I
IM WESTEN NICHTS NEUES

1

Geschwader Condor

Vier Meilen hinter den Linien hörte man in einem fort das
Donnern schwerer Geschütze. Harschklumpen schimmerten matt auf dem finsteren, zernarbten Feldweg. Der Schnee war bereits mehrere Tage alt. Lieutenant Edwin Winthrop saß in seinen Trenchcoat und eine nutzlose Tartandecke gehüllt im Fond; insektengroße Hagelsplitter spickten sein Gesicht. Er hatte Angst, seine gefrorenen Schnurrbartspitzen könnten abbrechen. Der offene Daimler taugte nicht für eine eisige französische Winternacht wie diese. Sergeant Dravot war, wie alle Toten, unempfindlich gegen die Kälte. Den Nachtaugen des Fahrers entging nichts.
In Maranique kam es zu einer Verzögerung. Während Winthrop allmählich zu einem Eiszapfen gefror, überflog ein Corporal mit skeptischem Blick seine Papiere.
»Wir hatten eigentlich Captain Spenser erwartet, Sir«, erläuterte die Wache. Der Mann war doppelt so alt wie Winthrop.
»Captain Spenser ist von seinem Posten entbunden worden«, sagte Winthrop. Jede weitere Erklärung war überflüssig. Der Corporal hatte den Fehler begangen, sich an Spenser zu gewöhnen. In diesem Gewerbe ein unverzeihlicher Fauxpas. »Wir befinden uns im Krieg. Falls Ihnen das entgangen sein sollte.«
Blutrotes Mündungsfeuer färbte die tief hängenden Wolken über dem nahen Horizont. Wenn eine Granate in einem bestimmten Winkel durch die Luft schnitt, so übertönte sie mit ihrem Pfeifen selbst das babylonischste Bombardement. Es hieß, wer dieses Schrillen im Schützengraben höre, dem brachte das Geschoss den sicheren Tod.
Der Corporal salutierte und winkte den Stabswagen durch. Als Flugplatz diente ein umgebauter Bauernhof. Tiefe Fahrspuren wiesen den Weg zu einem Haus.
Das Geschwader Condor war bis zum heutigen Nachmittag Spensers Truppe gewesen. Und obschon er über eine Stunde gebüffelt hatte, war es Winthrop nicht gelungen, ihr Geheimnis zu ergründen. Zwar hatte man ihn über die bevorstehende Aufgabe in groben Zügen unterrichtet, die Einzelheiten lagen jedoch nach wie vor im Dunkeln.
»Viel Glück, junger Mann«, hatte Beauregard gesagt. »Sie können sich einen Stern damit verdienen.«
Er begriff nicht, wie ein Zivilist, obgleich er auf mysteriöse Weise eng mit dem Wing verbunden schien, ihm eine Beförderung in Aussicht stellen konnte, doch Charles Beauregard flößte ihm Vertrauen ein. Winthrop fragte sich, wie viel Vertrauen er dem bedauernswerten Captain Eliot Spenser hatte einflößen können.
Da Winthrop bereits seit einiger Zeit in Frankreich weilte, wusste er, dass er, um nicht zu zittern, nur die Muskeln anzuspannen brauchte. Doch die Erinnerung an Spenser, der ihn mit blutüberströmtem Gesicht anlächelte, raubte ihm jegliche Beherrschung. Seine schmerzenden Wangenmuskeln erschlafften, und er klapperte mit den Zähnen wie eine Marionette.
Obgleich das Bauernhaus verdunkelt war, ließen schwache Lichtstreifen die Umrisse der Fenster sichtbar werden. Dravot öffnete den Wagenschlag. Winthrop stieg aus; überfrorener Rasen knirschte unter seinen Sohlen, und feuchter Atemdunst benetzte seinen Schal. Dravot nahm Haltung an. Sein Blick war starr und unerschrocken, und unter seinem Schnurrbart ragten spitze Fangzähne hervor. Kein Wölkchen strömte ihm aus Mund und Nase. Der Sergeant brauchte nicht zu atmen. Er wäre selbst gegen eine Horde wilder Barbaren standhaft geblieben. Falls Dravot persönliche Ansichten und Gefühle hegte, so waren sie unergründlich.
Eine Tür ging auf. Rauchschwangeres Licht und gedämpftes Stimmengewirr drangen ins Freie.
»Hallo, Spenser«, rief jemand, »kommen Sie rein und trinken Sie einen Schluck mit uns.«
Als Winthrop das Quartier betrat, erstarben die Gespräche. Ein Grammophon kam jaulend zum Stillstand und erlöste die »Arme Butterfly« von ihrer Qual. Der niedrige Raum diente als provisorische Messe. Die Piloten spielten Karten, schrieben Briefe oder lasen.
Ihm wurde mulmig zumute. Rote Augen nahmen ihn ins Visier. Die Soldaten waren ausnahmslos Vampire.
»Ich bin Lieutenant Winthrop. Ich habe Captain Spenser abgelöst.«
»Ach nein«, meinte ein finster dreinblickender Bursche in einer hinteren Ecke, »was Sie nicht sagen!«
Der Mann bekleidete den höchsten Rang im Raum. Major Tom Cundall. Zunächst konnte Winthrop nicht erkennen, ob der Geschwaderkommandeur warmen oder kalten Blutes war. Nach Einbruch der Dunkelheit bekamen die meisten Kriegsteilnehmer diesen raubgierigen, gehetzten Blick, den man gemeinhin mit den Untoten in Verbindung brachte.
»Ein warmblütiger Kamerad«, bemerkte Cundall und verzog höhnisch den Mund. Ein Vampir. Sein Lächeln hatte ihn verraten. »Wie ich sehe, bleibt der Diogenes-Club seinen Prinzipien treu.«
Spenser war ein lebendiger Mensch. Wenigstens war er es noch gewesen, als Winthrop ihn zuletzt gesehen hatte. Gleiches galt für Beauregard. Doch das beruhte nicht auf einem strikten Reglement, sondern verdankte sich einzig und allein dem Zufall. Warmblüter wurden nicht bevorzugt. Im Gegenteil.
»Hat ein Schlitzohr heimlich ein Bombenattentat auf den Diogenes-Club verübt?«, fragte ein Pilot mit verstohlenem Grinsen.
»Sachte, Courtney«, sagte jemand.
Hunnen, die rückwärtige Stellungen attackierten, galten bei den Frontsoldaten als Helden. Die roten Sterne eines Stabsoffiziers kamen einem Kainsmal gleich. Die scharlachroten Flecken auf seinen Rangabzeichen riefen Spott und Hohn hervor. Winthrop hatte weder um einen sicheren Posten noch um seine Aufnahme in den Diogenes-Club gebeten. Auch dies verdankte sich dem puren Zufall.
»Captain Spenser hat einen Nervenzusammenbruch erlitten«, sagte Winthrop mit geheuchelter Teilnahmslosigkeit. »Er hat sich schwere Wunden zugefügt.«
»Grundgütiger!«, stieß ein Mann mit rotem Haar hervor. »Ein Revolver ist eben kein Spielzeug«, spöttelte Courtney. Er hatte brennende, verwegene Augen, ein australisches Näseln in der Stimme und einen wie mit spitzer Feder hingetupften Schnurrbart. »Er sollte sich was schämen!«
»Captain Spenser hat sich vier Dreizollnägel in den Schädel getrieben«, erklärte Winthrop. »Er ist auf unbestimmte Zeit beurlaubt.«
»Ich wusste gleich, dass mit dem Burschen was nicht stimmt«, sagte ein Amerikaner mit hohler Stimme und blickte von seiner Pariser Zeitung auf.
»Wer dabei erwischt wird, wie er sich den Heimatschuss verpassen will, endet für gewöhnlich vor einem Exekutionskommando«, meinte Courtney.
»Captain Spenser war großen Belastungen ausgesetzt.«
»Damit steht er nicht allein«, bemerkte der Amerikaner. Ein schwarzer Hut beschattete sein hageres Gesicht, doch seine Augen glommen im Dunkeln.
»Lass Winthrop in Frieden, Allard«, insistierte Cundall. »Er ist nur ein unschuldiger Bote.«
Allard steckte seine vorspringende Nase wieder in die Zeitung. Er verfolgte die Heldentaten von Judex, dem Rächer der Enterbten. Presseberichten zufolge war auch Judex ein Vampir.
Der rothaarige Blutsauger wollte noch mehr über Spenser wissen, doch Winthrop hatte nichts weiter zu berichten. Er hatte den Offizier nur flüchtig zu Gesicht bekommen, als dieser in den Krankenwagen verladen worden war. Er war ins Kriegslazarett von Craiglockart bei Edinburgh gebracht worden, das gemeinhin als »Dottyville« bekannt war.
Es entbrannte eine hitzige Debatte über die einzigartige Methode, mittels derer Spenser sich zum Invaliden befördert hatte. Allard meinte, in manchen Regionen Russlands gebe es Vampirmörder, die den Blutsaugern seit alters lieber Eisendorne in den Schädel trieben, statt ihnen Holzpflöcke ins Herz zu schlagen.
»Woher kennst du eigentlich all diese Schauergeschichten?«, fragte Courtney.
»Das Böse ist nun mal mein Steckenpferd«, antwortete Allard, und seine Augen brannten wie glühende Kohlen. Plötzlich fing der Amerikaner grundlos an zu kichern. Sein düsteres, kehliges Glucksen wuchs an zu freudlosem Gelächter. Nicht nur Winthrop sträubten sich die Haare.
»Reißen Sie sich zusammen, Allard«, sagte Cundall. »Da gerinnt einem ja das Blut in den Adern.«
Die Piloten waren, selbst für Vampire, furchteinflößend. Wie die französische Groupe des Cigognes bestand das Geschwader Condor fast ausschließlich aus Überlebenden, oftmals den einzigen Überlebenden ihrer früheren Staffel. Um hier aufgenommen zu werden, musste man unzählige Tode gestorben sein. Unter den Männern waren einige der berühmtesten, erfolgreichsten Asse der Alliierten. Winthrop fragte sich, ob sie auch einen Einsatz fliegen würden, bei dem sich nur wenige Einzelsiege erringen ließen. Im Wing wurden Cundall’s Condors als ruhmsüchtige, ordensgeschmückte Mörder verachtet. Beauregard hatte ihn ermahnt, sich von den Piloten nicht auf der Nase herumtanzen zu lassen.
Ein junger Vampir schleppte sich mit wuchtigen Tritten eine Wendeltreppe herab. Trotz seiner verrenkten Gliedmaßen wirkten seine Bewegungen wendig und geschickt. Er wischte sich den roten Mund mit einem weißen Schal. Seine rosige Gesichtsfarbe verriet, dass er sich soeben genährt hatte. Hinter der Front gab es ungewöhnlich dienstbare, wenn auch kostspielige französische Mädchen. Andernfalls blieb immer noch das liebe Vieh.
»Spenser hat versucht, seinen Kopfschmerz à la Moldau zu kurieren«, erklärte Courtney dem Krüppel. »Nägel ins Gehirn.«
Ball schwang sich an in die Balken eingelassenen Griffen wie ein Affe durch den Raum. Schließlich machte er es sich in einem Sessel neben dem Grammophon bequem, seine Augen schwammen in Blut. Wenn sie satt waren, dösten manche Vampire träge vor sich hin wie Schlangen. In früheren Zeiten, als man nosferatu jagte wie pestverseuchte Ratten, waren sie am schwächsten, wenn sie Nahrung aufgenommen hatten, und versteckten sich in Särgen oder Gräbern. Ball sank mit halb offenem Mund in sich zusammen, sein Kinn war blutbesudelt.
»Ich brauche einen Piloten«, sagte Winthrop leiser als geplant.
»Da sind Sie bei uns goldrichtig«, meinte Cundall.
Niemand meldete sich freiwillig.
»Nehmen Sie Bigglesworth«, sagte Courtney. »Die Daily Mail nennt ihn einen ›Ritter der Lüfte‹.«
Ein junger Lieutenant errötete leicht; kirschrote Flecken erschienen auf seinen kreideweißen Wangen. Courtney war offensichtlich Cundalls Zweitbesetzung für die Rolle des Stubenzynikers.
»Lass gut sein, alter Knabe.«
Unter missbilligendem Knurren bekundeten seine Genossen ihre Unterstützung für den Lieutenant. Die Bande von Schuljungen schien Courtney kein allzu großes Kopfzerbrechen zu bereiten.
Major Cundall dachte nach und sagte: »Reichlich trübes Wetter zum Fliegen, meinen Sie nicht auch?«
Winthrop rief sich Beauregards Unterweisung ins Gedächtnis und erklärte: »Der Diogenes-Club möchte einen Blick auf etwas Bestimmtes werfen. Ein einzelner Aufklärer könnte über den Wolken hinter die feindlichen Linien gelangen und dann hinabstoßen und Fotos schießen.«
»Das reinste Kinderspiel«, meinte Cundall. »Mit der Nummer werden wir am Ende noch den Krieg gewinnen.«
Winthrop ärgerte sich über den Geschwaderkommandeur. Nichts gegen ein wenig Schabernack, aber die Form musste gewahrt bleiben. Der Diogenes-Club pflegte seine Zeit nicht nutzlos zu vertändeln.
Er requirierte einen Spieltisch und breitete die Karte darauf aus.
»Das ist unser Ziel«, sagte er und deutete mit dem Finger darauf. »Uns sind seltsame Gerüchte zu Ohren gekommen.«
Hellhörig geworden, traten die Piloten näher. Ball krabbelte seitwärts aus seinem Sessel und humpelte herbei. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, klammerte er sich mit kalter Hand an Winthrops Schulter. Am Boden war Albert Ball ein untüchtiger Krüppel, in der Luft jedoch war er flink und behände wie kein Zweiter, das As der Alliierten-Asse.
»Das Château du Malinbois«, sagte der errötende Lieutenant. »Eine Hunnenstellung.«
»Das erste Jagdgeschwader«, setzte einer seiner Kameraden hinzu, der fast ebenso rotes Haar hatte wie Albright.
»Ganz recht, Ginger. Das gute alte JG1. Wir sind die besten Freunde.«
»Richthofens Zirkus«, sagte Allard mit düsterer Stimme. Als er den berühmten Namen hörte, spuckte Ball verächtlich aus. Die blutige Schliere verfehlte die Karte und versickerte im Fries.
»Kümmern Sie sich nicht um Ball«, bemerkte Ginger. »Seit der lumpige Lothar, der teuflische Bruder des Roten Barons, ihn vom Himmel geholt hat, liegt er mit ihm in Fehde. Familienehre und so weiter.«
»Unseren Erkenntnissen zufolge ist das Château mehr als nur ein Quartier für deutsche Flieger«, sagte Winthrop. »Nachts gehen dort sonderbare Dinge vor. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen von, ähem, ungewöhnlichen Gestalten.«
»Und der Diogenes-Club will Fotos? Wir haben letzte Woche einen ganzen Schlag davon geschossen.«
»Bei Tage, Sir.«
Winthrop nahm die Hände von der Karte, die sich daraufhin zu einem Rohr zusammenrollte, und legte Fotografien des Château du Malinbois auf den Tisch. Flugabwehrfeuer, sogenanntes Archie, hing in schwarzen Wolken zwischen Schloss und Kamera.
Winthrop tippte auf eines der Bilder. »Diese Türme sind mit Tarnnetzen umhüllt. Als wolle uns der Boche verheimlichen, was er im Schilde führt. Camouflage, wie unsere französischen Verbündeten wohl sagen würden.«
»Das macht neugierig«, meinte Ginger.
Cundall runzelte die Stirn. »Reichlich dunkel zum Fotografieren, wenn Sie mich fragen. Ich glaube kaum, dass die Bilder etwas werden würden.«
»Sie wären erstaunt, wenn Sie wüssten, was wir aus einem dunklen Bild ersehen können, Sir.«
»Mag sein.«
Cundall nahm die Fotografien in Augenschein. Er legte die Hand auf den Tisch und trommelte mit seinen dicken, spitzen Fingernägeln.
»Der Pilot hat eine Signalpistole. Er kann eine Leuchtrakete abfeuern, um etwas Licht auf die Sache zu werfen.«
»›Eine Leuchtrakete abfeuern‹. Gar nicht dumm, bei Licht besehen«, sagte Cundall. »Ein schlechter Scherz, verzeihen Sie.«
»Das JG1 wird über unseren Besuch entzückt sein«, meinte Courtney. »Womöglich rollt es sogar den roten Teppich für uns aus.«
Das Archie auf den Bildern schien den Streben der Maschine des Fotografen bedrohlich nah.
»Die Zirkusleute werden sich mit Rheinwein und Jungfernblut zuprosten«, sagte Cundall, »und mit der Anzahl von Engländern prahlen, die sie vom Himmel geholt haben. Nur wir sind dumm genug, bei diesem Sauwetter einen Mann in die Luft zu schicken.«
»Sehr unsportlich, diese Hunnen«, bemerkte Ginger. »Sitzen hinter dem warmen Ofen.«
»Die Leuchtrakete wird sie ins Freie locken«, sagte Albright. »Mit Archie ist zu rechnen. Vielleicht steigt sogar ein Albatros auf.«
»Flügellahme Vögel, diese Albatrosse«, meinte Courtney.
Cundall schien von den Bildern wie hypnotisiert. Obgleich die Zinnen unter dem Beschuss etwas gelitten hatten, war das Schloss bei weitem imposanter (und vermutlich auch bequemer) als das Bauernhaus. Wie alle Kampftruppen war auch das Royal Flying Corps davon überzeugt, dass der Feind es besser hatte.
»Na gut, Winthrop«, sagte Cundall. »Suchen Sie sich einen aus.«
Damit hatte er nicht gerechnet. Er blickte in die Runde. Ein oder zwei Piloten wandten sich ab. Cundalls diebisches Grinsen entblößte die scharfen Spitzen seiner Zähne.
Winthrop kam sich vor wie eine Maus in einer Katzenzucht. Er dachte an die blutigen Nagelköpfe in Spensers Schädel.
»Am geeignetsten wäre wohl der Mann, der diese Bilder geschossen hat.«
Cundall inspizierte die Seriennummer, die an den Rand der Fotografie gekritzelt war.
»Rhys Davids. Keine gute Idee. Der ist in den Dutt gegangen. Vorgestern Nacht.«
»Das ist bislang nicht bestätigt«, sagte Bigglesworth. »Er könnte auch dem Feind in die Hände gefallen sein.«
»Für uns ist er auf jeden Fall verloren.«
Winthrop blickte erneut in die Runde. Niemand trat vor. Obwohl er wusste, dass der Krieg in Frankreich mit anderen Mitteln geführt wurde als in der regierungstreuen Presse, hatte er mit einem edlen Wettstreit von Freiwilligen gerechnet.
»Hier ist eine Aufstellung aller Namen, Sie haben die Wahl.«
Cundall reichte ihm ein Schreibbrett. Winthrop warf einen Blick auf die Dienstliste des Geschwaders Condor. Mehrere Namen waren durchgestrichen, unter ihnen auch »Rhys Davids, A.«
»Albright, J.«, wählte er den ersten Namen.
»Na schön«, sagte der rothaarige Captain. Obgleich er die Uniform des RFC trug, war auch er Amerikaner. Cundalls kundiges Geschwader war ein Sammelbecken für Ausländer jeglicher Couleur.
»Wie geht’s Ihrer Kiste, Red?«, fragte Cundall.
Albright zuckte die Achseln. »Besser denn je. Die Kamera ist noch installiert.«
»Wie praktisch.«
Albright wirkte ruhig und gesetzt. Für einen Vampir war er von ungewöhnlich stämmiger Statur, mit kantigem Schädel und kräftigem Kiefer, wie aus massivem Stein gehauen. Er würde standhaft bleiben, komme, was da wolle.
»Ball, dann bist du unser vierter Mann beim Bridge«, rief Courtney. »Red hat versprochen, mit Brown gegen mich und Williamson anzutreten.«
Albright zuckte resigniert die Achseln, während Ball sich zu den Kartenspielern gesellte.
»Ich bin gegen Mitternacht zurück«, sagte Albright.
Alle stöhnten über diesen alten Witz.
 
