Unter ihnen lag das Schloss. Und darüber hing ein riesenhaftes Etwas, das einen dunklen Schatten auf das Land warf.
Rutledge war keinem Flieger des JG1 zum Opfer gefallen. Flaksperrfeuer pfiff ihnen um die Ohren. Schloss Adler war von Geschützen umringt. Archie explodierte unter Winthrop, ein Feuerteppich in der Nacht. Rauch trübte die Gläser seiner Brille und biss ihn in den Augen.
Eine Fledermaus kam auf ihn zu, und Winthrop drehte ab. Er nahm eine Hand vom Steuerknüppel, zerrte sich die rußverschmierte Brille herunter und ließ sich den eisigen Flugwind ins Gesicht wehen.
Er hob den Blick und erkannte, dass ein Zeppelin über dem Schloss stand wie ein gigantischer Ballon. Er schwebte in dünner Luft über der möglichen Steighöhe jeglicher Schwerer-als-Luft-Maschinen. Nur echte Ungeheuer konnten in dieser Höhe überleben, wo die Kälte das Blut in den Adern stocken ließ und aus wollenen Fliegerkluften eisklirrende Kettenpanzer machte.
Allard gab das Signal zum Rückzug. Die Gestaltwandler landeten auf ihrem Turm und verschwanden hinter dicken Mauern.
Winthrop war um seinen Abschuss betrogen worden. Womöglich war der Rote Baron längst tot. Allards Sieg. Halb wahnsinnig vor Wut, hielt Winthrop auf Schloss Adler zu. Ein Vampir ging auf der Landeplattform nieder, zog den Kopf ein und zwängte sich ins Schloss.
Um sich einzuschießen, feuerte Winthrop eine Salve ab. Die Kugeln prallten jaulend gegen harten Stein. Von den Schüssen aufgeschreckt, wirbelte der zwischen Menschen- und Fledermausgestalt gefangene Flieger herum und stellte die Ohren auf. Winthrops nächste Salve traf ihn in die Brust und schleuderte ihn rückwärts gegen die Schlossmauer. Scharlachfarbene Fontänen brachen durch sein lichtes Fell. Ein sauberer Treffer. Mitten ins Herz.
Sein siebter Sieg. Ein Sieg, der zählte. Ein Ungeheuer.
Nein, offiziell würde er doch nicht zählen. Als seine Mordgier gestillt war, fiel Winthrop ein, dass er Allards Rückzugsbefehl missachtet hatte. Sein Abschuss würde unter keinen Umständen bestätigt werden. Zudem hatte er den Gegner am Boden beschossen und nicht in der Luft. Er hatte seinen Vorteil schamlos ausgenutzt.
Dennoch, für ihn zählte der Sieg. Eines der Ungeheuer war tot.
Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert. Er fügte sich wieder in die Formation, schräg über Allard. Zwischen Brandberg, Lockwood, Knight und Lacey.
Sie jagten davon. Das Archie war jetzt zu weit entfernt, um ihnen noch etwas anhaben zu können. Die Gestaltwandler hatten sich zurückgezogen. Das Luftschiff flog zu hoch, um seine Geschütze auf sie zu richten.
Vierzehn hatten das Schloss angesteuert. Fünf kehrten zurück.
Winthrop hatte Dandridge und Rutledge sterben sehen und geahnt, dass Severin sein Duell verlieren würde. Nun fiel ihm auch der Gestaltwandler mit dem Stück Menschenfleisch zwischen den Zähnen wieder ein, der den Kopf geschüttelt hatte, so dass das Blut nach allen Seiten spritzte. Auch dies musste ein Pilot gewesen sein.
Die anderen waren gestorben, ohne dass er es überhaupt bemerkt hatte. Neun Männer für zwei Ungeheuer. Der Luftkampf hatte höchstens zwei oder drei Minuten gedauert.
Die fünf Camels hatten die aufgehende Sonne im Rücken. Die hereinbrechende Dämmerung senkte sich über Winthrop wie eine schwere Decke, besänftigte sein Blut und verzehrte seine Kräfte. Sie überflogen die Linien.

39

In vorderster Front

Ihre Kiste pfeift ja aus dem letzten Loch«, sagte Colonel Wynne-Candy. »Mein Fahrer wird sich darum kümmern.«
Kate, die mit den Eigenheiten eines Verbrennungsmotors nicht vertraut war, dankte dem Offizier, dessen Stabswagen im Schlamm am Straßenrand feststeckte. Er hatte gehalten, um ihre Ambulanz vorbeizulassen, und litt nun an den Folgen seiner Galanterie.
Seit dem frühen Morgen fielen fast unablässig Bomben. Der Feind hatte schwere Geschütze aufgefahren und beharkte die alliierten Schützengräben. Die Parole an der Front lautete: Kopf einziehen!
Sie blickte in den bedeckten, schiefergrauen Himmel. Im Osten färbte Mündungsfeuer die düsteren Wolken rot.
»Es ist doch nicht etwa jemand in der Luft?«
Der pausbäckige Colonel, der diesen Rang zu seiner großen Freude auch nach seiner Verabschiedung am Ende des Burenkrieges hatte behalten dürfen, war beileibe nicht der unbedarfte Schwachkopf, für den er sich ausgab. Kate zuckte schaudernd die Achseln. Für gewöhnlich bereitete es ihr keine Schwierigkeiten, ihre Gedanken in Worte zu fassen, doch die Geschichte mit Edwin ging ihr viel zu nahe, um sich verständlich zu erklären.
»Jetzt, wo Richthofen nicht mehr ist, wird der Bursche da oben sehr viel sicherer sein.«
»Der Rote Baron ist tot?«
»Das wurde heute Morgen über Fernsprecher durchgegeben. Es ist aber noch nicht offiziell. Bislang hält sich der Boche bedeckt, aber unsere Lauscher im Hunnenland haben so etwas flüstern hören. Wie es scheint, ist die alliierte Luftherrschaft wiederhergestellt.«
Kate fragte sich, ob Edwin enttäuscht war. Er hatte eine lebende Waffe aus sich gemacht, um die Kreatur zur Strecke zu bringen, die seinen Kameraden getötet hatte. Oder war es ihm am Ende vielleicht doch gelungen, den Roten Baron zu bezwingen? Nein, das hätte sie im Blut gehabt.
»Eigentlich jammerschade, finden Sie nicht auch?«, meinte Wynne-Candy. »Mit seinem Tod ist der Krieg ein wenig farbloser geworden. Richthofen war etwas, für das es sich zu schießen lohnte.«
Auf das es sich zu schießen lohnte, dachte sie.
Ein paar Hundert Yards entfernt schlug jaulend ein Geschoss ein und krepierte. Kate und Wynne-Candy duckten sich, als feuchter Dreck zu Boden regnete.
»Der ging übers Ziel hinaus«, sagte der Colonel. »Vollkommen harmlos.«
Ein qualmender Krater markierte den Aufschlagpunkt. Hinter den Linien gab es mehr Bombentrichter als sonst.
»Wenn es so weitergeht, könnte das unsere Versorgungslinien gefährden.«
»Ganz recht, Miss.«
Wynne-Candys Fahrer, ein schmuddeliger Cockney, raunte dem Colonel leise etwas zu.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein!«
Wynne-Candy war entsetzt.
»Es tut mir außerordentlich leid, Miss, aber ein überaus unsportlicher Hunne hat offenbar auf Ihren Wagen geschossen.«
Der Fahrer steckte den Finger durch ein Loch in der Motorhaube.
»Vermutlich ein Versehen. Jeder anständige deutsche Offizier, der einen seiner Männer dabei erwischt, wie er aus dem Hinterhalt auf einen Krankenwagen ballert, würde den Kerl sofort erschießen lassen.«
Der Fahrer meinte, der Motor sei unversehrt. Man müsse die Ambulanz nur einmal gründlich waschen, dann werde sie laufen wie geschmiert.
»Nicht leicht, in dieser Gegend seine Siebensachen sauber zu halten«, sagte Wynne-Candy und ließ seinen Blick über die morastige Ebene schweifen. »Und nun fahren Sie, Miss. Die Jungs an der Front erwarten Sie bereits.«
Ihr drei Nummern zu großer Khakimantel, ihre zerzauste, schlammstarrende Frisur und die tiefe Verwirrung, in der sie sich befand, würden sie schwerlich als Engel durchgehen lassen.
Sie wünschte dem Colonel Lebewohl und stieg wieder in den Krankenwagen. Als die Armee diese Vehikel bestellt hatte, war man davon ausgegangen, dass sie von sechs Fuß langen Kerls gefahren würden. Damals hatte sich noch niemand vorstellen können, dass man eines Tages alle verfügbaren Kräfte an die Front beordern und eine zierliche Vampirfrau den Posten des Chauffeurs ausfüllen würde. Sie hatte drei Kissen unterm Hinterteil und musste sich nach vorne beugen, um an das Lenkrad zu gelangen, das unermesslich weit entfernt schien. An den Fußpedalen befestigte Holzklötze brachten jene in Reichweite ihrer zu kurzen Beine.
Alles an dem Krankenwagen klapperte. Sie sah durch die verschmierte Windschutzscheibe in den Himmel. Selbst wenn der Rote Baron gefallen war, zogen dort oben noch immer wilde Ungeheuer ihre Kreise. Edwin zerrte an ihr wie ein Zahnschmerz. Es würden Monate vergehen, bis sie ihre alte Kraft zurückgewonnen hatte. Sie hatte das Gefühl, nur noch ein halber Mensch, ein Schatten ihrer selbst zu sein.
Wie jeder anständige Viktorianer warf sie sich in die Pflicht. Wenn möglich, hätte sie sogar zur Waffe gegriffen und wäre in die Schlacht gezogen. Geneviève hatte sich im Laufe ihres langen Lebens des Öfteren als Knabe ausgegeben und sich als Soldat verdingt: mit der heiligen Johanna gegen England, mit Drake gegen die Spanier, mit Bonaparte gegen die Russen. Geneviève hatte einfach alles gemacht. Ohne es zu wollen, gab sie anderen Frauen unablässig das Gefühl, minderwertig zu sein. Mit »anderen Frauen« meinte Kate sich selbst.
Heute, 1918, durfte Kate, obgleich sie stärker war als viele Männer, nur einen Krankenwagen fahren. Den nächsten Krieg würden Männer und Frauen, Vampire und Warmblüter führen. Wenn sie überlebte, würde Kate auch an diesem Krieg teilnehmen. Und am nächsten. Und am übernächsten.
Richthofen tot. Sie wollte der Geschichte auf den Grund gehen. Das wäre eine fantastische Nachricht.
Die Straße senkte sich, und links und rechts erhoben sich Erdwälle. Sie hatte das Labyrinth der Schützengräben erreicht. Wellblech klapperte unter dem Gewicht des Krankenwagens. Die Hauptstraße war gerade breit genug. Da fortwährend alte Zufahrten verschüttet und neue gesprengt wurden, musste sie jedes Mal, wenn sie hierherfuhr, eine andere Strecke nehmen.
Eine weitere Granate explodierte, außer Sicht und doch ganz nahe. Kleine Klumpen prasselten auf das Dach des Führerhäuschens. Nur Erde, kein Schrapnell.
Trotz aller Rückschläge war sie immer noch Reporterin. Sie wollte versuchen, mehr über den Roten Baron zu erfahren. Sie dachte an die Musketiere von Maranique: Bertie, Algy und Ginger. Die drei würden ihr Rede und Antwort stehen. Sie waren so naiv, dass sie dem Kaiser während des Waffenstillstands 1914 vermutlich Weihnachtskarten geschrieben hatten.
Sie war fast am Ziel. In der Nähe befand sich eine Sammelstelle für Verwundete, die man auf Tragen gebettet hatte. In letzter Zeit hatte es keine nennenswerten Verluste mehr gegeben. Die Deutschen bereiteten ihre Offensive vor, ein veritables Stahlgewitter. Die rückwärtigen Stellungen waren wie ausgestorben, da die Alliierten sämtliche in Frankreich stationierten Männer und Geschütze an die Front beordert hatten. Das heutige Bombardement diente vermutlich einzig und allein dem Zweck, die Alliierten zu zermürben. Die Offensive - die sogenannte Kaiserschlacht - rückte beständig näher.
Sie zerrte an der Bremse, und die Ambulanz kam ruckartig zum Stehen. Auf alles gefasst, sprang sie aus dem Wagen und versank bis über die Gamaschen im quatschenden Morast. Die unter einem Zeltdach aufgebauten Tragen waren vollständig belegt. Sie hatte Platz für fünf Patienten, während nicht weniger als fünfzehn Männer darauf warteten, nach Amiens verbracht zu werden.
Der befehlshabende Offizier war Captain Tietjens, ein anständiger Kerl, den Jahre im Schlamm gezeichnet hatten. Trotz der dicken Schmutzschicht erkannte er Kate sofort und erbot sich, ihr eine Tasse Tee zu holen. Die Vampire an der Front pflegten das Gebräu mit einem Schuss Rattenblut zu süßen.
»Nein, danke«, sagte sie, um die mageren Vorräte nicht weiter aufzuzehren. »Ich habe ein Paket mit Schleichware unter dem Sitz. Etwas Tee, ein halbwegs genießbares Stück Brot, eine Tüte Pfefferminzbonbons. Und ein paar andere Sachen.«
Sie reichte ihm die Kostbarkeiten, für die sie ihr letztes Geld gegeben hatte. Sie war ein Vampir, sie konnte sich selbst versorgen. Tietjens ließ das Paket verschwinden: Er würde es an die verteilen, die es nötig hatten.
Ein Großteil der Verwundeten war Amerikaner. Immer neue Yanks wurden herbeigeschafft, um der Offensive Einhalt zu gebieten. Die meisten waren bereits im Einsatz.
Neben einer Trage kniete, bucklig wie ein altes Weib, ein Infanterist und hielt die Hand eines verwundeten Kameraden. Der Junge auf der Trage war allem Anschein nach nur noch ein Torso: Unterhalb der Hüfte war die Decke glatt, von süßem Blut durchtränkt. Zu ihrer großen Verlegenheit sprossen ihre Fangzähne hervor.
Der Freund des Verwundeten blickte sie an. Er schien viel zu benommen, um sich vor ihr zu fürchten. Es war Bartlett, der Soldat, der in Amiens mit ihr angebändelt hatte. Er hatte sich verändert. Seine brennende Begierde war wie weggeblasen: Er war zugleich ein hilfloses Kind und ein verrückter alter Mann. Sie las seine Erinnerungen. Sie wollte, sie hätte sich dem entziehen können.
»Verflucht«, stieß sie hervor.
Eddie Bartlett hatte binnen weniger Wochen einen tausendjährigen Krieg durchlebt. Abgesehen von dem Halbmenschen auf der Trage war Eddie der einzige Überlebende der Kameraden aus dem Café in Amiens. Er war praktisch der Letzte der Gruppe, die zusammen nach Europa gekommen war.
Sie wollte Bartlett ihre Hilfe anbieten. Er konnte alles von ihr haben, ihren Körper, ihren Saft, wonach auch immer ihm der Sinn stand. Sie wollte Gutes tun.
Tietjens und sie mussten die Tragen allein in den Krankenwagen hieven. Bartlett ließ die bleiche Hand seines Freundes nur widerstrebend los, um ihnen zu helfen.
»Halt durch, Apperson«, flehte er ihn an. »Immer feste parlayvoo, Sportsfreund.«
Vorsichtig schoben die drei den ersten Verwundeten - einen amerikanischen Sergeant mit einem Verband aus Lumpen um die Augen - in die Ambulanz. Als Private Apperson an die Reihe kam, war der Junge tot. Tietjens sah Kate achselzuckend an.
Ein ohrenbetäubendes Pfeifen erfüllte die Luft. Zu ihrem Erstaunen streckte Tietjens die Hand aus und berührte ihr Haar. Sie wollte sich eben dafür entschuldigen, dass sie ihren besten Hut zu Hause gelassen hatte, als das Pfeifen explodierte. Die Druckwelle brachte Tietjens aus dem Gleichgewicht und riss ihn von den Füßen. Sie wurden gegen den Krankenwagen geschleudert. Auf die Detonation folgte Hitze. Und Unmengen von Erde. Ganz in der Nähe war eine Bombe eingeschlagen. Sie sah, wie langsam eine Grabenwand einstürzte und die verbleibenden Tragen mit den Verwundeten unter sich begrub. Tietjens zog etwas aus Appersons Bettzeug hervor, beraubte den Toten.
Kate wankte in Richtung der Verwundeten. Die nächste Granate explodierte, und sie wurde erneut zu Boden gerissen. Ihr Rücken schmerzte, und sie wusste, dass sie getroffen war. Tietjens war dicht hinter ihr.
Der Offizier stülpte ihr Appersons Stahlhelm über den Kopf. Sie hatte begriffen und zurrte den Kinnriemen fest. Der Rand ruhte auf ihrer Brille und drückte sie auf ihre Nase.
Sie wühlte mit den Händen wie ein Tier und versuchte die lockere Erde vom Gesicht eines hustenden, warmblütigen Infanteristen zu schaufeln. Je mehr Dreck sie beiseiteschaffte, desto mehr sackte nach. Es war kein Platz, ihn aus dem Erdrutsch zu befreien.
Während sie noch grub, sprossen ihre Klauen hervor. Sie krallte sie tief in die Erde. Ihre Fangzähne schnitten ihr schmerzhafte Kerben in die Lippen. Sie war zu einem gemeinen Ungeheuer verkommen. Der Junge sah sie panisch an und setzte sich verzweifelt zur Wehr, weil er glaubte, sie wolle ihm ans Leder. Als er den Mund aufriss, fiel Erde hinein und erstickte seinen stummen Schrei. Sie versuchte ihm zu sagen, dass sie ihm bloß helfen wolle, brachte jedoch außer Knurren und Fauchen nichts heraus.
Plötzlich begann es von neuem zu pfeifen, lauter und konzentriert. Sie blickte zu dem schmalen Himmelsstreifen über dem Graben empor und sah Dutzende funkensprühender Rauchfahnen.
Die Wucht der Explosion schleuderte sie in die Höhe. Die Ambulanz war voll getroffen worden. Kate schmeckte Blut. Der Wagen wurde in die Luft katapultiert und sprang in tausend Stücke, ließ kreischendes Metall und Leichenteile vom Himmel regnen. Hundert Tonnen Schlamm spritzten auf und prasselten hernieder. Kate kniff die Augen zu und schloss den Mund, als kühle Grabeserde sie verschüttete und zu Boden presste. Urplötzlich war es totenstill.

