IV
DAS ENDE EINER LANGEN REISE
38
Angriffsstreife
Winthrop erwachte gegen zwei Uhr morgens.
Er zog den Eimer unter seiner Pritsche hervor und erbrach sich.
Seit Beginn seiner Verwandlung hatte er Schwierigkeiten, Essen und
Trinken bei sich zu behalten. In fünf Minuten würde sein Wecker
gehen. Trotz der Dunkelheit konnte er die Umrisse der Gegenstände
deutlich erkennen. Alles schien tiefschwarz zu glühen. Wie eine
Fledermaus spürte er es im Innenohr, wenn andere Kreaturen am
Himmel kreisten.
Er schwang die Beine über die Pritschenkante, zog
Fliegerkluft und Stiefel an und versuchte seine Angst zu
unterdrücken. Dies war seine erste Nachtstreife seit … seit dem
ersten Mal.
Da er keine Nachteule war, brauchte Winthrop ein
paar Stunden Schlaf. Die Vampire saßen unten und zechten. Die
anderen Vampire? Ein heftiger Krampf durchzuckte ihn. Das
flaue Gefühl im Magen verriet ihm, dass er noch immer warmen Blutes
war. Die spitzen Zähne in seinem Mund verrieten ihm, dass auch er
bald zu den Untoten gehören würde. Doch für derlei Bedenken war
jetzt keine Zeit. Er musste sich auf Pflicht und Vergeltung
konzentrieren.
Das Ankleiden ging automatisch. Er knöpfte und
verschnürte sich und stapfte dann nach unten, was der dicken
Gelenkschoner und der schweren Stiefel wegen nicht ganz einfach
war. Am Boden war er steif und unbeweglich. In der Luft hingegen
war er flink und behände wie seine Camel. Die Kälte drang selbst
durch den dicksten Stoff.
»Hallo«, sagte Bertie. Für ihn war der Krieg ein
einziger Witz. Wer in den Dutt ging, war nur schnell auf eine Kippe
vor die Tür verschwunden und würde jeden Moment wiederkommen. »Warm
eingepackt?«
»Du hast deine Kluft geschnürt wie Ball«, bemerkte
Ginger.
Winthrop hatte die Messe durch die niedrige Tür
betreten und sich instinktiv an Balls Handgriffe geklammert, damit
er nicht umfiel wie ein Klotz. Er bekam in einem fort zu hören, er
täte dies und jenes wie Albert Ball: fliegen, schießen, kriechen,
kämpfen.
Die für die heutige Spritztour eingeteilten Flieger
waren bereits in ihre Monturen geschlüpft. Zwar befand sich auch
der eine oder andere Veteran des alten Geschwaders Condor unter den
Auserwählten, doch die meisten waren, wie Winthrop, Neuzugänge,
hauptsächlich amerikanische Vampire, Einzelkämpfer, die nur ein
Ziel vor Augen hatten.
»Mach’s gut, alter Knabe«, rief Bertie, als
Winthrop die Messe verließ. »Wir sehen uns bei
Sonnenaufgang.«
Winthrop nickte vielsagend. Es hatte keinen Sinn zu
leugnen, dass jeder Einsatz tödlich enden konnte. Er plante nie
über den nächsten Flug hinaus.
Allard ließ die Männer wie zur Musterung antreten,
um ein letztes Mal die Einzelheiten durchzugehen. Winthrop stellte
sich neben Dandridge, einen Yank, der zwar ein unerfahrener
Krieger, doch ein geschickter Jäger war. Der Älteste hatte
jahrhundertelang unter Warmblütern gehaust und die Städte der
Lebenden nach Beute durchstreift. Auch andere Neuzugänge - wie der
tollkühne
Severin, der unersättliche Brandberg und der idealistische Knight
- waren alt, hatten sich bereits vor 1880 verwandelt. Mr. Croft war
davon überzeugt, dass jeder, der so lange Zeit Verfolgungen
erlitten hatte, den Instinkt zu töten und zu überleben in sich
trug. Zwischen den Ältesten-Assen und Cundalls Zeitgenossen kam es
immer wieder zu Spannungen. Keine offenen Auseinandersetzungen, nur
kleinere Reibereien.
Da Winthrop kein Vampir war, saß er zwischen allen
Stühlen. Von Allard wusste er, dass Croft ihn akzeptierte. Er war
bereits mit Ältesten geflogen. Sie eigneten sich besser für
Tagesflüge als die zarthäutigen Neugeborenen.
Allard löste sich aus dem Schatten und baute sich
vor seinen Leuten auf.
»Ich habe neue Anweisungen erhalten«, sagte Allard.
Hinter ihm stand Caleb Croft, schwach schimmerndes Grau in
schwarzem Samt. »Heute Nacht statten wir dem Château du Malinbois
einen Besuch ab.«
Eiseskälte durchströmte Winthrops Adern. Erregung
oder Angst konnte er sich jetzt nicht leisten. Er hatte gewusst,
dass es so kommen würde.
»Oder, wie das deutsche Oberkommando es inzwischen
nennt, Schloss Adler.«
Die Neuzugänge waren über Malinbois in groben Zügen
unterrichtet. Winthrops Bericht über seinen Flug mit Courtney war
die einzige verlässliche Information über die Gestaltwandler des
JG1. Während Winthrop im Lazarett gelegen hatte, war Richthofens
Fledermausstaffel wiederholt dabei gesehen worden, wie sie
Beobachter und Späher jagte, Ballonfahrer abschoss und die Linien
in geringer Höhe überflog. Nur Winthrop hatte den Kampf mit den
geheimnisvollen Kreaturen überlebt.
Allard fuhr fort: »Richthofens Brut hat uns daran
gehindert, gesicherte Erkenntnisse über die nächtlichen
Truppenbewegungen
der Deutschen zu gewinnen. Der Hunne bereitet eine Offensive vor
und verstärkt seine Linien im Schutz der Dunkelheit mit Unmengen
von Männern und Material. In diesem Sektor ist es bislang keinem
einzigen Flugzeug gelungen, mit militärischen Informationen in
seinen Heimathafen zurückzukehren. Uns sind weder Ballons noch
Beobachter geblieben, die wir aufsteigen lassen könnten. Die
Herrschaft des JG1 muss unter allen Umständen gebrochen werden. Zu
diesem Zweck werden wir die deutschen Flieger in ein Gefecht
verwickeln und beweisen, dass sie nicht unbesiegbar sind.«
Beim Anblick der betretenen Gesichter selbst der
ältesten der Alten fing Allard urplötzlich, aus heiterem Himmel, an
zu lachen. Es war kein aufmunterndes Lachen, sondern ein finsteres,
unheimliches Kichern, das zu einem ebenso qualvollen wie gequälten
Kreischen anwuchs. Winthrop bemerkte zum wiederholten Mal, dass
Allard, selbst für einen verhältnismäßig jungen Neugeborenen, eine
äußerst seltsame Figur abgab.
Die Piloten eilten zu ihren wartenden Flugzeugen.
Winthrop saß in seinem Cockpit, noch bevor Allards Gelächter
verklungen war.
Das Geschwader Condor war mit neuen Camels
ausgestattet worden. Kaum zu bändigende Vögel, die es jedoch
mühelos mit jeglicher Maschine aufnehmen konnten, die der
Boche zu bieten hatte.
Allard bevorzugte eine sogenannte
Vierfingerformation: Er selbst übernahm die Spitze, während die
anderen links und rechts, über und unter ihm zurückblieben.
Winthrop flog schräg über dem Geschwaderkommandeur, und Dandridge,
in der Position des high man, hielt sich schräg über
ihm.
Da der Boche keinen Treibstoff benötigte, war er
gegen den gemeinen Todesschuss der Kampfflieger immun. Die
Deutschen konnten nicht in einem Feuerball zur Erde stürzen. Dafür
waren
sie Vampire: Eine Silberkugel in den Kopf oder ins Herz erfüllte
ihren Zweck. Jede zweite Patrone in den Trommelmagazinen seines
Zwillings-Vickers war aus Silber. Ein zwanzigsekündiger Feuerstoß
kostete hundert Guineas. Beide Kriegsparteien waren gezwungen, das
Silber aus den amputierten Gliedmaßen und zerfetzten Leichen der
Gefallenen zu bergen.
Winthrop ritzte Kreuze in die Spitzen all seiner
Patronen. Was nichts mit der vermeintlichen Abneigung eines Vampirs
gegen Kruzifixe zu tun hatte, sondern dafür sorgte, dass die Kugeln
beim Aufprall zersplitterten und in der Wunde explodierten. Bei
einem Dutzend Tagesflügen in nur einer Woche hatte er sechs
feindliche Maschinen abgeschossen und war damit zum Ass avanciert.
Es freute ihn am meisten, wenn sie in einem Feuerball zur Erde
stürzten. Er fand Geschmack am Kampfgetümmel und besaß Albert Balls
sicheren Instinkt. Jetzt wollte er bei Nacht auf Raub ausgehen. Er
wollte Richthofen zur Strecke bringen. Vielleicht würde das Balls
Gier befriedigen.
Sein Magen verkrampfte sich von neuem. Er hatte
gelernt, mit seinen Schmerzen zu leben, sie sich nicht anmerken zu
lassen. Kate hatte ihn vor den Gefahren seines Tuns gewarnt. Wenn
alles vorbei war, wollte er mit Kate ins Reine kommen. Nein, er
durfte nicht an Kate, Catriona oder Beauregard denken. Nur an das
Hier und Jetzt.
Er umfasste den Steuerknüppel und hielt die
Maschine in der Waagerechten. Der Schmerz ließ nach. Der
Nachthimmel war dicht bevölkert. Er brauchte sich nicht umzudrehen,
denn er wusste, wo die anderen Camels waren. Das Bild der
Vierfingerformation hatte sich in sein Gedächtnis
eingebrannt.
Am Boden schlängelte sich eine Fahrzeugkolonne über
das Niemandsland, die Männer und matériel hinter die
deutschen Linien brachte. Er ignorierte sie. Dies war keine
Aufklärungsstaffel. Dies war eine Angriffsstreife, eine
Jagdgesellschaft.
Ein winziges Geräusch. Ein einsamer Hunne schoss
auf gut Glück in den Himmel, auf die Camels. Winthrops Daumen lagen
auf den MG-Knöpfen. Albert Ball riet ihm, ruhig Blut zu bewahren.
Winthrop war hin- und hergerissen zwischen Ball und Kate. Kein
angenehmes Gefühl.
Die Streife nahm dieselbe Strecke, die Winthrop mit
Courtney geflogen war. Vor ihnen lag das frisch getaufte Schloss
Adler. Der Schlupfwinkel des Roten Barons.
Den letzten Frontberichten zufolge war das JG1 in
Richtung Amiens ausgeflogen und hatte eine Reihe geflickter Ballons
attackiert, mit denen man allenfalls Strohpuppen aufsteigen lassen
konnte. Bei ihrer Rückkehr würden sie sich unversehens in ein
Luftgefecht verwickelt finden. Die Gestaltwandler waren noch nie
angegriffen worden. Das war ein leichter, doch nicht zu
unterschätzender Vorteil.
Er spürte sie, noch ehe er sie sah. Er
spitzte die Ohren. Ein Verband kehrte lautlos ins Schloss zurück.
Sie segelten wie Fledermäuse, schlugen nur hin und wieder mit den
Flügeln, glitten auf unbekannten Luftströmen dahin.
Auch Allard hatte den Boche gesehen. Er hob die
Hand. Die vierfingrige Pfeilspitze wurde stumpf. Der Abstand
zwischen den Camels wuchs, doch die Piloten blieben in
Formation.
Nicht vergessen, kurze Stöße. Genau zielen,
nicht wild durch die Gegend ballern.
Mit einem Mal war sein Verstand glasklar, und alle
überflüssigen Gefühle und Gedanken fielen von ihm ab. Er war ein
neuer Mensch, befreit von inneren Zwängen. Eins mit seinem
Zwillings-Vickers.
Da sahen sie die Camels.
Allard näherte sich der Flanke des feindlichen
Verbandes und schoss. Flammendes Silber explodierte in den
Schwingen einer Kreatur. Der entsetzlich menschliche Schrei war
lauter als das
Trompeten eines Elefanten. Das verletzte Ungeheuer verließ die
Formation. Seine Schwingen hingen in Fetzen, doch die Kugeln gingen
ungehindert hindurch. Nur ein Treffer in Rumpf oder Kopf konnte ihm
ernstlichen Schaden zufügen.
Winthrop sah, wie der Flieger in die Tiefe stürzte,
die Schwingen umgestülpt wie ein vom Wind gepeitschter Schirm.
Severin war dem verwundeten Vampir dicht auf den Fersen, juchzend
und um sich schießend wie Bronco Billy. Der Älteste litt tödlichen
Durst und scherte sich einen Teufel um die vorgegebene Taktik. Wenn
seine Magazine leer waren, würde sich der Gegner fangen und auf ihn
stürzen.
Die beiden Verbände kreuzten sich. Winthrop
witterte den Moschusgeruch der Gestaltwandler und spürte den
Eishauch ihrer Schwingen. Im Zickzackflug versuchte er, einen
vorbeihuschenden Schatten ins Visier zu nehmen. Fast hätte er
gefeuert, ließ es dann aber doch bleiben, um die wertvolle Munition
nicht zu vergeuden.
Auch die Deutschen schossen nicht. Vermutlich
hatten sie ein Gutteil ihrer Feuerkraft an die Ballonattrappen
verschwendet. Viele Flieger hatten die Angewohnheit, ihre Magazine
auf dem Rückflug in die feindlichen Schützengräben zu entleeren, um
sich von dem Ballast der Restmunition zu befreien.
Eine Schwinge nahm sein gesamtes Blickfeld ein, und
er drückte die MG-Knöpfe. Grelle Blitze versengten ihm die Augen,
als das Vickers losging. Die Schwinge verschwand, und er nahm die
Daumen wieder von den Knöpfen.
Die Salve, nur wenige Augenblicke lang, hatte ihm
fast das Trommelfell zerrissen. Instinktiv schoss er ein zweites
Mal, Sekundenbruchteile bevor von neuem eine Schwinge an
seinem Propeller vorüberflatterte. Diesmal flog der Gestaltwandler
direkt in seine Schussbahn und wurde kreischend durch die Luft
gewirbelt. Eine Reihe von Löchern erschien in seinem
Schwingenvorhang.
Er hatte dem Flieger ohne Zweifel ordentlich eins auf den Pelz
gebrannt.
Er schmeckte Blut. Es war sein eigenes, vermischt
mit dem von Ball und Kate. Seine Zähne waren korallenspitz. Ein
Vorgeschmack auf das Vampirdasein, der ihm nicht recht gefallen
wollte.
Wieder eine Salve. Wieder daneben. Das
Fledermausgeschöpf vollführte einen perfekten Immelmann und schwang
sich zur Mondsichel empor. Dandridge war ihm dicht auf den Fersen
und traktierte es mit wohlgezielten Feuerstößen. Der Boche beendete
die Kehre und spreizte die Schwingen. Dandridge hatte ihn erwischt.
Rote Rinnsale sickerten in schwarzen Pelz.
Der Gestaltwandler ließ sich ein wenig sinken,
fasste Dandridge von unten, heftete sich wie ein Neunauge an den
Bauch der Camel und schlang, den Schwanz wie eine Peitsche
schwingend, die Flügel um den Rumpf. Der Rahmen der Maschine brach,
und der Motor geriet ins Stottern. Der Propeller bohrte sich in das
Gesicht des Deutschen und blieb stecken.
Winthrop war entsetzt.
Die Camel ging entzwei. Dandridges oberer
Tragflügel brach ab und wurde fortgerissen wie ein Papierdrachen im
Sturm. Der Gestaltwandler ließ das Flugzeug los. Das zerdrückte
Wrack der Camel stürzte zur Erde, der Wind pfiff laut durch die
Verspannung. Im freien Fall entleerte Dandridge sein MG.
Die Kreatur, die Dandridge getötet hatte, hielt
sich nur mit Mühe in der Luft. Sie hatte zahlreiche Treffer
abbekommen, und die Schrunde, die der Propeller geschlagen hatte,
war tief. Ihre Schwingen hingen in Fetzen. Aus ihren Wunden wehten
dunkle Blutgirlanden.
War das der Rote Baron?
Winthrop hatte das verstümmelte Monstrum im Visier.
Er feuerte, ließ Blei und Silber vom Himmel regnen. Dann stieß er
hinab
und fasste die Kreatur von oben. Einen Augenblick lang befürchtete
er, sie könne sich an die Unterseite seiner Camel heften und das
Manöver wiederholen, mit dem sie Dandridge zur Strecke gebracht
hatte.
Das Blut kochte ihm in den Adern. Die Stunde der
Wahrheit war gekommen. Als er zu einer Kehre ansetzte, um einen
erneuten Angriff zu wagen, sah er, dass Allard sich auf seine Beute
stürzte. Das Ungeheuer nahm seine ganze Kraft zusammen und flog
Allard entgegen. Mit einem einzigen Schuss jagte der
Geschwaderkommandeur dem Monstrum einen Klumpen Silber in den
Schädel. Der Flieger war sofort tot. Er schrumpfte auf menschliche
Größe und stürzte, von schweren MGs hinabgezogen, in freiem Fall
zur dunklen Erde.
Die Kreaturen ließen sich also doch
vernichten.
Allard hatte ihm den Sieg entrissen, und Winthrop
streifte suchend umher. Er befand sich im Herzen des Hahnenkampfes.
Camels und Gestaltwandler bevölkerten den Himmel, feuerten aus
allen Rohren, zerfetzten Tragflächen und Lederschwingen. Eine Camel
(Rutledge, dachte Winthrop) explodierte in einem Feuerball. Ein
heftiger Schwall heißer Luft erfasste seine Flügel und drängte ihn
zurück.
Unter ihnen lag das Schloss. Und darüber hing ein
riesenhaftes Etwas, das einen dunklen Schatten auf das Land
warf.
Rutledge war keinem Flieger des JG1 zum Opfer
gefallen. Flaksperrfeuer pfiff ihnen um die Ohren. Schloss Adler
war von Geschützen umringt. Archie explodierte unter Winthrop, ein
Feuerteppich in der Nacht. Rauch trübte die Gläser seiner Brille
und biss ihn in den Augen.
Eine Fledermaus kam auf ihn zu, und Winthrop drehte
ab. Er nahm eine Hand vom Steuerknüppel, zerrte sich die
rußverschmierte Brille herunter und ließ sich den eisigen Flugwind
ins Gesicht wehen.
Er hob den Blick und erkannte, dass ein Zeppelin
über dem Schloss stand wie ein gigantischer Ballon. Er schwebte in
dünner Luft über der möglichen Steighöhe jeglicher
Schwerer-als-Luft-Maschinen. Nur echte Ungeheuer konnten in dieser
Höhe überleben, wo die Kälte das Blut in den Adern stocken ließ und
aus wollenen Fliegerkluften eisklirrende Kettenpanzer machte.
Allard gab das Signal zum Rückzug. Die
Gestaltwandler landeten auf ihrem Turm und verschwanden hinter
dicken Mauern.
Winthrop war um seinen Abschuss betrogen worden.
Womöglich war der Rote Baron längst tot. Allards Sieg. Halb
wahnsinnig vor Wut, hielt Winthrop auf Schloss Adler zu. Ein Vampir
ging auf der Landeplattform nieder, zog den Kopf ein und zwängte
sich ins Schloss.
Um sich einzuschießen, feuerte Winthrop eine Salve
ab. Die Kugeln prallten jaulend gegen harten Stein. Von den
Schüssen aufgeschreckt, wirbelte der zwischen Menschen- und
Fledermausgestalt gefangene Flieger herum und stellte die Ohren
auf. Winthrops nächste Salve traf ihn in die Brust und schleuderte
ihn rückwärts gegen die Schlossmauer. Scharlachfarbene Fontänen
brachen durch sein lichtes Fell. Ein sauberer Treffer. Mitten ins
Herz.
Sein siebter Sieg. Ein Sieg, der zählte. Ein
Ungeheuer.
Nein, offiziell würde er doch nicht zählen. Als
seine Mordgier gestillt war, fiel Winthrop ein, dass er Allards
Rückzugsbefehl missachtet hatte. Sein Abschuss würde unter keinen
Umständen bestätigt werden. Zudem hatte er den Gegner am Boden
beschossen und nicht in der Luft. Er hatte seinen Vorteil schamlos
ausgenutzt.
Dennoch, für ihn zählte der Sieg. Eines der
Ungeheuer war tot.
Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert. Er
fügte sich
wieder in die Formation, schräg über Allard. Zwischen Brandberg,
Lockwood, Knight und Lacey.
Sie jagten davon. Das Archie war jetzt zu weit
entfernt, um ihnen noch etwas anhaben zu können. Die Gestaltwandler
hatten sich zurückgezogen. Das Luftschiff flog zu hoch, um seine
Geschütze auf sie zu richten.
Vierzehn hatten das Schloss angesteuert. Fünf
kehrten zurück.
Winthrop hatte Dandridge und Rutledge sterben sehen
und geahnt, dass Severin sein Duell verlieren würde. Nun fiel ihm
auch der Gestaltwandler mit dem Stück Menschenfleisch zwischen den
Zähnen wieder ein, der den Kopf geschüttelt hatte, so dass das Blut
nach allen Seiten spritzte. Auch dies musste ein Pilot gewesen
sein.
Die anderen waren gestorben, ohne dass er es
überhaupt bemerkt hatte. Neun Männer für zwei Ungeheuer. Der
Luftkampf hatte höchstens zwei oder drei Minuten gedauert.
Die fünf Camels hatten die aufgehende Sonne im
Rücken. Die hereinbrechende Dämmerung senkte sich über Winthrop wie
eine schwere Decke, besänftigte sein Blut und verzehrte seine
Kräfte. Sie überflogen die Linien.
39
In vorderster Front
Ihre Kiste pfeift ja aus dem letzten Loch«,
sagte Colonel Wynne-Candy. »Mein Fahrer wird sich darum
kümmern.«
Kate, die mit den Eigenheiten eines
Verbrennungsmotors nicht vertraut war, dankte dem Offizier, dessen
Stabswagen im Schlamm am Straßenrand feststeckte. Er hatte
gehalten, um ihre
Ambulanz vorbeizulassen, und litt nun an den Folgen seiner
Galanterie.
Seit dem frühen Morgen fielen fast unablässig
Bomben. Der Feind hatte schwere Geschütze aufgefahren und beharkte
die alliierten Schützengräben. Die Parole an der Front lautete:
Kopf einziehen!
Sie blickte in den bedeckten, schiefergrauen
Himmel. Im Osten färbte Mündungsfeuer die düsteren Wolken
rot.