Winthrop fühlte sich verpflichtet, eine Laterne unter die Flügel der Royal Aircraft Factory SE5a zu halten und die Kameras zu inspizieren, die anstelle von Cooper-Bombenträgern dort installiert waren. Sie wurden, wie Bomben, mit Hilfe einer Abzugsleine im Cockpit ausgelöst. Die Platten wurden eingelegt. Dies gehörte zu Dravots Aufgaben.
Mit dem unbehaglichen Gefühl, dass er der Einzige war, der nicht im Dunkeln sehen konnte, löschte Winthrop das Licht.
Albright hievte sich ins Cockpit und überprüfte seine Geschütze, ein starr montiertes Vickers, das durch den sich drehenden Propeller feuerte, und ein auf der oberen Tragfläche angebrachtes schwenkbares Lewis. Auch wenn es bei Ausflügen wie diesem nur selten zu Schussgefechten kam. Zweck der Übung war es, unbemerkt hinter die Linien zu gelangen und Fotos zu schießen, bevor der Feind zum Gegenschlag ausholen konnte. Deshalb war dies eine Einmannmission: Zu viele Flugzeuge hätten Malinbois in Unruhe versetzt. Der Boche stieg nur in Notfällen auf. Die Alliierten flogen unablässig Angriffsstreifen, um die Mittelmächte daran zu erinnern, wer der Herr am Himmel war.
Cundall und seine Kameraden waren aus dem Haus gekommen, um Albright starten zu sehen. Die Piloten warfen einen fachmännischen Blick auf die SE5a und inspizierten den mit geflickten Einschusslöchern übersäten Rumpf. Sie kamen überein, dass die verhältnismäßig neue Maschine in annehmbarem Zustand sei. Obgleich der Diogenes-Club dem Geschwader Condor jedes gewünschte Flugzeug beschaffen konnte, hingen die Piloten sehr an ihren Mühlen.
Um Gefühl in seine tauben Zehen zu befördern, stampfte Winthrop mit den Füßen. Es war stockdunkel. Das Flugzeug war ein riesiges Schattenskelett. Vampire fühlten sich bei Nacht so wohl wie er zur Mittagszeit auf der Pier in Brighton. Aufgrund ihrer angepassten Augen eigneten sich die Untoten zum Nachtflug, zum Nachtkampf. Ihretwegen war dies der erste Tag-und-Nacht-Krieg der Geschichte.
Ginger versetzte dem Propeller der SE5a einen kräftigen Schwung. Doch der Hispano-Suiza-Motor sprang beim ersten Mal nicht an.
»Ein bisschen mehr Schmackes«, sagte Bertie, einer der Kameraden.
Wären die Vampire nicht gewesen (insbesondere der Rohling, der sich inzwischen Graf von Dracula zu nennen pflegte), so wäre es natürlich gar nicht erst zum Krieg gekommen. Der jüngste Versuch des Grafen, die Macht über Europa an sich zu reißen, hatte zu einem Konflikt geführt, der sämtliche Nationen auf dem Erdball in sich zu verwickeln schien. Selbst die Amerikaner waren eingetreten. Der Kaiser meinte, der moderne Deutsche verkörpere den Geist der alten Hunnen, doch tatsächlich war es Dracula, der, voller Stolz auf seine Blutsverwandtschaft mit dem Hunnenkönig Attila, den Inbegriff der Barbarei des zwanzigsten Jahrhunderts darstellte.
Ginger drehte ein zweites Mal an dem Propeller. Der Motor knurrte, und erstickte Beifallsrufe waren zu hören. Albright salutierte und sagte: »Bis Mitternacht.« Die Maschine rollte über holprigen Rasen, tauchte in den Schatten der Bäume und schwang sich in die Luft. Als ein Windstoß sie erfasste, wackelte sie leicht.
»Wieso Mitternacht?«, erkundigte sich Winthrop.
»Weil Red immer um Mitternacht zurückkommt«, sagte Bertie. »Er macht seine Sache schnell und gründlich und kehrt dann ins Quartier zurück. Deshalb nennen wir ihn Captain Midnight.«
»Captain Midnight?«
»Ja. Klingt albern, nicht?« Der Pilot grinste. »Bisher hat es ihm Glück gebracht. Red ist ein erstklassiger Pilot. Bis sie aufgelöst wurde, war er bei der Escadrille Lafayette. Er ist zu uns gekommen, weil die Yankees ihn als untauglich befunden haben. Das American Air Corps ist ausschließlich warmblütigen Männern vorbehalten.«
Albrights Mühle verschwand in einer tief hängenden Wolkenbank. Das Brummen des Motors verschmolz mit dem Pfeifen des Windes und Musikfetzen aus dem Grammophon in der Bauernstube. Die »Arme Butterfly« wartete von neuem. Sergeant Dravot starrte gebannt in den Nachthimmel.
Major Cundall sah nach seiner Uhr (einer jener neumodischen Apparate, die am Handgelenk getragen wurden, damit sie im Schützengraben nicht verlorengingen) und vermerkte die Startzeit in einem Logbuch. Winthrop warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Halb elf am Abend des 14. Februar 1918. Valentinstag. Daheim würde Catriona zu Recht voller Sorge an ihn denken.
»Jetzt können wir nur noch warten«, sagte Cundall. »Kommen Sie rein und wärmen Sie sich auf.«
Winthrop hatte gar nicht bemerkt, wie durchgefroren er war. Er schob die Uhr in seine Westentasche und folgte den Piloten zum Bauernhaus zurück.