40

Drachentöter

Winthrop saß auf Albert Balls Stuhl und starrte ins Leere. In der Messe war es voll, aber ruhig. Cundalls neugeborene Männer spielten Karten. Mehrere Älteste tollten mit einer pummeligen kleinen Französin und entlockten ihr spitze Schreie. Sie nannte sich Cigarette und wanderte, wie ein Glimmstängel im Schützengraben, von Mund zu Mund.
Seit Ginger das Gerücht verbreitet hatte, Richthofen sei wirklich tot, fühlte sich Winthrop wie ein exorzierter Geist. Es gab keinen Grund mehr, beim Geschwader Condor zu verbleiben, und doch er war hier festgenagelt. Noch floss das Blut von Ball und Kate in seinen Adern, und sein roter Durst - schlimmer, sein roter Hunger - wuchs von Minute zu Minute, er lechzte geradezu nach rohem Fleisch.
Sein Magen war immer noch empfindlich. Er konnte nur wenige Bissen Kurzgebratenes bei sich behalten, und auch das nur, wenn es in Blut schwamm. Wenn ihm übel wurde, erbrach er beängstigende Mengen roten Hackepeters.
Obgleich er die verschorften Hälse von filles de joie wie Cigarette äußerst verlockend fand, hätte er es niemals über sich gebracht, warmes Menschenblut zu trinken. Er wünschte, er hätte sich von dem bewusstseinstrübenden Infekt befreien können, der in seinem Körper tobte und seinen Geist in einem Meer von Rot versinken ließ.
Wenn er Kate doch nur noch einmal küssen und alles ins Reine bringen könnte.
Ein Schatten fiel auf ihn. Allard war eingetreten.
»Unser Sieg ist bestätigt worden. Die Deutschen haben ihn offiziell bekanntgegeben.«
»Ihr Sieg«, widersprach Winthrop. »Sie haben den Boche erledigt.«
»Es war ein Richthofen, aber nicht der Richthofen.«
Ein Stromstoß durchzuckte Winthrops Adern.
»Wir haben Manfred von Richthofens Bruder Lothar abgeschossen. Auch kein Kostverächter. Vierzig Siege.«
Der Rote Baron war noch am Leben. Der Zweck, zu dem Winthrop sich verwandelt hatte, war noch nicht erreicht.
»Ich weiß, was in Ihnen vorgeht, Edwin. Sie freuen sich. Sie wollen sich diesen Fang nicht entgehen lassen.«
Winthrop versuchte gar nicht erst, den Amerikaner mit Parolen wie »Einer für alle, alle für einen!«, »Kämpfen bis zum letzten Mann!« oder »Der Sieg ist unser!« hinters Licht zu führen.
»Sie werden den Adler noch früh genug vor die Flinte bekommen«, sagte Allard. »Wenn nicht sogar weitaus fettere Beute.«
Winthrop schauderte.
Cigarette schrie kichernd auf. Allard warf dem Mädchen einen missbilligenden Blick zu. Sie saß auf Alex Brandbergs Schoß. Seine Lippen klebten an ihrer Brust.
Winthrop entschuldigte sich, ergriff die Steigbügel, die man für Albert Ball an den Balken befestigt hatte, und stand auf.
»Ich brauche frische Luft«, sagte er.
 
Es war der 20. März, laut Kalender Frühlingsanfang. In Frankreich herrschte trübes Winterwetter. Winthrop stand vor dem Bauernhaus, sog gierig kalte Luft in seine Lungen und versuchte sich zu konzentrieren. Sein Vampirblut war also doch zu etwas nütze. Seine Entschlusskraft kehrte zurück. Dennoch fühlte er sich geschwächt. Immer wenn er sich zu geistigen Höhenflügen aufschwingen wollte, um Klarheit über Ball und Kate et cetera zu gewinnen, war er wie gelähmt. Seine Gedanken kreisten nur mehr um Mord und Rache. Alles andere verschwand in einem roten Nebel. Was unterschied ihn von den Troglodyten? Oder von gemeinen Schlächtern in Uniform?
Zwei Burschen zwängten sich mit einem langen Bündel durch die Küchentür. Winthrop witterte Blut. Das Bündel war die ohnmächtige Cigarette. Die Männer lehnten sie neben ihrem Fahrrad gegen einen Zaun.
Winthrop trat näher. Die Burschen wischten sich angewidert die Hände ab und zogen sich zurück. Das Mädchen trug einen Schal um die Schultern. Zwischen seinen Brüsten steckte eine Rolle Banknoten, so dünn wie eine Zigarette. Der Regen benetzte sein Gesicht mit einem Tränenschleier. Seine blutunterlaufenen Augen sprangen auf. Cigarette griff nach dem Geld und schob es tiefer in ihr Mieder.
Er machte keine Anstalten, ihr zu helfen. Sie würde es ihm ohnehin nicht danken. Mit geübten Fingern inspizierte Cigarette die Bissspuren an Hals und Brust. Als sie die ausgefransten Wundränder betastete, zuckte sie zusammen. Dann legte sie sich den Schal um wie einen Notverband. Die Wolle war mit geronnenem Blut besudelt. Cigarette rappelte sich mühsam und mit gemessener Würde hoch, wie ein Betrunkener, der so tut, als sei er nüchtern. Sie hielt sich mit einer Hand am Zaun fest, bis sie gerade stehen konnte, und bedachte Winthrop, das Bauernhaus und den Flugplatz mit einem verächtlichen Blick. Dieses Mädchen hasste den Boche kaum mehr als die alliierten Flieger, die es für Geld zur Ader ließen.
Der Regen schmeckte nach Blut.
Cigarette stieg auf ihr Fahrrad und strampelte davon. Sie brachte ihre Röcke außer Reichweite der Speichen und beugte sich tief über den Lenker. Ob sie eine Familie zu ernähren hatte? Einen Mann? Kinder? Oder war sie nichts weiter als eine Schlachtenbummlerin, die den Soldaten überallhin folgte?
Sein plötzliches Interesse für das Mädchen bereitete ihm Unbehagen. Da wurde ihm klar, dass dies die Kate in ihm sein musste. Der Regen spülte all seine Bedenken fort. Nur ein Narr blieb freiwillig im Regen stehen.
 
Bei Sonnenuntergang rief Allard zur Einsatzbesprechung. Winthrop wusste sofort, dass es um etwas Ernstes ging. Die Tafel mit dem Dienstplan des Geschwaders war leer. An der Wand hing eine große Karte der Umgebung. Und neben dem Captain hockte Mr. Caleb Croft. Seine Miene war unergründlich.
Winthrop saß auf Balls Stuhl, zwischen Bertie und Ginger.
»Mr. Croft hat Ihnen etwas mitzuteilen«, sagte Allard.
Das war ungewöhnlich. Winthrop konnte sich nicht entsinnen, dass der Geheimagent jemals ein Wort gesprochen hatte.
Croft stand auf, beugte sich ein wenig vor und sagte: »Gentlemen, Konflikte, von denen Sie bislang nichts wussten, sind im Gange. Ein geheimer Krieg, wenn Sie so wollen. Wir haben den Feind übertölpelt. Wir haben seine Luftritter gewähren lassen. Wir haben Männer wie Richthofen zu Legenden stilisiert, haben den Feind ermutigt, sein Vertrauen in sie zu setzen, ihren Wert zu überschätzen. Eine verlustreiche, aber - wie Sie gleich sehen werden - entscheidende Strategie.«
Croft krächzte, Winthrop schäumte. Man konnte diesen Mann beim besten Willen nicht sympathisch finden. Er schien andeuten zu wollen, dass die Alliierten wackere Männer wie Albert Ball und Tom Cundall geopfert hatten, nur um den Boche in dem Glauben zu belassen, seine mordenden Gestaltwandler seien unbesiegbar.
»Wie Sie wissen, ist das JG1 auf Schloss Adler stationiert. Bei Ihrer letzten Streife haben Sie entdeckt, dass ein Luftschiff über dem Schloss vertäut liegt.«
Um diese Neuigkeit hatte es großes Aufhebens gegeben.
»Solche Maschinen wagen sich nur selten an die Front. Es handelt sich um das Flaggschiff der feindlichen Luftflotte, die Attila. Von dieser Stellung aus wird ihr Oberbefehlshaber den Verlauf ihrer geplanten Offensive beobachten.«
Winthrop musste an den schwarzen Rumpf des Schiffes denken.
»Sie meinen, Dracula ist in dem Zeppelin?«, fragte Lacey.
Croft fuhr, sichtlich verärgert über die abrupte Unterbrechung, fort. »Auf dieses Endspiel haben wir spekuliert. Wir haben Dracula aus seinem Schlupfwinkel gelockt. Wir haben ihn in unsere Reichweite gebracht.«
Plötzlich begriff Winthrop, was Allard mit »fettere Beute« gemeint hatte. Es waren fast so viele Adler am Himmel wie Spatzen. Und über ihnen schwebte ein Drache, der dracul.
»Wenn der Feind zum Angriff übergeht, ist es Aufgabe dieses Geschwaders, den Zeppelin abzuschießen. Wenn wir der Bestie erst einmal den Kopf abgeschlagen haben, wird ihr Körper rasch verfaulen. Diese Mission bedeutet den Sieg der Alliierten.«
»Alles schön und gut, mein Bester«, sagte Algy, »aber mit unseren Kisten können wir dem verfluchten Zeppelin noch nicht mal an der Hose riechen. In der Höhe gefrieren uns die Augäpfel zu Eis.«
»Er wird zu uns herunterkommen. Lord Ruthven weiß um seine Arroganz. Graf von Dracula liebt dieses Spielzeug, diese Flugmaschine. Er wird es aus der Nähe sehen wollen, wenn seine Truppen die Linien durchbrechen. Inmitten seiner Leibgardisten, seiner gestaltwandlerischen Asse, fühlt er sich sicher. Diese kindische Überheblichkeit ist sein Ende und sein Untergang. Und ihr, Männer, werdet Dracula den Garaus machen.«
»Ich wollte schon immer mal’nen Zeppelin vom Himmel holen«, sagte Bertie. »Verdammt unsportliche Mühlen, diese Zeppeline. Bombardieren Zivilisten und so’n Mist.«
»Hier geht es nicht um Sport«, widersprach Croft. »Hier geht es um den Krieg. In diesem Fall sogar um Mord. Täuschen Sie sich nicht.«
»Und was ist mit unseren Freunden vom JG1?«
»Bringen Sie sie um, wenn es die Umstände erfordern und erlauben, aber führen Sie um Himmels willen keinen Privatfeldzug gegen sie.«
»Und nach Draculas Tod ist alles vorbei?«
»Dies ist sein Krieg. Ohne ihn werden die Mittelmächte zusammenbrechen.«
»Und wer soll dann kapitulieren?«
Croft zuckte die Achseln. »Der Kaiser. Ohne Dracula ist er ein hilfloses Kind.«
Ruthvens Intimus klang durchaus überzeugend, doch seine Stimme war hohl, sein Horizont begrenzt. Croft hatte gesagt, es gehe nicht um Sport, andererseits sprach er von Endspielen, als sei die Welt ein Schachbrett. Aus der Luft, in der Luft wusste Winthrop, dass es keine Ordnung gab. Ohne Kopf würde die Bestie womöglich wüten, bis alles Leben im Dschungel ausgerottet war. Und die Schlammwüste Europa würde ein Kontinent der Troglodyten, der Höhlenmenschen werden. Doch daran durfte Winthrop jetzt nicht denken. Er dachte nur noch an die Jagd, die Jagd auf Flugdrachen und Adler.
Das Telefon klingelte, und Allard presste sich den Hörer ans Ohr. Der Captain lauschte, nickte, legte auf.
»Es ist so weit«, verkündete er.

41

Kaiserschlacht

Sie bekam keine Luft. Dabei atmete sie nur aus Gewohnheit und nicht aus Notwendigkeit. Ein harter, schwerer Gegenstand lastete auf ihrer Brust. Sie hatte kein Gefühl mehr in den Gliedern. Stechende Schmerzen in der Schulter deuteten auf Silber hin.
Kate blinzelte im Dunkeln. Zum Glück schützte die Brille ihre Augen vor dem Dreck. Seit ihrer Verwandlung, der sie die Fähigkeit zur Nachtsicht verdankte, hatte sie keine so tiefe Finsternis mehr erlebt. Leise, kaum hörbare Geräusche zerfraßen die Grabesstille. Schreie, Explosionen, Motoren, Schüsse, MG-Salven.
Sie war seit Jahren tot, und an ihrem Zustand hatte sich nichts geändert.
Ein Schmerz durchzuckte ihre Schulter und ihren rechten Arm hinab in ihre Hand. Sie ballte ihre Klauen zur Faust und bohrte die Fingernägel ins weiche Fleisch des Daumenballens. Es war nicht leicht, sich durch die Erde zu boxen. Sie konnte nicht zum Schlag ausholen. Ihr ganzer Arm tat weh. Ihre verletzte Schulter sprang aus dem Gelenk. Sie musste die Lippen fest zusammenpressen, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken.
Ihr Erdsarg bekam einen Riss, so dass sie den Arm bewegen konnte. Sie streckte die Hand aus und krallte die Finger in den Dreck. Ihre Klauen stießen gegen einen Toten, und sie packte einen Arm des Leichnams, zog aus Leibeskräften daran und versuchte ihren Körper hochzustemmen. Die Schmerzen waren schier unerträglich, doch das Ding auf ihrer Brust wollte sich nicht von der Stelle rühren.
Wenn sie jetzt in Schlaf fiel, konnte sie Jahre, wenn nicht sogar Jahrhunderte bewusstlos überdauern. Vielleicht würde sie in einem Utopia erwachen, in dem die Menschheit Kriege nicht mehr nötig hatte. Oder in einer Zukunft, in der Dracula als Autokrat über eine wüste Erde herrschte. Doch Schlafen hieß, sich vor der Verantwortung für die Gegenwart zu drücken.
Ihre Faust brach durch die Oberfläche. Sie spürte kühle Luft und streckte die Finger.
Der Gegenstand auf ihrer Brust war ein Balken oder ein schweres Trümmerteil des Krankenwagens. Aber was es auch war, es ließ sich nicht bewegen. Sie presste sich noch tiefer in die Erde, um sich losstrampeln und wie ein Wurm nach oben wühlen zu können.
Ach, wenn ihr Vater das noch hätte erleben dürfen!
Mit gekrümmten Schultern grub sie eine Mulde in den weichen Boden unter ihrem Rücken. Alles war klatschnass. Durch ihre Anstrengungen wurde aus fester Erde lockerer Schlamm.
Plötzlich packte jemand ihren Arm. Sie ergriff die Männerhand und zog die Fingernägel ein, um ihren Retter nicht zu stechen. Sie versuchte, ihn sich vorzustellen. Ein höllischer Schmerz betäubte ihre Hand, als ihr eine Metallspitze - kein Silber - durch die Haut ins Fleisch getrieben wurde. Ihr Retter stieß ihr ein Bajonett in den Leib. Ein durstiger Mund schlürfte mit rauer Katzenzunge Blut aus ihrer Hand.
Sie schnappte nach einem Gesicht, bekam einen Schnurrbart zu fassen, versuchte ihre Nägel in einen Schädel zu krallen. Der Mann, der ihr das Blut stahl, richtete sich auf, und sie wurde aus dem Dreck ans Licht gezerrt. Der schwere Gegenstand rutschte von ihrer Brust und stieß gegen ihre Hüfte. Dann steckte sie wieder fest. Ihre Schulter tat so weh, dass sie glaubte, er wolle ihr den Arm ausreißen. Schließlich lag auch ihr Gesicht frei, und sie schrie.
Ihre dreckverschmierte Brille war wie durch ein Wunder heil geblieben, und es dämmerte bereits. Trotzdem schien das Licht entsetzlich grell. Ihre Augen brannten. Und in ihren Ohren gellte ungeheurer Lärm.
Den Leichenfledderer fest umklammernd, stand sie auf und schüttelte sich, um ihre Kleider von Erdklumpen zu befreien. Schlamm und Stoff bildeten eine dicke, kalte Lehmschicht.
Sie ließ ihren Gefangenen los. Ihre Hand war knorrig und geschwollen, pralles Fleisch über wuchernden Knochen. Ihre Finger hatten sich zu sechs Zoll langen Ruten mit drei Zoll langen Klingen ausgewachsen. Bei dem Gedanken daran schrumpfte die Hand wieder zusammen. Die bittere Not hatte ungeahnte gestaltwandlerische Fähigkeiten zum Vorschein kommen lassen.
Hätte der neugeborene Soldat eine deutsche Uniform getragen, so hätte sie ihn auf der Stelle umgebracht und sein Herz verspeist. Doch es war nur ein verwirrter Tommy, der aus einem Dutzend Wunden blutete und mit ihrem Saft besudelt war. Der Soldat wich zurück, stürzte davon und ließ Kate allein auf einem Schlammhügel zurück. Sie war noch immer aufgebracht und kämpfte mit dem roten Durst, den das Blutbad geweckt hatte.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Licht, und sie erkannte Teile ihres Krankenwagens und die einstige Befestigung des Grabens. Alles war mit Leichenteilen übersät. Vermutlich befanden sich auch Tietjens und Bartlett unter den Toten. Der Schützengraben war nicht mehr. Die Wucht der Explosionen hatte ihn zum Einsturz gebracht. Sie stand ungeschützt zu ebener Erde und sah die Abzugsgräben nahe gelegener Stellungen. Ein Großteil des Systems war noch intakt. Es wimmelte von Männern, die in die Quartiere oder an die Front einrückten.
Ein Granatsplitter steckte in ihrer Schulter, und sie zog ihn heraus. Sofort ließen die Schmerzen nach.
Ringsum schlugen Bomben ein. Da ihr der Schreck noch immer in den Gliedern saß, konnten die Explosionen sie nicht weiter erschüttern. Sie drehte sich um und nahm die Front in Augenschein. Zwar gab sie eine perfekte Zielscheibe ab, dafür aber hatte sie einen bemerkenswerten Blick. Von ihrem Hügel aus sah sie die von hektischer Betriebsamkeit erfüllten Schützengräben der Alliierten, das Drahtgewirr im Niemandsland und das Mündungsfeuer der deutschen Geschütze. Selbst die Befestigungsanlagen der feindlichen Stellungen waren deutlich zu erkennen. Schaurige Musik - Wagner? - rieselte vom Himmel. Stählerne Ungeheuer krochen durch das Niemandsland. Darüber schwebte ein Leviathan der Lüfte.
 
Stalhein war erneut als Beobachter abkommandiert. Diesmal wurde er, in menschlicher Gestalt, zum Dienst an Bord der Attila bestellt.
Die gepanzerte Gondel war ein Kommandeurskonklave, ein Kabinett der hohen Tiere, die ihre Untergebenen zu einer wahren Grußorgie animierten. Der Kapitän des Zeppelins war Peter Strasser, ein fanatischer Anhänger der Schwerer-als-Luft-Luftfahrt, der zu Beginn des Krieges Bombenangriffe auf London geflogen hatte. Über Strasser stand Ingenieur Robur, der Leiter der Marine-Luftschiffer-Abteilung und große Architekt und Propagandist dieser Maschinen. Und über ihnen allen stand Graf von Dracula, der, ein Stück abseits von seinen schwarzledernen Gardisten, in der Führergondel wachte und die Schlammschlacht durch die Sichtluken verfolgte. Zum Glück war für Graf von Zeppelin, Feldmarschall Hindenburg und den Kaiser kein Platz mehr gewesen. Ihre Orden wogen so schwer, dass die Attila Mühe gehabt hätte, Einsatzflughöhe zu erreichen.
Mit Ausnahme von Stalhein und Dracula hatten alle Mann an Bord fest umrissene Aufgabenbereiche. Stalhein, der die Eiseskälte in seiner menschlichen Gestalt am ganzen Körper spürte, hatte das Gefühl, zurückgehalten zu werden. Das JG1 würde schon bald zum Einsatz kommen.
Strasser saß in seinem Sessel und bellte Befehle in ein Sprachrohr. Seine tüchtige Mannschaft hastete wie eine Horde uniformierter Affen durch das verwirrende Durcheinander von Hebeln und Verstrebungen.
Ein langer Schatten fiel auf das in Dämmerrot getauchte Land.
Wie es sich für ein so großes und erhabenes Schiff geziemte, war die Attila mit einer Orgel ausgestattet. Robur saß am Manual und suchte sich Melodien aus Lohengrin zusammen. Die Musik wurde durch am Schiffsrumpf befestigte Schalltrichter verstärkt.
Mit ungewohnter Zurückhaltung näherte sich Stalhein der Sichtluke, einem kreisrunden, etwa drei Meter breiten, in den Boden der Gondel eingelassenen Fenster. Sie war das Auge der Attila. Der Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte wachte, die Pranken auf ein Messinggeländer gestützt, über den Verlauf der Schlacht. Im Kunstlicht wirkte sein trauriges Gesicht fahlgrau und leicht geschwollen. Stalhein hatte erwartet, Dracula, der unsterbliche Kriegsfürst, werde angesichts des Blutbades frohlocken.
Er hatte erwartet, die Gegenwart des Grafen werde sein Blut in Wallung bringen. Dracula war Stalheins Fangvater. Sein durch die Älteste Faustina vererbtes Geblüt hatte ihn zum Gestaltwandler werden lassen. Er war einer der unzähligen Nachkommen des Grafen. Doch Stalhein bewahrte ruhiges Blut. Er fühlte sich auch nicht genötigt, vor seinem Herrn und Meister auf die Knie zu fallen. Er trat neben Dracula und blickte durch die Luke in die Tiefe.
Die sinkende Sonne bot genügend Licht, um deutlich sehen zu können. Panzerverbände krochen durch den Schlamm, die erste Welle hatte die Schützengräben der Entente schon fast erreicht. In den tiefen Furchen, die ihre Ketten hinterließen, rückten Männer vor. Von hier oben wirkten die Soldaten wie Ameisen. Die Panzer sahen aus wie große Käfer, die sich mühsam einen Weg über winzige Hindernisse bahnten. Im ganzen Niemandsland explodierten Feuerbälle. Dies würde unzählige Menschenleben kosten.
Die erste Panzerreihe spie Feuer, und mächtige Flammenstrahlen spritzten in die gegnerischen Gräben. Obgleich er gegen den Feuertod immun war, befiel Stalhein ein kalter Schauder. Dieser Krieg hatte findige Köpfe wie Robur dazu getrieben, Waffen zu entwickeln, mit denen man einen Vampir ebenso mühelos auslöschen konnte wie einen Warmblüter mit Pistole oder Schwert. Teile des gegnerischen Grabensystems wurden zu reißenden Feuerströmen, die neue Grenzen in die rußgeschwärzte Landkarte Europas brannten.
Die Attila schwebte über feindlichem Gebiet, außer Reichweite der Flugabwehrkanonen. Alle noch intakten schweren Geschütze wurden zur Abwehr der Bodenoffensive gebraucht. Die wertvollen Granaten waren zu schade für nutzlose Schüsse ins Blaue.
Ein Steuermann reichte dem Grafen, furchtsam und von Scheu ergriffen, eine Nachricht. Der dachte gründlich nach und nickte dann. Der Unterführer salutierte zur Bestätigung, und Strasser brüllte neue Befehle in sein Rohr.
Dunkle, rundliche Gegenstände fielen aus Klappen an der Unterseite der Gondel und stürzten zur Erde. Sich pilzförmig ausbreitende Flammenteppiche ließen erkennen, wo die Bomben eingeschlagen hatten. Die Augen des Grafen waren rote Kugeln, blind vor Blut. Sein aufgedunsenes Gesicht glühte im Feuerschein. Er wandte sich an Stalhein.
»Gott ist mit uns«, sagte Dracula.
 