»Es ist doch nicht etwa jemand in der Luft?«
Der pausbäckige Colonel, der diesen Rang zu seiner
großen Freude auch nach seiner Verabschiedung am Ende des
Burenkrieges hatte behalten dürfen, war beileibe nicht der
unbedarfte Schwachkopf, für den er sich ausgab. Kate zuckte
schaudernd die Achseln. Für gewöhnlich bereitete es ihr keine
Schwierigkeiten, ihre Gedanken in Worte zu fassen, doch die
Geschichte mit Edwin ging ihr viel zu nahe, um sich verständlich zu
erklären.
»Jetzt, wo Richthofen nicht mehr ist, wird der
Bursche da oben sehr viel sicherer sein.«
»Der Rote Baron ist tot?«
»Das wurde heute Morgen über Fernsprecher
durchgegeben. Es ist aber noch nicht offiziell. Bislang hält sich
der Boche bedeckt, aber unsere Lauscher im Hunnenland haben so
etwas flüstern hören. Wie es scheint, ist die alliierte
Luftherrschaft wiederhergestellt.«
Kate fragte sich, ob Edwin enttäuscht war. Er hatte
eine lebende Waffe aus sich gemacht, um die Kreatur zur Strecke zu
bringen, die seinen Kameraden getötet hatte. Oder war es ihm am
Ende vielleicht doch gelungen, den Roten Baron zu bezwingen? Nein,
das hätte sie im Blut gehabt.
»Eigentlich jammerschade, finden Sie nicht auch?«,
meinte Wynne-Candy. »Mit seinem Tod ist der Krieg ein wenig
farbloser
geworden. Richthofen war etwas, für das es sich zu schießen
lohnte.«
Auf das es sich zu schießen lohnte, dachte
sie.
Ein paar Hundert Yards entfernt schlug jaulend ein
Geschoss ein und krepierte. Kate und Wynne-Candy duckten sich, als
feuchter Dreck zu Boden regnete.
»Der ging übers Ziel hinaus«, sagte der Colonel.
»Vollkommen harmlos.«
Ein qualmender Krater markierte den Aufschlagpunkt.
Hinter den Linien gab es mehr Bombentrichter als sonst.
»Wenn es so weitergeht, könnte das unsere
Versorgungslinien gefährden.«
»Ganz recht, Miss.«
Wynne-Candys Fahrer, ein schmuddeliger Cockney,
raunte dem Colonel leise etwas zu.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein!«
Wynne-Candy war entsetzt.
»Es tut mir außerordentlich leid, Miss, aber ein
überaus unsportlicher Hunne hat offenbar auf Ihren Wagen
geschossen.«
Der Fahrer steckte den Finger durch ein Loch in der
Motorhaube.
»Vermutlich ein Versehen. Jeder anständige deutsche
Offizier, der einen seiner Männer dabei erwischt, wie er aus dem
Hinterhalt auf einen Krankenwagen ballert, würde den Kerl sofort
erschießen lassen.«
Der Fahrer meinte, der Motor sei unversehrt. Man
müsse die Ambulanz nur einmal gründlich waschen, dann werde sie
laufen wie geschmiert.
»Nicht leicht, in dieser Gegend seine Siebensachen
sauber zu halten«, sagte Wynne-Candy und ließ seinen Blick über die
morastige Ebene schweifen. »Und nun fahren Sie, Miss. Die Jungs an
der Front erwarten Sie bereits.«
Ihr drei Nummern zu großer Khakimantel, ihre
zerzauste, schlammstarrende Frisur und die tiefe Verwirrung, in der
sie sich befand, würden sie schwerlich als Engel durchgehen
lassen.
Sie wünschte dem Colonel Lebewohl und stieg wieder
in den Krankenwagen. Als die Armee diese Vehikel bestellt hatte,
war man davon ausgegangen, dass sie von sechs Fuß langen Kerls
gefahren würden. Damals hatte sich noch niemand vorstellen können,
dass man eines Tages alle verfügbaren Kräfte an die Front beordern
und eine zierliche Vampirfrau den Posten des Chauffeurs ausfüllen
würde. Sie hatte drei Kissen unterm Hinterteil und musste sich nach
vorne beugen, um an das Lenkrad zu gelangen, das unermesslich weit
entfernt schien. An den Fußpedalen befestigte Holzklötze brachten
jene in Reichweite ihrer zu kurzen Beine.
Alles an dem Krankenwagen klapperte. Sie sah durch
die verschmierte Windschutzscheibe in den Himmel. Selbst wenn der
Rote Baron gefallen war, zogen dort oben noch immer wilde Ungeheuer
ihre Kreise. Edwin zerrte an ihr wie ein Zahnschmerz. Es würden
Monate vergehen, bis sie ihre alte Kraft zurückgewonnen hatte. Sie
hatte das Gefühl, nur noch ein halber Mensch, ein Schatten ihrer
selbst zu sein.
Wie jeder anständige Viktorianer warf sie sich in
die Pflicht. Wenn möglich, hätte sie sogar zur Waffe gegriffen und
wäre in die Schlacht gezogen. Geneviève hatte sich im Laufe ihres
langen Lebens des Öfteren als Knabe ausgegeben und sich als Soldat
verdingt: mit der heiligen Johanna gegen England, mit Drake gegen
die Spanier, mit Bonaparte gegen die Russen. Geneviève hatte
einfach alles gemacht. Ohne es zu wollen, gab sie anderen
Frauen unablässig das Gefühl, minderwertig zu sein. Mit »anderen
Frauen« meinte Kate sich selbst.
Heute, 1918, durfte Kate, obgleich sie stärker war
als viele Männer, nur einen Krankenwagen fahren. Den nächsten Krieg
würden
Männer und Frauen, Vampire und Warmblüter führen.
Wenn sie überlebte, würde Kate auch an diesem Krieg teilnehmen. Und
am nächsten. Und am übernächsten.
Richthofen tot. Sie wollte der Geschichte auf den
Grund gehen. Das wäre eine fantastische Nachricht.
Die Straße senkte sich, und links und rechts
erhoben sich Erdwälle. Sie hatte das Labyrinth der Schützengräben
erreicht. Wellblech klapperte unter dem Gewicht des Krankenwagens.
Die Hauptstraße war gerade breit genug. Da fortwährend alte
Zufahrten verschüttet und neue gesprengt wurden, musste sie jedes
Mal, wenn sie hierherfuhr, eine andere Strecke nehmen.
Eine weitere Granate explodierte, außer Sicht und
doch ganz nahe. Kleine Klumpen prasselten auf das Dach des
Führerhäuschens. Nur Erde, kein Schrapnell.
Trotz aller Rückschläge war sie immer noch
Reporterin. Sie wollte versuchen, mehr über den Roten Baron zu
erfahren. Sie dachte an die Musketiere von Maranique: Bertie, Algy
und Ginger. Die drei würden ihr Rede und Antwort stehen. Sie waren
so naiv, dass sie dem Kaiser während des Waffenstillstands 1914
vermutlich Weihnachtskarten geschrieben hatten.
Sie war fast am Ziel. In der Nähe befand sich eine
Sammelstelle für Verwundete, die man auf Tragen gebettet hatte. In
letzter Zeit hatte es keine nennenswerten Verluste mehr gegeben.
Die Deutschen bereiteten ihre Offensive vor, ein veritables
Stahlgewitter. Die rückwärtigen Stellungen waren wie ausgestorben,
da die Alliierten sämtliche in Frankreich stationierten Männer und
Geschütze an die Front beordert hatten. Das heutige Bombardement
diente vermutlich einzig und allein dem Zweck, die Alliierten zu
zermürben. Die Offensive - die sogenannte Kaiserschlacht - rückte
beständig näher.
Sie zerrte an der Bremse, und die Ambulanz kam
ruckartig zum Stehen. Auf alles gefasst, sprang sie aus dem Wagen
und versank
bis über die Gamaschen im quatschenden Morast. Die unter einem
Zeltdach aufgebauten Tragen waren vollständig belegt. Sie hatte
Platz für fünf Patienten, während nicht weniger als fünfzehn Männer
darauf warteten, nach Amiens verbracht zu werden.
Der befehlshabende Offizier war Captain Tietjens,
ein anständiger Kerl, den Jahre im Schlamm gezeichnet hatten. Trotz
der dicken Schmutzschicht erkannte er Kate sofort und erbot sich,
ihr eine Tasse Tee zu holen. Die Vampire an der Front pflegten das
Gebräu mit einem Schuss Rattenblut zu süßen.
»Nein, danke«, sagte sie, um die mageren Vorräte
nicht weiter aufzuzehren. »Ich habe ein Paket mit Schleichware
unter dem Sitz. Etwas Tee, ein halbwegs genießbares Stück Brot,
eine Tüte Pfefferminzbonbons. Und ein paar andere Sachen.«
Sie reichte ihm die Kostbarkeiten, für die sie ihr
letztes Geld gegeben hatte. Sie war ein Vampir, sie konnte sich
selbst versorgen. Tietjens ließ das Paket verschwinden: Er würde es
an die verteilen, die es nötig hatten.
Ein Großteil der Verwundeten war Amerikaner. Immer
neue Yanks wurden herbeigeschafft, um der Offensive Einhalt zu
gebieten. Die meisten waren bereits im Einsatz.
Neben einer Trage kniete, bucklig wie ein altes
Weib, ein Infanterist und hielt die Hand eines verwundeten
Kameraden. Der Junge auf der Trage war allem Anschein nach nur noch
ein Torso: Unterhalb der Hüfte war die Decke glatt, von süßem Blut
durchtränkt. Zu ihrer großen Verlegenheit sprossen ihre Fangzähne
hervor.
Der Freund des Verwundeten blickte sie an. Er
schien viel zu benommen, um sich vor ihr zu fürchten. Es war
Bartlett, der Soldat, der in Amiens mit ihr angebändelt hatte. Er
hatte sich verändert. Seine brennende Begierde war wie weggeblasen:
Er war zugleich ein hilfloses Kind und ein verrückter alter Mann.
Sie las
seine Erinnerungen. Sie wollte, sie hätte sich dem entziehen
können.
»Verflucht«, stieß sie hervor.
Eddie Bartlett hatte binnen weniger Wochen einen
tausendjährigen Krieg durchlebt. Abgesehen von dem Halbmenschen auf
der Trage war Eddie der einzige Überlebende der Kameraden aus dem
Café in Amiens. Er war praktisch der Letzte der Gruppe, die
zusammen nach Europa gekommen war.
Sie wollte Bartlett ihre Hilfe anbieten. Er konnte
alles von ihr haben, ihren Körper, ihren Saft, wonach auch immer
ihm der Sinn stand. Sie wollte Gutes tun.
Tietjens und sie mussten die Tragen allein in den
Krankenwagen hieven. Bartlett ließ die bleiche Hand seines Freundes
nur widerstrebend los, um ihnen zu helfen.
»Halt durch, Apperson«, flehte er ihn an. »Immer
feste parlayvoo, Sportsfreund.«
Vorsichtig schoben die drei den ersten Verwundeten
- einen amerikanischen Sergeant mit einem Verband aus Lumpen um die
Augen - in die Ambulanz. Als Private Apperson an die Reihe kam, war
der Junge tot. Tietjens sah Kate achselzuckend an.
Ein ohrenbetäubendes Pfeifen erfüllte die Luft. Zu
ihrem Erstaunen streckte Tietjens die Hand aus und berührte ihr
Haar. Sie wollte sich eben dafür entschuldigen, dass sie ihren
besten Hut zu Hause gelassen hatte, als das Pfeifen explodierte.
Die Druckwelle brachte Tietjens aus dem Gleichgewicht und riss ihn
von den Füßen. Sie wurden gegen den Krankenwagen geschleudert. Auf
die Detonation folgte Hitze. Und Unmengen von Erde. Ganz in der
Nähe war eine Bombe eingeschlagen. Sie sah, wie langsam eine
Grabenwand einstürzte und die verbleibenden Tragen mit den
Verwundeten unter sich begrub. Tietjens zog etwas aus Appersons
Bettzeug hervor, beraubte den Toten.
Kate wankte in Richtung der Verwundeten. Die
nächste Granate
explodierte, und sie wurde erneut zu Boden gerissen. Ihr Rücken
schmerzte, und sie wusste, dass sie getroffen war. Tietjens war
dicht hinter ihr.
Der Offizier stülpte ihr Appersons Stahlhelm über
den Kopf. Sie hatte begriffen und zurrte den Kinnriemen fest. Der
Rand ruhte auf ihrer Brille und drückte sie auf ihre Nase.
Sie wühlte mit den Händen wie ein Tier und
versuchte die lockere Erde vom Gesicht eines hustenden,
warmblütigen Infanteristen zu schaufeln. Je mehr Dreck sie
beiseiteschaffte, desto mehr sackte nach. Es war kein Platz, ihn
aus dem Erdrutsch zu befreien.
Während sie noch grub, sprossen ihre Klauen hervor.
Sie krallte sie tief in die Erde. Ihre Fangzähne schnitten ihr
schmerzhafte Kerben in die Lippen. Sie war zu einem gemeinen
Ungeheuer verkommen. Der Junge sah sie panisch an und setzte sich
verzweifelt zur Wehr, weil er glaubte, sie wolle ihm ans Leder. Als
er den Mund aufriss, fiel Erde hinein und erstickte seinen stummen
Schrei. Sie versuchte ihm zu sagen, dass sie ihm bloß helfen wolle,
brachte jedoch außer Knurren und Fauchen nichts heraus.
Plötzlich begann es von neuem zu pfeifen, lauter
und konzentriert. Sie blickte zu dem schmalen Himmelsstreifen über
dem Graben empor und sah Dutzende funkensprühender
Rauchfahnen.
Die Wucht der Explosion schleuderte sie in die
Höhe. Die Ambulanz war voll getroffen worden. Kate schmeckte Blut.
Der Wagen wurde in die Luft katapultiert und sprang in tausend
Stücke, ließ kreischendes Metall und Leichenteile vom Himmel
regnen. Hundert Tonnen Schlamm spritzten auf und prasselten
hernieder. Kate kniff die Augen zu und schloss den Mund, als kühle
Grabeserde sie verschüttete und zu Boden presste. Urplötzlich war
es totenstill.
40
Drachentöter
Winthrop saß auf Albert Balls Stuhl und
starrte ins Leere. In der Messe war es voll, aber ruhig. Cundalls
neugeborene Männer spielten Karten. Mehrere Älteste tollten mit
einer pummeligen kleinen Französin und entlockten ihr spitze
Schreie. Sie nannte sich Cigarette und wanderte, wie ein
Glimmstängel im Schützengraben, von Mund zu Mund.
Seit Ginger das Gerücht verbreitet hatte,
Richthofen sei wirklich tot, fühlte sich Winthrop wie ein
exorzierter Geist. Es gab keinen Grund mehr, beim Geschwader Condor
zu verbleiben, und doch er war hier festgenagelt. Noch floss das
Blut von Ball und Kate in seinen Adern, und sein roter Durst -
schlimmer, sein roter Hunger - wuchs von Minute zu Minute,
er lechzte geradezu nach rohem Fleisch.
Sein Magen war immer noch empfindlich. Er konnte
nur wenige Bissen Kurzgebratenes bei sich behalten, und auch das
nur, wenn es in Blut schwamm. Wenn ihm übel wurde, erbrach er
beängstigende Mengen roten Hackepeters.
Obgleich er die verschorften Hälse von filles de
joie wie Cigarette äußerst verlockend fand, hätte er es niemals
über sich gebracht, warmes Menschenblut zu trinken. Er wünschte, er
hätte sich von dem bewusstseinstrübenden Infekt befreien können,
der in seinem Körper tobte und seinen Geist in einem Meer von Rot
versinken ließ.
Wenn er Kate doch nur noch einmal küssen und alles
ins Reine bringen könnte.
Ein Schatten fiel auf ihn. Allard war
eingetreten.
»Unser Sieg ist bestätigt worden. Die Deutschen
haben ihn offiziell bekanntgegeben.«
»Ihr Sieg«, widersprach Winthrop. »Sie haben den
Boche erledigt.«
»Es war ein Richthofen, aber nicht der
Richthofen.«
Ein Stromstoß durchzuckte Winthrops Adern.
»Wir haben Manfred von Richthofens Bruder Lothar
abgeschossen. Auch kein Kostverächter. Vierzig Siege.«
Der Rote Baron war noch am Leben. Der Zweck, zu dem
Winthrop sich verwandelt hatte, war noch nicht erreicht.
»Ich weiß, was in Ihnen vorgeht, Edwin. Sie freuen
sich. Sie wollen sich diesen Fang nicht entgehen lassen.«
Winthrop versuchte gar nicht erst, den Amerikaner
mit Parolen wie »Einer für alle, alle für einen!«, »Kämpfen bis zum
letzten Mann!« oder »Der Sieg ist unser!« hinters Licht zu
führen.
»Sie werden den Adler noch früh genug vor die
Flinte bekommen«, sagte Allard. »Wenn nicht sogar weitaus fettere
Beute.«
Winthrop schauderte.
Cigarette schrie kichernd auf. Allard warf dem
Mädchen einen missbilligenden Blick zu. Sie saß auf Alex Brandbergs
Schoß. Seine Lippen klebten an ihrer Brust.
Winthrop entschuldigte sich, ergriff die
Steigbügel, die man für Albert Ball an den Balken befestigt hatte,
und stand auf.
»Ich brauche frische Luft«, sagte er.
Es war der 20. März, laut Kalender
Frühlingsanfang. In Frankreich herrschte trübes Winterwetter.
Winthrop stand vor dem Bauernhaus, sog gierig kalte Luft in seine
Lungen und versuchte sich zu konzentrieren. Sein Vampirblut war
also doch zu etwas nütze. Seine Entschlusskraft kehrte zurück.
Dennoch fühlte er sich geschwächt. Immer wenn er sich zu geistigen
Höhenflügen aufschwingen wollte, um Klarheit über Ball und Kate
et cetera zu gewinnen, war er wie gelähmt. Seine Gedanken
kreisten nur mehr um Mord und Rache. Alles andere verschwand in
einem roten
Nebel. Was unterschied ihn von den Troglodyten? Oder von gemeinen
Schlächtern in Uniform?
Zwei Burschen zwängten sich mit einem langen Bündel
durch die Küchentür. Winthrop witterte Blut. Das Bündel war die
ohnmächtige Cigarette. Die Männer lehnten sie neben ihrem Fahrrad
gegen einen Zaun.
Winthrop trat näher. Die Burschen wischten sich
angewidert die Hände ab und zogen sich zurück. Das Mädchen trug
einen Schal um die Schultern. Zwischen seinen Brüsten steckte eine
Rolle Banknoten, so dünn wie eine Zigarette. Der Regen benetzte
sein Gesicht mit einem Tränenschleier. Seine blutunterlaufenen
Augen sprangen auf. Cigarette griff nach dem Geld und schob es
tiefer in ihr Mieder.
Er machte keine Anstalten, ihr zu helfen. Sie würde
es ihm ohnehin nicht danken. Mit geübten Fingern inspizierte
Cigarette die Bissspuren an Hals und Brust. Als sie die
ausgefransten Wundränder betastete, zuckte sie zusammen. Dann legte
sie sich den Schal um wie einen Notverband. Die Wolle war mit
geronnenem Blut besudelt. Cigarette rappelte sich mühsam und mit
gemessener Würde hoch, wie ein Betrunkener, der so tut, als sei er
nüchtern. Sie hielt sich mit einer Hand am Zaun fest, bis sie
gerade stehen konnte, und bedachte Winthrop, das Bauernhaus und den
Flugplatz mit einem verächtlichen Blick. Dieses Mädchen hasste den
Boche kaum mehr als die alliierten Flieger, die es für Geld zur
Ader ließen.
Der Regen schmeckte nach Blut.
Cigarette stieg auf ihr Fahrrad und strampelte
davon. Sie brachte ihre Röcke außer Reichweite der Speichen und
beugte sich tief über den Lenker. Ob sie eine Familie zu ernähren
hatte? Einen Mann? Kinder? Oder war sie nichts weiter als eine
Schlachtenbummlerin, die den Soldaten überallhin folgte?
Sein plötzliches Interesse für das Mädchen
bereitete ihm Unbehagen.
Da wurde ihm klar, dass dies die Kate in ihm sein musste. Der
Regen spülte all seine Bedenken fort. Nur ein Narr blieb freiwillig
im Regen stehen.
Bei Sonnenuntergang rief Allard zur
Einsatzbesprechung. Winthrop wusste sofort, dass es um etwas
Ernstes ging. Die Tafel mit dem Dienstplan des Geschwaders war
leer. An der Wand hing eine große Karte der Umgebung. Und neben dem
Captain hockte Mr. Caleb Croft. Seine Miene war
unergründlich.
Winthrop saß auf Balls Stuhl, zwischen Bertie und
Ginger.
»Mr. Croft hat Ihnen etwas mitzuteilen«, sagte
Allard.
Das war ungewöhnlich. Winthrop konnte sich nicht
entsinnen, dass der Geheimagent jemals ein Wort gesprochen
hatte.
Croft stand auf, beugte sich ein wenig vor und
sagte: »Gentlemen, Konflikte, von denen Sie bislang nichts wussten,
sind im Gange. Ein geheimer Krieg, wenn Sie so wollen. Wir haben
den Feind übertölpelt. Wir haben seine Luftritter gewähren lassen.
Wir haben Männer wie Richthofen zu Legenden stilisiert, haben den
Feind ermutigt, sein Vertrauen in sie zu setzen, ihren Wert zu
überschätzen. Eine verlustreiche, aber - wie Sie gleich sehen
werden - entscheidende Strategie.«
Croft krächzte, Winthrop schäumte. Man konnte
diesen Mann beim besten Willen nicht sympathisch finden. Er schien
andeuten zu wollen, dass die Alliierten wackere Männer wie Albert
Ball und Tom Cundall geopfert hatten, nur um den Boche in dem
Glauben zu belassen, seine mordenden Gestaltwandler seien
unbesiegbar.
»Wie Sie wissen, ist das JG1 auf Schloss Adler
stationiert. Bei Ihrer letzten Streife haben Sie entdeckt, dass ein
Luftschiff über dem Schloss vertäut liegt.«
Um diese Neuigkeit hatte es großes Aufhebens
gegeben.
»Solche Maschinen wagen sich nur selten an die
Front. Es handelt
sich um das Flaggschiff der feindlichen Luftflotte, die
Attila. Von dieser Stellung aus wird ihr Oberbefehlshaber
den Verlauf ihrer geplanten Offensive beobachten.«
Winthrop musste an den schwarzen Rumpf des Schiffes
denken.
»Sie meinen, Dracula ist in dem Zeppelin?«, fragte
Lacey.
Croft fuhr, sichtlich verärgert über die abrupte
Unterbrechung, fort. »Auf dieses Endspiel haben wir spekuliert. Wir
haben Dracula aus seinem Schlupfwinkel gelockt. Wir haben ihn in
unsere Reichweite gebracht.«
Plötzlich begriff Winthrop, was Allard mit »fettere
Beute« gemeint hatte. Es waren fast so viele Adler am Himmel wie
Spatzen. Und über ihnen schwebte ein Drache, der
dracul.