2

Der Alte

Während der gesamten Überfahrt sah Beauregard mit Unbehagen zu dem Verwundeten hinüber, der in einer Ecke der Kabine lag. Angesichts seiner Verfassung verhielt sich Captain Spenser ungewöhnlich ruhig.
Als ein Bursche ihn gefunden hatte, war er eben im Begriff gewesen, sich einen fünften Nagel in den Kopf zu treiben. Offenbar hatte er seinen ganzen Schädel mit Eisendornen spicken wollen. Die Diagnose lautete auf nervliches Versagen, und Beauregard schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es vermutlich einer ruhigen Hand bedurfte, um sich solch einer Operation zu unterziehen.
Beauregard machte sich Vorwürfe, weil er die Belastungen verkannt hatte, denen Spenser auf Geheiß des Diogenes-Clubs ausgesetzt gewesen war. Ein Mensch konnte durchaus zu viel wissen. Bisweilen wünschte Beauregard, auch sein Schädel würde sich öffnen und seine Geheimnisse entweichen lassen. Es wäre eine Wonne, unschuldig und unwissend zu sein.
Nach vielen Jahren im Dienste des Diogenes-Clubs gehörte Beauregard nun, wie der ehrwürdige Mycroft und der exzentrische Smith-Cumming, der herrschenden Clique, dem höchsten Stab des Secret Service, an. Er hatte sein ganzes Leben im Verborgenen verbracht.
Das Wasser des Kanals war ruhig. Beauregard plauderte mit Godfrey, einem Krankenträger, der den Quäkern angehörte. Er hatte den Sanitätsdienst dem Gefängnis vorgezogen und war für seine Tapferkeit in der Schlacht um den Vimy-Rücken mit einem Orden ausgezeichnet worden. In Beauregards Augen war ein Mann, der bereit war, für sein Vaterland zu sterben, nicht aber für es zu töten, ein besserer Mensch. Er trauerte um jeden, den er getötet hatte; und er trauerte um jenen kurzen Augenblick, in dem er sein Opfer hatte entkommen lassen. Um den Preis seines eigenen Lebens hätte er Graf Dracula ein Ende machen können. Je älter er wurde, desto öfter dachte er an jene qualvollen Sekunden.
Am Newhaven Quay wurde die kleine Schar toll gewordener Offiziere bereits von Krankenschwestern erwartet. In der Gruppe waren die Männer ruhig und fügsam. Die Schwestern trieben sie sanft, aber bestimmt zusammen. Noch vor vier Jahren hatte die Armee hinter jedem Fall von Frontneurose einen erbärmlichen Feigling vermutet. Doch nach unzähligen mörderischen Kampfeinsätzen waren Zusammenbrüche in den Reihen der höheren Offiziere nachgerade de rigeur. Selbst der zweite Sohn des Herzogs von Denver befand sich unter dem heutigen Haufen von Dottyville-Patienten.
Das Dock lag im Dunkeln. Deutsche U-Boote wurden im Kanal vermutet. Beauregard wünschte dem teilnahmslosen Spenser alles Gute, gab Godfrey seine Karte und überquerte dann den finsteren Bahnsteig, um den Schnellzug nach London zu nehmen.
An der Victoria Station wurde er von Ashenden, einem jungen Burschen, der sich in der Schweiz als äußerst kaltblütig erwiesen hatte, in Empfang genommen und durch die dunkle Stadt chauffiert. Obgleich es regnete und kein Laternenschein die Straßen erhellte, waren allenthalben tatendurstige Nachtschwärmer zu sehen. Selbst im Herzen des Empires, das nur wenige Luftangriffe erlitten hatte, war der Krieg allgegenwärtig. Theater, Restaurants und Kneipen (und zweifellos auch Lasterhöhlen und Bordelle) wimmelten von Soldaten, die verzweifelt zu vergessen suchten. Um jeden Uniformierten drängten sich Scharen begeisterter Männer, die danach gierten, »unseren Jungs« eine Lage auszugeben, und Trauben heißblütiger junger Frauen, die den verehrten Helden ihre Liebesgunst bezeigen wollten. Plakate drohten Drückebergern mit drakonischen Strafen. Glutäugige Vampirmädchen durchstreiften Piccadilly und Shaftesbury Avenue mit weißen Federn, um sie an ihre untoten Brüder zu verteilen, die nicht im Dienst des Königs standen. Im Hyde Park hatte man den originalgetreuen Nachbau eines Schützengrabens errichtet, um der Zivilbevölkerung einen Eindruck von den Bedingungen in Frankreich zu vermitteln; seine Reinlichkeit und die zahlreichen Vergünstigungen der Heimat entlockten den beurlaubten Frontkämpfern bestenfalls ein müdes Lächeln. In der Queen’s Hall dirigierte Thomas Beecham ein No German Concert. Bei der Auswahl von Stücken englischer, französischer und belgischer Komponisten hatte man auf die diabolische Kultur von Beethoven, Bach und Wagner ausdrücklich verzichtet. Das Scala Cinema zeigte Wochenschauen mit (größtenteils in den Shire Counties nachgestellten) Frontaufnahmen und Mary Pickford in Die kleine Fledermaus.
Wären auf den Straßen Londons Lichtspiele gedreht worden, so hätten Tausende und Abertausende von Einzelheiten eine Stadt im Kriegszustand erkennen lassen, von der Verkehrspolizistin bis hin zur bewaffneten Schutzwache vor einem Fleischerladen. Einen Mann im vorgerückten Alter wie Beauregard gemahnten viele dieser Dinge an die Zeit des Schreckens vor dreißig Jahren, als Britannien unter dem Joch des damaligen Prinzgemahls gelitten hatte. Kommentatoren wie H. G. Wells und Edmund Gosse vertraten die Ansicht, der Weltkrieg sei die logische Folge einer versäumten Pflicht. Denn statt den Dämonenfürsten auf einen seiner Pfähle zu hieven, hatten die Revolutionäre der neunziger Jahre Dracula gnädig des Landes verwiesen. Als König Victor im Jahre 1897 zum zweiten Mal den Thron bestieg, machte Lord Ruthven dem Blutvergießen ein Ende. Der Premierminister konnte das Parlament dazu bewegen, die Erbfolge zu bestätigen, was seinem früheren Gönner Dracula das Recht zu regieren versagte und einen neuerlichen Bürgerkrieg verhindern half.
Der junge Ashenden zeigte sich nachsichtig gegen die Menschenmassen auf der Fahrbahn. Während sie bei laufendem Motor darauf warteten, dass eine Kapelle der Heilsarmee den Weg frei machte, klopfte es plötzlich an die Fensterscheibe. Der Chauffeur hob den Blick und sah mit der seinem Berufsstand angemessenen Nervosität hinaus. Eine weiße Feder schwebte durch den Fensterspalt und flatterte zu Boden.
»Das kommt davon, wenn man im Geheimen seinen Dienst verrichtet«, sagte Beauregard.
Ashenden legte die Feder in eine Blechbüchse neben den Schaltknüppel, in der sich ein Revolver sowie drei oder vier weitere Schandzeichen befanden.
»Sie werden es noch zu einem prächtigen Gefieder bringen.«
»Es gibt nicht mehr viele Burschen meines Alters in Zivil. Manchmal stürzen sich die Weiber auf mich wie die Fliegen, um mir ihre Federn anzuheften.«
»Ich will sehen, ob ich Ihnen nicht ein Ordensband besorgen kann.«
»Nicht nötig, Sir.«
Die Zeit des Schreckens hatte Beauregard die aufregendsten Momente seines Lebens beschert. Die Nächte der Gefahr waren ihm in guter Erinnerung geblieben. Die längst verheilten Bisswunden an seinem Hals verursachten ihm Schmerzen. Er dachte an seine Gefährtin in jenen Nächten, eine Älteste namens Geneviève. Inzwischen war er in Gedanken jedoch immer häufiger bei seiner Gattin Pamela, die gestorben war, noch bevor Dracula seine transsylvanische Festung überhaupt verlassen hatte. Pamela war die Welt seiner Jugend, die ihm nun sonnenhell und liebreizend erschien. Eine Welt ohne Vampire. Geneviève hingegen war das Zwielicht, erregend, doch gefährlich. Sie hatte ihre Spuren bei ihm hinterlassen. Bisweilen wurde er von plötzlichen Eingebungen überfallen und wusste, was sie fühlte, was sie tat.
Soldaten hoben die Schranke und winkten sie in die Downing Street. Die Leibwachen des Premierministers waren Älteste, Karpater, die sich im Zuge von Ruthvens Revolte gegen den Pfähler gewandt hatten. Sie trugen mittelalterliche Helme und Kürasse und waren mit Säbeln und Karabinern ausgerüstet. Sowie Dracula zum Angriff gegen Ruthven überging, würden diese Vampire ihrem einstigen Generalissimus mutig die Stirne bieten. Es blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig, denn Dracula würde versuchen, sie auf der Stelle zu töten. Er kannte kein Erbarmen, wie dieser Krieg eindrucksvoll bewies.
Dracula hatte England verlassen, wie er hergekommen war, als Treibgut. Als das Land sich gegen ihn stellte, gab sich der Prinzgemahl gefangen und wurde in den Tower von London gesperrt. Es war eine List: Der spinnenartige Gebieter über den Tower, Graf von Orlok, seinem Genossen Ältesten treu zu Diensten, verhalf ihm zu einer waghalsigen Flucht. Dracula trieb in einem Sarg durch das Traitor’s Gate und erreichte erst die Themse, dann die offene See.
Nachdem Dracula entkommen war, bestand Geneviève darauf, an Beauregards Bett zu wachen. Sie befürchtete, der Graf könne die Gelegenheit beim Schopf packen und sich an ihnen rächen. Sie hatten seiner Schreckensherrschaft ein Ende gesetzt. Doch der Graf hatte offensichtlich dringendere Geschäfte zu erledigen und verzichtete darauf, es ihnen heimzuzahlen. Diese Missachtung ärgerte Geneviève. Schließlich hatten sie den Gang der Geschichte verändert. So glaubten sie zumindest. Vielleicht hatten Einzelne auf die Zeitläufe doch nur geringen Einfluss.
Der Wagen hielt vor Nummer zehn. Ein Vampir-Bediensteter in Livree stürzte aus der Tür. Zum Schutz gegen den Nieselregen hielt er eine Daily Mail über seine Perücke gebreitet. Beauregard wurde die Treppe zur Amtswohnung des Premierministers hinaufgeführt.
In Europa wanderte Dracula wie dereinst König Lear von Hof zu Hof, wobei er sich das Missfallen seiner Gastgeber über Parlamente zunutze machte, die ihre Monarchen in die Wüste schickten. Sein Geblüt erstreckte sich auf Häuser, mit denen er durch seine Vermählung mit der hochseligen Königin Viktoria und seine weit verstreuten sterblichen Nachkommen verbunden war. Nach Jahrhunderten zählten sämtliche gekrönten Häupter Europas Vlad Tepes zu ihren bemerkenswerten Vorfahren.
Als er dem Bediensteten seinen Überzieher reichte, bemerkte Beauregard, dass noch immer reichlich französischer Schlamm an seinen Stiefeln klebte. Dass Kriege so nah der Heimat ausgefochten wurden, war ein Wunder der Moderne. Obschon seine alten Knochen sich dem mit aller Macht zu widersetzen schienen, ließ er Männer wie Ashenden und Edwin Winthrop hinund herfliegen.
In Russland verwandelte Dracula dünnblütige Romanows, deren Gestalt sich daraufhin katastrophal veränderte. Rasputin gelangte durch die Behauptung an die Macht, die rasende Werwolfswut, die den Zarewitsch befallen habe, lasse sich nur durch Zauberei kurieren. Doch der heilige Scharlatan war tot, von einem upyr-Fürsten in Stücke gerissen. Der Zar war von den bolsheviki eingekerkert worden. Erkenntnissen des Diogenes-Clubs zufolge, hatte Dracula höchstselbst dafür gesorgt, dass Lenin in seinem berühmten versiegelten Zug nach Russland hineingeschmuggelt werden konnte.
Nummer zehn war erneut umgestaltet worden. Die Empfangshalle beherbergte eine Galerie von Porträts, die von den bedeutendsten Künstlern der letzten drei Jahrzehnte stammten: Whistler, Hallward, Sickert, Jimson. Zum Leidwesen seiner Kabinettskollegen, denen alles suspekt erschien, was über ein idyllisches Landschaftsbild von Constable hinausging, bekannte Ruthven sich inzwischen voller Leidenschaft zum Vortizismus. Beauregard hielt vergeblich nach Gemälden Ausschau, die etwas anderes zum Thema hatten als den derzeitigen Premierminister. Das graue, sardonische Gesicht blickte mit kalten Augen von einem guten Dutzend Leinwänden herab. Ruthvens Selbstverliebtheit machte nicht einmal vor Werken halt, die ihn alles andere als vorteilhaft erscheinen ließen, wie Wyndham Lewis’ Schilderung seiner Besuche an der Front.
Im Juli des Jahres 1905 brachte die Romanow-Yacht Stella Polaris Dracula in die Bucht von Björkö vor der finnischen Küste. Per Ruderboot wurde er zur Hohenzollern, der eleganten weiß-goldenen Jacht eines seiner zahlreichen angeheirateten Großneffen, Kaiser Wilhelms II., weiterbefördert. Dem Diogenes-Club war es seinerzeit gelungen, die in der für Europas Königshäuser typischen, mit verwandtschaftlich-diplomatischem Schmelz überzuckerten Sprache gegenseitigen Misstrauens abgefassten Communiqués des Fürsten von Bülow, dem damaligen Reichskanzler des Kaisers, an Konstantin Pobedonoszew, einem engen Berater des Zaren, auf halbem Wege abzufangen. Der Kaiser war von dem Irrglauben beseelt, der dunkle Kuss werde seinen verwelkten Arm wieder erblühen lassen. Die Russen rührten die Trommel für Draculas Geblüt und verheimlichten den Zustand des dahinsiechenden Zarewitsch, um Willi dazu zu bewegen, die Last des früheren Prinzgemahls auf sich zu nehmen.