Ringsum schossen Feuersäulen in die Höhe. Kate wurde klar, dass sie auf ihrem Hügel ein leichtes Ziel bot. Dennoch war sie so fasziniert, dass sie sich nicht vom Fleck rühren konnte. Außerdem erachtete sie es als ihre Pflicht, die Stellung zu halten, zu berichten, was sie gesehen hatte. Sie musste einfach hinschauen.
Dies war die deutsche Frühlingsoffensive, die Kaiserschlacht. Obgleich von Haig bis hinab zum Karrengaul niemand bezweifelt hatte, dass sie kommen würde, hatte sie die Alliierten überrascht.
Als die Nacht hereinbrach, explodierten Leuchtgranaten über den Schützengräben. Das grelle Magnesiumlicht blendete sie. Die Panzer hatten die Wüste aus Stacheldraht und Leichenteilen umgepflügt und eine Schneise für die Infanterie geschlagen.
»Was ist denn das für ein Vollidiot da oben?«, rief jemand. Kate wurde klar, dass sie gemeint war. »Sofort hier runter mit dem Trottel, bevor wir ihn in Einzelteilen aufsammeln müssen!«
Ein Mann, dem der Gestank von Jahren im Schützengraben anhaftete, riss sie von den Füßen und zerrte sie in ein Loch, halb voll mit lockerer Erde.
»Ich werd verrückt! Ein Weibsbild«, sagte der Soldat.
Sein Zugführer fluchte. Kates Rot-Kreuz-Armbinde war schlammbedeckt. Sie rieb sie mit dem Ärmel sauber.
»Sie ist Krankenschwester, Sir.«
»Na bravo.«
»Ich glaube, sie ist tot.«
Die Fangzähne ragten ihr aus dem Mund. Sie spürte, wie ihr Kiefer sich zu einem Haifischmaul verzerrte.
»Jammerschade«, meinte der Zugführer.
»Nein, Sir«, erwiderte der Soldat. »Nicht tot, tot. Sie wissen schon, ein Vampir.«
Der ganze Zug war warmen Blutes. Manche Regimenter bestanden auf lebendem Kanonenfutter.
»He, Miss Blutsauger«, sagte der Zugführer und gab ihr einen Stupser. Er war fortgeschrittenen Alters, um die dreißig. »Noch alle Knochen beisammen?«
»Mein Name ist Kate Reed. Ja, ich bin unverletzt.«
»Captain Penderei, zu Ihren Diensten. Betrachten Sie sich als zwangsrekrutiert.«
Jemand reichte ihr einen Spaten mit blutigen Handabdrücken darauf.
»Sehen Sie den Dreck da? Hauen Sie nur tüchtig rein.«
Pendereis Männer griffen zu den Schaufeln und legten sich ins Zeug. Der Graben war eingestürzt, und ein großer Haufen Erde blockierte den Durchgang. Aus rückwärtigen Stellungen herbeigeschaffte Verstärkung staute sich im Flaschenhals. Sie konnten sich erst ins Kampfgetümmel stürzen, wenn eine Bresche in das Hindernis geschlagen war. Kate salutierte und fing an zu graben. Dass sie Reporterin geworden war, hatte ihrer Familie schon genug Schande bereitet; dass sie nun auch noch als Erdarbeiterin schuften musste, durften ihre Eltern nie erfahren.
Sie schleuderte eine Schaufel Dreck über die Grabenböschung und rammte den Spaten wieder in die harte, versengte Erde. Plötzlich drang das Blatt in etwas Weiches. Ein Stück Fleisch brach aus einem im Todesschrei erstarrten Gesicht. Sie schrak zurück. Tommies sprangen herbei, suchten nach den Armen des Leichnams und zogen ihn aus der Wand. Der Tote war aus einem Stück. Mit einem kräftigen Hauruck warfen ihn die Tommies in die Höhe, aus dem Weg.
Mit der Beseitigung der Leiche war das Hindernis so gut wie überwunden. Ein Soldat konnte es auf allen vieren bequem passieren, ohne dass sein Stahlhelm über die Böschung ragte. Penderei lobte seine Leute und befahl ihnen, vorzurücken. Als er an Kate vorbeikam, salutierte er. Sie blieb mit der Schaufel in der Hand zurück.
 
»Der Hunne hat die Linien durchbrochen«, sagte Ginger. Er war der Telegrafist des Geschwaders. »Die ganze Sache ist ein ziemlich böser Reinfall.«
Die Schlacht war in vollem Gange. Der Himmel über den Schützengräben brannte. Winthrop konnte das Donnern der Geschütze und die massenhaften Schreie der sterbenden Soldaten selbst hier, auf dem meilenweit entfernten Flugplatz, deutlich hören.
Sämtliche Piloten des Geschwaders Condor trugen Fliegerkluft. Sämtliche Maschinen waren aufgetankt und standen auf dem Rollfeld.
Über dem Kampfgelände hing ein dunkler Schatten mit rotglühendem Bauch. Die Attila.
»Die Gaszellen sind riesig«, sagte Bertie. »Ein paar Brandbomben, und das Schiffchen geht in Flammen auf. Wie ein Ballon.«
»Es ist hundertmal größer als ein Ballon«, mahnte Allard den Piloten. »Um einen solchen Knallfrosch zu entzünden, braucht es einen großen Funken.«
»Ob er wirklich da oben ist?«
Winthrop hatte geglaubt, Dracula würde eine verräterische Aura von Unheil und Verzweiflung verströmen.
»Der Geheimdienst hat bestätigt, dass sich Graf von Dracula an Bord der Attila befindet«, wandte sich die graue Eminenz an Captain Allard. »Ihre Stunde ist gekommen.«
»Sollten wir nicht lieber die Bodentruppen bombardieren?«, gab Algy zu bedenken. »Unsere Jungs beziehen bestimmt eine gehörige Tracht Prügel.«
Croft warf dem jungen Flieger einen vernichtenden Blick zu. »Für uns zählt nur die Attila.«
Winthrop hatte erstmals das Gefühl, dass Allard schwankte. Im Zweifel würde er seinen Befehlen Folge leisten.
Wenn Dracula dort oben war, konnte Richthofen nicht weit sein. Winthrop vibrierte bis in die letzten Fasern seines Körpers. So musste es einem Vampir zumute sein. Sein Blut pochte, lechzte nach dem Sieg. Heute Nacht, so viel stand fest, würde es zur Entscheidung kommen.
Die Piloten scharten sich um Jiggs, reichten ihm Briefe und Souvenirs. Winthrop stand mit leeren Händen da. Er hatte Catriona nicht geschrieben, dass er noch lebte. Bei Morgengrauen würde das vielleicht auch nicht mehr nötig sein. Letztlich war dies wahrscheinlich die menschlichere Lösung.
Die erste Camel kreiste bereits über dem Feld und wartete darauf, dass der Verband sich formierte.
Ausrüstungsgegenstände wurden auf Lastwagen verladen. In ganz Maranique war niemand ohne Arbeit. Wenn diese Mission beendet war, befand sich der Flugplatz womöglich schon in Feindeshand. Falls dann noch Treibstoff übrig war, würde das Geschwader nach Amiens ausweichen. Es würde kein Tropfen Treibstoff übrigbleiben. Das Geschwader Condor würde kämpfen, bis es nicht mehr kämpfen konnte.
Winthrop hievte sich in seine Maschine und machte es sich hinter dem Steuerknüppel bequem.
»Kontakt«, brüllte er.
Jiggs warf den Propeller an. Die Camel setzte sich langsam in Bewegung und schwang sich in die Luft. Obgleich die Sonne längst versunken war, stand das Land in hellen Flammen.
 
Kate hetzte Pendereis Leuten hinterdrein. Weitere Verstärkung war ihr dicht auf den Fersen. Sie brauchte nur dem Klappern des Feldgeschirrs zu folgen, um den Weg zur Front zu finden. Die Gräben waren teilweise überdacht und wurden zu Tunnels, spärlich erhellt von Kerzenstummeln in Blechnäpfen.
Sie benutzte den Spaten als Sense, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Sie war nur noch ein Tier, das sich von seinem Instinkt leiten ließ. Sie wollte sich ins dichte Kampfgetümmel stürzen.
Als sie aus einem Tunnel in den Hauptgraben einbog, stand sie plötzlich vor einer fünfzehn Fuß hohen Wand aus durchweichten Sandsäcken. Männer stemmten Leitern dagegen, doch die oberen Sprossen waren gebrochen.
Ein ohrenbetäubendes Knirschen peinigte sie bis ins Mark. Mahlende Panzerketten rissen erste Sandsäcke in Fetzen. Der motorisierte Moloch steckte fest in Schlamm und Stacheldraht. Die Soldaten feuerten aus allen Rohren auf den walzeisernen Rumpf des Panzers. Die Kugeln spickten das Metall mit Dellen. Der Panzer schleppte sich schlingernd ein Yard weiter, bis die große flache Nase über die Böschung ragte und einen Schatten auf die sich windenden Soldaten an der Grabensohle warf.
Aus dem Innern des Ungetüms drang Rauch. Kate hustete, fürchtete Gas. Die Kanone des kriegerischen Monstrums schwenkte herum. Kate stürzte sich in den morastigen Abgrund des Grabens. Eine Granate schoss über die Bresche hinweg und krepierte in der Tunnelöffnung. Der Schütze hatte auf die Stelle gezielt, wo sie eben noch gestanden hatte.
Der Blitz erhellte den Panzer, ließ jeden Bolzen, jede Schraube sichtbar werden. Der Panzer glich einer Festung, mit Schießscharten und Zinnen. Granatsplitter und Feuer spritzten nach allen Seiten. Die Getroffenen sanken schreiend zu Boden und wälzten sich in ihrem Blut.
Kate wollte töten.
Der Schwerpunkt des Tanks verlagerte sich über die Grabenböschung hinaus. Die Nase kippte nach vorn, drohte die Männer, die im Matsch umherkrochen, zu erdrücken. Die Ketten fraßen sich in die rückwärtige Wand, fanden mahlend Halt und zogen die Maschine in die Waagerechte. Nun konnte sie über den Graben hinwegrollen wie über einen Riss im Asphalt. Die Männer feuerten auf ihren eisengrauen Bauch, als sie den Schlammpfuhl überquerte.
Kate ging in die Hocke wie ein Frosch, stieß sich mit all ihrer Vampirkraft vom Boden ab und sprang mit ausgefahrenen Klauen in die Höhe. Sie landete neben dem Panzer und streckte die Hand nach der laufenden Kette. Ein Zipfel ihres Mantels verfing sich in den surrenden Rädern, und das Monstrum riss sie an sich. Sie würde zermalmt werden wie in einer Mühle, doch ihr zerschundener Körper würde dieses Ding zum Stillstand bringen. Was als Schlachtruf in ihrer Brust begonnen hatte, endete als Todesschrei.
 
Poe hatte Theo heute Abend mit seinem Manuskript beehren wollen, doch die Ereignisse hatten sie überholt. Es begann damit, dass die Attila vom Schloss ablegte, das Signal zum Start der Offensive. Entlang der Linien rollten Panzer aus getarnten Stellungen, und Männer pflanzten Bajonette auf, um zum Angriff aufzubrechen. Die Mittelmächte stießen mit aller Kraft nach vorn und überrollten die Entente. Dies würde den Sieg bedeuten.
Sie standen auf dem Turm und verfolgten die Vorbereitungen der Flieger auf die Schlacht, die ringsumher zu hören und in einiger Entfernung auch zu sehen war. Obgleich sie ihnen inzwischen fast vertraut vorkam, bot die Verwandlung der Flieger noch immer einen überwältigenden Anblick.
Poe und Theo sahen zu, wie Richthofen die Gestalt wandelte. Der Tod seines Bruders hatte in ihm anscheinend weder Zorn noch Rührung wachgerufen. Sein Panzer, den Poe durch geschicktes Fragen ansatzweise aufgebrochen hatte, war wieder hermetisch verschlossen und ließ keinerlei Gemütsregung nach außen dringen.
Richthofens ernstes Gesicht verschwand unter dichtem Fell. Poe hatte geglaubt, der Flieger habe sie gar nicht bemerkt, doch als Haarmann und Kürten beiseitetraten, verbeugte er sich vor seinem Biografen und schwang eine Flügelspitze wie ein Höfling seinen Umhang. Poe sagte Richthofen Lebewohl. Der Baron sprang, gefolgt von seinen Kameraden, vom Turm. Die Flieger umschwärmten die Attila.
Theo sah zu, wie seine Kampfgenossen in der Nacht entschwanden. Seine Augen funkelten im Schatten seines Mützenschirms.
»Es sieht so aus, als ob unsere Arbeit hier beendet wäre«, sagte er schließlich. »Ab morgen werden wir nicht mehr gebraucht.«
Ten Brinckens Jünger hatten ihre Akten eingepackt und bereiteten sich auf den Rückzug vor. Karnstein war an die italienische Front versetzt worden. Und Schloss Adler wurde zum Hauptquartier des Grafen umgebaut. In dem Maße, wie das Schloss an militärischer Bedeutung gewann, verlor es an wissenschaftlichem Wert. Berichte wurden geschrieben und verschickt. Das Experiment war beendet.
»Morgen werden sie den Krieg gewonnen haben, Theo.«
Theo zuckte die Achseln. »Zu diesem Zweck hat Dracula sie schließlich erschaffen. Aber wie Manfred schon sagte: Es gibt kein ›nach dem Krieg‹. Sie sind Werkzeuge der Eroberung und nicht der Herrschaft.«
»Eroberungen wird es immer geben.«
»Mein lieber Eddy, für einen Mann von so bemerkenswerter Weitsicht sind Sie bisweilen erschreckend blind.«
Poe war schockiert.
Obwohl nicht nur das Bodenpersonal, sondern auch einige Wissenschaftler zurückgeblieben waren und Orlok durch die leeren Gänge schlich, wirkte das Schloss nun, da das JG1 verschwunden war, wie ausgestorben. Die Flieger umschwirrten die Attila wie Motten das Licht. Dank seiner scharfen Augen konnte Poe ihre winzigen Gestalten selbst im Labyrinth der Nacht deutlich erkennen.
Im Schlusskapitel hatte er Richthofens Reaktion auf den Verlust seines Bruders beschrieben. Es war, als ob beide Richthofens den Tod gefunden hätten und er verflucht sei, weiter über Gottes Erdboden zu wandeln.
»Armer Manfred«, sprach Theo Poes Gedanken aus. »Er ist trotz allem treu wie ein Hund.«
»Ich gäbe viel darum, wenn ich bei ihnen sein könnte, Theo.«
Theo sah ihn an und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Da sich jetzt ohnehin niemand mehr um uns kümmert, können wir tun und lassen, was wir wollen. Unten steht eine Junkers J1 mit vollem Tank. Was halten Sie von einer kleinen Spritztour?«
»Sie können fliegen?«
»Nur mit einem Flugzeug.«
In der Ferne stiegen Feuersäulen auf. Poe dachte an den Himmel über der Entscheidungsschlacht.
»Ich bin noch nie mit einem …«
»Ein schweres Versäumnis für einen Propheten der Zukunft.«
»Wie Sie meinen.«
Theo grinste, sein lebhaftes Temperament kehrte zurück. »Der Rabe hat Flügel.«
 