»Wenn der Feind zum Angriff übergeht, ist es
Aufgabe dieses Geschwaders, den Zeppelin abzuschießen. Wenn wir der
Bestie erst einmal den Kopf abgeschlagen haben, wird ihr Körper
rasch verfaulen. Diese Mission bedeutet den Sieg der
Alliierten.«
»Alles schön und gut, mein Bester«, sagte Algy,
»aber mit unseren Kisten können wir dem verfluchten Zeppelin noch
nicht mal an der Hose riechen. In der Höhe gefrieren uns die
Augäpfel zu Eis.«
»Er wird zu uns herunterkommen. Lord Ruthven weiß
um seine Arroganz. Graf von Dracula liebt dieses Spielzeug, diese
Flugmaschine. Er wird es aus der Nähe sehen wollen, wenn seine
Truppen die Linien durchbrechen. Inmitten seiner Leibgardisten,
seiner gestaltwandlerischen Asse, fühlt er sich sicher. Diese
kindische Überheblichkeit ist sein Ende und sein Untergang. Und
ihr, Männer, werdet Dracula den Garaus machen.«
»Ich wollte schon immer mal’nen Zeppelin vom Himmel
holen«, sagte Bertie. »Verdammt unsportliche Mühlen, diese
Zeppeline. Bombardieren Zivilisten und so’n Mist.«
»Hier geht es nicht um Sport«, widersprach Croft.
»Hier geht
es um den Krieg. In diesem Fall sogar um Mord. Täuschen Sie sich
nicht.«
»Und was ist mit unseren Freunden vom JG1?«
»Bringen Sie sie um, wenn es die Umstände erfordern
und erlauben, aber führen Sie um Himmels willen keinen
Privatfeldzug gegen sie.«
»Und nach Draculas Tod ist alles vorbei?«
»Dies ist sein Krieg. Ohne ihn werden die
Mittelmächte zusammenbrechen.«
»Und wer soll dann kapitulieren?«
Croft zuckte die Achseln. »Der Kaiser. Ohne Dracula
ist er ein hilfloses Kind.«
Ruthvens Intimus klang durchaus überzeugend, doch
seine Stimme war hohl, sein Horizont begrenzt. Croft hatte gesagt,
es gehe nicht um Sport, andererseits sprach er von Endspielen, als
sei die Welt ein Schachbrett. Aus der Luft, in der Luft wusste
Winthrop, dass es keine Ordnung gab. Ohne Kopf würde die Bestie
womöglich wüten, bis alles Leben im Dschungel ausgerottet war. Und
die Schlammwüste Europa würde ein Kontinent der Troglodyten, der
Höhlenmenschen werden. Doch daran durfte Winthrop jetzt nicht
denken. Er dachte nur noch an die Jagd, die Jagd auf Flugdrachen
und Adler.
Das Telefon klingelte, und Allard presste sich den
Hörer ans Ohr. Der Captain lauschte, nickte, legte auf.
»Es ist so weit«, verkündete er.
41
Kaiserschlacht
Sie bekam keine Luft. Dabei atmete sie nur
aus Gewohnheit und nicht aus Notwendigkeit. Ein harter, schwerer
Gegenstand lastete auf ihrer Brust. Sie hatte kein Gefühl mehr in
den Gliedern. Stechende Schmerzen in der Schulter deuteten auf
Silber hin.
Kate blinzelte im Dunkeln. Zum Glück schützte die
Brille ihre Augen vor dem Dreck. Seit ihrer Verwandlung, der sie
die Fähigkeit zur Nachtsicht verdankte, hatte sie keine so tiefe
Finsternis mehr erlebt. Leise, kaum hörbare Geräusche zerfraßen die
Grabesstille. Schreie, Explosionen, Motoren, Schüsse,
MG-Salven.
Sie war seit Jahren tot, und an ihrem Zustand hatte
sich nichts geändert.
Ein Schmerz durchzuckte ihre Schulter und ihren
rechten Arm hinab in ihre Hand. Sie ballte ihre Klauen zur Faust
und bohrte die Fingernägel ins weiche Fleisch des Daumenballens. Es
war nicht leicht, sich durch die Erde zu boxen. Sie konnte nicht
zum Schlag ausholen. Ihr ganzer Arm tat weh. Ihre verletzte
Schulter sprang aus dem Gelenk. Sie musste die Lippen fest
zusammenpressen, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken.
Ihr Erdsarg bekam einen Riss, so dass sie den Arm
bewegen konnte. Sie streckte die Hand aus und krallte die Finger in
den Dreck. Ihre Klauen stießen gegen einen Toten, und sie packte
einen Arm des Leichnams, zog aus Leibeskräften daran und versuchte
ihren Körper hochzustemmen. Die Schmerzen waren schier
unerträglich, doch das Ding auf ihrer Brust wollte sich nicht von
der Stelle rühren.
Wenn sie jetzt in Schlaf fiel, konnte sie Jahre,
wenn nicht sogar Jahrhunderte bewusstlos überdauern. Vielleicht
würde sie in einem
Utopia erwachen, in dem die Menschheit Kriege nicht mehr nötig
hatte. Oder in einer Zukunft, in der Dracula als Autokrat über eine
wüste Erde herrschte. Doch Schlafen hieß, sich vor der
Verantwortung für die Gegenwart zu drücken.
Ihre Faust brach durch die Oberfläche. Sie spürte
kühle Luft und streckte die Finger.
Der Gegenstand auf ihrer Brust war ein Balken oder
ein schweres Trümmerteil des Krankenwagens. Aber was es auch war,
es ließ sich nicht bewegen. Sie presste sich noch tiefer in die
Erde, um sich losstrampeln und wie ein Wurm nach oben wühlen zu
können.
Ach, wenn ihr Vater das noch hätte erleben
dürfen!
Mit gekrümmten Schultern grub sie eine Mulde in den
weichen Boden unter ihrem Rücken. Alles war klatschnass. Durch ihre
Anstrengungen wurde aus fester Erde lockerer Schlamm.
Plötzlich packte jemand ihren Arm. Sie ergriff die
Männerhand und zog die Fingernägel ein, um ihren Retter nicht zu
stechen. Sie versuchte, ihn sich vorzustellen. Ein höllischer
Schmerz betäubte ihre Hand, als ihr eine Metallspitze - kein Silber
- durch die Haut ins Fleisch getrieben wurde. Ihr Retter stieß ihr
ein Bajonett in den Leib. Ein durstiger Mund schlürfte mit rauer
Katzenzunge Blut aus ihrer Hand.
Sie schnappte nach einem Gesicht, bekam einen
Schnurrbart zu fassen, versuchte ihre Nägel in einen Schädel zu
krallen. Der Mann, der ihr das Blut stahl, richtete sich auf, und
sie wurde aus dem Dreck ans Licht gezerrt. Der schwere Gegenstand
rutschte von ihrer Brust und stieß gegen ihre Hüfte. Dann steckte
sie wieder fest. Ihre Schulter tat so weh, dass sie glaubte, er
wolle ihr den Arm ausreißen. Schließlich lag auch ihr Gesicht frei,
und sie schrie.
Ihre dreckverschmierte Brille war wie durch ein
Wunder heil geblieben, und es dämmerte bereits. Trotzdem schien das
Licht
entsetzlich grell. Ihre Augen brannten. Und in ihren Ohren gellte
ungeheurer Lärm.
Den Leichenfledderer fest umklammernd, stand sie
auf und schüttelte sich, um ihre Kleider von Erdklumpen zu
befreien. Schlamm und Stoff bildeten eine dicke, kalte
Lehmschicht.
Sie ließ ihren Gefangenen los. Ihre Hand war
knorrig und geschwollen, pralles Fleisch über wuchernden Knochen.
Ihre Finger hatten sich zu sechs Zoll langen Ruten mit drei Zoll
langen Klingen ausgewachsen. Bei dem Gedanken daran schrumpfte die
Hand wieder zusammen. Die bittere Not hatte ungeahnte
gestaltwandlerische Fähigkeiten zum Vorschein kommen lassen.
Hätte der neugeborene Soldat eine deutsche Uniform
getragen, so hätte sie ihn auf der Stelle umgebracht und sein Herz
verspeist. Doch es war nur ein verwirrter Tommy, der aus einem
Dutzend Wunden blutete und mit ihrem Saft besudelt war. Der Soldat
wich zurück, stürzte davon und ließ Kate allein auf einem
Schlammhügel zurück. Sie war noch immer aufgebracht und kämpfte mit
dem roten Durst, den das Blutbad geweckt hatte.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Licht, und
sie erkannte Teile ihres Krankenwagens und die einstige Befestigung
des Grabens. Alles war mit Leichenteilen übersät. Vermutlich
befanden sich auch Tietjens und Bartlett unter den Toten. Der
Schützengraben war nicht mehr. Die Wucht der Explosionen hatte ihn
zum Einsturz gebracht. Sie stand ungeschützt zu ebener Erde und sah
die Abzugsgräben nahe gelegener Stellungen. Ein Großteil des
Systems war noch intakt. Es wimmelte von Männern, die in die
Quartiere oder an die Front einrückten.
Ein Granatsplitter steckte in ihrer Schulter, und
sie zog ihn heraus. Sofort ließen die Schmerzen nach.
Ringsum schlugen Bomben ein. Da ihr der Schreck
noch immer in den Gliedern saß, konnten die Explosionen sie nicht
weiter erschüttern. Sie drehte sich um und nahm die Front in
Augenschein.
Zwar gab sie eine perfekte Zielscheibe ab, dafür aber hatte sie
einen bemerkenswerten Blick. Von ihrem Hügel aus sah sie die von
hektischer Betriebsamkeit erfüllten Schützengräben der Alliierten,
das Drahtgewirr im Niemandsland und das Mündungsfeuer der deutschen
Geschütze. Selbst die Befestigungsanlagen der feindlichen
Stellungen waren deutlich zu erkennen. Schaurige Musik - Wagner? -
rieselte vom Himmel. Stählerne Ungeheuer krochen durch das
Niemandsland. Darüber schwebte ein Leviathan der Lüfte.
Stalhein war erneut als Beobachter abkommandiert.
Diesmal wurde er, in menschlicher Gestalt, zum Dienst an Bord der
Attila bestellt.
Die gepanzerte Gondel war ein Kommandeurskonklave,
ein Kabinett der hohen Tiere, die ihre Untergebenen zu einer wahren
Grußorgie animierten. Der Kapitän des Zeppelins war Peter Strasser,
ein fanatischer Anhänger der Schwerer-als-Luft-Luftfahrt, der zu
Beginn des Krieges Bombenangriffe auf London geflogen hatte. Über
Strasser stand Ingenieur Robur, der Leiter der
Marine-Luftschiffer-Abteilung und große Architekt und Propagandist
dieser Maschinen. Und über ihnen allen stand Graf von Dracula, der,
ein Stück abseits von seinen schwarzledernen Gardisten, in der
Führergondel wachte und die Schlammschlacht durch die Sichtluken
verfolgte. Zum Glück war für Graf von Zeppelin, Feldmarschall
Hindenburg und den Kaiser kein Platz mehr gewesen. Ihre Orden wogen
so schwer, dass die Attila Mühe gehabt hätte,
Einsatzflughöhe zu erreichen.
Mit Ausnahme von Stalhein und Dracula hatten alle
Mann an Bord fest umrissene Aufgabenbereiche. Stalhein, der die
Eiseskälte in seiner menschlichen Gestalt am ganzen Körper spürte,
hatte das Gefühl, zurückgehalten zu werden. Das JG1 würde schon
bald zum Einsatz kommen.
Strasser saß in seinem Sessel und bellte Befehle in
ein Sprachrohr. Seine tüchtige Mannschaft hastete wie eine Horde
uniformierter Affen durch das verwirrende Durcheinander von Hebeln
und Verstrebungen.
Ein langer Schatten fiel auf das in Dämmerrot
getauchte Land.
Wie es sich für ein so großes und erhabenes Schiff
geziemte, war die Attila mit einer Orgel ausgestattet. Robur
saß am Manual und suchte sich Melodien aus Lohengrin
zusammen. Die Musik wurde durch am Schiffsrumpf befestigte
Schalltrichter verstärkt.
Mit ungewohnter Zurückhaltung näherte sich Stalhein
der Sichtluke, einem kreisrunden, etwa drei Meter breiten, in den
Boden der Gondel eingelassenen Fenster. Sie war das Auge der
Attila. Der Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte
wachte, die Pranken auf ein Messinggeländer gestützt, über den
Verlauf der Schlacht. Im Kunstlicht wirkte sein trauriges Gesicht
fahlgrau und leicht geschwollen. Stalhein hatte erwartet, Dracula,
der unsterbliche Kriegsfürst, werde angesichts des Blutbades
frohlocken.
Er hatte erwartet, die Gegenwart des Grafen werde
sein Blut in Wallung bringen. Dracula war Stalheins Fangvater. Sein
durch die Älteste Faustina vererbtes Geblüt hatte ihn zum
Gestaltwandler werden lassen. Er war einer der unzähligen
Nachkommen des Grafen. Doch Stalhein bewahrte ruhiges Blut. Er
fühlte sich auch nicht genötigt, vor seinem Herrn und Meister auf
die Knie zu fallen. Er trat neben Dracula und blickte durch die
Luke in die Tiefe.
Die sinkende Sonne bot genügend Licht, um deutlich
sehen zu können. Panzerverbände krochen durch den Schlamm, die
erste Welle hatte die Schützengräben der Entente schon fast
erreicht. In den tiefen Furchen, die ihre Ketten hinterließen,
rückten Männer vor. Von hier oben wirkten die Soldaten wie Ameisen.
Die Panzer sahen aus wie große Käfer, die sich mühsam einen Weg
über winzige Hindernisse bahnten. Im ganzen Niemandsland
explodierten Feuerbälle. Dies würde unzählige Menschenleben
kosten.
Die erste Panzerreihe spie Feuer, und mächtige
Flammenstrahlen spritzten in die gegnerischen Gräben. Obgleich er
gegen den Feuertod immun war, befiel Stalhein ein kalter Schauder.
Dieser Krieg hatte findige Köpfe wie Robur dazu getrieben, Waffen
zu entwickeln, mit denen man einen Vampir ebenso mühelos auslöschen
konnte wie einen Warmblüter mit Pistole oder Schwert. Teile des
gegnerischen Grabensystems wurden zu reißenden Feuerströmen, die
neue Grenzen in die rußgeschwärzte Landkarte Europas
brannten.
Die Attila schwebte über feindlichem Gebiet,
außer Reichweite der Flugabwehrkanonen. Alle noch intakten schweren
Geschütze wurden zur Abwehr der Bodenoffensive gebraucht. Die
wertvollen Granaten waren zu schade für nutzlose Schüsse ins
Blaue.
Ein Steuermann reichte dem Grafen, furchtsam und
von Scheu ergriffen, eine Nachricht. Der dachte gründlich nach und
nickte dann. Der Unterführer salutierte zur Bestätigung, und
Strasser brüllte neue Befehle in sein Rohr.
Dunkle, rundliche Gegenstände fielen aus Klappen an
der Unterseite der Gondel und stürzten zur Erde. Sich pilzförmig
ausbreitende Flammenteppiche ließen erkennen, wo die Bomben
eingeschlagen hatten. Die Augen des Grafen waren rote Kugeln, blind
vor Blut. Sein aufgedunsenes Gesicht glühte im Feuerschein. Er
wandte sich an Stalhein.
»Gott ist mit uns«, sagte Dracula.
Ringsum schossen Feuersäulen in die Höhe. Kate
wurde klar, dass sie auf ihrem Hügel ein leichtes Ziel bot. Dennoch
war sie so fasziniert, dass sie sich nicht vom Fleck rühren konnte.
Außerdem erachtete sie es als ihre Pflicht, die Stellung zu halten,
zu berichten, was sie gesehen hatte. Sie musste einfach
hinschauen.
Dies war die deutsche Frühlingsoffensive, die
Kaiserschlacht.
Obgleich von Haig bis hinab zum Karrengaul niemand bezweifelt
hatte, dass sie kommen würde, hatte sie die Alliierten
überrascht.
Als die Nacht hereinbrach, explodierten
Leuchtgranaten über den Schützengräben. Das grelle Magnesiumlicht
blendete sie. Die Panzer hatten die Wüste aus Stacheldraht und
Leichenteilen umgepflügt und eine Schneise für die Infanterie
geschlagen.
»Was ist denn das für ein Vollidiot da oben?«, rief
jemand. Kate wurde klar, dass sie gemeint war. »Sofort hier runter
mit dem Trottel, bevor wir ihn in Einzelteilen aufsammeln
müssen!«
Ein Mann, dem der Gestank von Jahren im
Schützengraben anhaftete, riss sie von den Füßen und zerrte sie in
ein Loch, halb voll mit lockerer Erde.
»Ich werd verrückt! Ein Weibsbild«, sagte der
Soldat.
Sein Zugführer fluchte. Kates Rot-Kreuz-Armbinde
war schlammbedeckt. Sie rieb sie mit dem Ärmel sauber.
»Sie ist Krankenschwester, Sir.«
»Na bravo.«
»Ich glaube, sie ist tot.«
Die Fangzähne ragten ihr aus dem Mund. Sie spürte,
wie ihr Kiefer sich zu einem Haifischmaul verzerrte.
»Jammerschade«, meinte der Zugführer.
»Nein, Sir«, erwiderte der Soldat. »Nicht tot,
tot. Sie wissen schon, ein Vampir.«
Der ganze Zug war warmen Blutes. Manche Regimenter
bestanden auf lebendem Kanonenfutter.
»He, Miss Blutsauger«, sagte der Zugführer und gab
ihr einen Stupser. Er war fortgeschrittenen Alters, um die dreißig.
»Noch alle Knochen beisammen?«
»Mein Name ist Kate Reed. Ja, ich bin
unverletzt.«
»Captain Penderei, zu Ihren Diensten. Betrachten
Sie sich als zwangsrekrutiert.«
Jemand reichte ihr einen Spaten mit blutigen
Handabdrücken darauf.
»Sehen Sie den Dreck da? Hauen Sie nur tüchtig
rein.«
Pendereis Männer griffen zu den Schaufeln und
legten sich ins Zeug. Der Graben war eingestürzt, und ein großer
Haufen Erde blockierte den Durchgang. Aus rückwärtigen Stellungen
herbeigeschaffte Verstärkung staute sich im Flaschenhals. Sie
konnten sich erst ins Kampfgetümmel stürzen, wenn eine Bresche in
das Hindernis geschlagen war. Kate salutierte und fing an zu
graben. Dass sie Reporterin geworden war, hatte ihrer Familie schon
genug Schande bereitet; dass sie nun auch noch als Erdarbeiterin
schuften musste, durften ihre Eltern nie erfahren.
Sie schleuderte eine Schaufel Dreck über die
Grabenböschung und rammte den Spaten wieder in die harte, versengte
Erde. Plötzlich drang das Blatt in etwas Weiches. Ein Stück Fleisch
brach aus einem im Todesschrei erstarrten Gesicht. Sie schrak
zurück. Tommies sprangen herbei, suchten nach den Armen des
Leichnams und zogen ihn aus der Wand. Der Tote war aus einem Stück.
Mit einem kräftigen Hauruck warfen ihn die Tommies in die Höhe, aus
dem Weg.
Mit der Beseitigung der Leiche war das Hindernis so
gut wie überwunden. Ein Soldat konnte es auf allen vieren bequem
passieren, ohne dass sein Stahlhelm über die Böschung ragte.
Penderei lobte seine Leute und befahl ihnen, vorzurücken. Als er an
Kate vorbeikam, salutierte er. Sie blieb mit der Schaufel in der
Hand zurück.
»Der Hunne hat die Linien durchbrochen«, sagte
Ginger. Er war der Telegrafist des Geschwaders. »Die ganze Sache
ist ein ziemlich böser Reinfall.«
Die Schlacht war in vollem Gange. Der Himmel über
den Schützengräben brannte. Winthrop konnte das Donnern der
Geschütze
und die massenhaften Schreie der sterbenden Soldaten selbst hier,
auf dem meilenweit entfernten Flugplatz, deutlich hören.
Sämtliche Piloten des Geschwaders Condor trugen
Fliegerkluft. Sämtliche Maschinen waren aufgetankt und standen auf
dem Rollfeld.
Über dem Kampfgelände hing ein dunkler Schatten mit
rotglühendem Bauch. Die Attila.
»Die Gaszellen sind riesig«, sagte Bertie. »Ein
paar Brandbomben, und das Schiffchen geht in Flammen auf. Wie ein
Ballon.«
»Es ist hundertmal größer als ein Ballon«, mahnte
Allard den Piloten. »Um einen solchen Knallfrosch zu entzünden,
braucht es einen großen Funken.«
»Ob er wirklich da oben ist?«
Winthrop hatte geglaubt, Dracula würde eine
verräterische Aura von Unheil und Verzweiflung verströmen.
»Der Geheimdienst hat bestätigt, dass sich Graf von
Dracula an Bord der Attila befindet«, wandte sich die graue
Eminenz an Captain Allard. »Ihre Stunde ist gekommen.«
»Sollten wir nicht lieber die Bodentruppen
bombardieren?«, gab Algy zu bedenken. »Unsere Jungs beziehen
bestimmt eine gehörige Tracht Prügel.«
Croft warf dem jungen Flieger einen vernichtenden
Blick zu. »Für uns zählt nur die Attila.«
Winthrop hatte erstmals das Gefühl, dass Allard
schwankte. Im Zweifel würde er seinen Befehlen Folge leisten.
Wenn Dracula dort oben war, konnte Richthofen nicht
weit sein. Winthrop vibrierte bis in die letzten Fasern seines
Körpers. So musste es einem Vampir zumute sein. Sein Blut pochte,
lechzte nach dem Sieg. Heute Nacht, so viel stand fest, würde es
zur Entscheidung kommen.
Die Piloten scharten sich um Jiggs, reichten ihm
Briefe und Souvenirs. Winthrop stand mit leeren Händen da. Er hatte
Catriona
nicht geschrieben, dass er noch lebte. Bei Morgengrauen würde das
vielleicht auch nicht mehr nötig sein. Letztlich war dies
wahrscheinlich die menschlichere Lösung.
Die erste Camel kreiste bereits über dem Feld und
wartete darauf, dass der Verband sich formierte.
Ausrüstungsgegenstände wurden auf Lastwagen
verladen. In ganz Maranique war niemand ohne Arbeit. Wenn diese
Mission beendet war, befand sich der Flugplatz womöglich schon in
Feindeshand. Falls dann noch Treibstoff übrig war, würde das
Geschwader nach Amiens ausweichen. Es würde kein Tropfen Treibstoff
übrigbleiben. Das Geschwader Condor würde kämpfen, bis es nicht
mehr kämpfen konnte.