Beauregard trug sich in die Besucherliste ein und eilte über einen Korridor zum Kabinett. Mit silberbewehrten Piken bewaffnete Karpater säumten den Flur. Kostaki, ein rehabilitierter Ältester, dessen Sturz während der Zeit des Schreckens mit einem vertrauensvollen Posten belohnt worden war, hob die Hand an seinen Helm, als Beauregard an ihm vorüberhastete.
Der Fürst, der sich nun Graf von Dracula zu nennen pflegte, hatte sich zu einer Zierde des kaiserlichen Hofes in Berlin gemausert. Mit großem Prunk und Pomp verwandelte er Wilhelm. Endlich konnte der Kaiser seinen verhassten Arm strecken und eine ordentliche Faust machen. Nichts hatte Willi sich sehnlicher gewünscht, als seine neu gewonnenen Finger in das Fleisch seiner monarchischen Widersacher zu bohren, sie ihrer Herrschaft über die Ozeane und diverser Gebiete im Osten und in Afrika, im Pazifik und in Asien zu berauben. Deutschland, sagte er, müsse ein einig Volk von Vampiren werden und seinen Platz im Mondschein finden.
Britische und französische Schriftsteller verfassten Romane nach dem Vorbild der Schlacht von Dorking und prophezeiten einen Krieg zwischen dem Deutschland Draculas und der zivilisierten Welt. In Vicomte Northcliffes Daily Mail erschienen derlei Räuberpistolen in Serie, und Die Invasion von 1910 bescherte ihrem Verfasser William Le Queux beachtlichen Erfolg. Bezahlte Strategen vertraten die Ansicht, die neuen Hunnen würden Blitzattacken auf isolierte Außenposten vorziehen. Da wenig Aussicht bestand, die Auflage der Mail in der Provinz zu erhöhen, verlangte Northcliffe, dass in der Geschichte die Invasion jeder größeren englischen Stadt vorkommen müsse. Die Einwohner von Norwich und Manchester verschlangen die schauerlichen Schilderungen ihres Schicksals unter der Belagerung untoter Ulanen. Beauregard dachte an die Plakatträger der Mail, die als Vorgeschmack auf die fiktive Besatzung in deutscher Uniform durch die Stadt stolziert waren.
Der Diogenes-Club erfuhr von den Bemühungen des Kaisers auf dem Gebiet der Industrialisierung und Erweiterung der Seestreitkräfte, doch hatte diese Nachricht bedauerlicherweise wenig Einfluss auf Ruthvens Bemühungen um Galerie-Eröffnungen und Gesellschaftsbälle. Deutsche Eisenbahngleise schlängelten sich quer über den Kontinent, wodurch eine rasche Mobilmachung ermöglicht wurde. Während Britanniens Dreadnoughts die Meereswellen regierten, beherrschten Willis U-Boote die Tiefen. Als der geniale englische Ingenieur Heath Robinson sich an die Entwicklung von Luftfahrzeugen machte, versicherte sich Dracula der Dienste des Holländers Anthony Fokker, der immer neue Bomber und Jagdflugzeuge konstruierte.
Der Vampirismus verbreitete sich über das gesamte Territorium der Mittelmächte. Älteste wagten sich nach Jahrhunderten des unwürdigen Nomadisierens in die Öffentlichkeit zurück und lebten auf Besitzungen in Deutschland und Österreich-Ungarn. In Britannien hatte sich der Vampirismus bislang ungehemmt ausbreiten können, doch nun bestand Dracula darauf, die Verwandlung Neugeborener zu regulieren. Ein Gesetz schloss bestimmte Klassen und Rassen von Männern und Frauen von der Verwandlung aus. Wilhelm machte sich darüber lustig, dass Britannien und Frankreich Dichter und Ballerinen in den Stand der Unsterblichkeit erhoben; unter seiner Herrschaft war dieses Vorrecht jenen vorbehalten, die bereit waren, für ihr Vaterland zu kämpfen und ihre menschliche Beute selbst zu reißen.
Nachdem er eine ganze Reihe militärischer und politischer Stellungen bekleidet hatte, übernahm Dracula im Jahre 1914 den Posten des Kanzlers und Oberbefehlshabers der Streitkräfte des Deutschen Reiches. Beauregard fragte sich, wie der frühere Vlad Tepes Bündnisse unterstützen konnte, die ihn gegen Rumänien - das Land, für das er einst in den Kampf gezogen war - und an die Seite der Türkei stellten, des Imperiums, dem er um den Preis seines warmen Blutes widerstanden hatte.
Vor dem Kabinett wurde Beauregard von Mansfield Smith-Cumming in Empfang genommen, dem monokeltragenden Meisterspion, der wie er der herrschenden Clique angehörte. Gerüchten zufolge hatte sich der Vampir mit einem Federmesser ein Bein amputiert, um sich aus den Trümmern eines Autounfalls befreien und seinen Mantel über seinen sterbenden Sohn breiten zu können, der sich über die Kälte beklagte. Sein Bein war bis zum Kniegelenk nachgewachsen; unter einem dicken Bündel von Verbänden bildete sich ein neuer Fuß.
»Beauregard«, sagte Smith-Cumming breit grinsend, »was halten Sie von der Verkleidung?«
Smith-Cumming freute sich wie ein kleines Kind, dass sein Beruf es ihm erlaubte, sich zu verkleiden. Er trug einen übergroßen, offenkundig falschen Bart. Er verdrehte die Augen und ließ seinen Rosshaarschnauzer tanzen wie ein Komödiant der Fred-Karno-Truppe.
»Sehe ich nicht aus wie ein leibhaftiger Hunne? Können Sie sich vorstellen, wie ich einer belgischen Nonne an die Gurgel gehe?«
Er entblößte riesige falsche Hauer, dann spuckte er sie aus, und darunter kamen seine zierlichen Fangzähne zum Vorschein.
»Wo ist Mycroft?«, fragte Beauregard.
Smith-Cumming blickte so ernst drein, wie es ihm in seiner Verkleidung möglich war. »Böse Neuigkeiten, fürchte ich. Ein neuerlicher Anfall.«
Mycroft Holmes hatte der herrschenden Clique des Diogenes-Clubs schon angehört, als Beauregard Mitglied geworden war. Seine Pläne hatten die Nation während der Zeit des Schreckens zusammengehalten. Seither hatte er alles darangesetzt, den neuen König und seinen ewigen Premierminister Ruthven in ihrer wunderlichen Schwärmerei zu mäßigen.
»Wir stehen unter Druck. Ich nehme an, Sie haben von Spenser gehört.«
Smith-Cumming nickte angewidert.
»Ich habe ihn durch Winthrop ersetzt. Er kommt zügig voran. Ich bin äußerst zuversichtlich, dass er rasch aufholen wird.«
»Gräuliche Nächte, Beauregard«, meinte Smith-Cumming.
Alles hatte am Sonntag, dem 28. Juni 1914, in Sarajewo begonnen, fern der Grenzen, wo die Mächte Europas sich ankläfften wie durch einen Zaun getrennte Hunde.
Erzherzog Franz Ferdinand, der Neffe von Kaiser Franz Joseph, reiste mit seiner morganatischen Gemahlin Sophie Fürstin Hohenberg durch Bosnien. Seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Jahre 1877 auf sich selbst gestellt, war Bosnien schwerlich als das reizvollste Fleckchen Europas zu bezeichnen, dennoch betrachtete Österreich-Ungarn es als natürliche Ergänzung seines ohnehin aufgeblähten und unregierbaren Herrschaftsgebietes. Franz Joseph hatte die Provinz im Jahre 1908 auf geradezu betrügerische Art und Weise annektiert. Das nicht ganz zu Unrecht als Werkzeug Russlands verschriene Serbien führte ebenfalls etwas gegen Bosnien und seine Schwesterprovinz, die Herzegowina, im Schilde.
Der Erzherzog war ein nosferatu, eine Provokation. Die Slawen und Muselmanen duldeten keine Vampire, schon gar nicht als Herrscher. Serbische Irredentisten machten die zahlenmäßige Überlegenheit der Untoten am kaiserlichen Hofe mit Trompetenschall bekannt, um jene aufzurühren, die Bosnien-Herzegowina von blutsaugenden Habsburgern befreien wollten. Um den schönen Schein zu wahren, entsandten die untoten Berater des Zaren (ausnahmsweise ohne den fanatischen Warmblüter Rasputin) Agenten nach Sarajewo, um fackelschwingende Rotten von christlich-orthodoxen Vampirgegnern, serbischen Nationalisten und Kaffeehaus-Revoluzzern aufzuwiegeln. Pamphlete mit obszönen Darstellungen der ehelichen Beziehungen zwischen dem Erzherzog und seiner augenscheinlich warmblütigen Sophie, einer als Blutmilchkuh karikierten Tschechin, gerieten in Umlauf.
Die Mittelmächte hegten die felsenfeste Überzeugung, Zar Nikolaus höchstselbst habe einen jüngeren Van Helsing namens Gavrilo Princip beauftragt, Franz Ferdinand mit Kugeln zu durchsieben, das Vampirherz der Habsburger mit Silber zu spicken und bei dieser Gelegenheit auch gleich die schorfhalsige Sophie zu ermorden. Zudem sollten alle Anhänger der Sache der Verbündeten Princip für einen Irren halten, der unabhängig von den Großmächten gehandelt hatte, wenn nicht gar für einen Agenten des kriegslüsternen Kaisers.
Beauregard hatte Mycroft einmal gefragt, ob Russland seine Finger im Spiel habe. Der große alte Mann räumte ein, dass dies niemand so recht sagen könne. Einerseits versorge die Ochrana Princips Gesinnungsgenossen zweifellos mit barem Geld (und wahrscheinlich auch mit Silberkugeln); andererseits wisse nicht einmal Artamanov, der Finanzattaché der Russen, ob der mysteriöse Attentäter zu seinen Kontakten zählte.
Der Kaiser witterte eine Chance, die Grenzen Europas neu zu ziehen, und drängte den asketischen Bürokraten Franz Ferdinand dazu, ein Communiqué an Serbien zu richten, das einer Kriegserklärung gleichkam. Russland war gezwungen, Serbien gegen Österreich-Ungarn zu verteidigen; Deutschland musste Kaiser Franz Joseph im Krieg gegen die Russen unterstützen; Frankreich war vertraglich gehalten, jegliche Nation zu attackieren, die sich mit den Romanows anlegte; Deutschland musste erst durch Belgien marschieren, um zum Schlag gegen Frankreich ausholen zu können; und Großbritannien hatte sich verpflichtet, die Neutralität Belgiens zu bewahren. Nachdem Princips Silberkugel den Erzherzog durchbohrte, fiel das Kartenhaus in sich zusammen.
In jenem Sommer hatte Beauregard, der seinem fünfundsechzigsten Lebensjahr entgegensah, mit dem Gedanken gespielt, in den Ruhestand zu treten. Als jedoch eine Allianz nach der anderen eingefordert wurde, als ein Land nach dem anderen mobilmachte, erkannte er, dass er seinen Posten unmöglich verlassen konnte. Widerstrebend sah er ein, dass es zum Krieg kommen würde.
Im Jahre 1918 war die Frage, wer Bosnien beherrschte, nebensächlich. Die Romanows blickten dem Tod durch Holzpflock und Sichel ins Auge. Franz Joseph hatte den Verstand verloren, und sein Reich wurde von einem zänkischen Pöbelhaufen österreichischer und magyarischer Ältester regiert. Der Kaiser hatte die Kriegsführung längst Graf von Dracula und seinen neugeborenen Adepten Hindenburg und Ludendorff überlassen.
Die Tür des Kabinetts ging auf, und die beiden treuen Mitglieder der herrschenden Clique wurden zu dem Ältesten geführt, der Großbritannien unter dem Banner König Victors regierte.
»Gentlemen«, sagte Lord Ruthven, »kommen Sie herein und nehmen Sie Platz.«
Der Premierminister war von Kopf bis Fuß in Taubengrau gekleidet, von Schlafrock und Gamaschen bis hin zu gekräuselter Halsbinde und elegant geschwungenem Zylinder. Er saß an seinem nackten Schreibtisch, neckisch unter einem seiner unzähligen Porträts posierend, einer martialischen Studie Elizabeth Asquiths. Das mittelmäßige Gemälde würde es vermutlich zu einiger Berühmtheit bringen, da der Vater der Künstlerin in Ruthvens Regierung der nationalen Einheit den Posten des Innenministers bekleidete.
Andere saßen in tiefen Lehnsesseln im Raum verstreut. Lord Asquith studierte mit säuerlicher Miene Frontberichte. Field Marshal Sir Douglas Haig weilte in Frankreich, doch General Sir William Robertson und General Sir Henry Williams vom Generalstab Seiner Majestät waren zugegen; beide trugen erste Garnitur. Churchill, der milchgesichtige Rüstungsminister, hatte seinen beträchtlichen Wanst unter einem hemdähnlichen Rock versteckt und sich einen amerikanischen Gürtel mit in Holstern steckenden Pistolen um die Hüften geschnallt. Lloyd George, der Kriegsminister, stand am Fenster und kaute auf einer kalten Pfeife. Neben dem Premierminister saß kleinlaut der geheimnisvolle Caleb Croft aus dem Innenministerium, seine blutigen Klauen steckten in wollenen Fäustlingen. Croft befasste sich mit Dingen von unvorstellbarer Grausamkeit.
Beauregard und Smith-Cumming nahmen inmitten des kleinen Kreises Platz.
»Sagen Sie«, säuselte Ruthven, »was macht der geheime Krieg?«