In ihren letzten Augenblicken hätte Kate am liebsten ihren Frieden mit Gott und der Welt gemacht. Doch das blieb ein frommer Wunsch.
Da immer mehr Stoff in die Panzerkette gezogen wurde, schloss sich ihr Mantel wie eine Zwangsjacke um ihren Körper. Je näher sie den todbringenden Zahnrädern kam, desto stärker wurde der Gestank von Schweröl und Wagenschmiere. Plötzlich blieb der Motor im Innern der Maschine stehen, und sie hing an der Außenseite des Panzers wie am Kreuz. Ein mechanisches Versagen, eine verirrte Kugel oder die Hand Gottes hatte sie gerettet. Fürs Erste.
Sie konnte eine Hand bewegen. Sie ballte die Finger und formte die Nägel zu einer Messerspitze, stieß ein Loch in das straffe Schulterstück des Mantels und riss. Nähte platzten, sie war frei. Sie stürzte und bekam im letzten Augenblick die Felge eines blockierten Rades zu fassen. Ihre mit Widerhaken bewehrten Fingernägel kratzten über öliges Metall, doch sie verbiss sich ihren Schmerz. Hand über Hand zog sie sich hoch und kletterte auf den Tank. Der eben noch von Flammenzungen beleckte Stahl war heiß.
In dem rollenden Käfig steckten Feinde. Ob Warmblüter oder Vampire, sie waren voll von pulsierendem Blut, das sie zum Leben brauchte. Ein Gewehrlauf schob sich durch einen Schlitz und zielte in ihre Richtung. Sie wirbelte herum, um aus der Schussbahn zu gelangen, und packte die Waffe. Mit einem Ruck zog sie das Ding heraus - worauf eine Lawine deutscher Flüche aus dem Bauch des Molochs drang - und warf es hinter sich.
Sie blickte durch den Schlitz und knurrte wie ein Tier. Sie witterte die Angst der Panzerfahrer, hörte die im Innern ihrer wirkungslosen Wunderwaffe gefangenen Männer panisch scharren. Sie würden im Feuer geröstet werden.
Plötzlich hatte sie ein Paar Stiefel vor der Nase. Vermutlich das einzige Paar gewichster, musterungsbereiter Stiefel in ganz Europa. Sie sah zu dem Soldaten hoch, der ruhig und gelassen auf dem Panzer stand und keine Miene verzog, als seien die Blei- und Silberkugeln, die ihm um die Ohren pfiffen, nichts weiter als Hagelkörner. Er trug die Uniform der Vereinigten Staaten, doch dieser Vampir war älter als die Neue Welt.
Seine Stiefel lösten sich auf, zerflossen zu weißlichem Nebel. Sie hatte von dem Kniff zwar schon gehört, ihn aber nie gesehen. Der Vampir verwandelte sich in ein schwach leuchtendes Gespenst. Mit seinem Körper verschwanden auch Ausrüstung und Kleider, sie waren ebenso ein Teil von ihm wie sein ergrautes Haar. Ein Querschläger streifte den Panzer. Kate wollte in Deckung gehen, doch der Anblick des Ältesten ließ sie erstarren. Eine menschenförmige Wolke schwebte über dem Schlitz. Sie wurde lang und schmal und stieß wie durch einen Schornstein ins Innere des Panzers.
Markerschütternde Schreie drangen durch die dicken Stahlund Eisenplatten. Eine Pistole wurde abgefeuert, und die Kugel prallte jaulend durch den engen Raum. Aus der Schießscharte platzte ein roter Regen, der ihr Gesicht mit einem warmen Blutschleier benetzte. Der Saft erregte ihre Sinne, und sie leckte sich gierig das Gesicht und verschlang das Grauen, das darin brannte.
Ohne auf die Wiederkehr des Ältesten zu warten, sprang sie vom Rücken des kriegerischen Ungeheuers und spürte festen Boden unter den Füßen. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass das Niemandsland kein Niemandsland mehr war. Endlose Ketten grauer Uniformen marschierten in Reih und Glied durch die stockfinstere Nacht und kletterten über ihre gefallenen Kameraden hinweg, eine Flut von Menschen, die auf die alliierten Schützengräben zuhielt.
Etwa dreißig Yards entfernt ging ein Maschinengewehr los und mähte eine erste Garbe von vorrückenden Truppen nieder. Sofort schloss sich die Lücke. Der zweite Feuerstoß tötete noch mehr Männer. Dann wurden die Artilleristen überwältigt und zum Schweigen gebracht. Die untoten Soldaten rissen die Schützen in Stücke, Blut spritzte nach allen Seiten. Die Münder der Deutschen troffen rot.
Der Älteste schwebte über dem Panzer und nahm wieder menschliche Gestalt an, sein hübsches Gesicht strotzte vor Blut.
Ein Schuss traf Kate, doch es war nur ein Bleigeschoss. Die Kugel durchschlug ihre Wade. Die Wunde verheilte in Sekundenschnelle. Der Knall gellte ihr noch in den Ohren, als der Schmerz längst abgeklungen war.
Ein zweiter Tank spie einen brennenden Benzinstrahl nach den Alliierten und ließ Feuer zu Boden regnen. Die Männer ringsumher räumten das Feld, fielen zurück, fielen.
Der Älteste trieb auf den zweiten Panzer zu. Da er seine Gestalt völlig in der Gewalt zu haben schien, musste er uralt sein. Älter als Dracula oder Geneviève. Älter als das Mittelalter. Womöglich sogar älter als das Christentum. Wie es ihm wohl gelungen war, so lange unentdeckt zu bleiben? Er musste zahllose Namen haben.
Der Flammenwerfer richtete sich auf und spie von neuem helles Feuer. Der Strahl traf den Ältesten mitten in die Brust. Er brannte wie ein Schmetterling. Jahrhunderte auf ewig unbekannten Lebens wurden in einer achtlosen Sekunde ausgelöscht, von einer grausamen Errungenschaft der modernen Welt in funkensprühende Fetzen gerissen.
Jemand packte ihren Arm und rettete ihr jämmerliches Leben, indem er sie mit sich zerrte, einer von unzähligen Männern, die der Front den Rücken kehrten.
»Nimm die Beine in die Hand, Kamerad«, riet jemand.

42

Die Nacht der Generäle

Im Hauptquartier in Amiens schrien alle durcheinander. Zwei Dutzend Telefone waren besetzt, und die Stabsoffiziere beeilten sich, wichtige Neuigkeiten von den Stellungen entlang der Front weiterzugeben. Mit Rateaus bewaffnete Lieutenants schoben Modelle über einen Kartentisch von der Größe eines Tennisplatzes. Unablässiges Bombardement ließ die massiven Mauern erzittern. Die halbe Stadt stand in Flammen. In den Außenbezirken fielen in einem fort Granaten. Die Bereitschaftsstellungen entlang der Ausfallstraßen wurden in Windeseile besetzt. Dies war die große Offensive, auf die alle gewartet hatten.
Erschöpft von einer weiteren stürmischen Fahrt über den Kanal und betrübt über Mycrofts Begräbnis, wurde Beauregard von kopflosen Strategen in eine Ecke abgeschoben. Es war reiner Zufall, dass er sich so nah am Geschehen befand. Man hatte ihn ins Hauptquartier bestellt, um Mr. Caleb Croft eine Liste der Agenten des Diogenes-Clubs zu überreichen, die hinter den feindlichen Linien operierten. Es war seine wahrscheinlich letzte Amtshandlung in diesem Krieg. Danach durfte er in sein Haus im Cheyne Walk zurückkehren und seine Memoiren schreiben.
Croft wurde direkt aus Maranique erwartet. Das Geschwader Condor war am Himmel, ein rot bemalter Holzpfeil auf dem Kartentisch. Ein Rateau schob den Pfeil in Richtung des schwarzen Ovals, das die Attila darstellte. Die Klötzchen, die die alliierten Truppen symbolisierten, bildeten ein wirres Durcheinander, das vermutlich ihre tatsächliche Postierung widerspiegelte. Die Mittelmächte hatten so viele Männer in die Attacke geworfen, dass dem Hauptquartier die dafür vorgesehenen schwarzen Klötzchen ausgegangen waren. Um den Mangel auszugleichen, malte ein subalterner Offizier mit schwarzer Stiefelwichse Malteserkreuze auf Papierstreifen.
Beauregard rieb sich die müden Augen. Der Pulverdampf von hundert Zigaretten hing in dichten Schwaden über der Karte. Die Luft im Kommandoraum war zum Schneiden.
Field Marshal Sir Douglas Haig telefonierte mit Lord Ruthven und presste sich den Hörer an die Brust, während er einem Kurier Befehle zubellte, der sie einem Telefonisten übermittelte, welcher den Offizieren im Felde Bescheid gab, die ihren Leuten sagten, was sie tun sollten. Haig hatte einen vagen Plan. Er ließ sich von dem Vorstoß nicht entmutigen. Seine roten Augen leuchteten wie Glühbirnen. Seine nadelspitzen, scharf gezackten Zähne ritzten seine Unterlippe und besudelten sein Kinn mit seinem Blut. Schäumend vor Begeisterung erteilte er Befehle.
Winston Churchill, der aus London entsandt worden war, um dem Blutvergießen beizuwohnen, stürzte sich in Hemdsärmeln, mit gelöstem Kragen und in den Nacken geschobenem Zylinder in den Trubel. Einen brennenden Zigarrenstummel im Mundwinkel, brüllte er Zahlen und Fakten durch den Raum. Er musste sich vor kurzem erst genährt haben, denn er war aufgebläht wie ein Ballon, seine Finger glänzten wie rote Würste, und die Adern an seinen Schläfen pochten wild.
General Jack »Blackjack« Pershing, der Kommandeur des amerikanischen Expeditionskorps, konnte es kaum erwarten, endlich mitspielen zu dürfen. Er stand mit einer Anzahl amerikanischer Truppenklötzchen in jeder Faust an einem Ende der Karte wie ein besessener Spieler, der soeben mit Taschen voller Jetons an den Roulettetisch getreten ist. Neben ihm stand »Monk« Mayfair, ein fleischfressender Affenmensch, der aussah, als habe man einem von Moreaus Versuchskaninchen eine Generalsuniform angezogen und einen Cowboyhut aufgesetzt.
Beauregard konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es Vampiren wie Haig, Churchill und Pershing Vergnügen bereitete, den langweiligen und zermürbenden Grabenkrieg auf diese Art und Weise zu beenden. Sie waren trunken vor Erregung. Berichten zufolge waren die Linien an über einem Dutzend Stellen durchbrochen. Deutsche Kavallerieeinheiten galoppierten im Gefolge der Panzer ins Getümmel.
Eine Gestalt in Grau trat ein. Croft überflog die Karte mit einem süffisanten Lächeln. Infolge eines aktuellen Berichts näherte sich der Pfeil des Geschwaders Condor dem Oval der Attila.
Croft ignorierte Beauregard. Seit seiner Beförderung existierte der Diogenes-Club für ihn nicht mehr. Beauregard spürte die Namensliste in der Innentasche seines Jacketts. Er hatte das ungute Gefühl, dass die Agenten, die er und Smith-Cumming so sorgfältig eingeschleust und aufgebaut hatten, von ihrem neuen, weitaus rücksichtsloseren Brotherrn buchstäblich preisgegeben werden würden.
Haig ließ den Premierminister warten und brüllte: »Der verdammte Narr soll sich zurückziehen«, in ein anderes Telefon.
»Es ist unglaublich«, verkündete der Field Marshal den Anwesenden und Lord Ruthven. »Der verfluchte Froschfresser weigert sich, den Rückzug anzutreten. Mireau lässt seine Leute von Panzerketten zermalmen, während wir über völlig intakte Auffangstellungen verfügen. Le Rückzug, ce n’est pas français. Kein Wunder, dass seine Leute ihn am liebsten pfählen würden.«
Ein blaues Klötzchen, das Mireaus Divisionen symbolisierte, wurde von der Karte gewischt und flog in eine Ecke. Ein schwarzes Klötzchen trat an seine Stelle.
»Es sieht so aus, als wäre das Problem Mireau gelöst, Herr Premierminister. C’est la guerre.«
Ein Schauder ergriff Beauregard. In diesem Raum konnte man leicht den Eindruck gewinnen, der Krieg werde mit Karten, Spielzeug, Klötzchen und Rateaus geführt. Der Fußboden war mit ausrangierten Klötzchen übersät, die von den Offizieren achtlos zertrampelt wurden. Jedes von ihnen stand für hundert oder mehr Verluste.
Der Feind hatte offenbar die Absicht, von drei Seiten vorzurücken, mit Paris als Angriffsziel. Mit Panzern, Flugzeugen und Langstreckenbombardements wollten Draculas Streitkräfte die Alliierten daran hindern, in Auffangstellungen zurückzuweichen, und die Mannschaften und Unteroffiziere so sehr in Panik versetzen, dass sich der strategische Rückzug in eine kopflose Flucht verwandelte.
»Am Ende entscheidet die Truppenstärke«, sagte Haig. »Und in dieser Hinsicht ist uns der Feind eindeutig unterlegen.«
Wenn sich die Alliierten erst einmal zurückgezogen hatten, würde ein tödlicher Regen auf die vorrückenden Deutschen niederprasseln. Auf fremdem Terrain, nachdem sie sich noch dazu vier Jahre lang in Tunnels versteckt gehalten hatten, wäre es ein Klacks, ihnen mit Mörsern, MGs, Bomben, Minen, Flammenwerfern und schweren Geschützen den Garaus zu machen. Beide Parteien warfen alle Bedenken über Bord, gingen mit Schmiedehämmern aufeinander los und versuchten den anderen dort zu treffen, wo es am wehesten tat.
»Der Feind verfügt möglicherweise über eine Million Männer«, wandte Churchill ein. »Eine Dampfwalze aus Eisen, die ganz Europa überrollt.«
»Wir haben mehr als eine Million«, erklärte der Field Marshal. »Wir könnten die Amerikaner in die Schlacht werfen.«
Pershing entblößte die Fangzähne und jauchzte: »Die Yankees kommen!«
Mayfair hoppelte zum Telefon, nahm mit einem behandschuhten Fuß den Hörer ab und gab den amerikanischen Stellungen grunzend Befehle durch. Pershing schleuderte verzweifelt Yankee-Klötzchen auf die Karte, wie ein vom Glück verlassener Spieler, der seine Pechsträhne zu überwinden versucht, indem er den Einsatz mit jeder neuen Umdrehung des Rades erhöht. Mayfair raunzte weiter Einsatzbefehle in den Hörer.
Granattreffer ließen das Gebäude erzittern. Staub rieselte von der Decke auf den Tisch. Beauregard klopfte sich die Schultern ab. Winthrop befand sich beim Geschwader Condor, mitten im dichtesten Kampfgetümmel.
»Wir graben uns ein und schlagen zurück«, verkündete Haig. »Wir werden diese verfluchten schwarzen Klötzchen im Handumdrehen von der Karte fegen.«

43

Der Untergang der Attila

Die Landschaft erstreckte sich unter der Sichtluke wie ein reich verzierter Teppich. Es gab keine klaren Linien mehr, nur noch wirre Muster aus Ameisen und Flammen. Die Offensive versprach ein glänzender Erfolg zu werden. Von der Front trafen in einem fort Funksprüche ein. Der Widerstand des Feindes schien erschöpft, Angriffsziele wurden zerstört, Befestigungen durchbrochen. Die Armeen des Kaiserreiches rückten unaufhaltsam vor.
»Morgen bei Sonnenuntergang sind wir in Paris«, versprach Strasser seinem Oberbefehlshaber.
Dracula schwieg.
Die Attila setzte zum Sinkflug an. Nachdem ein Gutteil der feindlichen Geschützstellungen zerstört oder erobert war, konnte sich das Luftkriegsschiff bedenkenlos dem Boden nähern. Nach jeder Bestätigung befahl Strasser eine Verminderung der Flughöhe. Der Blick durch die Luke ließ immer neue Einzelheiten erkennen. Die wimmelnden Ameisen wurden zu Menschen, zu Lebewesen, die kämpften, litten, starben.
Der Geruch des Krieges sickerte ins Gondelinnere, was bei Stalhein nicht ohne Wirkung blieb. Seine Nase stülpte sich zur Schnauze aus. Vampirhauer brachen durch sein Zahnfleisch. Ein dünner Flaum spross unter seinem Waffenrock. Seine Ohren wurden spitz wie die einer Fledermaus, und sofort konnte er besser hören.
Stalheins Verwandlung jagte Strasser, einem Neugeborenen, einen fürchterlichen Schrecken ein. Stalhein kannte diese Sorte nur zu gut. Wie alle Luftschiffer hielt Strasser Flugzeuge für unerwünschte Gäste am Firmament. Zudem beunruhigte ihn der Gedanke, dass es Menschen gab, die sich Flügel wachsen lassen konnten. Wie Graf von Dracula und Ingenieur Robur träumte er davon, als Herr der Welt in einer kugelsicheren Gashülle friedlich über der Erde zu schweben, riesige Löcher in die Wolken zu reißen und gelegentlich mit großer Geste die eine oder andere Bombe abzuwerfen. Kreaturen, die sich in geringerer Höhe tummelten und tollten, waren nichts weiter als lästige Insekten.
Stalhein hatte dem Kapitän nur einen Moment lang in die Augen sehen müssen, um ihm sein Geheimnis zu entlocken. Wenn er die Gestalt gewandelt hatte, konnte er die Gedanken seines Gegenübers lesen. Er musste sich zusammenreißen, damit seine Wirbelsäule nicht hervorbrach. Wenn er sich vollständig verwandelt hätte, wäre er aus seiner Uniform geplatzt.
Durch die Seitenluken sah Stalhein seine Kameraden vom JG1, die Ehrengarde des Dämonenfürsten. Sie fielen rings um die Attila in Formation. Brodelnde Furcht wallte gen Himmel. Für die Entente musste die Ankunft der Attila und ihrer Begleiter dem Jüngsten Gericht gleichkommen. Angesichts der Erhabenheit des Schauspiels würden sich viele der Sache Draculas anschließen. Und viele andere würden den Verstand verlieren.
Sie hatten die Schützengräben hinter sich gelassen und schwebten nun über Gelände, das sich noch vor einer Stunde in Feindeshand befunden hatte. Die Attila war auf gleicher Höhe mit der ersten Welle vorrückender Panzer. Jedes Fleckchen Erde, auf das der Schatten des Luftkriegsschiffes fiel, gehörte Deutschland.
Ein junger Steuermann salutierte schneidig und meldete die Sichtung gegnerischer Flugzeuge. Stalheins Blick wanderte von der Bodenluke zum Panoramafenster. Eine riesenhafte Fledermausgestalt schwebte vor dem Bug der Attila. In seiner rechtmäßigen Position an der Spitze des Verbandes regierte Baron von Richthofen die Lüfte wie ein Drache.
Der Nachthimmel war feuerrot. Stalhein sah die feindlichen Flugzeuge herannahen, winzige Punkte in der Finsternis. Geschwader Condor, die einzige gegnerische Staffel, die dem JG1 gefährlich werden konnte. Richthofen fieberte der Auseinandersetzung mit den Männern, die seinen Bruder auf dem Gewissen hatten, bereits seit Tagen entgegen.
»Jetzt werden Sie sehen, dass dieses Luftschiff unbezwingbar ist«, sagte Ingenieur Robur und rieb sich die Hände. »Diese englischen Lords sind schön dumm, wenn sie glauben, uns besiegen zu können. Wir werden das Ungeziefer wie mit der Fliegenklatsche vom Himmel holen.«
Dracula nickte gravitätisch.
»Tiefer gehen«, befahl er. »Ich will mir die Schlacht aus der Nähe ansehen.«
 
Winthrops Mund schmerzte und war voller Blut. Seine Zähne spalteten ihm fast den Kiefer. Der Vampir in ihm erwachte, färbte sein Gesichtsfeld rot. Er zerrte sich Brille und Kopfschutz herunter, riss die Augen auf und ließ sich den Flugwind ins Gesicht wehen. Gierig sog er die eisige, rauchschwangere Luft in seine Lungen und atmete den Brandgeruch des Krieges. Seinen Nachtaugen entging nichts. Ball und Kate flüsterten mit leiser Stimme auf ihn ein, trieben ihn in die Arena.
Die Attila war riesig. Ihr Eindringen in den französischen Luftraum war eine Beleidigung, doch Winthrop machte sich nichts aus dem Zeppelin oder seinem Passagier. Sein Interesse galt einzig und allein der Kreatur, die dem Luftkriegsschiff voranflog, dem Roten Baron. Heute Nacht würden sie Richthofen zur Strecke bringen.
 