Winthrop hievte sich in seine Maschine und machte
es sich hinter dem Steuerknüppel bequem.
»Kontakt«, brüllte er.
Jiggs warf den Propeller an. Die Camel setzte sich
langsam in Bewegung und schwang sich in die Luft. Obgleich die
Sonne längst versunken war, stand das Land in hellen Flammen.
Kate hetzte Pendereis Leuten hinterdrein. Weitere
Verstärkung war ihr dicht auf den Fersen. Sie brauchte nur dem
Klappern des Feldgeschirrs zu folgen, um den Weg zur Front zu
finden. Die Gräben waren teilweise überdacht und wurden zu Tunnels,
spärlich erhellt von Kerzenstummeln in Blechnäpfen.
Sie benutzte den Spaten als Sense, um Hindernisse
aus dem Weg zu räumen. Sie war nur noch ein Tier, das sich von
seinem Instinkt leiten ließ. Sie wollte sich ins dichte
Kampfgetümmel stürzen.
Als sie aus einem Tunnel in den Hauptgraben einbog,
stand sie plötzlich vor einer fünfzehn Fuß hohen Wand aus
durchweichten Sandsäcken. Männer stemmten Leitern dagegen, doch die
oberen Sprossen waren gebrochen.
Ein ohrenbetäubendes Knirschen peinigte sie bis ins
Mark. Mahlende Panzerketten rissen erste Sandsäcke in Fetzen. Der
motorisierte Moloch steckte fest in Schlamm und Stacheldraht. Die
Soldaten feuerten aus allen Rohren auf den walzeisernen Rumpf des
Panzers. Die Kugeln spickten das Metall mit Dellen. Der Panzer
schleppte sich schlingernd ein Yard weiter, bis die große flache
Nase über die Böschung ragte und einen Schatten auf die sich
windenden Soldaten an der Grabensohle warf.
Aus dem Innern des Ungetüms drang Rauch. Kate
hustete, fürchtete Gas. Die Kanone des kriegerischen Monstrums
schwenkte herum. Kate stürzte sich in den morastigen Abgrund des
Grabens. Eine Granate schoss über die Bresche hinweg und krepierte
in der Tunnelöffnung. Der Schütze hatte auf die Stelle gezielt, wo
sie eben noch gestanden hatte.
Der Blitz erhellte den Panzer, ließ jeden Bolzen,
jede Schraube sichtbar werden. Der Panzer glich einer Festung, mit
Schießscharten und Zinnen. Granatsplitter und Feuer spritzten nach
allen Seiten. Die Getroffenen sanken schreiend zu Boden und wälzten
sich in ihrem Blut.
Kate wollte töten.
Der Schwerpunkt des Tanks verlagerte sich über die
Grabenböschung hinaus. Die Nase kippte nach vorn, drohte die
Männer, die im Matsch umherkrochen, zu erdrücken. Die Ketten fraßen
sich in die rückwärtige Wand, fanden mahlend Halt und zogen die
Maschine in die Waagerechte. Nun konnte sie über den Graben
hinwegrollen wie über einen Riss im Asphalt. Die Männer feuerten
auf ihren eisengrauen Bauch, als sie den Schlammpfuhl
überquerte.
Kate ging in die Hocke wie ein Frosch, stieß sich
mit all ihrer Vampirkraft vom Boden ab und sprang mit ausgefahrenen
Klauen in die Höhe. Sie landete neben dem Panzer und streckte die
Hand nach der laufenden Kette. Ein Zipfel ihres Mantels verfing
sich
in den surrenden Rädern, und das Monstrum riss sie an sich. Sie
würde zermalmt werden wie in einer Mühle, doch ihr zerschundener
Körper würde dieses Ding zum Stillstand bringen. Was als
Schlachtruf in ihrer Brust begonnen hatte, endete als
Todesschrei.
Poe hatte Theo heute Abend mit seinem Manuskript
beehren wollen, doch die Ereignisse hatten sie überholt. Es begann
damit, dass die Attila vom Schloss ablegte, das Signal zum
Start der Offensive. Entlang der Linien rollten Panzer aus
getarnten Stellungen, und Männer pflanzten Bajonette auf, um zum
Angriff aufzubrechen. Die Mittelmächte stießen mit aller Kraft nach
vorn und überrollten die Entente. Dies würde den Sieg
bedeuten.
Sie standen auf dem Turm und verfolgten die
Vorbereitungen der Flieger auf die Schlacht, die ringsumher zu
hören und in einiger Entfernung auch zu sehen war. Obgleich sie
ihnen inzwischen fast vertraut vorkam, bot die Verwandlung der
Flieger noch immer einen überwältigenden Anblick.
Poe und Theo sahen zu, wie Richthofen die Gestalt
wandelte. Der Tod seines Bruders hatte in ihm anscheinend weder
Zorn noch Rührung wachgerufen. Sein Panzer, den Poe durch
geschicktes Fragen ansatzweise aufgebrochen hatte, war wieder
hermetisch verschlossen und ließ keinerlei Gemütsregung nach außen
dringen.
Richthofens ernstes Gesicht verschwand unter
dichtem Fell. Poe hatte geglaubt, der Flieger habe sie gar nicht
bemerkt, doch als Haarmann und Kürten beiseitetraten, verbeugte er
sich vor seinem Biografen und schwang eine Flügelspitze wie ein
Höfling seinen Umhang. Poe sagte Richthofen Lebewohl. Der Baron
sprang, gefolgt von seinen Kameraden, vom Turm. Die Flieger
umschwärmten die Attila.
Theo sah zu, wie seine Kampfgenossen in der Nacht
entschwanden. Seine Augen funkelten im Schatten seines
Mützenschirms.
»Es sieht so aus, als ob unsere Arbeit hier beendet
wäre«, sagte er schließlich. »Ab morgen werden wir nicht mehr
gebraucht.«
Ten Brinckens Jünger hatten ihre Akten eingepackt
und bereiteten sich auf den Rückzug vor. Karnstein war an die
italienische Front versetzt worden. Und Schloss Adler wurde zum
Hauptquartier des Grafen umgebaut. In dem Maße, wie das Schloss an
militärischer Bedeutung gewann, verlor es an wissenschaftlichem
Wert. Berichte wurden geschrieben und verschickt. Das Experiment
war beendet.
»Morgen werden sie den Krieg gewonnen haben,
Theo.«
Theo zuckte die Achseln. »Zu diesem Zweck hat
Dracula sie schließlich erschaffen. Aber wie Manfred schon sagte:
Es gibt kein ›nach dem Krieg‹. Sie sind Werkzeuge der Eroberung und
nicht der Herrschaft.«
»Eroberungen wird es immer geben.«
»Mein lieber Eddy, für einen Mann von so
bemerkenswerter Weitsicht sind Sie bisweilen erschreckend
blind.«
Poe war schockiert.
Obwohl nicht nur das Bodenpersonal, sondern auch
einige Wissenschaftler zurückgeblieben waren und Orlok durch die
leeren Gänge schlich, wirkte das Schloss nun, da das JG1
verschwunden war, wie ausgestorben. Die Flieger umschwirrten die
Attila wie Motten das Licht. Dank seiner scharfen Augen
konnte Poe ihre winzigen Gestalten selbst im Labyrinth der Nacht
deutlich erkennen.
Im Schlusskapitel hatte er Richthofens Reaktion auf
den Verlust seines Bruders beschrieben. Es war, als ob beide
Richthofens den Tod gefunden hätten und er verflucht sei, weiter
über Gottes Erdboden zu wandeln.
»Armer Manfred«, sprach Theo Poes Gedanken aus. »Er
ist trotz allem treu wie ein Hund.«
»Ich gäbe viel darum, wenn ich bei ihnen sein
könnte, Theo.«
Theo sah ihn an und verzog den Mund zu einem
schiefen Lächeln. »Da sich jetzt ohnehin niemand mehr um uns
kümmert, können wir tun und lassen, was wir wollen. Unten steht
eine Junkers J1 mit vollem Tank. Was halten Sie von einer kleinen
Spritztour?«
»Sie können fliegen?«
»Nur mit einem Flugzeug.«
In der Ferne stiegen Feuersäulen auf. Poe dachte an
den Himmel über der Entscheidungsschlacht.
»Ich bin noch nie mit einem …«
»Ein schweres Versäumnis für einen Propheten der
Zukunft.«
»Wie Sie meinen.«
Theo grinste, sein lebhaftes Temperament kehrte
zurück. »Der Rabe hat Flügel.«
In ihren letzten Augenblicken hätte Kate am
liebsten ihren Frieden mit Gott und der Welt gemacht. Doch das
blieb ein frommer Wunsch.
Da immer mehr Stoff in die Panzerkette gezogen
wurde, schloss sich ihr Mantel wie eine Zwangsjacke um ihren
Körper. Je näher sie den todbringenden Zahnrädern kam, desto
stärker wurde der Gestank von Schweröl und Wagenschmiere. Plötzlich
blieb der Motor im Innern der Maschine stehen, und sie hing an der
Außenseite des Panzers wie am Kreuz. Ein mechanisches Versagen,
eine verirrte Kugel oder die Hand Gottes hatte sie gerettet. Fürs
Erste.
Sie konnte eine Hand bewegen. Sie ballte die Finger
und formte die Nägel zu einer Messerspitze, stieß ein Loch in das
straffe Schulterstück des Mantels und riss. Nähte platzten, sie war
frei. Sie stürzte und bekam im letzten Augenblick die Felge eines
blockierten Rades zu fassen. Ihre mit Widerhaken bewehrten
Fingernägel kratzten über öliges Metall, doch sie verbiss sich
ihren
Schmerz. Hand über Hand zog sie sich hoch und kletterte auf den
Tank. Der eben noch von Flammenzungen beleckte Stahl war
heiß.
In dem rollenden Käfig steckten Feinde. Ob
Warmblüter oder Vampire, sie waren voll von pulsierendem Blut, das
sie zum Leben brauchte. Ein Gewehrlauf schob sich durch einen
Schlitz und zielte in ihre Richtung. Sie wirbelte herum, um aus der
Schussbahn zu gelangen, und packte die Waffe. Mit einem Ruck zog
sie das Ding heraus - worauf eine Lawine deutscher Flüche aus dem
Bauch des Molochs drang - und warf es hinter sich.
Sie blickte durch den Schlitz und knurrte wie ein
Tier. Sie witterte die Angst der Panzerfahrer, hörte die im Innern
ihrer wirkungslosen Wunderwaffe gefangenen Männer panisch scharren.
Sie würden im Feuer geröstet werden.
Plötzlich hatte sie ein Paar Stiefel vor der Nase.
Vermutlich das einzige Paar gewichster, musterungsbereiter Stiefel
in ganz Europa. Sie sah zu dem Soldaten hoch, der ruhig und
gelassen auf dem Panzer stand und keine Miene verzog, als seien die
Blei- und Silberkugeln, die ihm um die Ohren pfiffen, nichts weiter
als Hagelkörner. Er trug die Uniform der Vereinigten Staaten, doch
dieser Vampir war älter als die Neue Welt.
Seine Stiefel lösten sich auf, zerflossen zu
weißlichem Nebel. Sie hatte von dem Kniff zwar schon gehört, ihn
aber nie gesehen. Der Vampir verwandelte sich in ein schwach
leuchtendes Gespenst. Mit seinem Körper verschwanden auch
Ausrüstung und Kleider, sie waren ebenso ein Teil von ihm wie sein
ergrautes Haar. Ein Querschläger streifte den Panzer. Kate wollte
in Deckung gehen, doch der Anblick des Ältesten ließ sie erstarren.
Eine menschenförmige Wolke schwebte über dem Schlitz. Sie wurde
lang und schmal und stieß wie durch einen Schornstein ins Innere
des Panzers.
Markerschütternde Schreie drangen durch die dicken
Stahlund
Eisenplatten. Eine Pistole wurde abgefeuert, und die Kugel prallte
jaulend durch den engen Raum. Aus der Schießscharte platzte ein
roter Regen, der ihr Gesicht mit einem warmen Blutschleier
benetzte. Der Saft erregte ihre Sinne, und sie leckte sich gierig
das Gesicht und verschlang das Grauen, das darin brannte.
Ohne auf die Wiederkehr des Ältesten zu warten,
sprang sie vom Rücken des kriegerischen Ungeheuers und spürte
festen Boden unter den Füßen. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass
das Niemandsland kein Niemandsland mehr war. Endlose Ketten grauer
Uniformen marschierten in Reih und Glied durch die stockfinstere
Nacht und kletterten über ihre gefallenen Kameraden hinweg, eine
Flut von Menschen, die auf die alliierten Schützengräben
zuhielt.
Etwa dreißig Yards entfernt ging ein
Maschinengewehr los und mähte eine erste Garbe von vorrückenden
Truppen nieder. Sofort schloss sich die Lücke. Der zweite Feuerstoß
tötete noch mehr Männer. Dann wurden die Artilleristen überwältigt
und zum Schweigen gebracht. Die untoten Soldaten rissen die
Schützen in Stücke, Blut spritzte nach allen Seiten. Die Münder der
Deutschen troffen rot.
Der Älteste schwebte über dem Panzer und nahm
wieder menschliche Gestalt an, sein hübsches Gesicht strotzte vor
Blut.
Ein Schuss traf Kate, doch es war nur ein
Bleigeschoss. Die Kugel durchschlug ihre Wade. Die Wunde verheilte
in Sekundenschnelle. Der Knall gellte ihr noch in den Ohren, als
der Schmerz längst abgeklungen war.
Ein zweiter Tank spie einen brennenden Benzinstrahl
nach den Alliierten und ließ Feuer zu Boden regnen. Die Männer
ringsumher räumten das Feld, fielen zurück, fielen.
Der Älteste trieb auf den zweiten Panzer zu. Da er
seine Gestalt völlig in der Gewalt zu haben schien, musste er uralt
sein. Älter
als Dracula oder Geneviève. Älter als das Mittelalter. Womöglich
sogar älter als das Christentum. Wie es ihm wohl gelungen war, so
lange unentdeckt zu bleiben? Er musste zahllose Namen haben.
Der Flammenwerfer richtete sich auf und spie von
neuem helles Feuer. Der Strahl traf den Ältesten mitten in die
Brust. Er brannte wie ein Schmetterling. Jahrhunderte auf ewig
unbekannten Lebens wurden in einer achtlosen Sekunde ausgelöscht,
von einer grausamen Errungenschaft der modernen Welt in
funkensprühende Fetzen gerissen.
Jemand packte ihren Arm und rettete ihr
jämmerliches Leben, indem er sie mit sich zerrte, einer von
unzähligen Männern, die der Front den Rücken kehrten.
»Nimm die Beine in die Hand, Kamerad«, riet
jemand.
42
Die Nacht der Generäle
Im Hauptquartier in Amiens schrien alle
durcheinander. Zwei Dutzend Telefone waren besetzt, und die
Stabsoffiziere beeilten sich, wichtige Neuigkeiten von den
Stellungen entlang der Front weiterzugeben. Mit Rateaus bewaffnete
Lieutenants schoben Modelle über einen Kartentisch von der Größe
eines Tennisplatzes. Unablässiges Bombardement ließ die massiven
Mauern erzittern. Die halbe Stadt stand in Flammen. In den
Außenbezirken fielen in einem fort Granaten. Die
Bereitschaftsstellungen entlang der Ausfallstraßen wurden in
Windeseile besetzt. Dies war die große Offensive, auf die alle
gewartet hatten.
Erschöpft von einer weiteren stürmischen Fahrt über
den Kanal und betrübt über Mycrofts Begräbnis, wurde Beauregard von
kopflosen Strategen in eine Ecke abgeschoben. Es war reiner
Zufall, dass er sich so nah am Geschehen befand. Man hatte ihn ins
Hauptquartier bestellt, um Mr. Caleb Croft eine Liste der Agenten
des Diogenes-Clubs zu überreichen, die hinter den feindlichen
Linien operierten. Es war seine wahrscheinlich letzte Amtshandlung
in diesem Krieg. Danach durfte er in sein Haus im Cheyne Walk
zurückkehren und seine Memoiren schreiben.
Croft wurde direkt aus Maranique erwartet. Das
Geschwader Condor war am Himmel, ein rot bemalter Holzpfeil auf dem
Kartentisch. Ein Rateau schob den Pfeil in Richtung des schwarzen
Ovals, das die Attila darstellte. Die Klötzchen, die die
alliierten Truppen symbolisierten, bildeten ein wirres
Durcheinander, das vermutlich ihre tatsächliche Postierung
widerspiegelte. Die Mittelmächte hatten so viele Männer in die
Attacke geworfen, dass dem Hauptquartier die dafür vorgesehenen
schwarzen Klötzchen ausgegangen waren. Um den Mangel auszugleichen,
malte ein subalterner Offizier mit schwarzer Stiefelwichse
Malteserkreuze auf Papierstreifen.
Beauregard rieb sich die müden Augen. Der
Pulverdampf von hundert Zigaretten hing in dichten Schwaden über
der Karte. Die Luft im Kommandoraum war zum Schneiden.
Field Marshal Sir Douglas Haig telefonierte mit
Lord Ruthven und presste sich den Hörer an die Brust, während er
einem Kurier Befehle zubellte, der sie einem Telefonisten
übermittelte, welcher den Offizieren im Felde Bescheid gab, die
ihren Leuten sagten, was sie tun sollten. Haig hatte einen vagen
Plan. Er ließ sich von dem Vorstoß nicht entmutigen. Seine roten
Augen leuchteten wie Glühbirnen. Seine nadelspitzen, scharf
gezackten Zähne ritzten seine Unterlippe und besudelten sein Kinn
mit seinem Blut. Schäumend vor Begeisterung erteilte er
Befehle.
Winston Churchill, der aus London entsandt worden
war, um dem Blutvergießen beizuwohnen, stürzte sich in Hemdsärmeln,
mit gelöstem Kragen und in den Nacken geschobenem Zylinder in den
Trubel. Einen brennenden Zigarrenstummel im Mundwinkel, brüllte er
Zahlen und Fakten durch den Raum. Er musste sich vor kurzem erst
genährt haben, denn er war aufgebläht wie ein Ballon, seine Finger
glänzten wie rote Würste, und die Adern an seinen Schläfen pochten
wild.
General Jack »Blackjack« Pershing, der Kommandeur
des amerikanischen Expeditionskorps, konnte es kaum erwarten,
endlich mitspielen zu dürfen. Er stand mit einer Anzahl
amerikanischer Truppenklötzchen in jeder Faust an einem Ende der
Karte wie ein besessener Spieler, der soeben mit Taschen voller
Jetons an den Roulettetisch getreten ist. Neben ihm stand »Monk«
Mayfair, ein fleischfressender Affenmensch, der aussah, als habe
man einem von Moreaus Versuchskaninchen eine Generalsuniform
angezogen und einen Cowboyhut aufgesetzt.
Beauregard konnte sich des Eindrucks nicht
erwehren, dass es Vampiren wie Haig, Churchill und Pershing
Vergnügen bereitete, den langweiligen und zermürbenden Grabenkrieg
auf diese Art und Weise zu beenden. Sie waren trunken vor Erregung.
Berichten zufolge waren die Linien an über einem Dutzend Stellen
durchbrochen. Deutsche Kavallerieeinheiten galoppierten im Gefolge
der Panzer ins Getümmel.
Eine Gestalt in Grau trat ein. Croft überflog die
Karte mit einem süffisanten Lächeln. Infolge eines aktuellen
Berichts näherte sich der Pfeil des Geschwaders Condor dem Oval der
Attila.
Croft ignorierte Beauregard. Seit seiner
Beförderung existierte der Diogenes-Club für ihn nicht mehr.
Beauregard spürte die Namensliste in der Innentasche seines
Jacketts. Er hatte das ungute Gefühl, dass die Agenten, die er und
Smith-Cumming so sorgfältig eingeschleust und aufgebaut hatten, von
ihrem neuen, weitaus rücksichtsloseren Brotherrn buchstäblich
preisgegeben werden würden.
Haig ließ den Premierminister warten und brüllte:
»Der verdammte Narr soll sich zurückziehen«, in ein anderes
Telefon.
»Es ist unglaublich«, verkündete der Field Marshal
den Anwesenden und Lord Ruthven. »Der verfluchte Froschfresser
weigert sich, den Rückzug anzutreten. Mireau lässt seine Leute von
Panzerketten zermalmen, während wir über völlig intakte
Auffangstellungen verfügen. Le Rückzug, ce n’est pas
français. Kein Wunder, dass seine Leute ihn am liebsten pfählen
würden.«
Ein blaues Klötzchen, das Mireaus Divisionen
symbolisierte, wurde von der Karte gewischt und flog in eine Ecke.
Ein schwarzes Klötzchen trat an seine Stelle.
»Es sieht so aus, als wäre das Problem Mireau
gelöst, Herr Premierminister. C’est la guerre.«
Ein Schauder ergriff Beauregard. In diesem Raum
konnte man leicht den Eindruck gewinnen, der Krieg werde mit
Karten, Spielzeug, Klötzchen und Rateaus geführt. Der Fußboden war
mit ausrangierten Klötzchen übersät, die von den Offizieren achtlos
zertrampelt wurden. Jedes von ihnen stand für hundert oder mehr
Verluste.
Der Feind hatte offenbar die Absicht, von drei
Seiten vorzurücken, mit Paris als Angriffsziel. Mit Panzern,
Flugzeugen und Langstreckenbombardements wollten Draculas
Streitkräfte die Alliierten daran hindern, in Auffangstellungen
zurückzuweichen, und die Mannschaften und Unteroffiziere so sehr in
Panik versetzen, dass sich der strategische Rückzug in eine
kopflose Flucht verwandelte.
»Am Ende entscheidet die Truppenstärke«, sagte
Haig. »Und in dieser Hinsicht ist uns der Feind eindeutig
unterlegen.«
Wenn sich die Alliierten erst einmal zurückgezogen
hatten, würde ein tödlicher Regen auf die vorrückenden Deutschen
niederprasseln. Auf fremdem Terrain, nachdem sie sich noch dazu
vier Jahre lang in Tunnels versteckt gehalten hatten, wäre es ein
Klacks, ihnen mit Mörsern, MGs, Bomben, Minen, Flammenwerfern und
schweren Geschützen den Garaus zu machen. Beide Parteien warfen
alle Bedenken über Bord, gingen mit Schmiedehämmern aufeinander los
und versuchten den anderen dort zu treffen, wo es am wehesten
tat.