3

Nach Mitternacht

Courtney zog das Grammophon auf und setzte die Nadel wieder an den Anfang. »Arme Butterfly« war die einzige Platte im Quartier. Winthrop fragte sich, ob den anderen die Arie ebenso unpassend erschien wie ihm. Die Butterfly wartete, doch Pinkerton, das Schwein, kam nicht zurück. Alle drei Minuten schwand die unglückliche Cho-Cho-San dahin, von ihrem Vampir-Liebsten ausgeblutet und verlassen. Winthrop fand die Geschichte seit jeher enervierend, und diese auf wenige Verse eingedampfte Fassung war in höchstem Maße enervierend.
»Früher hatten wir eine tolle Sammlung«, behauptete Williamson, als Winthrop seinem Unmut über das begrenzte Repertoire Ausdruck verlieh. »La Bohème, Chu Chin Chow, ›Nimm ein rotes Augenpaar‹ …«
»Bei einem Saufgelage sind sie dann allesamt zu Bruch gegangen«, sagte Bertie.
»Die Vampyre von Venedig fehlen mir«, meinte Ginger.
»Aber was für ein grandioses Saufgelage«, schwärmte Courtney. »Das beste Saufgelage aller Zeiten. Die demoiselles spüren ihre Bisswunden noch heute.«
Die Platte war zu Ende, und das Grammophon begann zischend zu stottern. Courtney hob den Trichter, und die »Arme Butterfly« begann von vorn.
Die Bridge-Partie hatte sich zerschlagen. Die Piloten lungerten in der Messe herum, ohne ein Wort über Red Albright zu verlieren, und beobachteten Winthrop mit einer Mischung aus Neugier und Argwohn. Er bildete sich ein, dass ihm einige Vampire hungrige Blicke zuwarfen.
»Ist Ihr Posten hier von Dauer?«, fragte Bigglesworth.
»Nichts ist von Dauer«, fuhr Courtney dazwischen. »Nicht mal die Unsterblichkeit.«
»Man hat mir gesagt, ich sei von nun an Ihre einzige Verbindung zum Diogenes-Club, als Ersatz für Captain Spenser.«
»Wie schön«, sagte Brown, ein sauertöpfischer Kanadier.
»Dann passen Sie auf Ihren Kopf auf«, riet Williamson.
»Ich werde mich bemühen.«
»Der Diogenes-Club ist mir vollkommen rätselhaft«, meinte Courtney. »Ich kann hinter unseren Befehlen beim besten Willen kein System erkennen. Hier eine Straße fotografieren, dort eine Brücke bombardieren, einen Ballon vom Himmel holen, einen stummen Passagier hinter die feindlichen Linien befördern …«
›»Fragt nicht die Gründe‹«, zitierte Bertie.
Courtney brummte mürrisch.
»Ich weiß auch nicht mehr als Sie«, sagte Winthrop pflichtschuldig. »Geheimdienste sind von Natur aus rätselhaft.«
»Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir uns hier dummdreist in Gefahr begeben, nur um den Hunnen zu verwirren«, sagte Courtney, »ihm einen komplizierten Streich zu spielen.«
»Wenn es denn wenigstens komisch wäre«, meinte Williamson.
Winthrop blickte drei- oder viermal in der Minute auf seine Taschenuhr. Mitternacht schien keine Sekunde näher zu rücken. Er widerstand dem Drang, sich den Zeitmesser ans Ohr zu halten, um sich zu vergewissern, dass er noch tickte.
Die Schallplatte begann von vorn. Lacey kehrte von seinem Besuch bei »Mademoiselle« im ersten Stock zurück. Der Engländer aus dem Kreis um Bigglesworth wirkte von dem Blut des Mädchens wie beseelt, seine Augen schossen hin und her, und seine spitzen Finger fanden keine Ruhe.
Allards neuerliches Lachen klang, als würde man mit einer Scherbe einen Knochen schaben.
»Der erste Name auf der Liste«, grübelte er vor sich hin. »Letzte Woche noch hätte es mich getroffen. Und ich wäre zum Château hinausgeflogen.«
»Sie haben recht daran getan, sich zu beschweren«, sagte Cundall.
Allard schwieg. Er wankte in eine Ecke und verschwand im Schatten.
»Man hatte Allards Namen falsch geschrieben«, erklärte Cundall. »Es fehlte ein L, und so hieß er A-L-A-R-D. Deshalb stand er vor Albright auf der Liste. Er beklagte sich bei Lieutenant-Colonel Raymond, und der erteilte den törichten Tippsen im Wing einen strengen Verweis. Seitdem schreiben sie seinen Namen richtig.«
»Vielleicht stehst du bald wieder an erster Stelle«, meinte Courtney. Keiner lachte.
»Sie hätten Pilot werden sollen«, sagte Cundall zu Winthrop. »Ihr Name fängt mit W an. Sie brauchten nie und nimmer aufzusteigen. Selbst Williamson müsste noch vor Ihnen in die Luft.«
Den ersten Namen auf der Liste zu wählen, war eine schwachköpfige Idee gewesen. Doch jede andere Entscheidung wäre ebenso willkürlich ausgefallen. Cundalls Sticheleien kränkten Winthrop. Der Geschwaderkommandeur trug die alleinige Verantwortung für den Entschluss, auch wenn er ihn einem anderen überlassen hatte.
Selbst die Vampire waren unruhig und nervös. Das Gespräch nahm eine lächerliche Wendung. Bertie und Lacey prahlten mit ihren exzentrischen, verrückten Tanten.
Winthrop dachte an Spenser und fragte sich, was einen Mann dazu bewegen mochte, sich Nägel ins Gehirn zu treiben. Als er fortgetragen worden war, hatte Spenser gelächelt. Er schien keine Schmerzen zu leiden.
In einer Ecke befand sich eine alte Standuhr mit gesprungenem Zifferblatt, sie war um zehn vor sieben stehengeblieben. Winthrops Blick wanderte zwischen dem zerbrochenen Zeitanzeiger und seinem Taschenchronometer hin und her. Noch zwanzig Minuten bis Mitternacht.
Das Château du Malinbois lag etwa vierzig Meilen entfernt. Eine SE5a schaffte 120 Meilen in der Stunde, doch über den Wolken, wo er sich nur nach den Sternen richten konnte, würde Albright langsamer fliegen. Womöglich musste er mehrmals in die Tiefe stoßen, um einen Blick auf das Gelände werfen zu können, ehe er sein Ziel gefunden hatte. Wie alle Vampire war auch Captain Midnight nur ein Mensch.
Wenn Albright bis zwölf Uhr nicht zurück war, hieß das nicht, dass er nicht kommen würde.
Die »Arme Butterfly« verlor an Tempo, und Courtney zog sie wieder auf. Nach einem drolligen, überdrehten Quieken fand sie in ihren alten Trott zurück.
Hangen und Bangen. Bangen und Hangen.
Winthrop dachte an Catriona. Er musste ihr schreiben, dass er einen neuen Posten innehatte. Den Diogenes-Club durfte er dabei natürlich nicht erwähnen. Auch würden die Zensoren jedes Wort über Spenser tilgen. Kein Wunder, dass die Armee vorgedruckte Feldpostkarten bereithielt: Fehlendes ergänzen, Unzutreffendes streichen und bitte unterschreiben. Er wollte, er hätte sich mit Cat beraten können. Sie hatte einen scharfen Verstand und die seltene Gabe, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
»Noch zwei Minuten«, sagte Williamson.
Winthrop sah auf seine Uhr. Die Zeit war im Nu vergangen. Nachdem eine Sekunde zunächst eine Viertelstunde gedauert hatte, war die letzte Viertelstunde in Sekundenschnelle verstrichen.
»Ich glaube, ich höre ihn«, sagte Bertie.
Blitzschnell hob Courtney die Nadel von der Platte und bewahrte die »Arme Butterfly« so vor dem sicheren Tod. Bis auf das Rauschen in seinem Kopf und das unablässige Bombardement hörte Winthrop nichts. Oder doch?
Cundall schlenderte übertrieben lässig zur Tür und riss sie auf. In der Ferne war ohne Zweifel ein Geräusch zu hören, ein Surren oder Knattern.
»Pünktlich auf die Minute«, sagte Courtney. »Captain Midnight kehrt zurück.«
Cundall trat ins Freie, und die anderen folgten ihm, freudig erregt. Durch die offene Tür fiel Licht auf das Rollfeld. Eine hünenhafte Gestalt starrte in den Himmel. Dravot war die ganze Zeit über auf seinem Posten geblieben. Es hätte Winthrop nicht gewundert, wenn an der Nase des Sergeants ein Eiszapfen gehangen hätte.
Da keiner der Piloten den Verdacht geäußert hatte, Albright werde nicht zurückkehren, durften sie sich nun auch nicht erleichtert zeigen.
»Keine Frage, eine SE5a«, sagte Williamson. »Unverkennbar, dieses Husten.«
Winthrop sah die schwarzen Umrisse der geballten Wolken. Er machte einen langen Hals.
»Da, seht«, rief Ball und reckte einen an Ellbogen und Handgelenk geknickten Arm.
Plötzlich brach etwas durch die Wolken. Winthrop konnte den Motor deutlich hören. Als er merkte, dass er den Atem anhielt, stieß er eine Dunstfahne hervor.
»Kann er den Flugplatz sehen?«, fragte er.
»Sicher doch«, gab Cundall barsch zurück. »Er hat Augen wie ein Luchs. Trotzdem kann es nicht schaden, ihm ein wenig heimzuleuchten. Ach, Allard, seien Sie doch so gut und schießen Sie eine Leuchtrakete ab.«
Der Amerikaner zog eine Signalpistole aus seinem Umhang, hob sie über den Kopf und feuerte. Eine purpurfarbene Rakete explodierte hoch am Himmel, färbte die Wolkenbank von innen und tauchte den Platz in violettes Licht.
Die SE5a wendete und begann mit dem Anflug auf das Feld. Winthrop hatte Piloten Kunststücke vollführen sehen, um bei ihren Kameraden am Boden Eindruck zu schinden (so mancher Sieger eines Hahnenkampfes hatte sich bei dem törichten Versuch, vor hübschen Krankenschwestern den Helden zu markieren, den Hals gebrochen), doch Albright wusste es besser. Cundall’s Condors waren durch Kunststücke nicht zu beeindrucken.
Plötzlich wusste Winthrop, warum die Presse sich so sehr für Flieger interessierte. Sie waren einsame Adler, keine anonyme Masse. Die einzigen ritterlichen Helden in der klaffenden Wunde aus blutgetränktem Schlamm, die sich von Belgien nach Norditalien quer durch Europa zog.
Das violette Licht erlosch, als die Rakete zu Boden stürzte. Allard schoss eine zweite in den Himmel.
»Was ist denn das?«, fragte Winthrop.
Über der SE5a war, undeutlich in der purpurroten Wolke, ein geflügelter Schatten zu erkennen. Winthrop hörte nur Albrights Maschine. Der Schatten stieß herab, eher ein riesenhafter Vogel denn ein Flugzeug. Albright feuerte ihm von unten eine Salve in den Bauch. Vom Boden aus war das Mündungsfeuer nur eine Garbe winziger Funken. Der Schatten klammerte sich an die SE5a und riss sie mit sich in die Höhe. Eng umschlungen verschwanden sie in den Wolken. Allard schoss zwei weitere Leuchtraketen ab, eine nach der anderen.
Major Cundalls von violetter Glut zerfurchte Miene war wie versteinert.
Nach wenigen Sekunden fing der Motor an zu stottern, und das Brummen verstummte. Die Wolken schienen sich zu teilen. Jaulend fiel etwas vom Himmel. Albrights Maschine trudelte mit rasender Geschwindigkeit dem Erdboden entgegen, der Wind pfiff laut durch die Verspannung. Ein Flügel riss sich los. Die SE5a bohrte sich mit der Schnauze voran in den Acker und brach in sich zusammen wie ein Kastendrachen. Winthrop wartete auf eine Explosion.
Die Piloten liefen auf das Wrack zu. Der Flackerschein der Leuchtraketen tauchte alles in ein violettes Licht. Das Leitwerk war abgebrochen, die Flügel hingen in Fetzen. Die gleichlaufenden Schlitze in der Bespannung sahen aus wie Klauenhiebe.
Winthrop erreichte die SE5a kurz nach Cundall. Ein paar Yards entfernt kamen sie schlitternd, vorsichtig, zum Stehen. Der Treibstofftank konnte jede Sekunde explodieren. Brennendes Benzin bescherte einem Vampir einen ebenso üblen Tod wie einem warmblütigen Menschen.
Die Piloten scharten sich um das zerschmetterte Flugzeug. Der qualmende Lauf der Lewis ragte zwischen verbogenem Metall und Stoff ins Leere. Dravot drängte sich vor, riss die Überreste der Maschine auseinander und durchwühlte das Wrack. Er fand eine der Kameras und inspizierte die Platte. Sie war zerbrochen.
»Wo ist er?«, fragte Bigglesworth.
Das Cockpit war unbesetzt. Niemand hatte den Piloten zu Boden stürzen sehen.
Hatte Albright einen Fallschirm mitgenommen? Wenn ja, hatte er damit gegen die Vorschriften verstoßen. Es hieß, dass Fallschirme der Feigheit Vorschub leisteten. Sie wurden ausschließlich an Ballonbeobachter ausgegeben.
»Seht nur!«, rief Allard.
Winthrop folgte dem Blick des Amerikaners himmelwärts. Die letzten purpurroten Funken verglommen in den Wolken. Der fliegende Schatten war nach wie vor undeutlich zu erkennen, vom Luftstrom getragen, drehte er gemächlich seine Runden. Er sah aus wie ein merkwürdiger Fledermausdrachen. Dann plötzlich war er verschwunden.
»Da fällt etwas vom Himmel«, sagte Ginger.
Ein schrilles Pfeifen war zu hören, und sie stoben auseinander. So kurz vor seiner Beförderung im Bombenhagel zu sterben, konnte auch nur ihm passieren. Winthrop warf sich in das kalte Gras, schlug die Arme über dem Kopf zusammen und dachte kurz an Catriona.
Etwa ein Dutzend Yards vom Wrack entfernt fiel mit einem dumpfen Schlag etwas zu Boden, explodierte jedoch nicht. Winthrop nahm all seinen Mut zusammen, stand auf und wischte Gras und Eissplitter von seinem Mantel.
»Grundgütiger«, sagte Cundall. »Das ist Red.«
Die Vampire umringten den gefallenen Piloten. Winthrop schlug sich nach vorn durch.
Die nachtschwarze Fliegerkluft des verrenkten Etwas war von oben bis unten aufgerissen. Die verschrumpelte Gesichtshaut klebte am Schädel, die Augen quollen lidlos aus den Höhlen. Was sie da sahen, war eine ausgeblutete Karikatur von Albrights scharf geschnittenen Zügen. Am Hals befand sich eine ledrige Wunde von der Größe einer Orange, die den Blick freigab auf Wirbel, blasses Muskelfleisch und die Unterseite des Kieferknochens. Der Körper war verdörrt, eine klapprige, in Stofffetzen gehüllte Vogelscheuche. Albright war ausgesaugt, jeglicher Substanz beraubt worden.
Cundall und die anderen blickten in den stockfinsteren Himmel. Winthrop zerrte die Uhr aus seiner Tasche. Sie musste kaputtgegangen sein, als er sich zu Boden geworfen hatte, denn sie war um Punkt Mitternacht stehengeblieben.