Die Schlacht zog rasch unter der Sichtluke vorbei. Stalhein sah punktgroße Mündungsblitze, als MGs das Feuer auf die Attila eröffneten. Die Erde rückte immer näher, so dass man einzelne Scharmützel erkennen konnte. Ein Panzer walzte über ein Bauernhaus, einen Haufen zerschossener Ziegel, hinweg. Infanteristen krochen auf eine Geschützstellung zu, Stielhandgranaten explodierten in der Nähe des Ziels.
Dracula stand mit hinter dem Rücken gefalteten Händen im Bug der Führergondel und betrachtete das Schauspiel. Er verzog keine Miene, als die Camel-Staffel ausschwärmte und den gesamten Himmelshorizont mit Punkten spickte.
Der Kapitän redete auf Robur ein, der sich auf seine Steuerknüppel stützte und unwirsch den Kopf schüttelte. Die beiden Luftschiffer waren geteilter Meinung. Zögernd und beklommen erteilte Strasser seiner Mannschaft weitere Befehle.
Stalheins kraftstrotzende Unterarme platzten aus den Nähten seiner engen Ärmel.
Die erste Camel feuerte. Winzige Blitze zuckten rings um die Propeller. Sie waren zwar noch außer Schussweite, doch die Briten zogen es vor, sich bemerkbar zu machen, ehe sie zum Angriff übergingen. Stalhein respektierte das, obwohl er es für töricht hielt.
Die Flieger links und rechts des Zeppelins rückten zu Richthofen auf.
Plötzlich war ein lautes Krachen zu hören. Die Luftschiffer wirbelten herum. Stalheins Waffenrock war im Rücken geplatzt. Er schüttelte die Fetzen ab und atmete tief durch. Seine Flügel fingen an zu wachsen, Hautfalten sprossen aus seinen Achselhöhlen und wucherten an den Unterseiten seiner Arme entlang.
Die Attila hatte die deutschen Truppen hinter sich gelassen. Die Straßen wimmelten von britischen und amerikanischen Soldaten auf dem Rückzug.
Strasser besprach sich rasch mit Reitberg, dem ersten Bordschützen. Wichtige Stellungen sollten vernichtet werden. Derlei Aktionen würden den Rückzug der Entente im Handumdrehen in eine Flucht verwandeln. Reitberg wankte, unverständliches Zeug vor sich hin murmelnd, über einen Laufgang zum Bombenschacht.
Eine Camel, die ihrer Staffel gleichsam als Sturmkolonne vorausflog, führte einen ersten Schlag gegen den Zeppelin. Zwei Flieger nahmen sie von oben und unten in die Zange und feuerten, was ihre Spandaus hergaben. Der Motor des Flugzeugs zerbarst in einem Feuerball, der Stalhein die Augen versengte. Die Flieger wichen flügelschlagend vor der Explosion zurück, und die brennende Maschine trudelte dem Erdboden entgegen.
Strassers Männer brachen in laute Beifallsrufe aus, doch Roburs finsterer Blick brachte sie schlagartig zum Schweigen. Für einen Luftschiffer ziemte es sich nicht, die Taten ordinärer Flugzeugkutscher zu bejubeln. Strasser ging noch einmal zu Robur und packte ihn am Ärmel.
»Wir fliegen zu tief«, beharrte der Kapitän, »zu nah am Boden.«
Der Ingenieur schüttelte Strasser ab, doch seine Zweifel blieben. Robur, ebenfalls ein Zeppelin-Fanatiker, wusste um die Grenzen seiner Konstruktion.
Dracula wandte sich halb zu ihm um und machte ihm ein Zeichen. Noch tiefer. Strasser wollte widersprechen, doch einen Befehl des Grafen infrage zu stellen war undenkbar. Zu keinem klaren Gedanken fähig, trat er zurück, und Robur riss das Kommando an sich und erteilte die entsprechenden Befehle. Die Steuerleute nahmen Haltung an, zogen Hebel und Drähte, die einen Teil des Traggases entweichen ließen, so dass die Attila weiter an Höhe verlor. Strasser rang verzweifelt die Hände.
Stalhein ging um die Sichtluke herum. Obgleich er kaum größer war als in seiner menschlichen Gestalt, hatte er sich in ein fliegendes Ungeheuer verwandelt, halb Mensch, halb Fledermaus. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, spreizte er die Schwingen.
Er trat neben Dracula und beobachtete, wie seine Kameraden die Camels in einen Hahnenkampf verwickelten. Eine Maschine nach der anderen explodierte, und ein glühender Trümmerregen ging über der Landschaft nieder.
Robur machte es sich in seinem Sessel am Orgelmanual bequem und genoss seine Autorität. Die Luftschiffer hatten solchen Respekt vor dieser lebenden Legende ihrer Profession, dass sie seinen Anordnungen widerspruchslos Folge leisteten. Strasser hatte nichts mehr zu melden.
Plötzlich prallte etwas gegen das Fenster, und ein Sprung verunzierte das dicke Glas. Keine Handbreit von Draculas Kopf entfernt steckte eine verformte Kugel in der Scheibe, ihre Spitze glänzte silbrig. Obgleich der Graf die Achseln zuckte, sah Stalhein, dass seine Schultern leise bebten. Der Oberbefehlshaber verknotete die Finger hinter dem Rücken, um zu verbergen, dass seine Hände zitterten.
Irgendetwas stimmte nicht. Dracula hatte keine Angst. Dracula war die gestaltgewordene Angst.
Strasser wartete auf den Befehl, mit dem Aufstieg zu beginnen. Es war höchste Zeit, in frostigere Gefilde auszuweichen und den bevorstehenden Sieg aus sicherer Höhe zu verfolgen.
Dracula blickte in die brandgefleckte Finsternis hinaus.
»Noch tiefer«, sagte er.
 
Winthrop hatte eigentlich damit gerechnet, dass die Attila aufsteigen würde, sobald die Camel-Staffel in Sicht kam. Allard hatte die Condors angewiesen, den Bauch des Zeppelins zu attackieren, und sie eindringlich vor der dünnen Luft und der schneidenden Kälte gewarnt, die eine Decke bildete, über der ein Luftschiff sicher aufgehoben und ein Flugzeug rettungslos verloren war.
Stattdessen hielt die Attila sich dicht über dem menschenübersäten Boden und bombardierte die zurückweichenden Truppen. Nur ein Wahnsinniger hätte sich mit einer Million Gallonen entflammbaren Gases in die Nähe eines Feuergefechts gewagt. Dracula war dieser Wahnsinnige.
Winthrop zog seine Camel steil nach oben und verließ die Formation. Allards Plan, Motor und Treibstofftanks von unten unter Feuer zu nehmen, war undurchführbar.
Er überflog die Hülle des Zeppelins in so geringer Höhe, dass sein Fahrwerk die weiten Bahnen versteifter Seide streifte. Eine Bombe hätte ausgereicht, den Leviathan zu vernichten. Doch die Camel war kein Bomber.
Obwohl er wusste, dass er seine oberen Flügel einer schrecklichen Belastung aussetzte, drückte Winthrop die Maschine und presste beide Daumen auf die MG-Knöpfe. Sein Zwillings-Lewis beharkte den Rücken der Attila und riss ihr eine Doppelreihe winziger Löcher in die Haut. Das war ungefähr so wirkungsvoll, wie Moby Dick mit Hutnadeln zu spicken. Brandmunition brauchte ein festes Ziel, um explodieren zu können. Die kleinen Kugeln durchschlugen die leere Hülle, ohne Schaden anzurichten.
Winthrop jagte über die Attila hinweg und stellte das Feuer ein. Dann flog er eine rasche Wende, um einen neuerlichen Angriff anzusetzen. Eine riesenhafte Fledermaus war ihm dicht auf den Fersen gewesen. Jetzt hielt er direkt auf sie zu. Schüsse krachten. Die Kugeln pfiffen ihm um die Ohren.
 
Stalhein sah die Gesichter der Entente-Soldaten, die, von dem Bombenhagel unbeeindruckt, in den Himmel feuerten. Die Geschosse prallten jaulend von der Führergondel ab.
Gewehrfeuer konnte der Attila nichts anhaben. Die Gondel war gepanzert und die Hülle groß genug, um eine Million mikroskopisch kleiner Wunden zu verkraften, bevor sie platzte und in Flammen aufging.
Doch eine Sprenggranate, eine Minenbombe nur …
Reitberg, der über den schaukelnden Laufgang wankte, geriet ins Straucheln, stürzte und klammerte sich an die Verspannung. Blut sprudelte aus seinem Kragen. Eine verirrte Kugel hatte seine Halsader getroffen. Der Bordschütze fiel vom Laufgang kopfüber auf die Sichtluke. Die Scheibe zitterte, ging aber nicht entzwei. Schmale Blutrinnsale flossen über das Glas und ließen es erblinden.
»Wir müssen höher«, brüllte Strasser aufgebracht und sah Dracula flehentlich an. Der Kapitän konnte das Schiff nur in Sicherheit bringen, wenn der Graf seinen Befehl rückgängig machte. Dracula stand reglos wie eine Statue im Bug der Führergondel und beobachtete den Hahnenkampf. Strasser blickte hilfesuchend zu Robur. Der Ingenieur war so sehr mit der Steuerung seines Meisterwerkes beschäftigt, dass er den Zweifeln seines Untergebenen keinerlei Beachtung schenkte.
 
Wie durch ein Wunder war Winthrops Maschine heil geblieben. Der Rumpf hatte den einen oder anderen Treffer abbekommen, doch Winthrop selbst war unverletzt. Der Gestaltwandler, dem er sich gegenübersah, war nicht der Rote Baron, sondern kleinere Beute.
Winthrop legte die Camel auf die Seite und eröffnete das Feuer. Er schwirrte an dem Flieger vorbei und zerfetzte ihm mit einer gezielten Salve die Schwingen. Die Kreatur geriet ins Trudeln, der Wind fing sich in ihren Flügeln und renkte ihr die Schultern aus. Da er den Deutschen nicht mehr sehen konnte, nahm Winthrop an, dass er ihn abgeschossen hatte.
Er flog schnell, sauste um den ungeheuren Rumpf des Luftschiffs und verlor die Schlacht allmählich aus den Augen. Als er seine Trommelmagazine austauschte, hatte er einen Moment lang das Gefühl, mit dem Zeppelin allein zu sein. Dann umrundete er die massige Gashülle der Attila und sah, wie die Condors und das JG1 sich in einem Chaos aus heißem Stahl und Feuer einen Kampf auf Leben und Tod lieferten. Flugzeuge explodierten wie Kometen.
 
Ein riesenhafter Feuerdrache torkelte flügelschlagend aus der Schussbahn einer Camel. Anhand seiner Größe erkannte Stalhein ihn als Emmelman. Flammen leckten an seinem unförmigen Leib und zerfraßen seinen Schwingenbaldachin. Strasser schnappte erschrocken nach Luft, als er Emmelman auf das Schiff zustürzen sah. Wenn er auf eine Gaszelle traf, war die Bombe geplatzt.
Eine Camel stieß auf Emmelman herab. Der änderte den Kurs und tauchte in die Tiefe. Der Pilot, der sich an die Fersen des Fliegers geheftet hatte, war unwissentlich zum Retter der Attila geworden.
»Das ist doch der nackte Wahnsinn«, kreischte Strasser und wankte auf die Hebelwand zu. »Wir müssen höher.«
Dracula sah ihn von der Seite an, Flammen loderten in seinem Blick.
Hardt, die rechte Hand des Grafen, brachte seine Pistole in Anschlag und schoss dem Kapitän ins Bein. Strasser schrie auf, stolperte und schlug mit ausgestreckten Armen hin.
»Wir behalten unseren Kurs bei«, sagte Hardt. »Wir sind doch schließlich alles tapfere Soldaten, oder?«
Völlig von Sinnen befahl Robur seiner Mannschaft, die Attila auf Kurs zu halten. Er setzte sich ans Orgelmanual und entrang den Pfeifen schaurige Akkorde.
Strasser rollte sich zu einer Kugel zusammen. Die Steuerleute scharten sich um den Kapitän und halfen ihm auf die Beine. Als er endlich stand, verlor er das Bewusstsein.
Emmelman schlug auf dem Boden auf und explodierte.
Aus den Baumkronen schoss eine Feuersäule empor. Winthrop zog seine Mühle steil nach oben und sah sich um. Zu seinem Entsetzen hatte er sich in ein Ungeheuer verwandelt. Doch nur ein Ungeheuer konnte den Roten Baron bezwingen.
Obgleich sie ihnen zahlenmäßig unterlegen waren, holten die Gestaltwandler mehr Camels vom Himmel, als sie Verluste erlitten.
Brandberg überholte ihn. Ein Fledermausgeschöpf hatte die Klauen in die Heckflosse seiner Camel geschlagen und arbeitete sich wie mit einem Büchsenöffner zum Piloten vor. Die Maschine geriet ins Trudeln und riss den Vampir mit sich in die Tiefe. Eine zweite Feuersäule stach gen Himmel. Eins zu eins unentschieden.
Die Flugabwehrkanonen schwiegen. Kein Archie weit und breit. Die Offensive hatte die Linien überrollt. Sie waren tief in ihr ehemaliges Heimatgebiet vorgedrungen. Doch darüber konnte Winthrop sich jetzt keine Gedanken machen. Er musste seine Beute aufspüren und zur Strecke bringen.
 
»Meine Herren«, sagte Hardt, »Sie haben Ihrem Kaiser einen Dienst erwiesen, den man Ihnen nie vergessen wird.«
Dracula hatte sich abgewandt. Roburs irre Musik hallte durch die Führergondel.
»Unser Tod wird der gerechten Sache zum Sieg verhelfen.« Ein Kugelhagel prasselte gegen die Fenster. Ein Windstoß drückte die Scheiben ein, und ein Glasregen ging nieder. Stalheins Flügel zuckten nervös. Es war an der Zeit, sich in die Luft zu schwingen. Hardt entbot seinen Gefährten einen letzten Gruß.
 
Auf der Suche nach Richthofen schlug Winthrop einen Bogen um den Hahnenkampf im Schatten der Attila. Er stieg steil in den dunklen Himmel und warf einen Blick nach unten.
Eine winzige Flammenzunge leckte an der Führergondel des Zeppelins. Eisige Winde brachten sie blitzschnell zum Erlöschen.
Eine Camel zog mit Winthrop gleich. Anhand der Wimpel erkannte Winthrop den Piloten als Allard. Ein Gestaltwandler verfolgte den Geschwaderkommandeur. Winthrop jagte ihm eine Feuersalve in die Brust, und er sank, fand langsam wieder in die Waagerechte. Sollte ein anderer Pilot den verwundeten Vampir vom Himmel holen. Für ihn gab es nur einen Sieg, der zählte. Ob er bestätigt wurde, spielte keine Rolle. Winthrop genügte es zu wissen, dass er sein Ziel erreicht hatte.
Allard ließ die Attila links liegen und flog einen weiten Kreis. Dann schwenkte er herum, näherte sich ihr von neuem, als sei der Luftschiffrücken eine Landebahn, und feuerte seine Signalpistole ab. Die Leuchtrakete versengte die Außenhaut des Zeppelins und wies Allard mit violettem Flackerschein den Weg. Als er begriff, was der Geschwaderkommandeur vorhatte, zog Winthrop am Steuerknüppel und gewann an Höhe. Allards Camel streifte die Seidenhülle mit den Rädern und wurde von der um sich greifenden Signalflamme erfasst. Die Maschine kippte vornüber, die Tragflächen gaben nach, und der Propeller fraß sich in die Seidenhaut. Im Rücken der Attila klaffte ein Riss, und Allard fiel hinein. Aus dem Loch in der Zelle strömte Gas.
Allards Motor setzte aus. Im Innern des Schiffes wurde geschossen. Mündungsblitze schimmerten durch die Seide, als Allard die Magazine seines Zwillings-Lewis leerte. Dann ein violetter Funke, als der Geschwaderkommandeur, in einem Meer von entflammbarem Gas versinkend, eine zweite Leuchtrakete abfeuerte.
 
Der Aufprall ließ die Attila erzittern. Robur schrie angesichts der Schändung seines geliebten Schiffes wütend auf und ließ die Hände auf die Tasten niedersausen. Ein lauer Wind orgelte wimmernd durch die Pfeifen, begleitet vom Knarren und Krachen zahlloser Metallstreben.
Hardt stand über der Sichtluke, wo der tote Reitberg lag, und trat das Glas mit schwerem Stiefel aus dem Rahmen. Die Scheibe ging in Stücke, und Reitberg fiel zur Erde wie eine leblose Puppe.
Stalhein war zwischen den bröckelnden Wänden der Führergondel eingesperrt. Er wollte frei sein und fliegen.
Dracula schenkte der Panik noch immer keine Beachtung.
Hardt salutierte und trat lächelnd durch das Loch. Er sank wie ein Stein. Die anderen Leibgardisten Draculas taten es ihm zögernd nach. Manche sprachen ein Gebet, die meisten schwiegen dumpf.
Strasser, trotz seiner Schmerzen hellwach und konzentriert, zerrte vergeblich an den Steuerhebeln. Zu viele Verbindungsdrähte waren gerissen. Die Orgelpfeifen ächzten.
Die erste Explosion erschütterte das Luftschiff, und ein fauliger Geruch machte sich in der Gondel breit. Dann folgte die zweite Explosion.
 
Ein Feuerball durchbrach die Außenhaut der Attila und zerfetzte sie wie einen Lampion.
Winthrop fühlte heiße Luft aufsteigen.
Er wollte wegsehen, brachte es jedoch nicht fertig. Das Luftschiff knickte in der Mitte ein. Eine Stichflamme stülpte das Innere einer Gaszelle nach außen. Das splitternde Höhenleitwerk kippte himmelwärts. Im Feuerschein erkannte er die Umrisse von einem guten Dutzend Fliegern, die verzweifelte Anstrengungen machten, dem Sog des riesenhaften, rettungslos verlorenen Schiffes zu entgehen.
In Bugnähe flog eine weitere Zelle in die Luft. Winthrop sah, wie die Flammen Camels und Gestaltwandler mit Haut und Haar verzehrten. Er war die Ruhe selbst. Richthofen würde sich nicht so einfach übertölpeln und vernichten lassen. Der Rote Baron gehörte ihm, ihm ganz allein. Die nächste Zelle explodierte.
 
Das Loch im Gondelboden gab den Blick frei auf den taghell erleuchteten Wald. Die Attila war eine brennende rote Sonne. Die Flammen breiteten sich ringsum aus, züngelten die Laufgänge entlang, schossen an den Seilen empor und jagten die Steuerleute vor sich her.
Ein Teil der Besatzung war Hardts Beispiel gefolgt. Stalhein sah, wie die Männer in den Baumwipfeln hundertfünfzig Meter unter ihm zerschmettert wurden. Wenn einer von ihnen überlebte, wäre es ein wahres Wunder. Er harrte tapfer seiner letzten Pflicht.
Strasser trat, ruhig und gelassen, von den Steuerhebeln zurück, fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und setzte seine Mütze auf. Er rührte sich nicht von der Stelle. Er war wild entschlossen, mit seinem Schiff unterzugehen.
Robur ließ von der Orgel ab und sah seinem treuen Gefährten ins Gesicht. »Wir hätten gewonnen«, sagte er. »Wenn die verfluchten Insekten nicht gewesen wären.« Er meinte nicht den Krieg zwischen Entente und Deutschem Reich, sondern den Krieg zwischen Flugzeugen und Zeppelinen.
Dracula stand auf. Stalheins großer Augenblick war gekommen. Mit der Hitze unter seinen Schwingen kämpfend, rappelte er sich mühsam hoch und schlang von hinten die Beine um den Grafen. Dann schleppte er sich und seine Last in den ramponierten Bug der Gondel und sprang durch die zerschossene Luke.
 
Eine Ratte verließ das sinkende Schiff. Eine geflügelte Gestalt mit einem Bündel zwischen den Beinen.
Winthrop ließ das Wesen unbehelligt ziehen. Er war auf wichtigere Beute aus.
Er durchstreifte den Himmel.
Draculas Gewicht zog Stalhein in die Tiefe, und die schwarze Gashülle der Attila hing über ihnen wie ein Feuerbaldachin. Der Ingenieur traktierte, von wilder Raserei ergriffen, ein letztes Mal die Tasten und entlockte seiner Orgel irrsinnige Klänge.
Stalheins Spannweite nahm zu, und Dracula wurde ihm leichter. Sie hielten direkt auf den Wald zu.
Die Attila war verloren, eine Kette brennender Ballons stürzte zur Erde. Die Gondel krachte hundert Meter hinter ihnen in die Bäume.
Stalhein beschleunigte, entkam den Flammenfingern nur um Haaresbreite.
Der Hahnenkampf, unterbrochen durch den Untergang der Attila, ging weiter. Die Überreste beider Parteien hatten jede Hoffnung aufgegeben, dieses Gefecht lebend zu beenden, und lieferten sich eine tödliche Schlacht. Er hielt nach einem Landeplatz Ausschau. Wenn er seine Pflicht erfüllt hatte, wollte er seinen Kameraden in der Luft zu Hilfe eilen.
Ein Flugzeug näherte sich ihm von oben. Obgleich er unbewaffnet war, hatte er im Zweikampf durchaus eine Chance. Er hätte Dracula absetzen und dem Piloten den Kopf abreißen können. Doch er durfte seinen Führer nicht im Stich lassen.
Auf einen Blick erkannte er, dass ihm keinerlei Gefahr drohte. Es war eine deutsche Maschine, eine zweisitzige Junkers J1. Der Aufklärer würde ihm Deckung bieten.
Sie hatten den brennenden Wald hinter sich gelassen. Vor ihnen erstreckte sich schnurgerade eine Straße. Spiegelglatte Seen warfen den Feuerschein zurück. Stalhein spreizte die Schwingen, ließ sich vom Nachtwind bremsen statt vorantreiben, und setzte zur Landung an. Sie schlugen auf dem Boden auf, der Graf entglitt ihm, und er rollte in einem wüsten Durcheinander aus Armen, Flügeln und Beinen über ein Feld.
In der sicheren Annahme, dass er sich alle Knochen gebrochen hatte, drehte er sich um und versuchte sich zu orientieren. Im Gegensatz zur ruhigen Luft war der Erdboden schwankend und unsicher. Er hob und senkte sich wie das Deck eines Schiffes in sturmgepeitscher See.
Die Junkers kreiste wie ein Schutzgeist über ihm.
Stalhein sah, wie Dracula aufstand und seine Uniform abklopfte. Er begriff noch immer nicht, weshalb die Attila geopfert worden war, weshalb ein Luftschiff Selbstmord begangen hatte. Der Graf baute sich vor Stalhein auf und blickte zu ihm herab. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, doch Stalhein erkannte sofort, dass er benommen war. Bei jedem anderen hätte man derlei als Frontneurose abgetan. Bei Dracula war das undenkbar.
Das Feld war keineswegs verlassen. Männer schrien auf Englisch. Schüsse krachten. Stalhein fuhr zusammen.
Er blickte auf und sah, dass Dracula verwundet war. Seine Brust war blutgetränkt.
»Sterben«, verkündete er theatralisch, »wirklich tot sein …«
Sie waren von Schattenmännern umzingelt. Die Junkers beharkte vergeblich, mehrere Hundert Fuß entfernt, das Feld. Silber schimmerte im Licht. Aufgepflanzte Bajonette nahten.
Der Graf versuchte immer noch zu sprechen.
»Armer Béla«, murmelte er, kaum verständlich. »Der Vorhang fällt.«
Die Klingen sausten hernieder, stachen in den reglosen Vampir, durchschlugen Hals und Rippen. Stalhein konnte seinem Herrn und Meister nicht helfen. Seine Flügel waren geknickt, und er hatte sich ein Bein gebrochen. Wenige Minuten nur, und seine Knochen wären wieder heil. Doch diese wenigen Minuten blieben ihm nicht mehr.
Der Feind riss Dracula in Stücke und verstreute ihn über das Feld. Da bemerkten sie den abgestürzten Flieger. Schaudernd vor Entsetzen beim Anblick seiner traurigen Gestalt, traten sie näher. Silberspitzen gruben sich in seine Brust. Die britischen Soldaten empfanden beinahe Mitleid, als sie ihm das Herz durchbohrten.