»Der Feind verfügt möglicherweise über eine Million
Männer«, wandte Churchill ein. »Eine Dampfwalze aus Eisen, die ganz
Europa überrollt.«
»Wir haben mehr als eine Million«, erklärte der
Field Marshal. »Wir könnten die Amerikaner in die Schlacht
werfen.«
Pershing entblößte die Fangzähne und jauchzte: »Die
Yankees kommen!«
Mayfair hoppelte zum Telefon, nahm mit einem
behandschuhten Fuß den Hörer ab und gab den amerikanischen
Stellungen grunzend Befehle durch. Pershing schleuderte verzweifelt
Yankee-Klötzchen auf die Karte, wie ein vom Glück verlassener
Spieler, der seine Pechsträhne zu überwinden versucht, indem er den
Einsatz mit jeder neuen Umdrehung des Rades erhöht. Mayfair raunzte
weiter Einsatzbefehle in den Hörer.
Granattreffer ließen das Gebäude erzittern. Staub
rieselte von der Decke auf den Tisch. Beauregard klopfte sich die
Schultern ab. Winthrop befand sich beim Geschwader Condor, mitten
im dichtesten Kampfgetümmel.
»Wir graben uns ein und schlagen zurück«,
verkündete Haig. »Wir werden diese verfluchten schwarzen Klötzchen
im Handumdrehen von der Karte fegen.«
43
Der Untergang der Attila
Die Landschaft erstreckte sich unter der
Sichtluke wie ein reich verzierter Teppich. Es gab keine klaren
Linien mehr, nur noch wirre Muster aus Ameisen und Flammen. Die
Offensive versprach ein glänzender Erfolg zu werden. Von der Front
trafen in einem fort Funksprüche ein. Der Widerstand des Feindes
schien erschöpft, Angriffsziele wurden zerstört, Befestigungen
durchbrochen. Die Armeen des Kaiserreiches rückten unaufhaltsam
vor.
»Morgen bei Sonnenuntergang sind wir in Paris«,
versprach Strasser seinem Oberbefehlshaber.
Dracula schwieg.
Die Attila setzte zum Sinkflug an. Nachdem
ein Gutteil der feindlichen Geschützstellungen zerstört oder
erobert war, konnte sich das Luftkriegsschiff bedenkenlos dem Boden
nähern. Nach jeder Bestätigung befahl Strasser eine Verminderung
der Flughöhe. Der Blick durch die Luke ließ immer neue Einzelheiten
erkennen. Die wimmelnden Ameisen wurden zu Menschen, zu Lebewesen,
die kämpften, litten, starben.
Der Geruch des Krieges sickerte ins Gondelinnere,
was bei Stalhein nicht ohne Wirkung blieb. Seine Nase stülpte sich
zur Schnauze aus. Vampirhauer brachen durch sein Zahnfleisch. Ein
dünner Flaum spross unter seinem Waffenrock. Seine Ohren wurden
spitz wie die einer Fledermaus, und sofort konnte er besser
hören.
Stalheins Verwandlung jagte Strasser, einem
Neugeborenen, einen fürchterlichen Schrecken ein. Stalhein kannte
diese Sorte nur zu gut. Wie alle Luftschiffer hielt Strasser
Flugzeuge für unerwünschte Gäste am Firmament. Zudem beunruhigte
ihn der
Gedanke, dass es Menschen gab, die sich Flügel wachsen lassen
konnten. Wie Graf von Dracula und Ingenieur Robur träumte er davon,
als Herr der Welt in einer kugelsicheren Gashülle friedlich über
der Erde zu schweben, riesige Löcher in die Wolken zu reißen und
gelegentlich mit großer Geste die eine oder andere Bombe
abzuwerfen. Kreaturen, die sich in geringerer Höhe tummelten und
tollten, waren nichts weiter als lästige Insekten.
Stalhein hatte dem Kapitän nur einen Moment lang in
die Augen sehen müssen, um ihm sein Geheimnis zu entlocken. Wenn er
die Gestalt gewandelt hatte, konnte er die Gedanken seines
Gegenübers lesen. Er musste sich zusammenreißen, damit seine
Wirbelsäule nicht hervorbrach. Wenn er sich vollständig verwandelt
hätte, wäre er aus seiner Uniform geplatzt.
Durch die Seitenluken sah Stalhein seine Kameraden
vom JG1, die Ehrengarde des Dämonenfürsten. Sie fielen rings um die
Attila in Formation. Brodelnde Furcht wallte gen Himmel. Für
die Entente musste die Ankunft der Attila und ihrer
Begleiter dem Jüngsten Gericht gleichkommen. Angesichts der
Erhabenheit des Schauspiels würden sich viele der Sache Draculas
anschließen. Und viele andere würden den Verstand verlieren.
Sie hatten die Schützengräben hinter sich gelassen
und schwebten nun über Gelände, das sich noch vor einer Stunde in
Feindeshand befunden hatte. Die Attila war auf gleicher Höhe
mit der ersten Welle vorrückender Panzer. Jedes Fleckchen Erde, auf
das der Schatten des Luftkriegsschiffes fiel, gehörte
Deutschland.
Ein junger Steuermann salutierte schneidig und
meldete die Sichtung gegnerischer Flugzeuge. Stalheins Blick
wanderte von der Bodenluke zum Panoramafenster. Eine riesenhafte
Fledermausgestalt schwebte vor dem Bug der Attila. In seiner
rechtmäßigen Position an der Spitze des Verbandes regierte Baron
von Richthofen die Lüfte wie ein Drache.
Der Nachthimmel war feuerrot. Stalhein sah die
feindlichen
Flugzeuge herannahen, winzige Punkte in der Finsternis. Geschwader
Condor, die einzige gegnerische Staffel, die dem JG1 gefährlich
werden konnte. Richthofen fieberte der Auseinandersetzung mit den
Männern, die seinen Bruder auf dem Gewissen hatten, bereits seit
Tagen entgegen.
»Jetzt werden Sie sehen, dass dieses Luftschiff
unbezwingbar ist«, sagte Ingenieur Robur und rieb sich die Hände.
»Diese englischen Lords sind schön dumm, wenn sie glauben, uns
besiegen zu können. Wir werden das Ungeziefer wie mit der
Fliegenklatsche vom Himmel holen.«
Dracula nickte gravitätisch.
»Tiefer gehen«, befahl er. »Ich will mir die
Schlacht aus der Nähe ansehen.«
Winthrops Mund schmerzte und war voller Blut.
Seine Zähne spalteten ihm fast den Kiefer. Der Vampir in ihm
erwachte, färbte sein Gesichtsfeld rot. Er zerrte sich Brille und
Kopfschutz herunter, riss die Augen auf und ließ sich den Flugwind
ins Gesicht wehen. Gierig sog er die eisige, rauchschwangere Luft
in seine Lungen und atmete den Brandgeruch des Krieges. Seinen
Nachtaugen entging nichts. Ball und Kate flüsterten mit leiser
Stimme auf ihn ein, trieben ihn in die Arena.
Die Attila war riesig. Ihr Eindringen in den
französischen Luftraum war eine Beleidigung, doch Winthrop machte
sich nichts aus dem Zeppelin oder seinem Passagier. Sein Interesse
galt einzig und allein der Kreatur, die dem Luftkriegsschiff
voranflog, dem Roten Baron. Heute Nacht würden sie Richthofen zur
Strecke bringen.
Die Schlacht zog rasch unter der Sichtluke vorbei.
Stalhein sah punktgroße Mündungsblitze, als MGs das Feuer auf die
Attila eröffneten. Die Erde rückte immer näher, so dass man
einzelne
Scharmützel erkennen konnte. Ein Panzer walzte über ein
Bauernhaus, einen Haufen zerschossener Ziegel, hinweg.
Infanteristen krochen auf eine Geschützstellung zu,
Stielhandgranaten explodierten in der Nähe des Ziels.
Dracula stand mit hinter dem Rücken gefalteten
Händen im Bug der Führergondel und betrachtete das Schauspiel. Er
verzog keine Miene, als die Camel-Staffel ausschwärmte und den
gesamten Himmelshorizont mit Punkten spickte.
Der Kapitän redete auf Robur ein, der sich auf
seine Steuerknüppel stützte und unwirsch den Kopf schüttelte. Die
beiden Luftschiffer waren geteilter Meinung. Zögernd und beklommen
erteilte Strasser seiner Mannschaft weitere Befehle.
Stalheins kraftstrotzende Unterarme platzten aus
den Nähten seiner engen Ärmel.
Die erste Camel feuerte. Winzige Blitze zuckten
rings um die Propeller. Sie waren zwar noch außer Schussweite, doch
die Briten zogen es vor, sich bemerkbar zu machen, ehe sie zum
Angriff übergingen. Stalhein respektierte das, obwohl er es für
töricht hielt.
Die Flieger links und rechts des Zeppelins rückten
zu Richthofen auf.
Plötzlich war ein lautes Krachen zu hören. Die
Luftschiffer wirbelten herum. Stalheins Waffenrock war im Rücken
geplatzt. Er schüttelte die Fetzen ab und atmete tief durch. Seine
Flügel fingen an zu wachsen, Hautfalten sprossen aus seinen
Achselhöhlen und wucherten an den Unterseiten seiner Arme
entlang.
Die Attila hatte die deutschen Truppen
hinter sich gelassen. Die Straßen wimmelten von britischen und
amerikanischen Soldaten auf dem Rückzug.
Strasser besprach sich rasch mit Reitberg, dem
ersten Bordschützen. Wichtige Stellungen sollten vernichtet werden.
Derlei Aktionen würden den Rückzug der Entente im Handumdrehen
in eine Flucht verwandeln. Reitberg wankte, unverständliches Zeug
vor sich hin murmelnd, über einen Laufgang zum Bombenschacht.
Eine Camel, die ihrer Staffel gleichsam als
Sturmkolonne vorausflog, führte einen ersten Schlag gegen den
Zeppelin. Zwei Flieger nahmen sie von oben und unten in die Zange
und feuerten, was ihre Spandaus hergaben. Der Motor des Flugzeugs
zerbarst in einem Feuerball, der Stalhein die Augen versengte. Die
Flieger wichen flügelschlagend vor der Explosion zurück, und die
brennende Maschine trudelte dem Erdboden entgegen.
Strassers Männer brachen in laute Beifallsrufe aus,
doch Roburs finsterer Blick brachte sie schlagartig zum Schweigen.
Für einen Luftschiffer ziemte es sich nicht, die Taten ordinärer
Flugzeugkutscher zu bejubeln. Strasser ging noch einmal zu Robur
und packte ihn am Ärmel.
»Wir fliegen zu tief«, beharrte der Kapitän, »zu
nah am Boden.«
Der Ingenieur schüttelte Strasser ab, doch seine
Zweifel blieben. Robur, ebenfalls ein Zeppelin-Fanatiker, wusste um
die Grenzen seiner Konstruktion.
Dracula wandte sich halb zu ihm um und machte ihm
ein Zeichen. Noch tiefer. Strasser wollte widersprechen, doch einen
Befehl des Grafen infrage zu stellen war undenkbar. Zu keinem
klaren Gedanken fähig, trat er zurück, und Robur riss das Kommando
an sich und erteilte die entsprechenden Befehle. Die Steuerleute
nahmen Haltung an, zogen Hebel und Drähte, die einen Teil des
Traggases entweichen ließen, so dass die Attila weiter an
Höhe verlor. Strasser rang verzweifelt die Hände.
Stalhein ging um die Sichtluke herum. Obgleich er
kaum größer war als in seiner menschlichen Gestalt, hatte er sich
in ein fliegendes Ungeheuer verwandelt, halb Mensch, halb
Fledermaus. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, spreizte er
die Schwingen.
Er trat neben Dracula und beobachtete, wie seine
Kameraden die Camels in einen Hahnenkampf verwickelten. Eine
Maschine nach der anderen explodierte, und ein glühender
Trümmerregen ging über der Landschaft nieder.
Robur machte es sich in seinem Sessel am
Orgelmanual bequem und genoss seine Autorität. Die Luftschiffer
hatten solchen Respekt vor dieser lebenden Legende ihrer
Profession, dass sie seinen Anordnungen widerspruchslos Folge
leisteten. Strasser hatte nichts mehr zu melden.
Plötzlich prallte etwas gegen das Fenster, und ein
Sprung verunzierte das dicke Glas. Keine Handbreit von Draculas
Kopf entfernt steckte eine verformte Kugel in der Scheibe, ihre
Spitze glänzte silbrig. Obgleich der Graf die Achseln zuckte, sah
Stalhein, dass seine Schultern leise bebten. Der Oberbefehlshaber
verknotete die Finger hinter dem Rücken, um zu verbergen, dass
seine Hände zitterten.
Irgendetwas stimmte nicht. Dracula hatte keine
Angst. Dracula war die gestaltgewordene Angst.
Strasser wartete auf den Befehl, mit dem Aufstieg
zu beginnen. Es war höchste Zeit, in frostigere Gefilde
auszuweichen und den bevorstehenden Sieg aus sicherer Höhe zu
verfolgen.
Dracula blickte in die brandgefleckte Finsternis
hinaus.
»Noch tiefer«, sagte er.
Winthrop hatte eigentlich damit gerechnet, dass
die Attila aufsteigen würde, sobald die Camel-Staffel in
Sicht kam. Allard hatte die Condors angewiesen, den Bauch des
Zeppelins zu attackieren, und sie eindringlich vor der dünnen Luft
und der schneidenden Kälte gewarnt, die eine Decke bildete, über
der ein Luftschiff sicher aufgehoben und ein Flugzeug rettungslos
verloren war.
Stattdessen hielt die Attila sich dicht über
dem menschenübersäten Boden und bombardierte die zurückweichenden
Truppen.
Nur ein Wahnsinniger hätte sich mit einer Million Gallonen
entflammbaren Gases in die Nähe eines Feuergefechts gewagt. Dracula
war dieser Wahnsinnige.
Winthrop zog seine Camel steil nach oben und
verließ die Formation. Allards Plan, Motor und Treibstofftanks von
unten unter Feuer zu nehmen, war undurchführbar.
Er überflog die Hülle des Zeppelins in so geringer
Höhe, dass sein Fahrwerk die weiten Bahnen versteifter Seide
streifte. Eine Bombe hätte ausgereicht, den Leviathan zu
vernichten. Doch die Camel war kein Bomber.
Obwohl er wusste, dass er seine oberen Flügel einer
schrecklichen Belastung aussetzte, drückte Winthrop die Maschine
und presste beide Daumen auf die MG-Knöpfe. Sein Zwillings-Lewis
beharkte den Rücken der Attila und riss ihr eine Doppelreihe
winziger Löcher in die Haut. Das war ungefähr so wirkungsvoll, wie
Moby Dick mit Hutnadeln zu spicken. Brandmunition brauchte ein
festes Ziel, um explodieren zu können. Die kleinen Kugeln
durchschlugen die leere Hülle, ohne Schaden anzurichten.
Winthrop jagte über die Attila hinweg und
stellte das Feuer ein. Dann flog er eine rasche Wende, um einen
neuerlichen Angriff anzusetzen. Eine riesenhafte Fledermaus war ihm
dicht auf den Fersen gewesen. Jetzt hielt er direkt auf sie zu.
Schüsse krachten. Die Kugeln pfiffen ihm um die Ohren.
Stalhein sah die Gesichter der Entente-Soldaten,
die, von dem Bombenhagel unbeeindruckt, in den Himmel feuerten. Die
Geschosse prallten jaulend von der Führergondel ab.
Gewehrfeuer konnte der Attila nichts
anhaben. Die Gondel war gepanzert und die Hülle groß genug, um eine
Million mikroskopisch kleiner Wunden zu verkraften, bevor sie
platzte und in Flammen aufging.
Doch eine Sprenggranate, eine Minenbombe nur
…
Reitberg, der über den schaukelnden Laufgang
wankte, geriet ins Straucheln, stürzte und klammerte sich an die
Verspannung. Blut sprudelte aus seinem Kragen. Eine verirrte Kugel
hatte seine Halsader getroffen. Der Bordschütze fiel vom Laufgang
kopfüber auf die Sichtluke. Die Scheibe zitterte, ging aber nicht
entzwei. Schmale Blutrinnsale flossen über das Glas und ließen es
erblinden.
»Wir müssen höher«, brüllte Strasser aufgebracht
und sah Dracula flehentlich an. Der Kapitän konnte das Schiff nur
in Sicherheit bringen, wenn der Graf seinen Befehl rückgängig
machte. Dracula stand reglos wie eine Statue im Bug der
Führergondel und beobachtete den Hahnenkampf. Strasser blickte
hilfesuchend zu Robur. Der Ingenieur war so sehr mit der Steuerung
seines Meisterwerkes beschäftigt, dass er den Zweifeln seines
Untergebenen keinerlei Beachtung schenkte.
Wie durch ein Wunder war Winthrops Maschine heil
geblieben. Der Rumpf hatte den einen oder anderen Treffer
abbekommen, doch Winthrop selbst war unverletzt. Der
Gestaltwandler, dem er sich gegenübersah, war nicht der Rote Baron,
sondern kleinere Beute.
Winthrop legte die Camel auf die Seite und
eröffnete das Feuer. Er schwirrte an dem Flieger vorbei und
zerfetzte ihm mit einer gezielten Salve die Schwingen. Die Kreatur
geriet ins Trudeln, der Wind fing sich in ihren Flügeln und renkte
ihr die Schultern aus. Da er den Deutschen nicht mehr sehen konnte,
nahm Winthrop an, dass er ihn abgeschossen hatte.
Er flog schnell, sauste um den ungeheuren Rumpf des
Luftschiffs und verlor die Schlacht allmählich aus den Augen. Als
er seine Trommelmagazine austauschte, hatte er einen Moment lang
das Gefühl, mit dem Zeppelin allein zu sein. Dann umrundete
er die massige Gashülle der Attila und sah, wie die Condors
und das JG1 sich in einem Chaos aus heißem Stahl und Feuer einen
Kampf auf Leben und Tod lieferten. Flugzeuge explodierten wie
Kometen.
Ein riesenhafter Feuerdrache torkelte
flügelschlagend aus der Schussbahn einer Camel. Anhand seiner Größe
erkannte Stalhein ihn als Emmelman. Flammen leckten an seinem
unförmigen Leib und zerfraßen seinen Schwingenbaldachin. Strasser
schnappte erschrocken nach Luft, als er Emmelman auf das Schiff
zustürzen sah. Wenn er auf eine Gaszelle traf, war die Bombe
geplatzt.
Eine Camel stieß auf Emmelman herab. Der änderte
den Kurs und tauchte in die Tiefe. Der Pilot, der sich an die
Fersen des Fliegers geheftet hatte, war unwissentlich zum Retter
der Attila geworden.
»Das ist doch der nackte Wahnsinn«, kreischte
Strasser und wankte auf die Hebelwand zu. »Wir müssen höher.«
Dracula sah ihn von der Seite an, Flammen loderten
in seinem Blick.
Hardt, die rechte Hand des Grafen, brachte seine
Pistole in Anschlag und schoss dem Kapitän ins Bein. Strasser
schrie auf, stolperte und schlug mit ausgestreckten Armen
hin.
»Wir behalten unseren Kurs bei«, sagte Hardt. »Wir
sind doch schließlich alles tapfere Soldaten, oder?«
Völlig von Sinnen befahl Robur seiner Mannschaft,
die Attila auf Kurs zu halten. Er setzte sich ans
Orgelmanual und entrang den Pfeifen schaurige Akkorde.
Strasser rollte sich zu einer Kugel zusammen. Die
Steuerleute scharten sich um den Kapitän und halfen ihm auf die
Beine. Als er endlich stand, verlor er das Bewusstsein.
Emmelman schlug auf dem Boden auf und
explodierte.
Aus den Baumkronen schoss eine Feuersäule empor.
Winthrop zog seine Mühle steil nach oben und sah sich um. Zu seinem
Entsetzen hatte er sich in ein Ungeheuer verwandelt. Doch nur ein
Ungeheuer konnte den Roten Baron bezwingen.
Obgleich sie ihnen zahlenmäßig unterlegen waren,
holten die Gestaltwandler mehr Camels vom Himmel, als sie Verluste
erlitten.
Brandberg überholte ihn. Ein Fledermausgeschöpf
hatte die Klauen in die Heckflosse seiner Camel geschlagen und
arbeitete sich wie mit einem Büchsenöffner zum Piloten vor. Die
Maschine geriet ins Trudeln und riss den Vampir mit sich in die
Tiefe. Eine zweite Feuersäule stach gen Himmel. Eins zu eins
unentschieden.
Die Flugabwehrkanonen schwiegen. Kein Archie weit
und breit. Die Offensive hatte die Linien überrollt. Sie waren tief
in ihr ehemaliges Heimatgebiet vorgedrungen. Doch darüber konnte
Winthrop sich jetzt keine Gedanken machen. Er musste seine Beute
aufspüren und zur Strecke bringen.
»Meine Herren«, sagte Hardt, »Sie haben Ihrem
Kaiser einen Dienst erwiesen, den man Ihnen nie vergessen
wird.«
Dracula hatte sich abgewandt. Roburs irre Musik
hallte durch die Führergondel.
»Unser Tod wird der gerechten Sache zum Sieg
verhelfen.« Ein Kugelhagel prasselte gegen die Fenster. Ein
Windstoß drückte die Scheiben ein, und ein Glasregen ging nieder.
Stalheins Flügel zuckten nervös. Es war an der Zeit, sich in die
Luft zu schwingen. Hardt entbot seinen Gefährten einen letzten
Gruß.
Auf der Suche nach Richthofen schlug Winthrop
einen Bogen um den Hahnenkampf im Schatten der Attila. Er
stieg steil in den dunklen Himmel und warf einen Blick nach
unten.
Eine winzige Flammenzunge leckte an der
Führergondel des Zeppelins. Eisige Winde brachten sie blitzschnell
zum Erlöschen.
Eine Camel zog mit Winthrop gleich. Anhand der
Wimpel erkannte Winthrop den Piloten als Allard. Ein Gestaltwandler
verfolgte den Geschwaderkommandeur. Winthrop jagte ihm eine
Feuersalve in die Brust, und er sank, fand langsam wieder in die
Waagerechte. Sollte ein anderer Pilot den verwundeten Vampir vom
Himmel holen. Für ihn gab es nur einen Sieg, der zählte. Ob er
bestätigt wurde, spielte keine Rolle. Winthrop genügte es zu
wissen, dass er sein Ziel erreicht hatte.
Allard ließ die Attila links liegen und flog
einen weiten Kreis. Dann schwenkte er herum, näherte sich ihr von
neuem, als sei der Luftschiffrücken eine Landebahn, und feuerte
seine Signalpistole ab. Die Leuchtrakete versengte die Außenhaut
des Zeppelins und wies Allard mit violettem Flackerschein den Weg.
Als er begriff, was der Geschwaderkommandeur vorhatte, zog Winthrop
am Steuerknüppel und gewann an Höhe. Allards Camel streifte die
Seidenhülle mit den Rädern und wurde von der um sich greifenden
Signalflamme erfasst. Die Maschine kippte vornüber, die Tragflächen
gaben nach, und der Propeller fraß sich in die Seidenhaut. Im
Rücken der Attila klaffte ein Riss, und Allard fiel hinein.