4

Graue Eminenzen

Ich würde es außerordentlich begrüßen, wenn Sie uns über das Château du Malinbois in Kenntnis setzen könnten«, sagte Lord Ruthven und bewunderte seine rautenförmigen Fingernägel. Immer wenn er Ruthvens monotone, ausdruckslose Stimme hörte, musste Beauregard unwillkürlich mit den Zähnen knirschen.
Smith-Cumming, der seine Verkleidung abgelegt hatte, wies auf Beauregard.
Der räusperte sich und begann: »Es hat zweifellos etwas Mysteriöses an sich, Herr Premierminister. Wir haben das Geschwader Condor auf die Sache angesetzt. Zunächst dachten wir, der Wirbel um das Schloss verdanke sich dem einfachen Umstand, dass es sich bei Richthofens Zirkus, dem Ihnen allen wohlbekannten JG1, um eine hochgeschätzte Einheit handelt. Die Deutschen lieben ihre Flieger.«
»Nicht mehr und nicht weniger als wir die unseren, Sir«, verkündete Lloyd George. »Sie sind die Ritter dieses Krieges, ohne Furcht und ohne Tadel. Sie haben die ruhmreiche Zeit der Chevalerie wiederauferstehen lassen, nicht allein durch ihre kühnen Taten, sondern auch durch ihr edles Gemüt.«
»Ganz recht«, pflichtete Beauregard bei, in der sicheren Annahme, dass der Minister aus einer seiner Reden zitierte. »Aber unsere Helden sind, im Ganzen, bescheidene Männer. Wir brauchen keine Batterie von Reklameagenten und Porträtfotografen, wie sie das Kriegspresseamt unterhält, um für Leute wie Max Immelmann, Oswald Boelcke und Manfred von Richthofen die Trommel zu rühren.«
Der Name des Roten Barons hing in der Luft.
»Es wäre äußerst vorteilhaft, wenn wir diesen Richthofen vom Himmel holen könnten«, meinte Sir William Robertson. Der warmblütige General hielt nichts von neumodischen Erfindungen wie Flugzeugen und Panzern. »Damit wäre der Beweis erbracht, dass es im Krieg keine Richtwege gibt. Keinen Ersatz für ein gutes Pferd und einen besseren Mann.«
»Es spricht ohne Frage einiges für diesen Standpunkt«, sagte Beauregard, ohne näher zu erläutern, was tatsächlich dafür sprach. »Aber was dem Diogenes-Club Sorge bereitet, ist der Umstand, dass es um den Zirkus ungewöhnlich ruhig geworden ist, seit er in Malinbois die Zelte aufgeschlagen hat. Zwar verzeichnen die Deutschen nach wie vor mit schöner Regelmäßigkeit einen Luftsieg nach dem anderen, aber die bei der Presse und in der Öffentlichkeit so beliebten sensationellen Einzelheiten sind rar geworden. Das JG1 hat ungewöhnliche Unterstützung bekommen.«
»Ungewöhnlich?«, bohrte Ruthven.
»Das Château steht unter dem Befehl von General Karnstein, einem österreichischen Ältesten, der unseren Erkenntnissen zufolge zu den engsten Vertrauten des Grafen von Dracula gehört.«
Die kalten Augen Ruthvens verrieten Interesse. Der Premierminister verfolgte die Machenschaften seiner Genossen voller Neugier. Unter den Ältesten war er ein Ausgestoßener; seine Haltung gegenüber den bekannteren Blutgeschlechtern war von Neid nicht unbefleckt.
»Ich kenne den Vampir. Er ist das Oberhaupt einer weit verzweigten Sippe. Seit seine grauenhafte Tochter den wirklichen Tod gefunden hat, ist er nicht mehr der Alte.«
Verstohlen zog der Rüstungsminister ein großes, bewusstloses Kaninchen aus der Tasche. Churchill war ein großer Freund des Alkohols. Seine besondere Vorliebe bestand darin, das Blut von Tieren mit Madeira anzureichern. Er setzte seine wulstigen Lippen an die Kehle des Kaninchens und begann dezent zu saugen.
»Hmmm … lecker«, murmelte er. Die übrigen Anwesenden enthielten sich wohlweislich eines Kommentars. Asquith, auch kein Kostverächter, sah durstig aus.
»General Karnstein gibt unweit der Front Gesellschaften und Konferenzen«, sagte Beauregard. »Neben den üblichen Namen, wie Anthony Fokker, ist uns zu Ohren gekommen, dass auch der eine oder andere Vampirälteste zugegen war. Sowie einige ungewöhnliche Neugeborene. Unter ihnen auch Geertruida Zelle.«
»Ihre große Versuchung, Beauregard«, sagte Ruthven. »Die gefährliche und geheimnisvolle Mata Hari.«
»Meine? Wohl kaum.«
»Ohne Ihre Mithilfe hätten wir sie nie gefasst.«
Beauregard kehrte bescheiden die Handflächen nach oben. Obgleich die Presse sie groß herausgestellt hatte, war Geertruida Zelle nicht die Spionin, als die sie ausgegeben wurde. Dennoch hatte man sie gefasst, und nun sah sie ihrer Hinrichtung entgegen. Ihre »Opfer« waren in der Hauptsache hochrangige französische Offiziere, unter ihnen auch der unselige General Mireau. Pétain bestand auf ihrer zeremoniellen Vernichtung, während Beauregard den Premierminister ersucht hatte, sie zu begnadigen. Doch das war unwahrscheinlich: Da die Deutschen Schwester Edith Clavell auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatten, glaubte Ruthven, um die Rechnung auszugleichen, kämen die Alliierten nicht umhin, Mata Hari zu erschießen.
»Wir alle sind doch Männer von Welt«, meinte der Premierminister. »Ich für meinen Teil kann mir durchaus vorstellen, weshalb das deutsche Oberkommando die Künste einer Mata Hari auf Malinbois zum Einsatz bringt. Der Graf pflegt seine unerschrockenen Krieger reichlich zu belohnen.«
Churchill steckte das blutbesudelte Kaninchen in seine Jagdtasche zurück und brach in gurgelndes Gelächter aus. Er hatte Madeira in den Adern, und seine Augen röteten sich in den Winkeln. Bis auf das Karminrot seiner schlaffen Lippen war sein volles Gesicht puderweiß.
»Hier geht es um mehr als bloße Unzucht oder Schwelgerei«, sagte Beauregard zurückhaltend. »Wenn sie es hoch hergehen lassen wollten, würden die Deutschen daraus kein Geheimnis machen. Im Gegenteil, sie tun ihr Bestes, um den amourösen Ruhm der Flieger-Asse noch zu mehren, indem sie Romanzen mit berühmten Schönheiten erfinden, die kaum länger dauern als eine Pose für die Pressefotografen.«
Ruthven blickte in die Runde seiner Berater und tippte sich mit dem Fingernagel gegen einen Vorderzahn. Er dachte demonstrativ nach.
»Smith-Cumming«, sagte er. »Was macht unser alter Freund Graf von Dracula?«
Der Meisterspion zog ein Büchlein voller in einer persönlichen Chiffre verfasster Notizen zu Rate.
»Er ist in Berlin gesehen worden. Er wird kommenden Monat in Brest-Litowsk mit den bolsheviki zusammentreffen, wo sich der Iwan aller Voraussicht nach zur Demobilisierung bereiterklären wird.«
»Jammerschade. Schließlich bin ich stets dafür gewesen, das Britische Empire bis auf den letzten Tropfen Russenblutes zu verteidigen.«
Die Generale und Minister lachten verhalten über Ruthvens Scherz. Selbst der maskenhafte Mr. Croft setzte ein gequältes Lächeln auf.
Smith-Cumming blätterte um. »Unter unseren Berliner Agenten herrscht bemerkenswerte Einigkeit darüber, dass der Graf keineswegs die Absicht hat, dem Château du Malinbois kommenden Monat einen Besuch abzustatten. In diesem Falle scheint es höchst sonderbar, dass uns diese Nachricht derart aufgedrängt wird. Schließlich macht sich auch niemand die Mühe, uns davon zu unterrichten, dass der Kaiser keineswegs die Absicht hat, seinem Barbier einen Besuch abzustatten, um sich die Schnurrbartspitzen wichsen zu lassen.«
»Kommenden Monat?«, brummte Churchill.
»Wird der Graf sich nicht in Malinbois aufhalten«, bekräftigte Smith-Cumming.
»Wann hat Dracula das Château zum letzten Mal besucht?«
»Vor etwa hundert Jahren, Herr Premierminister.«
»Was schließen wir daraus?«
Smith-Cumming zuckte die Achseln. »Eine raffinierte Intrige ist im Gange, keine Frage. Wir messen uns mit Meistern ihres Faches.«
»Wenn die Russen erst einmal aus dem Spiel sind, wird der Hunne einen Großangriff auf die Westfront ansetzen«, sagte Churchill. »Graf Dragulya ist berühmt für diese Vernichtungstaktik.«
Churchill bevorzugte eine wunderliche Aussprache von »Dracula«. Doch das war nur eine seiner unzähligen Schrullen.
»Das ist doch lachhaft«, polterte General Sir Henry Wilson. »Dazu fehlen dem Kaiser die Männer und die Mittel, der Schliff und der Schneid. Haig wird Ihnen bestätigen, dass Deutschland ein ausgemachter Popanz ist. Der Hunne ist schwer getroffen, er hat den Kopf verloren. Er kann nur mehr im Staube kriechen und verbluten.«
»Es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen zuzustimmen«, sagte Ruthven, »doch den Wilden Willi zu bekämpfen, wollen wir anderen überlassen. Winston hat ganz Recht. Uns steht ein Generalangriff bevor. Ich bin mit dem transsylvanischen Rohling seit alters bekannt. Er ist so falsch wie Katzengold, er sagt Gott und meint Kattun. Er wird erst einhalten, wenn wir ihm Einhalt gebieten. Selbst dann muss er vernichtet werden. Wir dürfen Dracula kein zweites Mal das Leben schenken.«
»Ich teile die Ansicht des Premierministers«, sagte Lloyd George. »Dracula kommandiert die Mittelmächte. Wir müssen seinen Willen brechen.«
Beauregard räumte verdrossen ein, dass auch er an eine Großoffensive glaube. »Wenn die Feindseligkeiten an der Ostfront erst beendet sind, steht uns für den Kampf im Westen ein Millionenheer zur Verfügung. Im Feuer der Schlacht gehärteter Stahl, keine milchbärtigen Rekruten.«
»Und Malinbois?«, fragte Ruthven. »Ob das Château Draculas Vorposten ist? Er wird gewiss ins Feld ziehen wollen. In dieser Hinsicht ist er ein eitler Barbar. Noch hat er es nicht getan, aber es wird ihn zweifellos danach gelüsten.«
»Das Schloss wäre ein vorzügliches Hauptquartier«, meinte Beauregard. »Um eine Bodenoffensive zum Erfolg zu führen, muss er uns in der Luft den Schneid abkaufen. Dazu braucht er das JG1 an seiner Seite.«
Erregt ließ Ruthven die Hand auf seinen Schreibtisch niedersausen. Seine monotone Stimme schwoll an zu einem ohrenbetäubenden Kreischen.
»Ich hab’s! Er will seine schwarzen Schwingen ausbreiten und fliegen. Er wird mit seinem Luftschiff, der Attila, aufsteigen. In diesem Krieg geht es allein um ihn und mich. Wir sitzen uns am Schachbrett Europa gegenüber. Für ihn bin ich das Großbritannien, das ihn erniedrigt und verspottet hat. Für mich ist er der Vampir der Vergangenheit, die es zu überwinden gilt. Es ist ein Kampf um Philosophie und Ästhetik …«
In Churchills Bauch rumorte es, und Lloyd George inspizierte die Aufschläge seiner gestreiften Hosen. Beauregard fragte sich, ob Millionen wirklich Toter glaubten, sie seien für Philosophie und Ästhetik in den Krieg gezogen.
»Dies ist unser Duell. Mein Verstand gegen den seinen. Er ist gerissen, das muss man ihm lassen. Und mutig, zu allem bereit. Wie er sein Spielzeug liebt: seine Züge, seine Flugmaschinen, seine schweren Geschütze. Er ist wie ein monströses Kind. Wenn er seinen Willen nicht bekommt, wird er die Welt verwüsten.«
Ruthven stand auf und vollführte dramatische Gebärden, als posiere er für ein Porträt: Der Premierminister in seiner ganzen Pracht.
»Doch ich weiß, wie wir unseren bösen Feind zu Fall bringen werden. Beauregard, behalten Sie Schloss Malinbois im Auge. Ich wünsche Einzelheiten, Fakten, Zahlen. Mr. Croft, dies scheint mir ein Projekt so recht nach Ihrem Geschmack zu sein. Sie werden Beauregards Berichte entgegennehmen und in eine Ordnung bringen.«
Der Mordagent runzelte die Augenbrauen.
Ruthven fuhr fort: »Wir können Draculas Kinderstuben-Schwärmereien gegen ihn benutzen, ihn in unsere Falle locken und unsere Hände um seine vermaledeite Kehle schließen.«

5

Der Prophet von Prag

Lichtdolche stachen durch die Ritzen zwischen den scharf gezackten Ziegeln, die das niedrige, abschüssige Dach bedeckten. Die kletternde Sonne raubte ihm die Kraft, doch in ihm wütete der rote Durst. Er hungerte nach Menschenblut. Edgar Poe wähnte sich, wie immer, einen armen Hund.
Er saß auf seiner Pritsche, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und hielt den Kopf gesenkt, damit er nicht gegen die Decke stieß. An der gegenüberliegenden Wand ragten, zwei oder drei Reihen tief, massive Büchersäulen in die Höhe. Die dicksten, nur selten benutzten Bände bildeten einen literarischen Sims, der ihm als Tisch diente. Ein halbvoller Humpen seimigen Saftes stand in einer kreisförmigen Vertiefung im Leineneinband seines Schiller. Der Gestank von tagealtem Tierblut stach ihm in Mund und Nase. Sein Magen setzte sich zur Wehr, doch bald schon würde er trinken müssen.
Dies war nicht die erste Durststrecke seit seiner Verwandlung. Warmblütigen Menschen fraß der Hunger Löcher in den Bauch; der nosferatu-Schmerz hingegen war ein pulsierendes Feuer im Herzen, verbunden mit einem quälenden Verlangen im Hals und auf der Zunge. Die Nährkraft des Blutes lag im Geschmack und der Substanz sowie der geistigen Verschmelzung bei der Vampir-Kommunion.
Ihn ins Ghetto, Prags uraltes Repositorium für Ausländer und Ungeliebte, zu sperren, war von erlesener Grausamkeit. Dem von Franz Joseph und Kaiser Wilhelm erlassenen Grazer Edikt zufolge war es einem Hebräer verboten, sich zu verwandeln. Daher betrachteten die Juden den Vampir als Raubtier und hielten ihre Frauen von ihm fern. Wie bei den meisten unter dem Diktat des Grafen von Dracula erlassenen Edikten wurde jeglicher Verstoß mit standrechtlicher Pfählung geahndet.
Es war nicht leicht, seinen inneren Vampir zu nähren. Er war gezwungen, sich bei einem koscheren Fleischer Tierblut zu verschaffen. Der Israelit war ein verfluchter Halsabschneider. Der Preis für ein paar ranzige Tropfen Rinderblutes war in drei Jahren um das Zehnfache gestiegen. Manchmal trieb ihn das Verlangen nach dem süßen, wohlriechenden Blut junger Frauen an den Rand des Wahnsinns. Stark und schwach zugleich, blickte er in einen Mahlstrom. Mit einer Mischung aus Grausen und Entzücken gedachte er der Nacht, da ihn das Verlangen überkommen würde. Mit scharfen Klauenhieben würde er in eine nahe gelegene Bodenkammer dringen und eine fette Ehefrau oder Tochter zwingen, sich ihm hinzugeben. Dann, gesättigt, würde er seinen poetischen Träumereien nachhängen, und die Worte würden ihm aus der Feder sprudeln wie Wasser aus einer Quelle. Die Juden würden seiner unglücklichen Laufbahn mit einem Pflock ein blutiges Ende bereiten.
Eines Abends im Mai 1917 war Poe aus seiner Lethargie erwacht und musste feststellen, dass der kurzsichtige Feigling Wilson die Vereinigten Staaten von Amerika in den europäischen Konflikt verwickelt hatte. Mit einem Federstrich hatte Wilson aus Edgar Poe einen Feind der Mittelmächte gemacht. Damals hatte er in einem halbwegs behaglichen Logierhaus am Sladkowskyplatz gewohnt und sich als Dozent ein kümmerliches Einkommen verdient. Obgleich der Ruhm der Schlacht von St. Petersburg recht schnell wieder verblasst war, hatte sein Name etwas von seinem alten Glanz behalten. Wenn alle Stricke rissen, konnte er immer noch den »Raben« rezitieren, die einzige Konstante seines Lebens, seines Ruhms. Er betrachtete das Gedicht schon lange nicht mehr als sein Werk und verabscheute das »Nimmermehr«-Geplärr von ganzem Herzen.
Heute, acht Monate später, hauste er auf einem Dachboden, kaum größer als ein Sarg. Das Ghetto war ein schmutziges Labyrinth aus engen, überdachten Gässchen, eher Tunnel denn Straßen. Ein verseuchter Bienenstock aus Holz und Mörtel. Jedes Zimmer beherbergte unglaubliche Mengen schnatternder, schwatzender Hebräer. Europa wimmelte von Untermenschen. Wenn er sich über die Salniter Gasse hinauswagte, musste Poe eine Armbinde tragen, die ihn als feindlichen Ausländer kenntlich machte.
Er war mit großen Erwartungen von den finsteren und chaotischen Gestaden seines vaterländischen Philistia in eine alte Welt der Kultur aufgebrochen. Doch statt der gesuchten Freiheit hatte er nur alte Feinde vorgefunden, den Neid der Geringeren und die Versuchung der Verzweiflung. Die wenigen, die sich bereitgefunden hatten, seinen Fall zu überdenken, behandelten ihn wie ein Rätsel im Gewand eines Plagegeistes, einen wundersamen Kauz, dessen nähere Betrachtung sich nicht lohnte.
Sein Zahnfleisch wich zurück, und seine spitzen Zähne schmerzten. Eine eiserne Faust schloss sich um sein Herz. Er konnte es nicht mehr ertragen. Seine Schwäche verfluchend, ergriff er den Humpen und kippte sich die klumpigen Reste in die brennende Kehle.
Unbeschreibliche Fäulnis überschwemmte seinen Mund, und schwarzer Schmerz sprengte ihm den Schädel. Es war rasch vorbei. Der rote Durst war, fürs Erste wenigstens, gestillt. Es blieb ein widerlicher Nachgeschmack, als sei das Blut mit Maschinenöl versetzt gewesen.
Das Blut trübte seinen Verstand. Er dachte an blasshäutige Frauen mit lebhaften Augen, strahlendem Lächeln und langem feinem Haar. Ligeia, Morella, Berenice, Lenore, Madeline. Ihre Gesichter verschmolzen in eins. Virginia. Seine Gemahlin war mit Blut im Mund entschlafen, ihre Kinderstimme im Gesang erstickt. Später kehrte sie zurück aus ihrem Grab und bedeckte ihn mit langzähnigen Küssen. Sie säugte ihn mit ihrem Blut und verwandelte ihn. Inzwischen war Virginia wirklich tot, mit Atlanta verbrannt, und doch war sie ihm Frau, Tochter, Schwester und Mutter zugleich. Er lebte mit ihrem Geschmack auf der Zunge und ihrem Blut in seinem unsterblichen Körper.
Plötzlich hämmerte es gegen die Tür. Erschrocken sprang er von der Pritsche. Sein schwindelnder Schädel prallte gegen einen Balken, und er stöhnte. Er riss die Tür auf, schälte den Teppich von den nackten Bodendielen. Draußen, auf dem obersten Treppenabsatz, stand ein Vampir in Uniform und funkelte ihn unter dem adlerbewehrten Schirm seines Tschakos wütend an. Seine Schnurrbartspitzen waren gezwirbelt und gewichst. Poe erkannte den Boten der Kommission für feindliche Ausländer.
»Guten Morgen, Herr Unteroffizier Paulier«, sagte Poe auf Deutsch. Deutsch war die Amtssprache Österreich-Ungarns. Es gab Tschechen und Polen, die kein Wort in ihrer eigenen Zunge über die Lippen brachten. »Was verschafft Prags gefährlichstem Angehörigen einer feindlichen Macht die Ehre Ihres Besuches?«
Statt einer Antwort streckte Paulier einen hölzernen Arm aus. Ein Umschlag war mit einer Nadel an seinem Handschuh befestigt. Wie so viele Funktionäre war der Bote ein Wechselbalg des Krieges. Sein Blut war nicht kräftig genug, um ein verlorenes Glied neu zu bilden. Poe löste den Brief und schlitzte ihn mit spitzem Fingernagel auf. Paulier machte wortlos kehrt und stieg die vielen Treppen wieder hinab, seine falsche Hand klapperte gegen die Geländerstäbe.
Eine der gegenüberliegenden Türen öffnete sich einen Spaltbreit, und etwa drei Fuß über dem Boden glänzten große, feuchte Augen. Das ganze Haus schwärmte von Ratten und semitischen Kindern. Degenerierte Rassen konnten sich ungehemmmt vermehren. Dracula tat recht daran, ihnen zu verbieten, sich in Vampire zu verwandeln. Poe fletschte die Fangzähne und fauchte. Die Tür fiel ins Schloss. Er las die Nachricht von der Kommission. Man zitierte ihn erneut vor das Gericht am Hradschiner Platz.
 