44

Kagemusha Monogatari

Croft entfernte das schwarze Oval der Attila eigenhändig von der Karte. Ein triumphierendes Lächeln spielte um seine Lippen.
»Gentlemen«, verkündete er, »Dracula ist tot. Man wird uns seinen Kopf in Kürze überbringen.«
Beauregard hörte diese Worte nicht zum ersten Mal. Auch Vlad Tepes hatte man nach seinem Tod angeblich enthauptet und den Kopf dem Sultan überbringen lassen. Und doch hatte er überlebt.
Crofts Nachricht ging in der allgemeinen Hektik unter. Haig und Pershing machten sich die Ehre streitig, mit den Leichen ihrer Soldaten die Breschen in den Schützengräben geschlossen zu haben. Der Hörer des Telefons, das sie mit dem Premierminister verband, baumelte, zwitschernd wie ein kleiner, kranker Vogel, an seinem Kabel.
Mireau war tot, und die Franzosen zogen ihre Truppen zusammen. Die Amerikaner stellten sich gegen die deutsche Offensive: milchbärtige Rekruten gegen schlachtgestählte Veteranen oder, besser, beherzte junge Männer gegen ergraute, kampfesmüde Krieger. Und die Briten hatten sich eingegraben.
Auf dem Dach des Hauptquartiers krepierte eine Granate. Ein Stück Gips fiel von der Decke und bestäubte Croft und Churchill mit einer dünnen Puderschicht, so dass sie aussahen wie Schreckgespenster. Leberfarbene Lippen und feuerrote Augen bildeten die einzigen Farbtupfer in ihren kreidebleichen Masken. Subalterne wurden mit Eimern ausgesandt, um den Dachstuhlbrand zu löschen.
»Es ist offensichtlich, dass große Verluste und schwere Niederlagen hätten vermieden werden können«, freute sich der geisterhafte Croft, »wenn der Diogenes-Club seine Verantwortung für den geheimen Krieg beizeiten abgetreten hätte.«
Die deutsche Offensive war wie eine Welle, die auf breiter Front gegen die Bollwerke der britischen Auffangstellungen brandete und schäumte.
Churchill dachte angestrengt nach.
»Sie können auf keinen Fall so weitermachen«, sagte er schließlich. »Ohne die Attila werden sie den Überblick verlieren. Früher oder später wird es zum Chaos kommen.«
Comte Hubert de Sinestre, ein zynischer General, meldete, dass Dracula gesichtet worden sei.
Croft merkte auf. »Die Attila?«
»Nein«, sagte de Sinestre. »Dracula führt seine Kavallerie in voller Rüstung in die Schlacht. Er reitet einen schwarzen Hengst und schlägt wild mit seinem Silberschwert um sich. Hier, an der linken Flanke. Wo der tapfere Mireau den Tod fand.«
Der Offizier schien andeuten zu wollen, dass die Deutschen einen neuerlichen Vorstoß unternommen hatten.
Croft war beunruhigt. »Wir wissen mit Bestimmtheit, dass sich der Graf an Bord des Luftschiffes befand. Bodentruppen haben ihn getötet.«
Der französische Vampir zuckte die Achseln. »Der englische Geheimdienst ist für sein Misstrauen berühmt. Colonel Dax, ein überaus verlässlicher Offizier, hat sich für die Richtigkeit der Meldung verbürgt.«
»Dracula war an Bord des Schiffes. Das entspricht ganz seiner Natur.«
»Der Graf erweist sich als außerordentlich mobil«, fuhr Churchill dazwischen. »Ich habe soeben eine Depesche von Captain George Sherston von den Royal Flintshire Fusiliers erhalten, die besagt, dass Dragulya höchstpersönlich einen Bajonettangriff auf die rechte Flanke geführt hat, wobei er von Silberkugeln durchsiebt wurde. Wiederum ein Grund zum Feiern, Mr. Croft?«
Croft zerquetschte das Attila-Oval in seiner Hand.
»Wir haben es offenbar mit einer Armee von Doppelgängern zu tun«, folgerte Beauregard. »Als Nächstes wird der Graf in Piccadilly auftauchen, mit einem Strohhut auf dem Kopf.«
»Eine mittelalterliche Taktik«, sagte Churchill und ballte eine feiste Hand zur Faust. »Imitatoren, um die Truppen zu vereinen, um Feuer auf sich zu ziehen.«
»Der echte Dracula war an Bord des Zeppelins. Ich habe das bereits bestätigt.«
Crofts gräuliches Gesicht verfärbte sich allmählich grün. Seine Hände zuckten nervös.
»Der Kavallerie-Dracula liegt am Boden«, sagte de Sinestre. »Von MG-Feuer in Stücke gerissen. Der Angriff ist niedergeschlagen. Mireau ist gerächt.«
»Das genügt nicht«, meinte Churchill. »Wir müssen ihn und alle seine Zwillinge vernichten.«
»Er ist tot. Wirklich tot«, beharrte Croft.
»Er wird sich an einem sicheren Ort aufhalten«, überlegte Beauregard. »Vermutlich in Berlin. Das Ganze war ein Ablenkungsmanöver.«
»Nein«, versetzte Croft. Seine Finger schlossen sich um Beauregards Kehle. »Ich habe Recht, und Sie haben Unrecht.«
Sein Gesicht, halbverfault unter der straffen Haut, kam näher, geisterbleich und grün, mit Gipsstaub überpudert. Beauregard packte die Handgelenke des Vampirs und versuchte, sich aus seinem Würgegriff zu befreien.
Die Offiziere gaben sich alle Mühe, die beiden Streithähne zu trennen.
»He da«, schnauzte Haig, »sofort Schluss damit, ihr beiden. Hier wird nicht gerauft. Wir befinden uns im Krieg, falls Ihnen das entgangen sein sollte.«
Croft ließ ihn los und stieß ihn von sich. Beauregard schnappte hustend nach Luft und lockerte den Kragen, der seinen mit blauen Flecken übersäten Hals umschloss. Der Mann in Grau beruhigte sich, sackte kraftlos in sich zusammen. Beauregard hatte keinen Zweifel, dass die Karriere des Vampirs in Kürze einen schweren Rückschlag erleiden würde.
Haig und Pershing wurden sich einig und pflasterten die Straße nach Amiens mit britischen und amerikanischen Klötzchen. Schwarze Klötzchen, verstärkt durch mit Kreuzen markierte Papierstreifen, rückten beständig näher.
Das Bombardement dauerte an. Ein Ende war nicht abzusehen. Bei jedem Einschlag hüpften die Klötzchen über den Kartentisch. Telefonverbindungen wurden gekappt und wiederhergestellt.
Alle blickten auf den Tisch. Die Klötzchen lagen heillos durcheinander.
Bei dem Gedanken an die schrecklichen Verluste ging Beauregard ein Stich durchs Herz.
»Menschheitsdämmerung, ach, Menschheitsdämmerung …«

45

Dem Morden ein Ende

Das Wrack der Attila brannte taghell. Das Land jenseits des Waldes wimmelte von den Schatten der alliierten Soldaten, die sich nach Amiens zurückzogen. Die Straßen waren mit Lastwagen verstopft, und die Männer wateten durch Felder.
Die ungeheure Hitze, die der Untergang des Zeppelins freisetzte, versengte Winthrop das Gesicht. Er suchte den Himmel über und unter der Camel nach gegnerischen Fliegern ab. Wut und Enttäuschung nagten an seinen Eingeweiden. Womöglich war er der einzige Überlebende des Hahnenkampfes, der Letzte von Geschwader Condor und JG1. Und würde nie erfahren, was aus Richthofen geworden war.
Das wäre ein noch schlimmeres Los, als in einem Feuerball zur Erde zu stürzen. Nein. Nichts war schlimmer, als in einem Feuerball zur Erde zu stürzen. Nichts war schlimmer als Allards heldenhaftes Opfer, Brandbergs Bruch oder der Tod der vielen Dutzend Männer an Bord der Attila. Er musste den Verstand verloren haben.
Der Albert Ball in ihm bedrängte Winthrop, seinen Widersacher aufzuspüren und zu vernichten. Doch allmählich kamen ihm Zweifel. Das lag nicht so sehr an der Kate Reed in ihm. Sie war nicht sein Gewissen. Er vermisste sein altes Ich, den Knaben, der er gewesen war, bevor der Krieg einen Mann aus ihm gemacht hatte. Den Menschen, der er gewesen war, bevor der Krieg ein Ungeheuer aus ihm gemacht hatte. Er schuldete Catriona, und nicht zuletzt auch Beauregard, eine Erklärung.
Sein leidenschaftliches Verlangen, mit dem Baron ins Reine zu kommen, hatte ihn zum Monstrum werden lassen. Dieser neue, wunderliche Edwin Winthrop war kaum weniger abstoßend als Isolde, die sich auf offener Bühne Adern zog, oder die Fledermausstaffel des JG1, die dämonischen Ungeheuer des Kaisers.
Der eisige Flugwind rüttelte ihn wach, läuterte ihn. Er öffnete den Mund und sog die kalte Luft in seine Lungen. Dann umfasste er den Steuerknüppel und zog die Camel steil nach oben. Je höher er stieg, desto weiter entfernte er sich von dem blutigen Gemetzel. Er wollte die Erdatmosphäre durchbrechen und den Krieg mit seinem ewigen Kreislauf von Töten und Getötetwerden ein für alle Mal hinter sich lassen.
Da sah er den Flugdrachen, der sich dicht über den ausgebrannten Baumkronen bewegte und entschlossen auf sein Ziel zuhielt, einsam wie ein fressgieriger Hai. Die Wimpel des Geschwaderkommandeurs flatterten von seinem Fußgelenk. Richthofen. Der Flackerschein des Feuers färbte den Baron blutrot.
Winthrop hoffte, dass Richthofen der Letzte seiner Art war. Er hatte so viele Gestaltwandler vernichtet, dass der Anblick seinen Reiz verloren hatte. Sie bluteten und starben wie jedes andere Lebewesen.
Seine Zweifel ertranken in einer roten Flut. Seelenruhig ließ er die Camel sinken. Es grenzte an ein Wunder, doch er hatte noch Munition. In Bauchlage konnte der Gestaltwandler nicht schießen. Von hinten war Richthofen leichte Beute.
Der Baron war auf der Hut. Seine spitzen Fledermausohren mussten hochgradig empfindlich sein. Der Boche versuchte aufzusteigen und sich auf den Rücken zu drehen, so dass er die Camel ins Visier nehmen konnte, doch Winthrop zwang ihn mit einer kurzen Salve - schließlich brauchte er die Kugeln für den Abschuss - abzudrehen und in den Wald hinabzustoßen.
Winthrop zog nach oben, hielt sich wenige Fuß über den Wipfeln und beobachtete, wie der Baron sich einen Weg durch das verkohlte Astwerk bahnte. Obgleich er unglaublich behände war, bremsten ihn die dicht gedrängten Stämme. Er schien durch den Wald zu schwimmen. Das Feuer griff von der Attila auf die verdorrten Bäume über. Dichte Rauchwolken quollen gen Himmel, brannten Winthrop in den Augen, wirbelten um seinen Propeller.
Wenn der Baron im Wald gelandet wäre, hätte er die Nacht leicht überstehen können. Er hätte nur auf die vorrückenden Deutschen warten müssen und wäre als Kriegsheld nach Schloss Adler zurückgekehrt. Doch ein Manfred von Richthofen würde das Duell mit ihm nicht scheuen.
Das Wäldchen war nicht allzu groß. Winthrop ließ die Bäume hinter sich und flog über eine weite Ebene, die in einiger Entfernung zu einer flachen Hügelkette anstieg. In den Hügeln gab es alliierte Stellungen. Dorthin wollten die fliehenden Soldaten sich zurückziehen. Dort würden sie die deutsche Offensive niederschlagen. Oder den Krieg verlieren.
Winthrop wendete seine Maschine, gerade als Richthofen den Wald verließ und sich in den Himmel schwang, ein urzeitliches Ungeheuer mit Waffen aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Der Baron schoss, und Winthrop erwiderte das Feuer. Ein leuchtender Kugelhagel pfiff ihm um die Ohren. Plötzlich ertönte ein fürchterliches Krachen. Winthrop hatte Angst, sein Propeller könnte etwas abbekommen haben.
Sie stürzten aufeinander los und entgingen nur knapp einem Zusammenstoß. Winthrop spürte den Wind unter den Schwingen des Barons.
Wie es wohl war, ein solches Monstrum zu sein?
Er ging in eine enge Kurve. Da der Baron weitaus wendiger war als er, musste Winthrop das Letzte aus seiner Maschine herausholen.
Richthofen hatte nichts. Nichts, für das es sich zu kämpfen lohnte. Nichts als die sinnlose Anhäufung immer neuer Siege. Er war ein Kriegsmönch, der sein Leben ganz dem Vaterland gewidmet hatte. Das war seine größte Schwäche.
Winthrop wollte Richthofen nicht zum Opfer fallen. Doch er musste nicht mehr töten. Er wollte nicht mehr töten. Trotzdem schoss er mit seinem Zwillings-Lewis auf das Fledermausgeschöpf, das erbarmungslos auf ihn herabstieß.
Der Baron wich der Geschossgarbe aus. Er flog so dicht an ihm vorbei, dass Winthrop sein verwandeltes Gesicht deutlich erkennen konnte. Mit seinen blauen Menschenaugen und dem gefrorenen Fledermausgrinsen wirkte es wie eine tragische Maske, aus deren Mund ein Rinnsal roten Blutes troff.
Ein zweites Flugzeug war am Himmel. Es hielt sich dicht über den Bäumen und kam langsam, aber sicher näher. Ein zweisitziger Aufklärer. Winthrop hatte das Emblem am Rumpf sofort erkannt. Ein Hunne.
Die Camel befand sich schräg hinter dem Baron. Um Munition für die todbringende Salve zu sparen, gab Winthrop nur noch Einzelschüsse ab. Er beschleunigte und trieb Richthofen vor sich her.
Die Fledermaus flog Zickzacklinien, konnte sich aus dem Trichter, in den Winthrop sie gedrängt hatte, jedoch nicht befreien. Seine Munition ging zur Neige. Wenn der Baron noch länger außer Treffweite blieb …
Sie schwebten über freiem Feld, auf halber Strecke zwischen Wald und Hügeln, tief genug, um die wandernden Soldaten aufzuschrecken. Die Männer schrien und johlten, als Richthofen und Winthrop über sie hinwegschwirrten. Der Flugwind riss ihnen die Mützen vom Kopf. Gewehrläufe ragten gen Himmel, Schüsse krachten.
Verfluchte Idioten. Beide Parteien flogen so schnell, dass eine für den Vordermann bestimmte Kugel ohne weiteres seinen Verfolger hätte treffen können.
Der Aufklärer würde versuchen, der Camel auf die Pelle zu rücken, doch davor hatte Winthrop keine Angst. Das Jagdflugzeug konnte dem Aufklärer jederzeit davonfliegen und hatte zudem einen längeren Atem.
Vor ihnen explodierte eine Minenbombe, und die Feuersäule warf Richthofen aus der Bahn. Mit mächtigen Flügelschlägen schwang der Baron sich in den Himmel. Winthrop zog am Steuerknüppel und hatte ihn rasch eingeholt.
Der Mond brach durch die Wolken, als tue sich ein riesenhaftes Auge auf.
Winthrop bemühte sich, das Tempo zu halten, als er bemerkte, dass er Richthofen im Visier hatte. Er brauchte bloß noch auf die MG-Knöpfe zu drücken …
Seine Daumen waren gefrorener Stahl.
Vor ihnen blitzte Archie auf. Die Geschütze in den Hügeln legten einen Bombenteppich. Der Baron hielt direkt auf das schwere Flakfeuer zu.
Von den Explosionen ringsum abgelenkt, drückte Winthrop zu spät auf die MG-Knöpfe. Ein Silberstrahl schoss aus den Läufen seines Zwillings-Lewis. Rote Wunden explodierten in Richthofens Fell. Winthrop hatte den Baron markiert.
Er hielt die MG-Knöpfe gedrückt, doch sein Magazin war leer.
Richthofens gespreizte Schwingen senkten sich wie ein gigantischer Theatervorhang, der den ganzen Himmel zu verhüllen schien. Winthrop wusste, dass er wehrlos zwischen dem Roten Baron und dem Boche-Aufklärer hing. Wenn sie gemeinsam auf ihn losfuhren, bedeutete das seinen sicheren Tod. Aber vielleicht hatte es doch auch sein Gutes: zu sterben, statt mit dem Risiko zu leben, sich in ein noch übleres Monstrum zu verwandeln.
Wilde Mordlust brannte in den Augen der Kreatur. Der Baron war drauf und dran, seine Bilanz mit Edwin Winthrops Tod zu krönen.
Winthrop presste instinktiv die Daumen auf die MG-Knöpfe. Sein Zwillings-Lewis klickte, leer …
Dennoch erlitt Richthofen einen Treffer nach dem anderen, als ob Winthrop mit Geisterkugeln auf ihn feuern würde. Von blutigen Einschusslöchern durchsiebt und verzweifelt mit den Flügeln schlagend, wirbelte der Baron durch die Luft.
Winthrop traute seinen Augen nicht.
Die Flugabwehr hatte Richthofen erwischt. Urplötzlich aus seinem Jagdfieber gerissen, wurde Winthrop klar, dass das Archie für ihn ebenso tödlich war wie für den Hunnen, und er zog die Camel steil nach oben, über den sterbenden Flieger hinweg. Während er sich in den Himmel schraubte, sah er Richthofen zitternd in der Luft stehen, wie von der geballten Wucht der Kugeln an ein unsichtbares Kreuz genagelt.
Die gespreizten Schwingen hingen in Fetzen. Sein Körper schrumpfte, seine MGs wurden zu Bleigewichten. Die tote Kreatur stürzte mit verrenkten Gliedmaßen zur Erde und versank in einem Meer von Feuer und Finsternis.
Schlagartig kam Winthrop zur Besinnung, und er fragte sich, was er unter fremdem Himmel verloren hatte.