Aus dem Loch in der Zelle strömte Gas.
Allards Motor setzte aus. Im Innern des Schiffes
wurde geschossen. Mündungsblitze schimmerten durch die Seide, als
Allard die Magazine seines Zwillings-Lewis leerte. Dann ein
violetter Funke, als der Geschwaderkommandeur, in einem Meer von
entflammbarem Gas versinkend, eine zweite Leuchtrakete
abfeuerte.
Der Aufprall ließ die Attila erzittern.
Robur schrie angesichts der Schändung seines geliebten Schiffes
wütend auf und ließ die Hände auf die Tasten niedersausen. Ein
lauer Wind orgelte wimmernd
durch die Pfeifen, begleitet vom Knarren und Krachen zahlloser
Metallstreben.
Hardt stand über der Sichtluke, wo der tote
Reitberg lag, und trat das Glas mit schwerem Stiefel aus dem
Rahmen. Die Scheibe ging in Stücke, und Reitberg fiel zur Erde wie
eine leblose Puppe.
Stalhein war zwischen den bröckelnden Wänden der
Führergondel eingesperrt. Er wollte frei sein und fliegen.
Dracula schenkte der Panik noch immer keine
Beachtung.
Hardt salutierte und trat lächelnd durch das Loch.
Er sank wie ein Stein. Die anderen Leibgardisten Draculas taten es
ihm zögernd nach. Manche sprachen ein Gebet, die meisten schwiegen
dumpf.
Strasser, trotz seiner Schmerzen hellwach und
konzentriert, zerrte vergeblich an den Steuerhebeln. Zu viele
Verbindungsdrähte waren gerissen. Die Orgelpfeifen ächzten.
Die erste Explosion erschütterte das Luftschiff,
und ein fauliger Geruch machte sich in der Gondel breit. Dann
folgte die zweite Explosion.
Ein Feuerball durchbrach die Außenhaut der
Attila und zerfetzte sie wie einen Lampion.
Winthrop fühlte heiße Luft aufsteigen.
Er wollte wegsehen, brachte es jedoch nicht fertig.
Das Luftschiff knickte in der Mitte ein. Eine Stichflamme stülpte
das Innere einer Gaszelle nach außen. Das splitternde Höhenleitwerk
kippte himmelwärts. Im Feuerschein erkannte er die Umrisse von
einem guten Dutzend Fliegern, die verzweifelte Anstrengungen
machten, dem Sog des riesenhaften, rettungslos verlorenen Schiffes
zu entgehen.
In Bugnähe flog eine weitere Zelle in die Luft.
Winthrop sah, wie die Flammen Camels und Gestaltwandler mit Haut
und Haar verzehrten. Er war die Ruhe selbst. Richthofen würde sich
nicht
so einfach übertölpeln und vernichten lassen. Der Rote Baron
gehörte ihm, ihm ganz allein. Die nächste Zelle explodierte.
Das Loch im Gondelboden gab den Blick frei auf den
taghell erleuchteten Wald. Die Attila war eine brennende
rote Sonne. Die Flammen breiteten sich ringsum aus, züngelten die
Laufgänge entlang, schossen an den Seilen empor und jagten die
Steuerleute vor sich her.
Ein Teil der Besatzung war Hardts Beispiel gefolgt.
Stalhein sah, wie die Männer in den Baumwipfeln hundertfünfzig
Meter unter ihm zerschmettert wurden. Wenn einer von ihnen
überlebte, wäre es ein wahres Wunder. Er harrte tapfer seiner
letzten Pflicht.
Strasser trat, ruhig und gelassen, von den
Steuerhebeln zurück, fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und
setzte seine Mütze auf. Er rührte sich nicht von der Stelle. Er war
wild entschlossen, mit seinem Schiff unterzugehen.
Robur ließ von der Orgel ab und sah seinem treuen
Gefährten ins Gesicht. »Wir hätten gewonnen«, sagte er. »Wenn die
verfluchten Insekten nicht gewesen wären.« Er meinte nicht den
Krieg zwischen Entente und Deutschem Reich, sondern den Krieg
zwischen Flugzeugen und Zeppelinen.
Dracula stand auf. Stalheins großer Augenblick war
gekommen. Mit der Hitze unter seinen Schwingen kämpfend, rappelte
er sich mühsam hoch und schlang von hinten die Beine um den Grafen.
Dann schleppte er sich und seine Last in den ramponierten Bug der
Gondel und sprang durch die zerschossene Luke.
Eine Ratte verließ das sinkende Schiff. Eine
geflügelte Gestalt mit einem Bündel zwischen den Beinen.
Winthrop ließ das Wesen unbehelligt ziehen. Er war
auf wichtigere Beute aus.
Er durchstreifte den Himmel.
Draculas Gewicht zog Stalhein in die Tiefe, und
die schwarze Gashülle der Attila hing über ihnen wie ein
Feuerbaldachin. Der Ingenieur traktierte, von wilder Raserei
ergriffen, ein letztes Mal die Tasten und entlockte seiner Orgel
irrsinnige Klänge.
Stalheins Spannweite nahm zu, und Dracula wurde ihm
leichter. Sie hielten direkt auf den Wald zu.
Die Attila war verloren, eine Kette
brennender Ballons stürzte zur Erde. Die Gondel krachte hundert
Meter hinter ihnen in die Bäume.
Stalhein beschleunigte, entkam den Flammenfingern
nur um Haaresbreite.
Der Hahnenkampf, unterbrochen durch den Untergang
der Attila, ging weiter. Die Überreste beider Parteien
hatten jede Hoffnung aufgegeben, dieses Gefecht lebend zu beenden,
und lieferten sich eine tödliche Schlacht. Er hielt nach einem
Landeplatz Ausschau. Wenn er seine Pflicht erfüllt hatte, wollte er
seinen Kameraden in der Luft zu Hilfe eilen.
Ein Flugzeug näherte sich ihm von oben. Obgleich er
unbewaffnet war, hatte er im Zweikampf durchaus eine Chance. Er
hätte Dracula absetzen und dem Piloten den Kopf abreißen können.
Doch er durfte seinen Führer nicht im Stich lassen.
Auf einen Blick erkannte er, dass ihm keinerlei
Gefahr drohte. Es war eine deutsche Maschine, eine zweisitzige
Junkers J1. Der Aufklärer würde ihm Deckung bieten.
Sie hatten den brennenden Wald hinter sich
gelassen. Vor ihnen erstreckte sich schnurgerade eine Straße.
Spiegelglatte Seen warfen den Feuerschein zurück. Stalhein spreizte
die Schwingen, ließ sich vom Nachtwind bremsen statt vorantreiben,
und setzte zur Landung an. Sie schlugen auf dem Boden auf, der Graf
entglitt ihm, und er rollte in einem wüsten Durcheinander aus
Armen, Flügeln und Beinen über ein Feld.
In der sicheren Annahme, dass er sich alle Knochen
gebrochen
hatte, drehte er sich um und versuchte sich zu orientieren. Im
Gegensatz zur ruhigen Luft war der Erdboden schwankend und
unsicher. Er hob und senkte sich wie das Deck eines Schiffes in
sturmgepeitscher See.
Die Junkers kreiste wie ein Schutzgeist über
ihm.
Stalhein sah, wie Dracula aufstand und seine
Uniform abklopfte. Er begriff noch immer nicht, weshalb die
Attila geopfert worden war, weshalb ein Luftschiff
Selbstmord begangen hatte. Der Graf baute sich vor Stalhein auf und
blickte zu ihm herab. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, doch
Stalhein erkannte sofort, dass er benommen war. Bei jedem anderen
hätte man derlei als Frontneurose abgetan. Bei Dracula war das
undenkbar.
Das Feld war keineswegs verlassen. Männer schrien
auf Englisch. Schüsse krachten. Stalhein fuhr zusammen.
Er blickte auf und sah, dass Dracula verwundet war.
Seine Brust war blutgetränkt.
»Sterben«, verkündete er theatralisch, »wirklich
tot sein …«
Sie waren von Schattenmännern umzingelt. Die
Junkers beharkte vergeblich, mehrere Hundert Fuß entfernt, das
Feld. Silber schimmerte im Licht. Aufgepflanzte Bajonette
nahten.
Der Graf versuchte immer noch zu sprechen.
»Armer Béla«, murmelte er, kaum verständlich. »Der
Vorhang fällt.«
Die Klingen sausten hernieder, stachen in den
reglosen Vampir, durchschlugen Hals und Rippen. Stalhein konnte
seinem Herrn und Meister nicht helfen. Seine Flügel waren geknickt,
und er hatte sich ein Bein gebrochen. Wenige Minuten nur, und seine
Knochen wären wieder heil. Doch diese wenigen Minuten blieben ihm
nicht mehr.
Der Feind riss Dracula in Stücke und verstreute ihn
über das Feld. Da bemerkten sie den abgestürzten Flieger.
Schaudernd vor Entsetzen beim Anblick seiner traurigen Gestalt,
traten sie
näher. Silberspitzen gruben sich in seine Brust. Die britischen
Soldaten empfanden beinahe Mitleid, als sie ihm das Herz
durchbohrten.
44
Kagemusha Monogatari
Croft entfernte das schwarze Oval der
Attila eigenhändig von der Karte. Ein triumphierendes
Lächeln spielte um seine Lippen.
»Gentlemen«, verkündete er, »Dracula ist tot. Man
wird uns seinen Kopf in Kürze überbringen.«
Beauregard hörte diese Worte nicht zum ersten Mal.
Auch Vlad Tepes hatte man nach seinem Tod angeblich enthauptet und
den Kopf dem Sultan überbringen lassen. Und doch hatte er
überlebt.
Crofts Nachricht ging in der allgemeinen Hektik
unter. Haig und Pershing machten sich die Ehre streitig, mit den
Leichen ihrer Soldaten die Breschen in den Schützengräben
geschlossen zu haben. Der Hörer des Telefons, das sie mit dem
Premierminister verband, baumelte, zwitschernd wie ein kleiner,
kranker Vogel, an seinem Kabel.
Mireau war tot, und die Franzosen zogen ihre
Truppen zusammen. Die Amerikaner stellten sich gegen die deutsche
Offensive: milchbärtige Rekruten gegen schlachtgestählte Veteranen
oder, besser, beherzte junge Männer gegen ergraute, kampfesmüde
Krieger. Und die Briten hatten sich eingegraben.
Auf dem Dach des Hauptquartiers krepierte eine
Granate. Ein Stück Gips fiel von der Decke und bestäubte Croft und
Churchill
mit einer dünnen Puderschicht, so dass sie aussahen wie
Schreckgespenster. Leberfarbene Lippen und feuerrote Augen bildeten
die einzigen Farbtupfer in ihren kreidebleichen Masken. Subalterne
wurden mit Eimern ausgesandt, um den Dachstuhlbrand zu
löschen.
»Es ist offensichtlich, dass große Verluste und
schwere Niederlagen hätten vermieden werden können«, freute sich
der geisterhafte Croft, »wenn der Diogenes-Club seine Verantwortung
für den geheimen Krieg beizeiten abgetreten hätte.«
Die deutsche Offensive war wie eine Welle, die auf
breiter Front gegen die Bollwerke der britischen Auffangstellungen
brandete und schäumte.
Churchill dachte angestrengt nach.
»Sie können auf keinen Fall so weitermachen«, sagte
er schließlich. »Ohne die Attila werden sie den Überblick
verlieren. Früher oder später wird es zum Chaos kommen.«
Comte Hubert de Sinestre, ein zynischer General,
meldete, dass Dracula gesichtet worden sei.
Croft merkte auf. »Die Attila?«
»Nein«, sagte de Sinestre. »Dracula führt seine
Kavallerie in voller Rüstung in die Schlacht. Er reitet einen
schwarzen Hengst und schlägt wild mit seinem Silberschwert um sich.
Hier, an der linken Flanke. Wo der tapfere Mireau den Tod
fand.«
Der Offizier schien andeuten zu wollen, dass die
Deutschen einen neuerlichen Vorstoß unternommen hatten.
Croft war beunruhigt. »Wir wissen mit Bestimmtheit,
dass sich der Graf an Bord des Luftschiffes befand. Bodentruppen
haben ihn getötet.«
Der französische Vampir zuckte die Achseln. »Der
englische Geheimdienst ist für sein Misstrauen berühmt. Colonel
Dax, ein überaus verlässlicher Offizier, hat sich für die
Richtigkeit der Meldung verbürgt.«
»Dracula war an Bord des Schiffes. Das entspricht
ganz seiner Natur.«
»Der Graf erweist sich als außerordentlich mobil«,
fuhr Churchill dazwischen. »Ich habe soeben eine Depesche von
Captain George Sherston von den Royal Flintshire Fusiliers
erhalten, die besagt, dass Dragulya höchstpersönlich einen
Bajonettangriff auf die rechte Flanke geführt hat, wobei er von
Silberkugeln durchsiebt wurde. Wiederum ein Grund zum Feiern, Mr.
Croft?«
Croft zerquetschte das Attila-Oval in seiner
Hand.
»Wir haben es offenbar mit einer Armee von
Doppelgängern zu tun«, folgerte Beauregard. »Als Nächstes wird der
Graf in Piccadilly auftauchen, mit einem Strohhut auf dem
Kopf.«
»Eine mittelalterliche Taktik«, sagte Churchill und
ballte eine feiste Hand zur Faust. »Imitatoren, um die Truppen zu
vereinen, um Feuer auf sich zu ziehen.«
»Der echte Dracula war an Bord des Zeppelins. Ich
habe das bereits bestätigt.«
Crofts gräuliches Gesicht verfärbte sich allmählich
grün. Seine Hände zuckten nervös.
»Der Kavallerie-Dracula liegt am Boden«, sagte de
Sinestre. »Von MG-Feuer in Stücke gerissen. Der Angriff ist
niedergeschlagen. Mireau ist gerächt.«
»Das genügt nicht«, meinte Churchill. »Wir müssen
ihn und alle seine Zwillinge vernichten.«
»Er ist tot. Wirklich tot«, beharrte Croft.
»Er wird sich an einem sicheren Ort aufhalten«,
überlegte Beauregard. »Vermutlich in Berlin. Das Ganze war ein
Ablenkungsmanöver.«
»Nein«, versetzte Croft. Seine Finger schlossen
sich um Beauregards Kehle. »Ich habe Recht, und Sie haben
Unrecht.«
Sein Gesicht, halbverfault unter der straffen Haut,
kam näher, geisterbleich und grün, mit Gipsstaub überpudert.
Beauregard
packte die Handgelenke des Vampirs und versuchte, sich aus seinem
Würgegriff zu befreien.
Die Offiziere gaben sich alle Mühe, die beiden
Streithähne zu trennen.
»He da«, schnauzte Haig, »sofort Schluss damit, ihr
beiden. Hier wird nicht gerauft. Wir befinden uns im Krieg, falls
Ihnen das entgangen sein sollte.«
Croft ließ ihn los und stieß ihn von sich.
Beauregard schnappte hustend nach Luft und lockerte den Kragen, der
seinen mit blauen Flecken übersäten Hals umschloss. Der Mann in
Grau beruhigte sich, sackte kraftlos in sich zusammen. Beauregard
hatte keinen Zweifel, dass die Karriere des Vampirs in Kürze einen
schweren Rückschlag erleiden würde.
Haig und Pershing wurden sich einig und pflasterten
die Straße nach Amiens mit britischen und amerikanischen Klötzchen.
Schwarze Klötzchen, verstärkt durch mit Kreuzen markierte
Papierstreifen, rückten beständig näher.
Das Bombardement dauerte an. Ein Ende war nicht
abzusehen. Bei jedem Einschlag hüpften die Klötzchen über den
Kartentisch. Telefonverbindungen wurden gekappt und
wiederhergestellt.
Alle blickten auf den Tisch. Die Klötzchen lagen
heillos durcheinander.
Bei dem Gedanken an die schrecklichen Verluste ging
Beauregard ein Stich durchs Herz.
»Menschheitsdämmerung, ach, Menschheitsdämmerung
…«
45
Dem Morden ein Ende
Das Wrack der Attila brannte
taghell. Das Land jenseits des Waldes wimmelte von den Schatten der
alliierten Soldaten, die sich nach Amiens zurückzogen. Die Straßen
waren mit Lastwagen verstopft, und die Männer wateten durch
Felder.
Die ungeheure Hitze, die der Untergang des
Zeppelins freisetzte, versengte Winthrop das Gesicht. Er suchte den
Himmel über und unter der Camel nach gegnerischen Fliegern ab. Wut
und Enttäuschung nagten an seinen Eingeweiden. Womöglich war er der
einzige Überlebende des Hahnenkampfes, der Letzte von Geschwader
Condor und JG1. Und würde nie erfahren, was aus Richthofen geworden
war.
Das wäre ein noch schlimmeres Los, als in einem
Feuerball zur Erde zu stürzen. Nein. Nichts war schlimmer, als in
einem Feuerball zur Erde zu stürzen. Nichts war schlimmer als
Allards heldenhaftes Opfer, Brandbergs Bruch oder der Tod der
vielen Dutzend Männer an Bord der Attila. Er musste den
Verstand verloren haben.
Der Albert Ball in ihm bedrängte Winthrop, seinen
Widersacher aufzuspüren und zu vernichten. Doch allmählich kamen
ihm Zweifel. Das lag nicht so sehr an der Kate Reed in ihm. Sie war
nicht sein Gewissen. Er vermisste sein altes Ich, den Knaben, der
er gewesen war, bevor der Krieg einen Mann aus ihm gemacht hatte.
Den Menschen, der er gewesen war, bevor der Krieg ein Ungeheuer aus
ihm gemacht hatte. Er schuldete Catriona, und nicht zuletzt auch
Beauregard, eine Erklärung.
Sein leidenschaftliches Verlangen, mit dem Baron
ins Reine zu kommen, hatte ihn zum Monstrum werden lassen. Dieser
neue, wunderliche Edwin Winthrop war kaum weniger abstoßend als
Isolde, die sich auf offener Bühne Adern zog, oder die
Fledermausstaffel des JG1, die dämonischen Ungeheuer des
Kaisers.
Der eisige Flugwind rüttelte ihn wach, läuterte
ihn. Er öffnete den Mund und sog die kalte Luft in seine Lungen.
Dann umfasste er den Steuerknüppel und zog die Camel steil nach
oben. Je höher er stieg, desto weiter entfernte er sich von dem
blutigen Gemetzel. Er wollte die Erdatmosphäre durchbrechen und den
Krieg mit seinem ewigen Kreislauf von Töten und Getötetwerden ein
für alle Mal hinter sich lassen.
Da sah er den Flugdrachen, der sich dicht über den
ausgebrannten Baumkronen bewegte und entschlossen auf sein Ziel
zuhielt, einsam wie ein fressgieriger Hai. Die Wimpel des
Geschwaderkommandeurs flatterten von seinem Fußgelenk. Richthofen.
Der Flackerschein des Feuers färbte den Baron blutrot.
Winthrop hoffte, dass Richthofen der Letzte seiner
Art war. Er hatte so viele Gestaltwandler vernichtet, dass der
Anblick seinen Reiz verloren hatte. Sie bluteten und starben wie
jedes andere Lebewesen.
Seine Zweifel ertranken in einer roten Flut.
Seelenruhig ließ er die Camel sinken. Es grenzte an ein Wunder,
doch er hatte noch Munition. In Bauchlage konnte der Gestaltwandler
nicht schießen. Von hinten war Richthofen leichte Beute.
Der Baron war auf der Hut. Seine spitzen
Fledermausohren mussten hochgradig empfindlich sein. Der Boche
versuchte aufzusteigen und sich auf den Rücken zu drehen, so dass
er die Camel ins Visier nehmen konnte, doch Winthrop zwang ihn mit
einer kurzen Salve - schließlich brauchte er die Kugeln für den
Abschuss - abzudrehen und in den Wald hinabzustoßen.
Winthrop zog nach oben, hielt sich wenige Fuß über
den Wipfeln und beobachtete, wie der Baron sich einen Weg durch das
verkohlte Astwerk bahnte. Obgleich er unglaublich behände war,
bremsten ihn die dicht gedrängten Stämme. Er schien durch den
Wald zu schwimmen. Das Feuer griff von der Attila auf die
verdorrten Bäume über. Dichte Rauchwolken quollen gen Himmel,
brannten Winthrop in den Augen, wirbelten um seinen
Propeller.
Wenn der Baron im Wald gelandet wäre, hätte er die
Nacht leicht überstehen können. Er hätte nur auf die vorrückenden
Deutschen warten müssen und wäre als Kriegsheld nach Schloss Adler
zurückgekehrt. Doch ein Manfred von Richthofen würde das Duell mit
ihm nicht scheuen.
Das Wäldchen war nicht allzu groß. Winthrop ließ
die Bäume hinter sich und flog über eine weite Ebene, die in
einiger Entfernung zu einer flachen Hügelkette anstieg. In den
Hügeln gab es alliierte Stellungen. Dorthin wollten die fliehenden
Soldaten sich zurückziehen. Dort würden sie die deutsche Offensive
niederschlagen. Oder den Krieg verlieren.
Winthrop wendete seine Maschine, gerade als
Richthofen den Wald verließ und sich in den Himmel schwang, ein
urzeitliches Ungeheuer mit Waffen aus dem zwanzigsten Jahrhundert.
Der Baron schoss, und Winthrop erwiderte das Feuer. Ein leuchtender
Kugelhagel pfiff ihm um die Ohren. Plötzlich ertönte ein
fürchterliches Krachen. Winthrop hatte Angst, sein Propeller könnte
etwas abbekommen haben.
Sie stürzten aufeinander los und entgingen nur
knapp einem Zusammenstoß. Winthrop spürte den Wind unter den
Schwingen des Barons.
Wie es wohl war, ein solches Monstrum zu
sein?
Er ging in eine enge Kurve. Da der Baron weitaus
wendiger war als er, musste Winthrop das Letzte aus seiner Maschine
herausholen.
Richthofen hatte nichts. Nichts, für das es sich zu
kämpfen lohnte. Nichts als die sinnlose Anhäufung immer neuer
Siege. Er war ein Kriegsmönch, der sein Leben ganz dem Vaterland
gewidmet hatte. Das war seine größte Schwäche.
Winthrop wollte Richthofen nicht zum Opfer fallen.
Doch er musste nicht mehr töten. Er wollte nicht mehr töten.
Trotzdem schoss er mit seinem Zwillings-Lewis auf das
Fledermausgeschöpf, das erbarmungslos auf ihn herabstieß.
Der Baron wich der Geschossgarbe aus. Er flog so
dicht an ihm vorbei, dass Winthrop sein verwandeltes Gesicht
deutlich erkennen konnte. Mit seinen blauen Menschenaugen und dem
gefrorenen Fledermausgrinsen wirkte es wie eine tragische Maske,
aus deren Mund ein Rinnsal roten Blutes troff.