Der Nachmittag schleppte sich dahin. Poe saß allein in einem kathedralenhaften Wartesaal und horchte, wie die Zeit verrann. Seit seiner Verwandlung besaß er ein so scharfes Gehör, dass er selbst das Räderwerk einer Uhr deutlich wahrzunehmen vermochte. Ein durch Mark und Bein gehendes Knirschen und Klicken begleitete jede Sekunde. Noch das winzigste Geräusch hallte in seinem Schädel wider wie Regentropfen auf einem Trommelfell. Insgeheim pflegte er das Amt, in dessen Räumlichkeiten man ihn nicht zum ersten Mal zitierte, als den Palast von Vondervotteimittiss zu bezeichnen. Seine staubigen Winkel und kalten, harten Bänke waren vom Gang der Geschichte unberührt geblieben.
Vor vier Jahren, bei Kriegsausbruch, standen dem Kaiserreich genügend Mittel und Wege zur Verfügung, gegen feindliche Ausländer vorzugehen, die innerhalb seiner Grenzen gefangen waren. Es gab Internierungslager und Rückführungsprogramme. Doch die Bürokraten und Diplomaten, die sich mit derlei Feinheiten befassten, waren in der Armee untergetaucht und aller Voraussicht nach nicht mehr am Leben. Seit dem späten Kriegseintritt der Vereinigten Staaten verschlug es nur noch wenige ihrer Bürger hinter die feindlichen Linien. Poe, der sich längst nicht mehr als Amerikaner fühlte, befand sich in einer äußerst sonderbaren Lage. Kaum einer der Passanten wusste um die tatsächliche Bedeutung seiner lachhaften Armbinde. Er wurde weitaus häufiger von vornehmen Damen angegangen, die ihm nahelegten, er möge seine Pflicht in Uniform erfüllen, als von patriotischen Seelen, die in ihm einen Todfeind der Habsburger erkannten.
Das Zifferblatt der Uhr, groß wie ein Wagenrad, war in eine klassizistische Orgie aus schmuddeligem Marmor eingelassen, welche über einer Tür befestigt hing, die selbst einen Hünen doppelt und dreifach überragte. Bei ihr dauerte die Sekunde eineinhalbmal länger als bei Poes Taschenuhr. Er verglich sein Chronometer mit der Uhr, und es schien, als hätten sich die beiden Zeitanzeiger verschworen, mit derselben Geschwindigkeit zu laufen. Als er die Uhr schließlich in seine Westentasche zurückschob, wurde der Wandzeitmesser wieder langsamer. Quälende Pausen dehnten jedes Ticken.
Er hatte keine Heimat mehr, doch was seinen Fall noch komplizierte, war Die Schlacht von St. Petersburg. Obgleich es allenthalben in den Schmutz gezogen wurde, bewahrte ihn das Buch vor dem leidigen Schicksal, in ein Kriegsgefangenenlager verbracht zu werden. Im Falle einer Rückführung wäre ihm in seinem Geburtsland gewiss kein freundlicher Empfang zuteilgeworden. Da er im Sezessionskrieg für die Sache der Rebellen gefochten hatte, weigerte er sich, die Vereinigten Staaten mit ihrer jetzigen Verfassung anzuerkennen. Während Wilson heuchlerisch Neutralität gepredigt hatte, war er heimlich der Triple Entente zu Hilfe geeilt; Poe trat bekanntermaßen offen für den gerechten und unausweichlichen Triumph der Mittelmächte ein.
Zu Beginn des Krieges hatte er versucht, ein Offizierspatent in den Armeen Österreich-Ungarns zu erwerben. Von Neidern und Narren am Fronteinsatz gehindert, hatte er seine längst verstummte Muse zu neuen Höhenflügen angespornt. Verfasst in einem einwöchigen, fiebrigen Anfall von Schaffenskraft, beschrieb Die Schlacht von St. Petersburg, wie Wilhelm und Franz Joseph binnen eines Monats Frankreich in die Knie zwangen und sich sodann der feierlichen Pflicht zuwandten, Russland zu erobern. Eine Geschichte von wagemutigen Dampfrossattacken und kühnen, blaublütigen Helden, die den Kampfgeist großer Tage mit den Wundern der modernen Wissenschaft verband. Ganz Europa stand im Banne seiner Schilderung des von Zeppelinflotten belagerten St. Petersburg und der völligen Unterwerfung der Kosaken durch motorisierte Ulanen. Dracula zeigte sich so fasziniert von der Vorstellung eines selbst getriebenen Molochs, der sich Schienen legte, um darauf ins Herz des Zarenreiches vorzustoßen, dass er eine Prüfung über die Möglichkeit verlangte, ein solches Gefährt nachzubauen. Dies fand die Unterstützung des Ingenieurs Robur, dem unentwegten Streiter für den Einsatz von Luftkriegsschiffen. In England und Amerika erschienen Raubdrucke »vom berühmten Verfasser des ›Raben‹«. Ein gewissenloser Belgier, der sich J. H. Rosny aîné nannte, kopierte das Buch Kapitel für Kapitel unter dem Titel La bataille de Vienne, wobei er aus den deutschen Figuren Franzosen machte und russische Ortsnamen durch Schauplätze in Deutschland und Österreich-Ungarn ersetzte. Poe gewann seinen Ruf als Visionär zurück, den er in seinen warmblütigen Tagen errungen hatte, und war als Redner sehr begehrt. Er besuchte Turnanstalten und teilte seine Vision mit markigen, frisch uniformierten jungen Männern, die sie in die Tat umsetzen würden. Es schien, als könne er solch infantile Plagiatoren wie Monsieur Verne und Mister Wells auf alle Zeit vergessen machen.
Ein alter Mann trappelte durch den Wartesaal. Er zog einen Schubkarren mit prall geschnürten Bündeln vergilbten Papiers hinter sich her. Obgleich er warmen Blutes war, roch er saftlos und dürr. Ohne Poe eines Blickes zu würdigen, verschwand der Schreiber durch eine Seitentür in einem labyrinthischen Archiv. Das Hohe Gericht des Amtes war eine Festung des vergessenen Wissens, eine Alexandrinische Bibliothek der Nichtigkeiten.
Obschon die »Prophezeiungen« der Schlacht von St. Petersburg nunmehr von denselben Kritikern verdammt wurden, die sie einst als vorbildlich gepriesen hatten, hielt Poe seine Vision für wahrhaftiger als die der Kriegsberichterstatter. Seine Welt hätte Wirklichkeit sein sollen; nicht das schlammige, retranchierte, todbringende Patt, das ganz Europa lähmte. Die Briten hätten entweder neutral bleiben oder gegen ihren Erbfeind, den Franzosen, zu Felde ziehen müssen. Wahrlich, was scherte sich ein Brite um das kleine, rotznäsige Belgien? Zeppeline würden majestätisch über den versklavten Horden der Steppe schweben. Die Großen Kaiserreiche würden sich alles Unreinen entledigen und die Geschicke des Planeten lenken.
Edgar Poe wäre der größte Prophet seiner Zeit. Es hieß, dass kein Vampir ein Werk von bleibendem ästhetischem oder intellektuellem Wert erschaffen könne. Poe gierte danach, dieses Diktum zu entkräften. Doch die Welt von Glanz und Gloria, die kurz vor der Geburt zu stehen schien, verwandelte sich mit einem Mal in einen Alb der Langeweile und des Hungers.
Die Aufschläge seiner Hosen waren ausgefranst, und er trug einen Zelluloidkragen, der mit Federharz gesäubert werden musste. Es war eine Gnade Gottes, dass Virginia nicht mehr zu erleben brauchte, in welch jämmerlichem Zustand ihr Eddy sich befand.
Ein Bediensteter trat ein. Er trug eine bodenlange Schürze und eine übergroße Mütze mit grüner Augenblende. Er hielt ein Glöckchen in die Höhe und ließ es schellen. Das Klingeling war eine wahre Folter für Poes Ohren.
»Herr Poe, wenn Sie mir folgen möchten«, sagte der Bedienstete in schlechtem Deutsch.
 
Die Unterredung fand nicht in einer Stube, sondern in einem hohen Flur statt. Durch schmale Fenster fiel schmutziges Licht. Amtsdiener schoben schwere Karren über den Korridor. Poe musste sich gegen die Wand drücken, um sie passieren zu lassen.
Poe traf nicht zum ersten Mal auf Kafka, einen scharfsinnigen Juden mit wunderlichen Segelohren und durchdringendem Blick. Da dem Schreiber die Vorstellung, dass ein Amerikaner sich im Ghetto aufhielt, nicht recht zu behagen schien, legte er bei der Lösung des Falles schwunghaften Eifer an den Tag. Bislang hatten seine Bemühungen jedoch nur zu einer wachsenden Flut von widersprüchlichen Notizen seiner Vorgesetzten geführt. Trotzdem hatte Poe ihn in sein Herz geschlossen. Er war die einzige Seele in ganz Prag, die Poe nicht allein der Schlacht von St. Petersburg und des »Raben« wegen kannte, und hatte ihn sogar gebeten, eine billige Ausgabe der Tales of Mystery and Imagination mit einer Widmung zu versehen. Zwar hatte Kafka beiläufig erwähnt, dass auch er gelegentlich zur Feder greife, doch da Poe keine nähere Bekanntschaft mit dem Juden schließen mochte, gab er sich betont gleichgültig. Poe wurde einem gewissen Hanns Heinz Ewers vorgestellt, einem überaus vornehm gekleideten Vampir, der sich offenbar auf vielerlei Gebieten für bewandert hielt. Anders als die meisten Deutschen trug er keine Uniform, sondern einen Anzug.
»Welche Ironie, Herr Poe«, sagte Ewers, »wir sind wahrhaftig Zwillinge, Spiegelbilder, Doppelgänger. Als der Krieg ausbrach, war ich in Ihrem Vaterland, in New York City …«
»Ich betrachte das föderalistische Amerika schon seit langem nicht mehr als mein Vaterland. Ich habe mein Nationalgefühl bei Appomattox verloren.«
»Wie Sie meinen. Auch ich war verzweifelt, wie Sie es jetzt sind. Auch ich war Dichter, Philosoph und Visionär, schrieb Aufsätze, Abhandlungen und Sensationsromane. Ich habe neue Gebiete der Kunst für mich erobert, einschließlich des Kinematographen. Als Vorhallen-Agitator stand ich in den Diensten meines Kaisers, aber leider reichten meine Bemühungen nicht aus, das Missverständnis zwischen der Neuen und der Alten Welt zu klären. Ich wurde interniert und deportiert. Ich wollte Sie schon lange einmal kennenlernen, Herr Poe.«
Poe blickte Ewers in die Augen und sah, dass etwas fehlte. Ewers war eine halbfertige Imitation, die ihre inwendigen Mängel durch Übertreibung wettzumachen versuchte.
»Ich habe kurzzeitig erwogen, Sie zu verklagen, Herr Ewers«, sagte Poe geradeheraus. »Der Student von Prag, ein Lichtspiel, für das Sie verantwortlich zeichnen, ist ein schmähliches Plagiat meiner Erzählung ›William Wilson‹.«
Die Beschuldigung traf Ewers wie eine Ohrfeige ins Gesicht, doch er hatte sich im Nu gefasst. »Gewiss nicht mehr und nicht weniger, als Ihr ›William Wilson‹ ein Plagiat E.T.A. Hoffmanns ist.«
»Kein Vergleich«, erwiderte Poe ungerührt.
Ewers lächelte. Der Mann erfüllte Poe mit Abscheu. Sein Betragen war ebenso töricht, ungeschlacht und fadenscheinig wie seine Romane und Erzählungen. Dass er beim Film arbeitete, stand ihm bestens zu Gesicht. Den Grimassen, Verrenkungen und Narreteien des kinema war eine Vulgarität zu eigen, die an Ewers haftete wie nasser Kot.
»Der Fall Edgar Poe wäre zu prüfen«, erinnerte Kafka und hielt einen dicken Ordner voller Papiere in die Höhe.
»Nein«, sagte Ewers und ergriff den Ordner mit der ganzen Kraft eines Untoten. »Was Sie betrifft, so ist der Fall Edgar Poe hiermit erledigt. Deutschland benötigt seine Dienste, und Prag wird ihn mir als Repräsentanten von Kaiser und Krone übergeben.«
Kafka zauderte, und seine Augen flackerten. Poe war ungewiss, doch es schien, als zaudere der Schreiber aus Sorge um ihn.
Ein einbeiniger Mann mit verhülltem Gesicht humpelte vorüber. Auf dem Rücken trug er einen Korb wie eine Winzerkiepe, halbvoll mit stehengebliebenen Taschenuhren.
»Herr Poe«, sagte Ewers, »man hat Sie für eine gewisse Aufgabe von größter nationaler Bedeutung auserwählt …«
»Der Wind hat sich gedreht, Herr Ewers. Ich blicke auf eine hervorragende Militärlaufbahn in meinem früheren Vaterland zurück, einschließlich eines Studiums an der Akademie von West Point, und doch wurden all meine Bemühungen, als Freiwilliger in die Armeen der Kaiserreiche einzutreten, schroff und verächtlich abgewiesen. Obwohl ich eine international anerkannte Autorität auf dem Gebiet der modernen Kriegsführung bin, habe ich auf meine zahlreichen brieflichen Vorschläge an die Herren Generale Moltke, Falkenhayn, Ludendorff und Hindenburg keinerlei Antwort erhalten …«
»Im Namen des Kaisers und des Grafen von Dracula möchte ich Ihnen das Bedauern einer ganzen Nation aussprechen«, verkündete Ewers und streckte die Hand aus, als wolle er den Segen spenden.
Kafkas Blick schnellte zwischen Poe und Ewers hin und her. Poe hatte den Eindruck, dass der Jude seine Ansichten über den Deutschen teilte, wenngleich er über einen weitaus größeren Erfahrungsschatz verfügte, um seinen Widerwillen zu rechtfertigen.
»Worauf warten Sie?«, schnauzte Ewers den Schreiber an. »Herr Poe ist ein wichtiger Mann. Händigen Sie ihm seine Reisepapiere aus. Wir werden morgen in Berlin erwartet.«
Kafka schlug seinen Aktenordner auf und reichte Poe ein Dokument.
»Die benötigen Sie jetzt nicht mehr«, sagte Ewers, zerrte mit scharfen Krallen an Poes Ärmel und riss die Armbinde herunter. »Von nun an sind Sie in den Kaiserreichen so sicher, als wären Sie ein reinblütiger Deutscher.«
Mit einem Schlag fühlte sich Poe ein zweites Mal verwandelt.