46

Walhalla

Als sie wieder festen Boden unter den Rädern hatten, war Poe nicht mehr der Alte. Sein erster Flug war ein einziger Alptraum gewesen. Von allen irdischen Fesseln befreit, war er in einen Strudel des Chaos geschleudert worden, einen Mahlstrom des Schreckens, der seine Vision mit sich gerissen hatte.
Die Attila war verloren, und eine mächtige Flammenwolke verschlang den Vater des europäischen Vampirismus. Baron von Richthofen war tot, sein zerschossener Leichnam hatte sich noch in der Luft zurückverwandelt. Der rote Kampfflieger war unvollendet; er würde mit einem Nachruf anstelle eines Schlusskapitels erscheinen müssen. Die Offensive hatte die Front durchbrochen, doch um welchen Preis?
Theo ließ das Flugzeug auf der kleinen Landebahn am Seeufer ausrollen. Der Schatten von Schloss Adler zeichnete sich drohend gegen den dunklen Himmel ab. Nirgendwo war Licht zu sehen. Das Schloss wirkte wie ausgestorben. Die Maschine kam ruckartig zum Stehen, und die Räder versanken in der grasbewachsenen Erde. Die plötzliche Ruhe, die Gelassenheit, die ihn mit einem Mal befiel, bereitete Poe Unbehagen. Sein Gesicht war mit einer Kruste aus getrockneten Tränen überzogen.
Theo sprang aus seinem Cockpit, riss sich Fliegerhaube und Handschuhe herunter und warf sie achtlos fort.
Was nun?
 
Das Portal stand einen Spaltbreit offen. Als er eintrat, wusste Poe, dass Schloss Adler unbewohnt war. Noch bis vor kurzem war es von hektischer Betriebsamkeit erfüllt gewesen. Jetzt hallten seine Schritte klappernd durch die kahlen Räume. Die Stellung war verlassen.
Theo schien nicht weiter erstaunt. »Orlok ist vermutlich auf dem Rückweg nach Berlin, um seinem Herrn und Meister Meldung zu erstatten. Dracula wird wissen wollen, ob seine Machenschaften zum Erfolg geführt haben.«
»Dracula? Aber der kann unmöglich noch am Leben sein. Er ist mit der Attila untergangen!«
Theo schüttelte verdrossen und angewidert den Kopf.
»Das war ein Betrüger, einer von vielen armseligen Narren in Verkleidung, um die Entente zu übertölpeln. Er diente als Zielscheibe und hat seinen Zweck erfüllt. Der Feind war so damit beschäftigt, ihn vom Himmel zu holen, dass er darüber glatt vergessen hat, sich für die Bodenoffensive zu rüsten.«
»Und wer war er? Der Vampir an Bord der Attila?«
»Ein ungarischer Schauspieler. Ein Leinwandheld aus Lugos. Ein direkter Nachkomme Draculas. Der darauf gedrillt war, als sein Doppelgänger zu fungieren. Und es gab noch mehr von seiner Sorte. Alles in allem ein gutes Dutzend.«
»Aber … die Besatzung der Attila, das Luftschiff selbst?«
»Nichts als Schall und Rauch, die Szenerie des grandiosen Schauspiels …«
»Und wer steckt hinter diesem Komplott?«
Theo wies auf ein großes, wenig künstlerisch, doch sehr martialisch wirkendes Porträt. Graf von Dracula neben dem Kaiser, in lamettastrotzender Paradeuniform, mit nadelspitzen Schnurrbartenden.
»Die beiden.«
 
Auch Hanns Heinz Ewers war zurückgeblieben. Jemand hatte sich die Mühe genommen, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen, wenn auch nur eine aus Blei. Er presste die beiden Hälften seines Schädels zusammen, damit der Riss verheilen konnte.
Poes Gedanken überschlugen sich. Er hatte Ruhm und Ehre gesucht und Mörder und Halunken gefunden.
Theo warf einen teilnahmslosen Blick auf Ewers’ Wunden und attestierte dem Vampir eine gute Überlebenschance.
»Wer war das?«, fragte Poe.
»Nur ein Flieger … ist hierher zurückgekehrt«, antwortete Ewers mit schmerzverzerrter Miene. »Göring. Er wollte Ihr Manuskript, Poe.«
»Der Registrator«, sagte Theo. »Das leuchtet ein. Solange Aufzeichnungen existieren, werden sie den Krieg gewonnen haben. Die Deutschen haben zu viele Helden. Die Buchhalter müssen sie ausmerzen. Göring, Mabuse, Dracula. Allesamt Buchhalter, keine Soldaten. Denken Sie nur an den Grafen und seine geliebten Eisenbahnfahrpläne. Glänzende Ruhmestaten verkommen in den Händen dieser Börsenmakler und Finanzbeamten zu blassen Zahlen.«
»Und mein Manuskript? Wo ist es?«
Ewers versuchte ein Lächeln. »Göring wollte es nach Berlin schaffen. Um es zu veröffentlichen. Das musste ich verhindern.« Ewers verdrehte die Augen in Richtung seiner Kopfverletzung. »Ich weiß auch nicht, weshalb ich meine grauen Zellen daran verschwendet habe, Ihr Werk vor seinen Verlegern zu retten. Sie sind mir auf den Tod zuwider, aber ich würde alles darum geben, wenn ich Ihre Fähigkeiten besäße, so verbraucht und verkümmert sie auch sind. Nennen Sie es meinetwegen Neid. Deshalb habe ich versucht, Ihr Buch zurückzuhalten. Aus Neid.«
Der Verwundete fummelte ungeschickt am Kragenknopf seines zu engen Waffenrocks. Theo half ihm, seine Kleider zu lösen, damit er Atem schöpfen konnte. Mit Poes Handschrift bedeckte Seiten quollen hervor.
»Sie sind ein großer Schriftsteller, Herr Poe. Das muss ich Ihnen lassen. Aber Sie sind vollkommen verrückt. Ich habe Ihnen vermutlich einen Gefallen erwiesen. Göring hat nur die ersten drei Seiten Ihres Manuskripts, ergänzt durch einige meiner Erzählungen. Solide Arbeit, aber vergebene …«
Ewers verlor das Bewusstsein. Theo stand auf, seine Hände waren blutverschmiert. Poe hatte sein Entsetzen abgeschüttelt und versuchte krampfhaft, die Zusammenhänge zu ergründen. Endlich hatte er die fehlenden Steine des Puzzles in der Hand.
 
Poe und Theo standen am Seeufer und warteten auf den Sonnenaufgang. Der Schlachtenlärm hatte sich hinter die Linien, in feindliches Gebiet, verzogen.
»Helden machen ihnen Angst, Eddy. Diesen armseligen Gestalten mit ihren armseligen Büchern. Sie dürsten nach Ruhm und laben sich daran wie wir an fremdem Blut. Ihr Buch sollte ein Denkmal werden, ein glanzvolles Monument zum Ansporn immer neuer unerschrockener Helden. Sie werden verglühen wie Kometen und elendig krepieren, während die Buchhalter sich weiterhin durch die Jahrhunderte schleimen. Millionen sind in diesem Krieg gestorben. Anonyme Opfer. Das hat Dracula aus uns gemacht. Nichtssagende Namen in einem Buch der Toten.«
Poe betrachtete sein Manuskript. In diesem Buch schwelte der Funke des Genialen. Es war ein Traum, eine Erleuchtung. Die Geschichte dieses wackeren Ritters der Zukunft würde in Generationen junger Knaben den Wunsch wachrufen, ihrem deutschen Vaterland zu dienen wie dereinst Manfred von Richthofen.
»Dracula schert sich einen Dreck um die Richthofens, Eddy. Um die Großen, Tapferen und Besessenen. Er umgibt sich lieber mit Leuten wie Göring, blödsinnigen Bürokraten des Todes.«
Poe ließ die ersten Seiten des Manuskripts auf den See hinauswehen. Als sie auf der glatten Wasseroberfläche schwammen und die Tinte zu verlaufen begann, ging ihm ein Stich durchs Herz. Dies waren vielleicht die letzten Worte seines Genius, die letzten Worte, die er jemals schreiben würde. Er versank in dumpfem Brüten.
Theo legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. Plötzlich sprang Poe auf und warf die Blätter in die Luft. Sie bauschten sich zu einer weißen Wolke, schneiten auf den See herab, ballten sich zu nassen Klumpen und trieben noch ein Stück übers Wasser, ehe sie in die Tiefe gerissen wurden. Poe zog seinen Rock aus, ließ den Daumen über die frisch erworbenen Rangabzeichen gleiten und warf das Ding dann in den See, wo es unter einem Teppich aus Papier verschwand.
»Hiermit nehme ich meinen Abschied«, sagte er.
Poes Rockärmel baumelten wie die Arme einer Leiche. Eine unbekannte Strömung in der Mitte des Sees zerrte den Mischmasch aus Manuskript und Mantel in ihren bodenlosen Schlund. Das tiefe, düstere Gewässer schloss sich langsam, lautlos über dem Fragment des roten Kampffliegers.
»Bleiben Sie hier, die Franzosen werden früher oder später wiederkommen«, sagte Theo. »Dann können Sie ein neues Buch schreiben. Ein hellsichtiges Buch, das der Wahrheit zu ihrem Recht verhilft.«
»Die Wahrheit interessiert mich wenig, Theo.«
Der Offizier zuckte die Achseln. »Das wundert mich nicht.«
»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Poe.
Ehe er sich umwandte und dem Schatten des Schlosses den Rücken kehrte, verzog Theo den Mund zu einem verschmitzten Lächeln und sagte: »Ich werde kämpfen, Eddy. Kämpfen für mein Vaterland.«

47

Nachwelten

Mit leeren Magazinen und fast leerem Tank hielt Winthrop nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau. Maranique war vermutlich längst in deutscher Hand und kam somit nicht infrage, deshalb suchte er nach einer der Auffangstellungen bei Amiens. In der Aufregung hatte er die Orientierung verloren.
Er richtete sich nach den Sternen und flog nach Osten. Unter ihm eilte Verstärkung in Richtung Kampfgebiet. Endlose Schlangen von Soldaten auf dem Rückzug ließen sie vorbei oder gruben sich ein, um Front zu machen. Zumindest hatte man ihm das Hunnenland nicht einfach unter den Rädern weggezogen wie einen Teppich. Auch wenn er nicht zu landen und sich zu ergeben brauchte.
Nun, da ihn Ball und Kate verlassen hatten, konnte er endlich wieder klar denken, als sei er soeben aus einem bösen, aber überwältigenden Traum erwacht. Und doch war er erschöpft, vergessene Wunden quälten ihn, und er spürte den Verlust. Ohne Balls Hilfe war er leider nur ein mäßiger Pilot.
Der Steuerknüppel zitterte in seiner Hand. Noch bis vor wenigen Minuten war er ein fester Bestandteil seiner Maschine gewesen. Jetzt saß er auf dem Rücken einer bockbeinigen Bestie, die alles daransetzen würde, ihn abzuwerfen, sobald er auch nur die geringste Schwäche zeigte. Der Motor hustete, und die Verspannung ächzte.
Er geriet in Versuchung, einfach am Steuerknüppel zu ziehen und in die Nacht, ins Nichts emporzufliegen. Er war nur mehr ein Schatten seiner selbst, weder der Mensch, der er einmal gewesen war, noch das Ungeheuer, in das er sich verwandelt hatte.
Doch sein Lebenswille war stärker. Er tastete nach dem Knüppel und drückte die Maschine, bis die Blase in der Wasserwaage sich in Position befand. Er war fest entschlossen, das nächste durchgehende Stück Straße oder Wiese als Rollfeld zu benutzen. Doch im Augenblick wimmelte der Erdboden von Menschen. Das jahrelange Patt schien aufgehoben, und der Bewegungskrieg ging weiter.
Links unter ihm brannten vertraute Lichter.
Funkensprühende Signalfackeln markierten eine Piste. Hoffentlich war der Kommandeur der Truppe so klug gewesen, die Landebahn räumen zu lassen. Der Treibstoff reichte nicht, um eine Schleife zu fliegen und das Gelände zu sondieren. Also hielt er auf die violetten Lichter zu und zog die Camel herunter.
Die Räder holperten durch hohes Gras. Die Maschine prallte vom Boden ab, und die Rumpfnase kippte nach vorn. Winthrop wusste, dass sich die Camel überschlagen und ihn kopfüber in die Erde rammen würde.
Jaulend riss ein Draht und peitschte ihm ins Gesicht. Die Maschine konnte jeden Augenblick koppheister schießen. Mit einem gezielten Schlag auf den Sicherheitsverschluss löste er seinen Gurt und wurde aus dem Sitz katapultiert. Der Steuerknüppel traf ihn in den Bauch und zwischen die Beine. Die Tragflächen knickten weg. Dann plötzlich drehte sich alles im Kreis, und er schlug mit dem Schädel auf. Zentnerschwere Trümmer begruben ihn unter sich.
Schreie drangen an sein Ohr. Stechender Benzingeruch stieg ihm in die Nase.
Leblos wurde er aus dem Wrack gezerrt. Er hörte, wie der Treibstoffrest mit lautem Krachen explodierte, und spürte einen Schwall warmer, ölgetränkter Luft. Flammenpfeile regneten vom Himmel.
Der Tod streckte die Hand nach ihm aus, schloss die Finger um sein Herz und seine Seele, doch er entriss sich seinen Klauen und schrie aus Leibeskräften vor lauter Freude über sein neu gewonnenes Leben. Er rang nach Atem, und starke Arme setzten ihn auf.
Als er die Augen öffnete, sah er seine Camel lichterloh brennen.
»Wetten, das machst du so schnell nicht wieder«, sagte jemand.
 
Sie war mit den Verwundeten auf einen Lastwagen verfrachtet worden. Schon nach wenigen Meilen über ausgefahrene Straßen waren die meisten von ihnen dahin. Kate hatte zwar mehrere Treffer, aber keine Silberkugel abbekommen. Der Matsch an ihren Kleidern war getrocknet, und der steife, schmutzstarrende Stoff umhüllte sie wie eine Mumie. Ihren erbeuteten Stahlhelm hatte sie verloren.
Sie war benommen, ihrem Körper merkwürdig entrückt. Ohne weiteres hätte sie in die Finsternis davonflattern und einen lebenden Leichnam hier zurücklassen können. Ob er ohne sie weiterexistieren würde? Vielleicht wurden Vampire auf diese Art und Weise zu hirnlosen, vom Durst getriebenen Ungeheuern?
Der Knabe in ihren Armen nannte sie Edith. Sie versuchte ihn trotzdem zu trösten. Blut sickerte durch seine Feldverbände, doch sie wollte es nicht trinken. Zum ersten Mal seit ihrer Verwandlung war ihr der Appetit auf Blut vergangen.
Geneviève hatte ihr einmal gesagt: »Wir Vampire trinken Blut nicht aus Notwendigkeit, sondern zum Vergnügen.« Kate hatte es satt, Geneviève nachzueifern. Es war an der Zeit, sich dem zwanzigsten Jahrhundert zu stellen. Statt die kommenden fünf Wochen damit zu verplempern, ihr Haar von Schmutz und Dreck zu säubern, würde sie es stutzen und zu einem Bubikopf frisieren lassen. Die Schlammmaske, die ihr Gesicht bedeckte, wurde rissig und begann zu bröckeln.
Der Lastwagen hielt am Straßenrand, um Verstärkungen passieren zu lassen. Britische Tanks rollten donnernd in die Schlacht gegen die deutschen Panzer. Ein Zug milchbärtiger Amerikaner rief dem Leichenwagen im Vorbeifahren ein paar aufmunternde Worte zu und warf Zigarettenpäckchen auf die Ladefläche.
Obwohl sie keine Zündhölzer hatte, schob Kate sich einen Glimmstängel zwischen die Lippen. Der herbe Geschmack des Virginiatabaks versetzte sie in einen sanften Rausch.
Da sie im dichten Kampfgetümmel gesteckt hatte, konnte sie nicht wissen, was geschehen war. Die deutsche Offensive hatte die Linien auf breiter Front durchbrochen, und die Alliierten warfen stille Reserven in die Schlacht. Es gab zwei Möglichkeiten. Sie würden den Krieg entweder gewinnen oder verlieren.
Der Lastwagen verließ die Straße und holperte über ein Feld, ächzte über noch kaum befahrene Bretterroste.
In einem Wäldchen loderte ein großes Feuer, ein Zeppelin war abgestürzt. Kate reckte den Hals und sah, wie das riesige Rippenskelett des Schiffes in sich zusammenfiel und in einem Flammenmeer versank. Die Hitze riss Ediths jungen Mann aus seinen Fieberträumen, und der Knabe wandte neugierig den Kopf.
 
»Die ganze Gegend ist ein einziges Inferno«, sagte er.
In der Zeltstadt am Rande des Flugplatzes tummelten sich etliche Soldaten, Flieger aus vorgeschobenen Stellungen, die ebenfalls den Rückzug angetreten hatten. Winthrop suchte sich ein halbwegs trockenes Fleckchen Gras und ließ sich nieder. Jemand gab ihm eine Zigarette und Feuer. Er wollte wissen, ob außer ihm noch jemand vom Geschwader Condor mit heiler Haut davongekommen war. Alle nickten, doch niemand konnte Namen nennen.
Die Piloten standen über den Platz verstreut, in verschwitzten Fliegerkluften, mit Rußringen um die Augen. Manche litten stumme Qualen, die meisten waren zu Tode erschöpft. Der stellvertretende Sergeant Chandler, ein Amerikaner in nagelneuem Arbeitszeug der Royal Air Force, hatte die Aufgabe, ein Register der Männer und Maschinen zu erstellen, die ihren Einsatz unbeschadet überstanden hatten.
»Sind Sie Warmblüter?«, erkundigte er sich bei Winthrop.
Der dachte kurz nach und bejahte dann.
»Gratuliere«, sagte Chandler. Im Gegensatz zu den meisten seiner Schäfchen war der Sergeant kein Vampir. »Gratuliere wärmstens.«
»Ich gehöre zum Geschwader Condor. Haben Sie sonst noch jemanden aus meiner Truppe auf Ihrer Liste?«
Chandler sah in seinen Papieren nach.
»Ein Glückspilz namens Bigglesworth, der schon vor Wochen abgeschossen wurde, ist heute Abend hier aufgetaucht. Er hat sich zu Fuß hinter die Linien durchgekämpft.«
»Grundgütiger!«
»Sonst niemand. Aber geben Sie die Hoffnung nicht auf. Hier herrscht ein heilloses Durcheinander.«
Plötzlich brachen die Männer in erstickte Beifallsrufe aus. Eines der Zelte hatte Telefon, und soeben war eine gute Nachricht eingetroffen.
»Haben wir’s den Schweinehunden heimgezahlt?«, fragte Chandler einen grinsenden jungen Piloten.
»Nein, viel besser. Richthofen ist tot. Der Abschuss ist amtlich. Die Aussies haben ihn erwischt. Schweres Archie.«
»Einer von unseren Jungs hätte ihn runterholen sollen«, sagte ein britischer Geschwaderkommandeur. »Ein Pilot. Als Rache für Hawker, Albright und Ball.«
»Ball geht nicht auf Manfred, sondern auf Lothar von Richthofens Konto.«
Schon wurden die Tatsachen verdreht. Winthrop hatte dem Baron kurz vor dem Ende eine Ladung auf den Pelz gebrannt. Er hätte den Abschuss für sich reklamieren können. Doch er zog es vor zu schweigen und spitzte die Ohren.
»Man munkelt, dass er mit militärischen Ehren bestattet werden soll. Von wegen Sportsgeist und so.«
»Man sollte ihm den Kopf abschneiden, ihm das verdammte Maul mit Knoblauch stopfen und ihn dann mit dem Gesicht nach unten und einem Silberpflock durchs finstere Herz an einer Wegkreuzung verscharren.«
»Findest du das nicht ein bisschen übertrieben?«
Winthrop hörte nicht mehr hin. Für ihn war dieser Krieg beendet.
Kate fühlte sich so weit wiederhergestellt, dass sie ihren Platz einem Verwundeten abtreten wollte, der ihn nötiger hatte als sie. Also überließ sie Ediths jungen Mann sich selbst und hüpfte von der Wagenpritsche. Sie war noch etwas wackelig auf den Beinen.
Bei jedem Schritt ergoss sich ein Sturzbach trockener Erde aus ihren Kleidern. Sie hätte hundert Jahre ihres Lebens für ein heißes Bad gegeben. Während die ersten Sonnenstrahlen in den Himmel sickerten, drängte sie sich durch die Menge und schnappte Klatsch, Gerüchte, Neuigkeiten auf.
Die meisten waren sich einig, dass der deutsche Vorstoß zum Stillstand gekommen sei. Die einen meinten, die Alliierten hätten den Boche in eine Falle gelockt und ihn aus rückwärtigen Stellungen beschossen und vernichtend geschlagen. Die anderen glaubten, die Deutschen seien so tief in das Gebiet des Feindes vorgestoßen, dass die Soldaten den lieben Gott einen frommen Mann sein ließen, tatenlos durch die Gegend streiften und die reich bestückten Offiziersmessen der Alliierten plünderten. Nach Jahren des Hungers und der Blockaden wurde der Duft von frischem Brot dem Hunnen zum Verhängnis.
Kate fragte sich, ob sie es jemals fertigbringen würde, über die vergangene Nacht zu schreiben.
Sie lief ziellos vor sich hin. Es ging das Gerücht, dass Richthofen den Tod gefunden habe. Damit war der Fall erledigt.
 