Ein zweites Flugzeug war am Himmel. Es hielt sich
dicht über den Bäumen und kam langsam, aber sicher näher. Ein
zweisitziger Aufklärer. Winthrop hatte das Emblem am Rumpf sofort
erkannt. Ein Hunne.
Die Camel befand sich schräg hinter dem Baron. Um
Munition für die todbringende Salve zu sparen, gab Winthrop nur
noch Einzelschüsse ab. Er beschleunigte und trieb Richthofen vor
sich her.
Die Fledermaus flog Zickzacklinien, konnte sich aus
dem Trichter, in den Winthrop sie gedrängt hatte, jedoch nicht
befreien. Seine Munition ging zur Neige. Wenn der Baron noch länger
außer Treffweite blieb …
Sie schwebten über freiem Feld, auf halber Strecke
zwischen Wald und Hügeln, tief genug, um die wandernden Soldaten
aufzuschrecken. Die Männer schrien und johlten, als Richthofen und
Winthrop über sie hinwegschwirrten. Der Flugwind riss ihnen die
Mützen vom Kopf. Gewehrläufe ragten gen Himmel, Schüsse
krachten.
Verfluchte Idioten. Beide Parteien flogen so
schnell, dass eine für den Vordermann bestimmte Kugel ohne weiteres
seinen Verfolger hätte treffen können.
Der Aufklärer würde versuchen, der Camel auf die
Pelle zu rücken, doch davor hatte Winthrop keine Angst. Das
Jagdflugzeug
konnte dem Aufklärer jederzeit davonfliegen und hatte zudem einen
längeren Atem.
Vor ihnen explodierte eine Minenbombe, und die
Feuersäule warf Richthofen aus der Bahn. Mit mächtigen
Flügelschlägen schwang der Baron sich in den Himmel. Winthrop zog
am Steuerknüppel und hatte ihn rasch eingeholt.
Der Mond brach durch die Wolken, als tue sich ein
riesenhaftes Auge auf.
Winthrop bemühte sich, das Tempo zu halten, als er
bemerkte, dass er Richthofen im Visier hatte. Er brauchte bloß noch
auf die MG-Knöpfe zu drücken …
Seine Daumen waren gefrorener Stahl.
Vor ihnen blitzte Archie auf. Die Geschütze in den
Hügeln legten einen Bombenteppich. Der Baron hielt direkt auf das
schwere Flakfeuer zu.
Von den Explosionen ringsum abgelenkt, drückte
Winthrop zu spät auf die MG-Knöpfe. Ein Silberstrahl schoss aus den
Läufen seines Zwillings-Lewis. Rote Wunden explodierten in
Richthofens Fell. Winthrop hatte den Baron markiert.
Er hielt die MG-Knöpfe gedrückt, doch sein Magazin
war leer.
Richthofens gespreizte Schwingen senkten sich wie
ein gigantischer Theatervorhang, der den ganzen Himmel zu verhüllen
schien. Winthrop wusste, dass er wehrlos zwischen dem Roten Baron
und dem Boche-Aufklärer hing. Wenn sie gemeinsam auf ihn losfuhren,
bedeutete das seinen sicheren Tod. Aber vielleicht hatte es doch
auch sein Gutes: zu sterben, statt mit dem Risiko zu leben, sich in
ein noch übleres Monstrum zu verwandeln.
Wilde Mordlust brannte in den Augen der Kreatur.
Der Baron war drauf und dran, seine Bilanz mit Edwin Winthrops Tod
zu krönen.
Winthrop presste instinktiv die Daumen auf die
MG-Knöpfe. Sein Zwillings-Lewis klickte, leer …
Dennoch erlitt Richthofen einen Treffer nach dem
anderen, als ob Winthrop mit Geisterkugeln auf ihn feuern würde.
Von blutigen Einschusslöchern durchsiebt und verzweifelt mit den
Flügeln schlagend, wirbelte der Baron durch die Luft.
Winthrop traute seinen Augen nicht.
Die Flugabwehr hatte Richthofen erwischt.
Urplötzlich aus seinem Jagdfieber gerissen, wurde Winthrop klar,
dass das Archie für ihn ebenso tödlich war wie für den Hunnen, und
er zog die Camel steil nach oben, über den sterbenden Flieger
hinweg. Während er sich in den Himmel schraubte, sah er Richthofen
zitternd in der Luft stehen, wie von der geballten Wucht der Kugeln
an ein unsichtbares Kreuz genagelt.
Die gespreizten Schwingen hingen in Fetzen. Sein
Körper schrumpfte, seine MGs wurden zu Bleigewichten. Die tote
Kreatur stürzte mit verrenkten Gliedmaßen zur Erde und versank in
einem Meer von Feuer und Finsternis.
Schlagartig kam Winthrop zur Besinnung, und er
fragte sich, was er unter fremdem Himmel verloren hatte.
46
Walhalla
Als sie wieder festen Boden unter den
Rädern hatten, war Poe nicht mehr der Alte. Sein erster Flug war
ein einziger Alptraum gewesen. Von allen irdischen Fesseln befreit,
war er in einen Strudel des Chaos geschleudert worden, einen
Mahlstrom des Schreckens, der seine Vision mit sich gerissen
hatte.
Die Attila war verloren, und eine mächtige
Flammenwolke verschlang den Vater des europäischen Vampirismus.
Baron von
Richthofen war tot, sein zerschossener Leichnam hatte sich noch in
der Luft zurückverwandelt. Der rote Kampfflieger war
unvollendet; er würde mit einem Nachruf anstelle eines
Schlusskapitels erscheinen müssen. Die Offensive hatte die Front
durchbrochen, doch um welchen Preis?
Theo ließ das Flugzeug auf der kleinen Landebahn am
Seeufer ausrollen. Der Schatten von Schloss Adler zeichnete sich
drohend gegen den dunklen Himmel ab. Nirgendwo war Licht zu sehen.
Das Schloss wirkte wie ausgestorben. Die Maschine kam ruckartig zum
Stehen, und die Räder versanken in der grasbewachsenen Erde. Die
plötzliche Ruhe, die Gelassenheit, die ihn mit einem Mal befiel,
bereitete Poe Unbehagen. Sein Gesicht war mit einer Kruste aus
getrockneten Tränen überzogen.
Theo sprang aus seinem Cockpit, riss sich
Fliegerhaube und Handschuhe herunter und warf sie achtlos
fort.
Was nun?
Das Portal stand einen Spaltbreit offen. Als er
eintrat, wusste Poe, dass Schloss Adler unbewohnt war. Noch bis vor
kurzem war es von hektischer Betriebsamkeit erfüllt gewesen. Jetzt
hallten seine Schritte klappernd durch die kahlen Räume. Die
Stellung war verlassen.
Theo schien nicht weiter erstaunt. »Orlok ist
vermutlich auf dem Rückweg nach Berlin, um seinem Herrn und Meister
Meldung zu erstatten. Dracula wird wissen wollen, ob seine
Machenschaften zum Erfolg geführt haben.«
»Dracula? Aber der kann unmöglich noch am Leben
sein. Er ist mit der Attila untergangen!«
Theo schüttelte verdrossen und angewidert den
Kopf.
»Das war ein Betrüger, einer von vielen armseligen
Narren in Verkleidung, um die Entente zu übertölpeln. Er diente als
Zielscheibe und hat seinen Zweck erfüllt. Der Feind war so damit
beschäftigt,
ihn vom Himmel zu holen, dass er darüber glatt vergessen hat, sich
für die Bodenoffensive zu rüsten.«
»Und wer war er? Der Vampir an Bord der
Attila?«
»Ein ungarischer Schauspieler. Ein Leinwandheld aus
Lugos. Ein direkter Nachkomme Draculas. Der darauf gedrillt war,
als sein Doppelgänger zu fungieren. Und es gab noch mehr von seiner
Sorte. Alles in allem ein gutes Dutzend.«
»Aber … die Besatzung der Attila, das
Luftschiff selbst?«
»Nichts als Schall und Rauch, die Szenerie des
grandiosen Schauspiels …«
»Und wer steckt hinter diesem Komplott?«
Theo wies auf ein großes, wenig künstlerisch, doch
sehr martialisch wirkendes Porträt. Graf von Dracula neben dem
Kaiser, in lamettastrotzender Paradeuniform, mit nadelspitzen
Schnurrbartenden.
»Die beiden.«
Auch Hanns Heinz Ewers war zurückgeblieben. Jemand
hatte sich die Mühe genommen, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen,
wenn auch nur eine aus Blei. Er presste die beiden Hälften seines
Schädels zusammen, damit der Riss verheilen konnte.
Poes Gedanken überschlugen sich. Er hatte Ruhm und
Ehre gesucht und Mörder und Halunken gefunden.
Theo warf einen teilnahmslosen Blick auf Ewers’
Wunden und attestierte dem Vampir eine gute Überlebenschance.
»Wer war das?«, fragte Poe.
»Nur ein Flieger … ist hierher zurückgekehrt«,
antwortete Ewers mit schmerzverzerrter Miene. »Göring. Er wollte
Ihr Manuskript, Poe.«
»Der Registrator«, sagte Theo. »Das leuchtet ein.
Solange Aufzeichnungen existieren, werden sie den Krieg gewonnen
haben. Die Deutschen haben zu viele Helden. Die Buchhalter müssen
sie ausmerzen. Göring, Mabuse, Dracula. Allesamt Buchhalter, keine
Soldaten. Denken Sie nur an den Grafen und seine geliebten
Eisenbahnfahrpläne. Glänzende Ruhmestaten verkommen in den Händen
dieser Börsenmakler und Finanzbeamten zu blassen Zahlen.«
»Und mein Manuskript? Wo ist es?«
Ewers versuchte ein Lächeln. »Göring wollte es nach
Berlin schaffen. Um es zu veröffentlichen. Das musste ich
verhindern.« Ewers verdrehte die Augen in Richtung seiner
Kopfverletzung. »Ich weiß auch nicht, weshalb ich meine grauen
Zellen daran verschwendet habe, Ihr Werk vor seinen Verlegern zu
retten. Sie sind mir auf den Tod zuwider, aber ich würde alles
darum geben, wenn ich Ihre Fähigkeiten besäße, so verbraucht und
verkümmert sie auch sind. Nennen Sie es meinetwegen Neid. Deshalb
habe ich versucht, Ihr Buch zurückzuhalten. Aus Neid.«
Der Verwundete fummelte ungeschickt am Kragenknopf
seines zu engen Waffenrocks. Theo half ihm, seine Kleider zu lösen,
damit er Atem schöpfen konnte. Mit Poes Handschrift bedeckte Seiten
quollen hervor.
»Sie sind ein großer Schriftsteller, Herr Poe. Das
muss ich Ihnen lassen. Aber Sie sind vollkommen verrückt. Ich habe
Ihnen vermutlich einen Gefallen erwiesen. Göring hat nur die ersten
drei Seiten Ihres Manuskripts, ergänzt durch einige meiner
Erzählungen. Solide Arbeit, aber vergebene …«
Ewers verlor das Bewusstsein. Theo stand auf, seine
Hände waren blutverschmiert. Poe hatte sein Entsetzen abgeschüttelt
und versuchte krampfhaft, die Zusammenhänge zu ergründen. Endlich
hatte er die fehlenden Steine des Puzzles in der Hand.
Poe und Theo standen am Seeufer und warteten auf
den Sonnenaufgang. Der Schlachtenlärm hatte sich hinter die Linien,
in feindliches Gebiet, verzogen.
»Helden machen ihnen Angst, Eddy. Diesen armseligen
Gestalten mit ihren armseligen Büchern. Sie dürsten nach Ruhm und
laben sich daran wie wir an fremdem Blut. Ihr Buch sollte ein
Denkmal werden, ein glanzvolles Monument zum Ansporn immer neuer
unerschrockener Helden. Sie werden verglühen wie Kometen und
elendig krepieren, während die Buchhalter sich weiterhin durch die
Jahrhunderte schleimen. Millionen sind in diesem Krieg gestorben.
Anonyme Opfer. Das hat Dracula aus uns gemacht. Nichtssagende Namen
in einem Buch der Toten.«
Poe betrachtete sein Manuskript. In diesem Buch
schwelte der Funke des Genialen. Es war ein Traum, eine
Erleuchtung. Die Geschichte dieses wackeren Ritters der Zukunft
würde in Generationen junger Knaben den Wunsch wachrufen, ihrem
deutschen Vaterland zu dienen wie dereinst Manfred von
Richthofen.
»Dracula schert sich einen Dreck um die
Richthofens, Eddy. Um die Großen, Tapferen und Besessenen. Er
umgibt sich lieber mit Leuten wie Göring, blödsinnigen Bürokraten
des Todes.«
Poe ließ die ersten Seiten des Manuskripts auf den
See hinauswehen. Als sie auf der glatten Wasseroberfläche schwammen
und die Tinte zu verlaufen begann, ging ihm ein Stich durchs Herz.
Dies waren vielleicht die letzten Worte seines Genius, die letzten
Worte, die er jemals schreiben würde. Er versank in dumpfem
Brüten.
Theo legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.
Plötzlich sprang Poe auf und warf die Blätter in die Luft. Sie
bauschten sich zu einer weißen Wolke, schneiten auf den See herab,
ballten sich zu nassen Klumpen und trieben noch ein Stück übers
Wasser, ehe sie in die Tiefe gerissen wurden. Poe zog seinen Rock
aus, ließ den Daumen über die frisch erworbenen Rangabzeichen
gleiten und warf das Ding dann in den See, wo es unter einem
Teppich aus Papier verschwand.
»Hiermit nehme ich meinen Abschied«, sagte
er.
Poes Rockärmel baumelten wie die Arme einer Leiche.
Eine unbekannte Strömung in der Mitte des Sees zerrte den
Mischmasch aus Manuskript und Mantel in ihren bodenlosen Schlund.
Das tiefe, düstere Gewässer schloss sich langsam, lautlos über dem
Fragment des roten Kampffliegers.
»Bleiben Sie hier, die Franzosen werden früher oder
später wiederkommen«, sagte Theo. »Dann können Sie ein neues Buch
schreiben. Ein hellsichtiges Buch, das der Wahrheit zu ihrem Recht
verhilft.«
»Die Wahrheit interessiert mich wenig, Theo.«
Der Offizier zuckte die Achseln. »Das wundert mich
nicht.«
»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Poe.
Ehe er sich umwandte und dem Schatten des Schlosses
den Rücken kehrte, verzog Theo den Mund zu einem verschmitzten
Lächeln und sagte: »Ich werde kämpfen, Eddy. Kämpfen für mein
Vaterland.«
47
Nachwelten
Mit leeren Magazinen und fast leerem Tank
hielt Winthrop nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau. Maranique
war vermutlich längst in deutscher Hand und kam somit nicht
infrage, deshalb suchte er nach einer der Auffangstellungen bei
Amiens. In der Aufregung hatte er die Orientierung verloren.
Er richtete sich nach den Sternen und flog nach
Osten. Unter ihm eilte Verstärkung in Richtung Kampfgebiet. Endlose
Schlangen von Soldaten auf dem Rückzug ließen sie vorbei oder
gruben sich ein, um Front zu machen. Zumindest hatte man ihm das
Hunnenland nicht einfach unter den Rädern weggezogen wie einen
Teppich. Auch wenn er nicht zu landen und sich zu ergeben
brauchte.
Nun, da ihn Ball und Kate verlassen hatten, konnte
er endlich wieder klar denken, als sei er soeben aus einem bösen,
aber überwältigenden Traum erwacht. Und doch war er erschöpft,
vergessene Wunden quälten ihn, und er spürte den Verlust. Ohne
Balls Hilfe war er leider nur ein mäßiger Pilot.
Der Steuerknüppel zitterte in seiner Hand. Noch bis
vor wenigen Minuten war er ein fester Bestandteil seiner Maschine
gewesen. Jetzt saß er auf dem Rücken einer bockbeinigen Bestie, die
alles daransetzen würde, ihn abzuwerfen, sobald er auch nur die
geringste Schwäche zeigte. Der Motor hustete, und die Verspannung
ächzte.
Er geriet in Versuchung, einfach am Steuerknüppel
zu ziehen und in die Nacht, ins Nichts emporzufliegen. Er war nur
mehr ein Schatten seiner selbst, weder der Mensch, der er einmal
gewesen war, noch das Ungeheuer, in das er sich verwandelt
hatte.
Doch sein Lebenswille war stärker. Er tastete nach
dem Knüppel und drückte die Maschine, bis die Blase in der
Wasserwaage sich in Position befand. Er war fest entschlossen, das
nächste durchgehende Stück Straße oder Wiese als Rollfeld zu
benutzen. Doch im Augenblick wimmelte der Erdboden von Menschen.
Das jahrelange Patt schien aufgehoben, und der Bewegungskrieg ging
weiter.
Links unter ihm brannten vertraute Lichter.
Funkensprühende Signalfackeln markierten eine
Piste. Hoffentlich war der Kommandeur der Truppe so klug gewesen,
die Landebahn räumen zu lassen. Der Treibstoff reichte nicht, um
eine Schleife zu fliegen und das Gelände zu sondieren. Also hielt
er auf die violetten Lichter zu und zog die Camel herunter.
Die Räder holperten durch hohes Gras. Die Maschine
prallte
vom Boden ab, und die Rumpfnase kippte nach vorn. Winthrop wusste,
dass sich die Camel überschlagen und ihn kopfüber in die Erde
rammen würde.
Jaulend riss ein Draht und peitschte ihm ins
Gesicht. Die Maschine konnte jeden Augenblick koppheister schießen.
Mit einem gezielten Schlag auf den Sicherheitsverschluss löste er
seinen Gurt und wurde aus dem Sitz katapultiert. Der Steuerknüppel
traf ihn in den Bauch und zwischen die Beine. Die Tragflächen
knickten weg. Dann plötzlich drehte sich alles im Kreis, und er
schlug mit dem Schädel auf. Zentnerschwere Trümmer begruben ihn
unter sich.
Schreie drangen an sein Ohr. Stechender
Benzingeruch stieg ihm in die Nase.
Leblos wurde er aus dem Wrack gezerrt. Er hörte,
wie der Treibstoffrest mit lautem Krachen explodierte, und spürte
einen Schwall warmer, ölgetränkter Luft. Flammenpfeile regneten vom
Himmel.
Der Tod streckte die Hand nach ihm aus, schloss die
Finger um sein Herz und seine Seele, doch er entriss sich seinen
Klauen und schrie aus Leibeskräften vor lauter Freude über sein neu
gewonnenes Leben. Er rang nach Atem, und starke Arme setzten ihn
auf.
Als er die Augen öffnete, sah er seine Camel
lichterloh brennen.
»Wetten, das machst du so schnell nicht wieder«,
sagte jemand.
Sie war mit den Verwundeten auf einen Lastwagen
verfrachtet worden. Schon nach wenigen Meilen über ausgefahrene
Straßen waren die meisten von ihnen dahin. Kate hatte zwar mehrere
Treffer, aber keine Silberkugel abbekommen. Der Matsch an ihren
Kleidern war getrocknet, und der steife, schmutzstarrende
Stoff umhüllte sie wie eine Mumie. Ihren erbeuteten Stahlhelm
hatte sie verloren.
Sie war benommen, ihrem Körper merkwürdig entrückt.
Ohne weiteres hätte sie in die Finsternis davonflattern und einen
lebenden Leichnam hier zurücklassen können. Ob er ohne sie
weiterexistieren würde? Vielleicht wurden Vampire auf diese Art und
Weise zu hirnlosen, vom Durst getriebenen Ungeheuern?
Der Knabe in ihren Armen nannte sie Edith. Sie
versuchte ihn trotzdem zu trösten. Blut sickerte durch seine
Feldverbände, doch sie wollte es nicht trinken. Zum ersten Mal seit
ihrer Verwandlung war ihr der Appetit auf Blut vergangen.
Geneviève hatte ihr einmal gesagt: »Wir Vampire
trinken Blut nicht aus Notwendigkeit, sondern zum Vergnügen.« Kate
hatte es satt, Geneviève nachzueifern. Es war an der Zeit, sich dem
zwanzigsten Jahrhundert zu stellen. Statt die kommenden fünf Wochen
damit zu verplempern, ihr Haar von Schmutz und Dreck zu säubern,
würde sie es stutzen und zu einem Bubikopf frisieren lassen. Die
Schlammmaske, die ihr Gesicht bedeckte, wurde rissig und begann zu
bröckeln.
Der Lastwagen hielt am Straßenrand, um
Verstärkungen passieren zu lassen. Britische Tanks rollten donnernd
in die Schlacht gegen die deutschen Panzer. Ein Zug milchbärtiger
Amerikaner rief dem Leichenwagen im Vorbeifahren ein paar
aufmunternde Worte zu und warf Zigarettenpäckchen auf die
Ladefläche.
Obwohl sie keine Zündhölzer hatte, schob Kate sich
einen Glimmstängel zwischen die Lippen. Der herbe Geschmack des
Virginiatabaks versetzte sie in einen sanften Rausch.
Da sie im dichten Kampfgetümmel gesteckt hatte,
konnte sie nicht wissen, was geschehen war. Die deutsche Offensive
hatte die Linien auf breiter Front durchbrochen, und die Alliierten
warfen stille Reserven in die Schlacht. Es gab zwei Möglichkeiten.
Sie würden den Krieg entweder gewinnen oder verlieren.
Der Lastwagen verließ die Straße und holperte über
ein Feld, ächzte über noch kaum befahrene Bretterroste.
In einem Wäldchen loderte ein großes Feuer, ein
Zeppelin war abgestürzt. Kate reckte den Hals und sah, wie das
riesige Rippenskelett des Schiffes in sich zusammenfiel und in
einem Flammenmeer versank. Die Hitze riss Ediths jungen Mann aus
seinen Fieberträumen, und der Knabe wandte neugierig den
Kopf.
»Die ganze Gegend ist ein einziges Inferno«, sagte
er.
In der Zeltstadt am Rande des Flugplatzes tummelten
sich etliche Soldaten, Flieger aus vorgeschobenen Stellungen, die
ebenfalls den Rückzug angetreten hatten. Winthrop suchte sich ein
halbwegs trockenes Fleckchen Gras und ließ sich nieder. Jemand gab
ihm eine Zigarette und Feuer. Er wollte wissen, ob außer ihm noch
jemand vom Geschwader Condor mit heiler Haut davongekommen war.
Alle nickten, doch niemand konnte Namen nennen.
Die Piloten standen über den Platz verstreut, in
verschwitzten Fliegerkluften, mit Rußringen um die Augen. Manche
litten stumme Qualen, die meisten waren zu Tode erschöpft. Der
stellvertretende Sergeant Chandler, ein Amerikaner in nagelneuem
Arbeitszeug der Royal Air Force, hatte die Aufgabe, ein Register
der Männer und Maschinen zu erstellen, die ihren Einsatz
unbeschadet überstanden hatten.
»Sind Sie Warmblüter?«, erkundigte er sich bei
Winthrop.
Der dachte kurz nach und bejahte dann.
»Gratuliere«, sagte Chandler. Im Gegensatz zu den
meisten seiner Schäfchen war der Sergeant kein Vampir. »Gratuliere
wärmstens.«
»Ich gehöre zum Geschwader Condor. Haben Sie sonst
noch jemanden aus meiner Truppe auf Ihrer Liste?«
Chandler sah in seinen Papieren nach.
»Ein Glückspilz namens Bigglesworth, der schon vor
Wochen abgeschossen wurde, ist heute Abend hier aufgetaucht. Er hat
sich zu Fuß hinter die Linien durchgekämpft.«
»Grundgütiger!«
»Sonst niemand. Aber geben Sie die Hoffnung nicht
auf. Hier herrscht ein heilloses Durcheinander.«
Plötzlich brachen die Männer in erstickte
Beifallsrufe aus. Eines der Zelte hatte Telefon, und soeben war
eine gute Nachricht eingetroffen.
»Haben wir’s den Schweinehunden heimgezahlt?«,
fragte Chandler einen grinsenden jungen Piloten.
»Nein, viel besser. Richthofen ist tot. Der
Abschuss ist amtlich. Die Aussies haben ihn erwischt. Schweres
Archie.«
»Einer von unseren Jungs hätte ihn runterholen
sollen«, sagte ein britischer Geschwaderkommandeur. »Ein Pilot. Als
Rache für Hawker, Albright und Ball.«
»Ball geht nicht auf Manfred, sondern auf Lothar
von Richthofens Konto.«
Schon wurden die Tatsachen verdreht. Winthrop hatte
dem Baron kurz vor dem Ende eine Ladung auf den Pelz gebrannt. Er
hätte den Abschuss für sich reklamieren können. Doch er zog es vor
zu schweigen und spitzte die Ohren.
»Man munkelt, dass er mit militärischen Ehren
bestattet werden soll. Von wegen Sportsgeist und so.«
»Man sollte ihm den Kopf abschneiden, ihm das
verdammte Maul mit Knoblauch stopfen und ihn dann mit dem Gesicht
nach unten und einem Silberpflock durchs finstere Herz an einer
Wegkreuzung verscharren.«
»Findest du das nicht ein bisschen
übertrieben?«
Winthrop hörte nicht mehr hin. Für ihn war dieser
Krieg beendet.
Kate fühlte sich so weit wiederhergestellt, dass
sie ihren Platz einem Verwundeten abtreten wollte, der ihn nötiger
hatte als sie. Also überließ sie Ediths jungen Mann sich selbst und
hüpfte von der Wagenpritsche. Sie war noch etwas wackelig auf den
Beinen.
Bei jedem Schritt ergoss sich ein Sturzbach
trockener Erde aus ihren Kleidern. Sie hätte hundert Jahre ihres
Lebens für ein heißes Bad gegeben. Während die ersten
Sonnenstrahlen in den Himmel sickerten, drängte sie sich durch die
Menge und schnappte Klatsch, Gerüchte, Neuigkeiten auf.
Die meisten waren sich einig, dass der deutsche
Vorstoß zum Stillstand gekommen sei. Die einen meinten, die
Alliierten hätten den Boche in eine Falle gelockt und ihn aus
rückwärtigen Stellungen beschossen und vernichtend geschlagen. Die
anderen glaubten, die Deutschen seien so tief in das Gebiet des
Feindes vorgestoßen, dass die Soldaten den lieben Gott einen
frommen Mann sein ließen, tatenlos durch die Gegend streiften und
die reich bestückten Offiziersmessen der Alliierten plünderten.
Nach Jahren des Hungers und der Blockaden wurde der Duft von
frischem Brot dem Hunnen zum Verhängnis.
Kate fragte sich, ob sie es jemals fertigbringen
würde, über die vergangene Nacht zu schreiben.
Sie lief ziellos vor sich hin. Es ging das Gerücht,
dass Richthofen den Tod gefunden habe. Damit war der Fall
erledigt.
Bei Tagesanbruch suchten die Piloten in den Zelten
Schutz. Winthrop rollte seine Fliegerkluft zu einem Kissen zusammen
und streckte sich auf der Wiese aus. Die Frühlingssonne schien ihm
ins Gesicht. Das Schlachtgetöse hatte sich verzogen.
Chandler teilte ihm mit, dass drei seiner Kameraden
des Geschwaders Condor auf einem anderen Hilfsflugplatz gesichtet
worden seien: Cary Lockwood, Bertie und Ginger. Sie waren also doch
nicht vollständig vernichtet worden.
Ob vom JG1 noch jemand lebte? Aber das spielte
keine Rolle. Ihr Anführer war tot. Der Schrecken war gebannt.
Winthrop konnte Richthofen nicht länger hassen.
Falls die Alliierten den Baron mit militärischen Ehren bestatteten,
würde er sich als Sargträger zur Verfügung stellen oder freiwillig
über dem Hunnenland aufsteigen und die Glücksbringer des
Gestaltwandlers abwerfen. Das, so hoffte er, wäre sein letzter
Flug.
Das Rollfeld und die helle Sonne erinnerten ihn an
ein früheres Leben. Kricket in Greyfriars. Frühlingsspaziergänge
mit Catriona. Er musste einiges in Ordnung bringen. Ein wilder
Schmerz in seinem Knie erinnerte ihn an das Niemandsland. Manches
würde nie in Ordnung kommen.
Kate entdeckte einen kleinen, munteren Bach. Alle
Scham beiseitelassend, streifte sie ihre schlammstarrenden Kleider
ab, breitete sie im Bachbett aus und beschwerte sie mit
Steinen.
Sie blickte an sich hinunter und sah den mit Blut
und Dreck verschmierten Körper einer Wilden. Ihre notdürftig
verheilten Wunden waren mit einer dicken Schorfschicht
überkrustet.
Eine Reihe von Soldaten pfiff und johlte im
Vorübergehen. Da sie frisch aus Paris eingetroffen waren, hatten
sie in den Folies-Bergère zweifellos Besseres zu Gesicht
bekommen.
Sie setzte sich in den Bach und badete im
sonnenwarmen, bunt glitzernden Nass. Dann sank sie nach hinten wie
Ophelia und ließ ihr Haar im Wasser treiben. Staub und Erde lösten
sich von ihrer Haut und wirbelten davon. Sie schloss die Augen und
versuchte zu vergessen.
Die warmblütigen Männer hatten starken Tee
gebraut. Da es keine Becher gab, trank Winthrop aus einem Napf.
Endlich war ein zweiter Angehöriger seines Geschwaders
eingetroffen. Jiggs, der Mechaniker, mit einer unglaublichen
Geschichte von einem glänzenden
Paar deutscher Stiefel, denen er nur um Haaresbreite entkommen
war.
Die Offensive war allem Anschein nach gescheitert.
Das Gerücht vom Tode Draculas machte die Runde, war jedoch ebenso
schnell wieder verschwunden, wie es aufgekommen war.
»Der Himmel hat uns eine Wassernymphe beschert«,
sagte Chandler. »Bei den Hilfshangars droht eine Badenixe zu
ertrinken. Sie trägt Ohrringe, sonst nichts.«
Ein langgezogener Pfiff riss sie aus ihren
Träumereien. Sie öffnete die Augen und stützte sich auf die
Ellbogen. Am Bachufer stand ein Mann mit den Händen in den
Taschen.
»Sieh mal einer an, Miss Maus«, sagte Edwin. »Die
Sonne bringt Ihre Sommersprossen hervorragend zur Geltung.«
Sie schloss die Augen und ließ den Kopf wieder ins
Wasser sinken.
48
England ruft
Er nahm keine Anrufe entgegen. Beauregard
saß in seinem Haus im Cheyne Walk. Der Schreibtisch war mit
ungeöffneten Briefen übersät. Sein Diener Bairstow hatte sie, wie
jeden Morgen, fein säuberlich dort ausgebreitet.
Sein Blick fiel auf einen schmalen, mit
blassvioletter Tinte adressierten Umschlag. Er war versucht, ihn
aufzureißen, befürchtete jedoch, von neuem in einen Strudel der
Empfindungen gestürzt zu werden, dem er nur mit knapper Not
entronnen war. Geneviève zog den Ärger magisch an, und das schon
seit Jahrhunderten.
Er liebte sie wahrscheinlich immer noch. Unnützer Gefühlsballast.
Briefträger und Boten hatten Dienstsachen mit dem Stempelaufdruck
»DRINGEND« überbracht. Auch sie waren ungeöffnet.
Da er keine Zeitung las, schilderte Bairstow ihm
den Kriegsverlauf in groben Zügen. Dass Caleb Croft seines Amtes
enthoben worden war, verschaffte ihm wenig Befriedigung. Ruthven
hatte unzählige Männer seines Schlages in petto, die mit Freuden an
seine Stelle getreten wären.
Dracula war in Berlin gesehen worden. Nach einer
Auseinandersetzung mit dem Kaiser hatte er den Palast wutentbrannt
verlassen. Hindenburg war zum Oberkommandierenden der Heere
aufgestiegen, die nach ihren jüngst erlittenen Schlappen zerstört
und demoralisiert am Boden lagen. Dracula hatte die Verantwortung
für das endgültige Scheitern der Kaiserschlacht auf sich genommen.
Wie es schien, hatte die Opferung seiner Doppelgänger unter den
Mannschaften und Offizieren zu großer Verwirrung und noch größerem
Moralverlust geführt. Mittelalterliche Taktiken taugten eben nicht
für dieses Jahrhundert. Doch Draculas Entmachtung war vermutlich
nur von kurzer Dauer. Unkraut verging nicht.
Er sah sich alte, gerahmte Fotografien an. Die
Kamera verwandelte all ihre Opfer in Vampire, konservierte ihre
Jugend für die unbekannte Zukunft. Auf einem Bild posierte die
unsterbliche Pamela am Fluss, umringt von einer Schar kleiner
Mädchen in Matrosenanzügen. Im Hintergrund war unscharf ein Boot zu
erkennen. Die Mädchen waren Penelope, Kate, Lucy und Mina.
Warmblütig und leicht zerzaust, wussten sie noch nicht, was einst
aus ihnen werden würde.
Auch Mrs. Harker hatte ihm geschrieben. Wie eh und
je mischte sie sich ungefragt in anderer Leute Angelegenheiten. Sie
versuchte ihn zu neuen Taten zu bewegen.
Bairstow trat ins Zimmer, eine Visitenkarte lag auf
seinem Zinntablett. Das Silber hatten sie bereits vor Jahren den
Kriegsanstrengungen geopfert. Beauregard hob abwehrend die Hand,
doch ein langbeiniges Spinnentier in Grau stieß den Bediensteten
brüsk beiseite.
»Beauregard, was bilden Sie sich eigentlich ein?
Haben Sie auch nur den leisesten Schimmer, wie viele dringende
Angelegenheiten meine ungeteilte Aufmerksamkeit erfordern?
Stattdessen bin ich gezwungen, mich wie ein gemeiner Krämer
persönlich hierherzuverfügen, um Ihnen eine Antwort zu
entlocken!«
Ruthven war sichtlich erregt. Von Churchill wusste
Beauregard, dass das Kabinett gespalten war. Lloyd George hatte
sich als außerordentlich halsstarrig erwiesen. Die Stellung des
Premierministers war zwar gefestigt, aber keineswegs sicher.
Lord Ruthven war nicht allein gekommen. Er befand
sich in Begleitung von Smith-Cumming, dessen Bein vollständig
nachgewachsen war.
»Der Diogenes-Club hat seine Pforten neuen
Mitgliedern geöffnet«, verkündete Smith-Cumming.
»Crofts Leute haben uns nur Ärger eingebracht«,
wetterte der Premierminister. »Seine schwachköpfigen
Attentatsfantastereien hätten uns beinahe den Sieg gekostet. Das
Vaterland braucht kluge Köpfe.«
»Mycrofts Platz als Vorsitzender der Clique ist
frei geworden«, sagte Smith-Cumming. »Und nur ein Mann kommt als
sein Nachfolger infrage, Beauregard.«
Er betrachtete die beiden Vampire, den untüchtigen
Ältesten und den grundsoliden Neugeborenen. Ruthven hielt das
Staatsruder fest in der Hand, obgleich seine Gegner sich gegen ihn
verschworen hatten. Smith-Cumming war ein verlässlicher Mann. Und,
Bluttrinker hin oder her, verlässliche Männer waren selten.
Mycroft hatte viel Gutes aus der Vergangenheit in
dieses unsichere
Jahrhundert herübergerettet. Ohne ihn gingen eitle, selbstsüchtige
Gecken wie Ruthven oder Croft in ihrem sinnlosen Machtstreben über
Leichen.
»Beauregard, bitte«, flehte der
Premierminister.
Während der Abwesenheit von Croft und dem
Diogenes-Club wurde der britische Geheimdienst von einem
Schulmeister geleitet, der Chiffreschriften in Abbildungen von
Schmetterlingen zu verstecken pflegte. Die Ergebnisse waren
entsprechend dürftig.
»England braucht Sie, Beauregard«, beharrte
Ruthven. »Ich brauche Sie.«
Aber braucht England Lord Ruthven?, dachte
Beauregard.
Er warf einen verstohlenen Blick auf das Foto
seiner Frau. Pamela schien ihn zweifelnd anzusehen. Sie hätte ihm
geraten, standhaft zu bleiben.
»Nun gut«, sagte Beauregard. »Ich nehme Ihr Angebot
an.«
Smith-Cumming klopfte ihm auf den Rücken. Ruthven
gönnte sich ein Lächeln der Erleichterung.
»Unter bestimmten Bedingungen.«
»Ich bin mit allem einverstanden«, winkte der
Premierminister ab.
»Wir werden sehen«, meinte Beauregard.
49
Gute Vorsätze
Ehe sie ihn ziehen ließ, musste er seine
Schuld begleichen. Zu diesem Zweck nahmen sich Kate und Edwin ein
Hotelzimmer in Calais. Sie hatten sich geliebt, und nun ließ sie
ihn sanft zur Ader. Er schmeckte anders als zuvor. Von seinem roten
Durst
war nichts zurückgeblieben. Sein Blut wärmte sie, schenkte ihr
neue Kraft.
Leicht benommen sank Edwin in Halbschlaf, während
sie sich zärtlich an ihn schmiegte. Sie war erhitzt, und die
Sommersprossen auf ihrer Brust stachen wie Nadelspitzen.
Sie hatte Anspruch auf ein wenig Liebe. Ihr Leben
lang war sie dazu entweder zu schüchtern oder zu beschäftigt
gewesen. Diesmal war alles anders. Diesmal hatte sie den Soldaten,
eine Weile wenigstens, für sich, auch wenn er danach zu seiner
Pfarrerstochter zurückkehren würde. Falls Catriona die Frau war,
für die Kate sie hielt, hatte sie nichts dagegen einzuwenden. Sie
befanden sich in Frankreich. Sie befanden sich im Krieg. Hier
galten andere Regeln.
Sie ließ die Zunge über ihre Zähne gleiten. Sie war
satt, und ihre Hauer hatten sich in den Kiefer zurückgezogen.
Edwin suchte ihre Nähe, murmelte den falschen
Namen. Auch das war sie gewohnt. Jeder Mann, der ihre Nähe suchte,
meinte eigentlich eine andere.
Morgen würden sie den Kanal überqueren. Aber morgen
war noch weit. Kate legte den Kopf auf Edwins Brust und presste
ihre Lippen auf seinen Hals. Seine Erregung war geweckt. Ihr Haar
strich über sein Gesicht. Er nahm sie bei den Hüften und zog sie
auf seinen Schoß. Sie begann an seinem Hals zu saugen, biss ihn
jedoch nicht.
In England war plötzlich alles anders zwischen
ihnen. Edwin schien von einer merkwürdigen Nervosität befallen, die
während der Überfahrt beständig zunahm. Schleichende Melancholie
ergriff von ihr Besitz. Obgleich sie wusste, was geschehen würde,
war sie nur ungenügend darauf vorbereitet.
In ihren gemeinsamen Nächten hatte er ihr einiges
von seiner Zeit beim Geschwader Condor erzählt, insbesondere von
seinem
letzten Flug. Obwohl er offiziell keinerlei Ansprüche erhoben
hatte, wusste sie, dass er seinen Teil zum Abschuss Manfred von
Richthofens beigetragen hatte. Sie versprach ihm hoch und heilig,
ihn in ihren Berichten nicht als Helden zu feiern.
Die vergangenen Wochen konnte ihnen niemand nehmen.
Niemand außer ihnen würde je begreifen, wie sie zu solchen
Ungeheuern, solchen Bestien hatten werden können.
Es war eine wunderschöne, mondhelle Frühlingsnacht.
Unter anderen Umständen wäre dies ein romantischer Bootsausflug
gewesen. Edwin stand gedankenverloren an der Reling und sah nach
Frankreich hinüber. Für ihn, für alle Überlebenden kam das
europäische Festland einem Friedhof gleich.
Manchmal verstummte Edwin, und dann wusste sie,
dass er in den Abgründen seiner zerrissenen Seele unwiederbringlich
Verlorenem nachspürte. Sie hatte keine Ahnung, ob er gebrochen oder
nur angeschlagen war. Er wurde von Minute zu Minute distanzierter,
kühler. Noch war ein letzter Rest Vampir in ihm, und ein Eismantel
umschloss sein Herz. Keiner von ihnen hatte seinen Frieden mit dem
Krieg gemacht.
Charles wartete an der Victoria Station. Auf sie
beide. Einen Augenblick lang befürchtete Kate, er könne
Polizeibeamte bei sich haben, um sie verhaften und nach Devil’s
Dyke bringen zu lassen. Sie entdeckte Sergeant Dravot in der
Menge.
Charles schüttelte Edwin die Hand, und Edwin
stammelte eine Entschuldigung, die Charles lächelnd
beiseitewischte. Er wusste, dass Edwin nicht mehr er selbst gewesen
war.
»Sie haben Urlaub«, sagte Charles. »Und den werden
Sie vermutlich im West Country verbringen wollen.«
»Erst einmal muss ich von den Toten
auferstehen.«
»Da Sie nach wie vor unter den Lebenden weilen,
dürfte Ihnen das nicht allzu schwerfallen«, meinte Kate.
»Sie haben leicht reden. Sie sind Miss Catriona
Kaye schließlich keine Erklärung schuldig.«
»Sie auch nicht, Edwin. Glauben Sie mir, sie wird
keine Erklärung fordern. Sie wird froh sein, dass sie ihren
Liebsten wiederhat.«
Ihr Edelmut war geradezu beängstigend. Sie
schüttelte Edwin die Hand und warf ihm einen flüchtigen Kuss zu.
Alles ging sehr freundschaftlich vonstatten. Ihre Augen füllten
sich mit heißen Tränen, doch sie weigerte sich standhaft, ihnen
nachzugeben.
Wie die Pfarrerstochter wohl mit dem Heimkehrer
zurechtkommen mochte? Kate wusste, dass Catriona am meisten würde
leiden müssen, da er von den tiefen Wunden, die der Krieg
geschlagen hatte, trotz allem niemals vollständig genesen
würde.
»Ich werde Ihre Laufbahn aufmerksam verfolgen«,
sagte sie mit erhobenem Zeigefinger. »Also benehmen Sie sich
ordentlich.«
»Ich habe das Cambridge Magazine abonniert,
damit ich weiß, was in Ihrem klugen Köpfchen vorgeht.«
Edwin ließ ihre Hand los, warf sich seinen
Kleidersack über die Schulter und ging davon.
Charles legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie
hatte vergessen, dass er wusste, wie ihr zumute war.
»Er ist zu jung für Sie«, sagte Charles.
»Wer ist das nicht?«
»Sie wissen sehr wohl, dass es überall auf dieser
Welt weit ältere Geschöpfe gibt als Sie.«
Sie wandte sich zu Charles um. Er war die Ruhe
selbst. Trotz der geheimen Kriege, in die er maßgeblich verwickelt
gewesen war, hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden. Das machte
ihr Mut.
Edwin verlor sich im Gedränge der Soldaten und
ihrer Liebchen. Das Band zwischen ihnen war gerissen.
Dravot ließ Edwin ziehen. Er blieb bei
Charles.
»Und, werden Sie jetzt nach Russland reisen, um
sich um die bolschewistische Revolution verdient zu machen?«,
fragte Charles.
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, solange es für
mich hier ausreichend zu tun gibt. Die alten Männer sind noch nicht
am Ende. Es wäre eine Sünde, sie ausgerechnet jetzt in Ruhe
gewähren zu lassen. Den Krieg und die Irland-Frage nicht zu
vergessen. Gräfin Markowitz und Erskine Childers haben mich
gebeten, einem Home-Rule-Komitee beizutreten.«
»Ich möchte nichts mehr davon hören. Am Ende stehen
wir uns als Feinde gegenüber.«
Sie strich über sein Revers. »Das will ich doch
nicht hoffen, Charles.«
»Ruthven ist immer noch an der Regierung, obwohl
das Kabinett sich gegen ihn verbündet hat. Und Dracula wurde zwar
degradiert, fungiert aber nach wie vor als enger Berater des
Kaisers.«
Kate überdachte seine Worte.
»Der rote Durst wütet in ganz Europa, in ganz
Amerika, ja, auf der ganzen Welt. Und aus diesem Grund müssen wir
die mörderischen Horden bekämpfen, aus diesem Grund müssen wir den
toten Händen das Steuer entreißen.«
Charles lächelte. Er sah jünger aus als sonst. Kate
wusste, dass er eine große Zukunft vor sich hatte. Edwin war tot am
Wegesrand zurückgeblieben, für sie und vermutlich auch sich selbst
verloren. Doch Charles marschierte munter weiter.
Neuzugänge - Freiwillige und Rekruten mit noch
unblutigen Händen - traten aus dem Glied und drängten sich vorbei,
um den Fährzug zu besteigen. Die unschuldigen Gesichter der
Warmblüter und Vampire erfüllten Kate mit Trauer. Für diese Knaben
war der Krieg ein Fest des Feuers und der Ehre. Solange solche
Lügen herrschten, würde auch der Wahnsinn weitergehen.
»Ich sollte Sie festnehmen lassen«, meinte Charles,
»bevor Sie noch mehr Dummheiten anstellen.«
Sie überlegte, worüber sie als Nächstes schreiben
sollte. Über den Krieg, die alten Männer, die Regierung. Sie wollte
schreiben und spotten, kritteln und mäkeln, bis ihre Stimme selbst
den Trommelschall der Chauvinisten und das Geschwätz der Politiker
verstummen ließ. Sie konnte unmöglich die letzte Priesterin der
Wahrheit sein. Die Menschen würden auf sie hören. Der Stein würde
ins Rollen kommen.
»Dummheiten?«, entgegnete sie. »Mein lieber
Charles, wenn Sie sich da mal nicht gewaltig irren.«