Bei Tagesanbruch suchten die Piloten in den Zelten Schutz. Winthrop rollte seine Fliegerkluft zu einem Kissen zusammen und streckte sich auf der Wiese aus. Die Frühlingssonne schien ihm ins Gesicht. Das Schlachtgetöse hatte sich verzogen.
Chandler teilte ihm mit, dass drei seiner Kameraden des Geschwaders Condor auf einem anderen Hilfsflugplatz gesichtet worden seien: Cary Lockwood, Bertie und Ginger. Sie waren also doch nicht vollständig vernichtet worden.
Ob vom JG1 noch jemand lebte? Aber das spielte keine Rolle. Ihr Anführer war tot. Der Schrecken war gebannt.
Winthrop konnte Richthofen nicht länger hassen. Falls die Alliierten den Baron mit militärischen Ehren bestatteten, würde er sich als Sargträger zur Verfügung stellen oder freiwillig über dem Hunnenland aufsteigen und die Glücksbringer des Gestaltwandlers abwerfen. Das, so hoffte er, wäre sein letzter Flug.
Das Rollfeld und die helle Sonne erinnerten ihn an ein früheres Leben. Kricket in Greyfriars. Frühlingsspaziergänge mit Catriona. Er musste einiges in Ordnung bringen. Ein wilder Schmerz in seinem Knie erinnerte ihn an das Niemandsland. Manches würde nie in Ordnung kommen.
 
Kate entdeckte einen kleinen, munteren Bach. Alle Scham beiseitelassend, streifte sie ihre schlammstarrenden Kleider ab, breitete sie im Bachbett aus und beschwerte sie mit Steinen.
Sie blickte an sich hinunter und sah den mit Blut und Dreck verschmierten Körper einer Wilden. Ihre notdürftig verheilten Wunden waren mit einer dicken Schorfschicht überkrustet.
Eine Reihe von Soldaten pfiff und johlte im Vorübergehen. Da sie frisch aus Paris eingetroffen waren, hatten sie in den Folies-Bergère zweifellos Besseres zu Gesicht bekommen.
Sie setzte sich in den Bach und badete im sonnenwarmen, bunt glitzernden Nass. Dann sank sie nach hinten wie Ophelia und ließ ihr Haar im Wasser treiben. Staub und Erde lösten sich von ihrer Haut und wirbelten davon. Sie schloss die Augen und versuchte zu vergessen.
 
Die warmblütigen Männer hatten starken Tee gebraut. Da es keine Becher gab, trank Winthrop aus einem Napf. Endlich war ein zweiter Angehöriger seines Geschwaders eingetroffen. Jiggs, der Mechaniker, mit einer unglaublichen Geschichte von einem glänzenden Paar deutscher Stiefel, denen er nur um Haaresbreite entkommen war.
Die Offensive war allem Anschein nach gescheitert. Das Gerücht vom Tode Draculas machte die Runde, war jedoch ebenso schnell wieder verschwunden, wie es aufgekommen war.
»Der Himmel hat uns eine Wassernymphe beschert«, sagte Chandler. »Bei den Hilfshangars droht eine Badenixe zu ertrinken. Sie trägt Ohrringe, sonst nichts.«
 
Ein langgezogener Pfiff riss sie aus ihren Träumereien. Sie öffnete die Augen und stützte sich auf die Ellbogen. Am Bachufer stand ein Mann mit den Händen in den Taschen.
»Sieh mal einer an, Miss Maus«, sagte Edwin. »Die Sonne bringt Ihre Sommersprossen hervorragend zur Geltung.«
Sie schloss die Augen und ließ den Kopf wieder ins Wasser sinken.

48

England ruft

Er nahm keine Anrufe entgegen. Beauregard saß in seinem Haus im Cheyne Walk. Der Schreibtisch war mit ungeöffneten Briefen übersät. Sein Diener Bairstow hatte sie, wie jeden Morgen, fein säuberlich dort ausgebreitet.
Sein Blick fiel auf einen schmalen, mit blassvioletter Tinte adressierten Umschlag. Er war versucht, ihn aufzureißen, befürchtete jedoch, von neuem in einen Strudel der Empfindungen gestürzt zu werden, dem er nur mit knapper Not entronnen war. Geneviève zog den Ärger magisch an, und das schon seit Jahrhunderten. Er liebte sie wahrscheinlich immer noch. Unnützer Gefühlsballast. Briefträger und Boten hatten Dienstsachen mit dem Stempelaufdruck »DRINGEND« überbracht. Auch sie waren ungeöffnet.
Da er keine Zeitung las, schilderte Bairstow ihm den Kriegsverlauf in groben Zügen. Dass Caleb Croft seines Amtes enthoben worden war, verschaffte ihm wenig Befriedigung. Ruthven hatte unzählige Männer seines Schlages in petto, die mit Freuden an seine Stelle getreten wären.
Dracula war in Berlin gesehen worden. Nach einer Auseinandersetzung mit dem Kaiser hatte er den Palast wutentbrannt verlassen. Hindenburg war zum Oberkommandierenden der Heere aufgestiegen, die nach ihren jüngst erlittenen Schlappen zerstört und demoralisiert am Boden lagen. Dracula hatte die Verantwortung für das endgültige Scheitern der Kaiserschlacht auf sich genommen. Wie es schien, hatte die Opferung seiner Doppelgänger unter den Mannschaften und Offizieren zu großer Verwirrung und noch größerem Moralverlust geführt. Mittelalterliche Taktiken taugten eben nicht für dieses Jahrhundert. Doch Draculas Entmachtung war vermutlich nur von kurzer Dauer. Unkraut verging nicht.
Er sah sich alte, gerahmte Fotografien an. Die Kamera verwandelte all ihre Opfer in Vampire, konservierte ihre Jugend für die unbekannte Zukunft. Auf einem Bild posierte die unsterbliche Pamela am Fluss, umringt von einer Schar kleiner Mädchen in Matrosenanzügen. Im Hintergrund war unscharf ein Boot zu erkennen. Die Mädchen waren Penelope, Kate, Lucy und Mina. Warmblütig und leicht zerzaust, wussten sie noch nicht, was einst aus ihnen werden würde.
Auch Mrs. Harker hatte ihm geschrieben. Wie eh und je mischte sie sich ungefragt in anderer Leute Angelegenheiten. Sie versuchte ihn zu neuen Taten zu bewegen.
Bairstow trat ins Zimmer, eine Visitenkarte lag auf seinem Zinntablett. Das Silber hatten sie bereits vor Jahren den Kriegsanstrengungen geopfert. Beauregard hob abwehrend die Hand, doch ein langbeiniges Spinnentier in Grau stieß den Bediensteten brüsk beiseite.
»Beauregard, was bilden Sie sich eigentlich ein? Haben Sie auch nur den leisesten Schimmer, wie viele dringende Angelegenheiten meine ungeteilte Aufmerksamkeit erfordern? Stattdessen bin ich gezwungen, mich wie ein gemeiner Krämer persönlich hierherzuverfügen, um Ihnen eine Antwort zu entlocken!«
Ruthven war sichtlich erregt. Von Churchill wusste Beauregard, dass das Kabinett gespalten war. Lloyd George hatte sich als außerordentlich halsstarrig erwiesen. Die Stellung des Premierministers war zwar gefestigt, aber keineswegs sicher.
Lord Ruthven war nicht allein gekommen. Er befand sich in Begleitung von Smith-Cumming, dessen Bein vollständig nachgewachsen war.
»Der Diogenes-Club hat seine Pforten neuen Mitgliedern geöffnet«, verkündete Smith-Cumming.
»Crofts Leute haben uns nur Ärger eingebracht«, wetterte der Premierminister. »Seine schwachköpfigen Attentatsfantastereien hätten uns beinahe den Sieg gekostet. Das Vaterland braucht kluge Köpfe.«
»Mycrofts Platz als Vorsitzender der Clique ist frei geworden«, sagte Smith-Cumming. »Und nur ein Mann kommt als sein Nachfolger infrage, Beauregard.«
Er betrachtete die beiden Vampire, den untüchtigen Ältesten und den grundsoliden Neugeborenen. Ruthven hielt das Staatsruder fest in der Hand, obgleich seine Gegner sich gegen ihn verschworen hatten. Smith-Cumming war ein verlässlicher Mann. Und, Bluttrinker hin oder her, verlässliche Männer waren selten.
Mycroft hatte viel Gutes aus der Vergangenheit in dieses unsichere Jahrhundert herübergerettet. Ohne ihn gingen eitle, selbstsüchtige Gecken wie Ruthven oder Croft in ihrem sinnlosen Machtstreben über Leichen.
»Beauregard, bitte«, flehte der Premierminister.
Während der Abwesenheit von Croft und dem Diogenes-Club wurde der britische Geheimdienst von einem Schulmeister geleitet, der Chiffreschriften in Abbildungen von Schmetterlingen zu verstecken pflegte. Die Ergebnisse waren entsprechend dürftig.
»England braucht Sie, Beauregard«, beharrte Ruthven. »Ich brauche Sie.«
Aber braucht England Lord Ruthven?, dachte Beauregard.
Er warf einen verstohlenen Blick auf das Foto seiner Frau. Pamela schien ihn zweifelnd anzusehen. Sie hätte ihm geraten, standhaft zu bleiben.
»Nun gut«, sagte Beauregard. »Ich nehme Ihr Angebot an.«
Smith-Cumming klopfte ihm auf den Rücken. Ruthven gönnte sich ein Lächeln der Erleichterung.
»Unter bestimmten Bedingungen.«
»Ich bin mit allem einverstanden«, winkte der Premierminister ab.
»Wir werden sehen«, meinte Beauregard.

49

Gute Vorsätze

Ehe sie ihn ziehen ließ, musste er seine Schuld begleichen. Zu diesem Zweck nahmen sich Kate und Edwin ein Hotelzimmer in Calais. Sie hatten sich geliebt, und nun ließ sie ihn sanft zur Ader. Er schmeckte anders als zuvor. Von seinem roten Durst war nichts zurückgeblieben. Sein Blut wärmte sie, schenkte ihr neue Kraft.
Leicht benommen sank Edwin in Halbschlaf, während sie sich zärtlich an ihn schmiegte. Sie war erhitzt, und die Sommersprossen auf ihrer Brust stachen wie Nadelspitzen.
Sie hatte Anspruch auf ein wenig Liebe. Ihr Leben lang war sie dazu entweder zu schüchtern oder zu beschäftigt gewesen. Diesmal war alles anders. Diesmal hatte sie den Soldaten, eine Weile wenigstens, für sich, auch wenn er danach zu seiner Pfarrerstochter zurückkehren würde. Falls Catriona die Frau war, für die Kate sie hielt, hatte sie nichts dagegen einzuwenden. Sie befanden sich in Frankreich. Sie befanden sich im Krieg. Hier galten andere Regeln.
Sie ließ die Zunge über ihre Zähne gleiten. Sie war satt, und ihre Hauer hatten sich in den Kiefer zurückgezogen.
Edwin suchte ihre Nähe, murmelte den falschen Namen. Auch das war sie gewohnt. Jeder Mann, der ihre Nähe suchte, meinte eigentlich eine andere.
Morgen würden sie den Kanal überqueren. Aber morgen war noch weit. Kate legte den Kopf auf Edwins Brust und presste ihre Lippen auf seinen Hals. Seine Erregung war geweckt. Ihr Haar strich über sein Gesicht. Er nahm sie bei den Hüften und zog sie auf seinen Schoß. Sie begann an seinem Hals zu saugen, biss ihn jedoch nicht.
 
In England war plötzlich alles anders zwischen ihnen. Edwin schien von einer merkwürdigen Nervosität befallen, die während der Überfahrt beständig zunahm. Schleichende Melancholie ergriff von ihr Besitz. Obgleich sie wusste, was geschehen würde, war sie nur ungenügend darauf vorbereitet.
In ihren gemeinsamen Nächten hatte er ihr einiges von seiner Zeit beim Geschwader Condor erzählt, insbesondere von seinem letzten Flug. Obwohl er offiziell keinerlei Ansprüche erhoben hatte, wusste sie, dass er seinen Teil zum Abschuss Manfred von Richthofens beigetragen hatte. Sie versprach ihm hoch und heilig, ihn in ihren Berichten nicht als Helden zu feiern.
Die vergangenen Wochen konnte ihnen niemand nehmen. Niemand außer ihnen würde je begreifen, wie sie zu solchen Ungeheuern, solchen Bestien hatten werden können.
Es war eine wunderschöne, mondhelle Frühlingsnacht. Unter anderen Umständen wäre dies ein romantischer Bootsausflug gewesen. Edwin stand gedankenverloren an der Reling und sah nach Frankreich hinüber. Für ihn, für alle Überlebenden kam das europäische Festland einem Friedhof gleich.
Manchmal verstummte Edwin, und dann wusste sie, dass er in den Abgründen seiner zerrissenen Seele unwiederbringlich Verlorenem nachspürte. Sie hatte keine Ahnung, ob er gebrochen oder nur angeschlagen war. Er wurde von Minute zu Minute distanzierter, kühler. Noch war ein letzter Rest Vampir in ihm, und ein Eismantel umschloss sein Herz. Keiner von ihnen hatte seinen Frieden mit dem Krieg gemacht.
 
Charles wartete an der Victoria Station. Auf sie beide. Einen Augenblick lang befürchtete Kate, er könne Polizeibeamte bei sich haben, um sie verhaften und nach Devil’s Dyke bringen zu lassen. Sie entdeckte Sergeant Dravot in der Menge.
Charles schüttelte Edwin die Hand, und Edwin stammelte eine Entschuldigung, die Charles lächelnd beiseitewischte. Er wusste, dass Edwin nicht mehr er selbst gewesen war.
»Sie haben Urlaub«, sagte Charles. »Und den werden Sie vermutlich im West Country verbringen wollen.«
»Erst einmal muss ich von den Toten auferstehen.«
»Da Sie nach wie vor unter den Lebenden weilen, dürfte Ihnen das nicht allzu schwerfallen«, meinte Kate.
»Sie haben leicht reden. Sie sind Miss Catriona Kaye schließlich keine Erklärung schuldig.«
»Sie auch nicht, Edwin. Glauben Sie mir, sie wird keine Erklärung fordern. Sie wird froh sein, dass sie ihren Liebsten wiederhat.«
Ihr Edelmut war geradezu beängstigend. Sie schüttelte Edwin die Hand und warf ihm einen flüchtigen Kuss zu. Alles ging sehr freundschaftlich vonstatten. Ihre Augen füllten sich mit heißen Tränen, doch sie weigerte sich standhaft, ihnen nachzugeben.
Wie die Pfarrerstochter wohl mit dem Heimkehrer zurechtkommen mochte? Kate wusste, dass Catriona am meisten würde leiden müssen, da er von den tiefen Wunden, die der Krieg geschlagen hatte, trotz allem niemals vollständig genesen würde.
»Ich werde Ihre Laufbahn aufmerksam verfolgen«, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger. »Also benehmen Sie sich ordentlich.«
»Ich habe das Cambridge Magazine abonniert, damit ich weiß, was in Ihrem klugen Köpfchen vorgeht.«
Edwin ließ ihre Hand los, warf sich seinen Kleidersack über die Schulter und ging davon.
 
Charles legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie hatte vergessen, dass er wusste, wie ihr zumute war.
»Er ist zu jung für Sie«, sagte Charles.
»Wer ist das nicht?«
»Sie wissen sehr wohl, dass es überall auf dieser Welt weit ältere Geschöpfe gibt als Sie.«
Sie wandte sich zu Charles um. Er war die Ruhe selbst. Trotz der geheimen Kriege, in die er maßgeblich verwickelt gewesen war, hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden. Das machte ihr Mut.
Edwin verlor sich im Gedränge der Soldaten und ihrer Liebchen. Das Band zwischen ihnen war gerissen.
Dravot ließ Edwin ziehen. Er blieb bei Charles.
»Und, werden Sie jetzt nach Russland reisen, um sich um die bolschewistische Revolution verdient zu machen?«, fragte Charles.
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, solange es für mich hier ausreichend zu tun gibt. Die alten Männer sind noch nicht am Ende. Es wäre eine Sünde, sie ausgerechnet jetzt in Ruhe gewähren zu lassen. Den Krieg und die Irland-Frage nicht zu vergessen. Gräfin Markowitz und Erskine Childers haben mich gebeten, einem Home-Rule-Komitee beizutreten.«
»Ich möchte nichts mehr davon hören. Am Ende stehen wir uns als Feinde gegenüber.«
Sie strich über sein Revers. »Das will ich doch nicht hoffen, Charles.«
»Ruthven ist immer noch an der Regierung, obwohl das Kabinett sich gegen ihn verbündet hat. Und Dracula wurde zwar degradiert, fungiert aber nach wie vor als enger Berater des Kaisers.«
Kate überdachte seine Worte.
»Der rote Durst wütet in ganz Europa, in ganz Amerika, ja, auf der ganzen Welt. Und aus diesem Grund müssen wir die mörderischen Horden bekämpfen, aus diesem Grund müssen wir den toten Händen das Steuer entreißen.«
Charles lächelte. Er sah jünger aus als sonst. Kate wusste, dass er eine große Zukunft vor sich hatte. Edwin war tot am Wegesrand zurückgeblieben, für sie und vermutlich auch sich selbst verloren. Doch Charles marschierte munter weiter.
Neuzugänge - Freiwillige und Rekruten mit noch unblutigen Händen - traten aus dem Glied und drängten sich vorbei, um den Fährzug zu besteigen. Die unschuldigen Gesichter der Warmblüter und Vampire erfüllten Kate mit Trauer. Für diese Knaben war der Krieg ein Fest des Feuers und der Ehre. Solange solche Lügen herrschten, würde auch der Wahnsinn weitergehen.
»Ich sollte Sie festnehmen lassen«, meinte Charles, »bevor Sie noch mehr Dummheiten anstellen.«
Sie überlegte, worüber sie als Nächstes schreiben sollte. Über den Krieg, die alten Männer, die Regierung. Sie wollte schreiben und spotten, kritteln und mäkeln, bis ihre Stimme selbst den Trommelschall der Chauvinisten und das Geschwätz der Politiker verstummen ließ. Sie konnte unmöglich die letzte Priesterin der Wahrheit sein. Die Menschen würden auf sie hören. Der Stein würde ins Rollen kommen.
»Dummheiten?«, entgegnete sie. »Mein lieber Charles, wenn Sie sich da mal nicht gewaltig irren.«
Die Vampire
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