6

Mata Hari

Die Gefangene war Beauregards Bitte um einen Besuch mit Freuden nachgekommen. Auch wenn er nicht in Sachen Malinbois hätte ermitteln müssen, hätte er sie vermutlich aufgesucht. Obgleich er bei ihrem Prozess ausgesagt hatte, waren sie einander nie begegnet.
Als er den Verschlag des Stabswagens öffnete und auf den Exerzierplatz trat, war ihm, als setze er den Fuß auf einen Friedhof. Die Verurteilte wurde in einer Kaserne bei Paris gefangen gehalten, die schon lange nicht mehr ihren ursprünglichen Zwecken diente, da die Bewohner fort, vom Krieg verschlungen waren. Die leeren Fenster der langen Gänge wirkten staubig und verschmutzt. Nur ein Schlafsaal war bewohnt. Acht Männer, die von der Front abgezogen worden waren, um als Erschießungskommando zu dienen, schliefen in seliger Ruhe. Für sie war dies gewiss eine Erleichterung.
Die Nacht war pechschwarz. Die Gefangene sollte, wie ein warmblütiger Verbrecher, bei Morgengrauen erschossen werden. Der Sonnenuntergang wäre ein weitaus günstigerer Zeitpunkt zur Hinrichtung eines Vampirs gewesen.
In einer Stube brannte ein einsames Licht. Beauregard klopfte an die Tür. Lantier, ein Veteran, dem eine Gesichtshälfte fehlte, öffnete und bat ihn herein. Der Schließer gab ihm höflich, aber unmissverständlich zu verstehen, dass er sich von Besuchern, die den Gelüsten einer Feindin Frankreichs Vorschub leisteten, nur ungern in seiner Nachtruhe stören ließ.
Lantier überflog Beauregards Besuchserlaubnis und schnalzte bei jeder hochrangigen Unterschrift laut mit der Zunge. Schließlich entschied er zu Beauregards Gunsten und ließ den Engländer in Mata Haris Zelle geleiten, nachdem er ihn in rasendem Französisch über die Verhaltensmaßregeln unterrichtet hatte, die es der Dame gegenüber zu beachten galt. Berührungen und der Austausch von Gegenständen waren strengstens untersagt.
Der Ruhm der Vampirfrau würde ihren Tod vermutlich überdauern. Solcherlei Theater befeuerte die übertriebenen Geschichten, die man sich von ihr erzählte. Die »Opfer« von Madame zeichneten sie als unwiderstehliche Verführerin, damit sie nicht in den Verdacht gerieten, an den Erfolgen der Spionin in gewissem Maße mitschuldig zu sein. Eine gewöhnliche Frau war unmöglich imstande, so vielen Großen und Guten Geheimnisse zu entlocken. Dies war ein extremes Beispiel für die Art der Bezauberung, die Vampire dem Volksglauben entsprechend über ihre wehrlose Beute auszuüben pflegten.
Die meisten der Offiziere, deren Namen im Zusammenhang mit ihrem Fall, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt worden war, Erwähnung gefunden hatten, standen nach wie vor im aktiven Dienst. Lediglich einige kleine Lieutenants waren mit ihr untergegangen. Der abscheuliche General Mireau plante soeben seine nächste Offensive.
Man hatte ernsthaft vorgeschlagen, diesem Kommando sollten ausschließlich im Krieg entmannte Veteranen zugeteilt werden. Während er Lantier langsam zu den Zellen folgte, fragte sich Beauregard, ob man diese schwachköpfige Idee tatsächlich verwirklicht hatte. Wenn ja, deutete dies auf eine erschreckende Unkenntnis über den physischen Akt zwischen einem Vampir und seinem Opfer hin.
Lantier öffnete eine stabile Tür und ließ ihn in die Zelle. Der kleine Raum war ungetüncht und verströmte die Atmosphäre eines Kleiderschranks.
Die Gefangene saß an einem kleinen Fenster und betrachtete den Untergang des Mondes. Mit ihrem kurzgeschnittenen Haar und dem formlosen Baumwollkleid ähnelte sie in nichts der diamantgeschmückten Verführerin, die ganz Paris verzaubert hatte.
Sie wandte sich um und war in der Tat wunderschön. Sie gab sich als Halb-Javanerin aus, doch Beauregard wusste, dass sie die Tochter eines holländischen Hutmachers aus der Provinz war. Nach der Verwandlung hatten ihre Augen sich verändert. Sie hatte geschlitzte Pupillen, wie eine Katze. Die Wirkung war überaus bemerkenswert.
»Madame Zelle?«, fragte er höflich, doch ohne besonderen Nachdruck.
Anmutig stand sie auf und erwiderte seinen Gruß. »Mr. Beauregard.«
Achselzuckend betrachtete er ihre blasse, ausgestreckte Hand.
»Vorschriften«, erklärte er mit matter Stimme.
Die Gefangene versuchte ein Lächeln. »Natürlich. Wenn Sie mich berühren würden, wären Sie mein Sklave. Sie würden die Wachen überwältigen und bis aufs Messer kämpfen, um mir zur Flucht zu verhelfen.«
»So ungefähr.«
»Wie albern.«
Der Schließer brachte ihm einen Stuhl. Sie nahm wieder Platz, und er setzte sich.
»Sie sind also der raffinierte Engländer, der mich gefasst hat?«
»Bedauerlicherweise ja.«
»Da gibt es nicht das Geringste zu bedauern. Sie haben nur Ihre Pflicht erfüllt.«
Vor dem Krieg hatte er sie ihren berühmten javanischen Todestanz tanzen sehen. Zwar war sie keine Isadora und ihr unbekannter Lehrer kein Diaghilew, doch der gewaltige Eindruck, den sie bei ihrem Publikum - ob öffentlich oder privat, ob Fähnrich oder General - hinterlassen hatte, war nicht zu leugnen.
»Sie sind ein ehrbarer englischer Patriot, und ich bin eine prinzipienlose holländische Abenteurerin. Nicht wahr?«
»Dazu möchte ich mich nicht äußern, Madame.«
Ihre Augen wurden größer. In ihrem Blick lag kalte, planlose Wut. Doch das war noch nicht alles.
»Sie sind Warmblüter, nicht wahr?«
Hatte sie ihn für einen Vampir gehalten? Manche nosferatu glaubten, dass nur ein Blutsauger es an Verstandeskraft mit ihnen aufnehmen könne.
»Wie alt sind Sie, Mr. Beauregard?«
Eine ungewöhnliche Frage. »Vierundsechzig.«
»Ich hätte Sie für fünf oder zehn Jahre jünger gehalten. Vampirgift hat Ihr Blut befleckt und den Alterungsprozess verzögert. Aber das spielt keine Rolle. Es ist noch nicht zu spät, sich zu verwandeln. Sie könnten ewig leben, wieder jung werden.«
»Ist das eine so angenehme Aussicht?«
Ihr Lächeln wirkte echt, nicht aufgesetzt. Ein winziger funkelnder Fangzahn lugte zwischen ihren roten Lippen hervor.
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum, das gebe ich gern zu. Anders als Sie bin ich unsterblich, aber im Gegensatz zu mir werden Sie den morgigen Sonnenaufgang noch erleben.«
Er versuchte einen verstohlenen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen. Noch zwei Stunden bis Tagesanbruch.
»Das Todesurteil kann immer noch aufgeschoben werden.«
»Haben Sie Dank für Ihr Mitgefühl, Engländer. Wie ich höre, sind Sie persönlich für mein Leben eingetreten. Damit haben Sie Ihren Ruf aufs Spiel gesetzt.«
Wenn sie nicht tatsächlich imstande war, ihrem Gegenüber mit einem einzigen Blick wohlgehütete Geheimnisse zu entlocken, konnte sie unmöglich wissen, dass er ihre Begnadigung empfohlen hatte.
Ihr Lächeln wurde breiter und entblößte einen Fangzahn. »Ich habe meine Quellen. Geheimnisse lassen sich leicht entschlüsseln.«
»Wie Sie eindrucksvoll bewiesen haben.«
»Sie sollten Ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen. Sie haben meine armseligen Geheimnisse ergründet wie ich die vieler berühmter Männer. Allein durch konzentriertes Nachdenken ist es Ihnen gelungen, meine Schleier und Intrigen zu durchschauen. Kompliment.«
Er versuchte sich ihrer Schmeicheleien zu erwehren. Sie zählten zu ihren stärksten Waffen. Alternde Offiziere waren ihre bevorzugte Beute gewesen.
»Ich habe die Kunst der Enthüllung bei Meistern ihres Faches erlernt«, erklärte Beauregard.
»Sie sind ein ranghohes Mitglied der herrschenden Clique des Diogenes-Clubs, der zweit- oder drittwichtigste Mann des britischen Geheimdienstes.«
Sie wusste mehr, als bei ihrem Prozess ans Licht gekommen war.
»Keine Sorge, Charles. Ich werde Ihre wenigen mir bekannten Geheimnisse mit in mein armseliges Grab nehmen.«
Plötzlich gebrauchte sie seinen Vornamen.
»Es tut mir aufrichtig leid, Geertruida«, erwiderte er ihre Vertraulichkeit.
»Geertruida?«, sagte sie und ließ sich den ungewohnten Namen auf der spitzen Zunge zergehen. »Geertruida«, bekannte sie schließlich. Enttäuscht ließ sie die schmalen Schultern sinken. »Wie hässlich, wie erbärmlich, wie plump. Beinahe deutsch. Aber es ist nun einmal der Name, mit dem ich geboren wurde, der Name, unter dem ich sterben werde.«
»Aber nicht der Name Ihrer Unsterblichkeit«, meinte er.
Mit langen Fingern umrahmte sie ihr hübsches Gesicht und ließ im Mondlicht dramatisch ihre Nägel flattern. »Nein, ich werde auf ewig Mata Hari sein.«
Sie parodierte die Amerikanerin Theda Bara. Falls es je einen Film über Mata Hari geben würde (und es würde gewiss viele geben), dann war Theda Bara, eine berufsmäßige Vampirfrau, deren Name ein Anagramm von »Arab Death« war, die einzige Schauspielerin für diese Rolle. Sie gehörte einem Blutgeschlecht an, das sich ohne weiteres im Bild festhalten ließ. Viele Vampire erschienen auf Zelluloid als eine Art verwischter Klecks.
»Man wird mich doch nicht vergessen, oder?«, fragte sie, plötzlich verwundbar geworden. »Mein Stern wird nicht verblassen und von dem einer neuen Verführerin überstrahlt.«
Womöglich hatte diese Frau ihr Leben lang eine Rolle gespielt; ihre Schleier bargen keinerlei Realität. Oder vielleicht gab es ein geheimes Ich, das sie in ihren wirklichen Tod mitnehmen würde.
»Man wird mir kein Pardon gewähren, Charles. Keine Begnadigung in letzter Sekunde. Nicht wahr? Man wird mich töten.«
»Ich fürchte, eine gewisse Person hat darauf bestanden«, gab er traurig zu.
»General Mireau«, stieß sie wütend hervor. »Sein Blut war dünn, müssen Sie wissen. Wie englische Suppe. Nichts für ungut. Aber wissen Sie, wie viele Menschen durch ihn ums Leben gekommen sind? Er hat seinen Leuten allein mehr Schaden zugefügt als unter meinem Einfluss.«
Unter den Truppen des Generals war eine Meuterei ausgebrochen. Mireau zählte zu den schlimmsten jener uniformierten Narren, die den Krieg für eine Feuergrube hielten, die mit lebenden Männern aufgeschüttet werden musste, um die Flammen zum Erlöschen zu bringen. Der General glaubte, dass der Tod dieser Frau das Blut von seinen Händen waschen würde.
»Die andere Seite ist keinen Deut besser«, sagte sie. »Es war ebenso leicht, die Deutschen zu übertölpeln.«
Zu Beginn des Krieges hatte Geertruida Zelle für den französischen Geheimdienst gearbeitet. Obgleich es dafür keinerlei Beweise gab, wusste er, dass sie auch für die Russen, die Ungarn, die Türken und die Italiener tätig gewesen war. Sogar für die Briten.
»Bei Hofe wurde ich dem Kaiser vorgestellt. Graf von Dracula hat mich verwandelt.«
In diesem neuen, kalten Jahrhundert war der Graf um sein Geblüt besorgt wie nie zuvor. Er trug, mehr als jeder andere Vampirälteste, die Verantwortung dafür, dass die Seuche sich über ganz Europa ausgebreitet hatte. Nun wachte er mit strenger Hand über die Auswahl derer, die er zu verwandeln trachtete. Geertruida Zelle war auch warmen Blutes eine bemerkenswerte Frau gewesen.
»Wie ich sehe, sind Sie nicht erstaunt.«
Sie hob die Hand. Im Mondschein schimmerte sie fahl, die blauen Adern waren deutlich zu erkennen. Im Nu hatte sie sich in eine mit Flughäuten versehene Monsterklaue verwandelt, Daumen und Finger bewehrt mit dorngespickten Widerhaken. Dann war sie wieder menschlich.
»Kolossal«, sagte er. »Nur ein direkter Abkömmling seines Geblüts könnte diesen Trick vollführen.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte sie, neckisch und geheimnisvoll. »Aber was mich betrifft, haben Sie durchaus Recht. Man hat mir ebenso übel mitgespielt wie ich den Generälen Europas.«
Beauregard kam der Gedanke, dass sie sich vollkommen verwandeln konnte. Sie besaß genügend Kraft, die Mauern ihrer Zelle zu durchbrechen. Doch irgendetwas hielt sie davon ab.
»Endlich werde ich von ihm befreit.«
Das also war des Rätsels Lösung. Beauregard verspürte einen Anflug von Enttäuschung.
»Ich habe mich nicht freiwillig gestellt. Ihr Sieg gilt als veritable Heldentat. Dennoch bin ich keineswegs verzweifelt. Es gibt Schlimmeres als den Tod, so lautet eine Binsenwahrheit.«
Beauregard wusste aus Erfahrung, dass diese Ansicht unter Draculas Nachkommen weit verbreitet war.
»Er ist ein Ungeheuer. Dracula.«
Beauregard nickte. »Wir sind uns begegnet.«
»Ihr Briten«, fuhr sie fort, »ihr habt recht daran getan, ihn des Landes zu verweisen.«
»Ganz so einfach war das nicht.«
»Mag sein. Und doch hat Britannien Dracula nicht gewähren lassen, und Deutschland ist sein Paradies geworden.«
»Der Graf versteht es, sich bei Hofe Einfluss zu verschaffen. Darin übt er sich seit bald fünfhundert Jahren.«
Geertruida Zelle beugte sich vor und streckte den Arm aus. Der Schließer schrie. Die Pistole an seinem Gürtel war mit Silber geladen. Die Hand der Gefangenen erstarrte in der Luft, Zentimeter von Beauregards Arm entfernt. Sie sah ihm in die Augen.
»Er wird dieses Jahrhundert in ein Schlachtfeld verwandeln«, sagte sie mit ernster Stimme. »In seinen warmblütigen Tagen hat er ein Drittel seiner Untertanen umgebracht. Stellen Sie sich vor, was er erst denen antun wird, die er als seine Feinde betrachtet.«
»Deutschland steht kurz vor der Kapitulation«, zitierte er die amtlichen Verlautbarungen und wünschte, er wüsste es nicht besser.
»Es ist nicht leicht, einen Betrüger hinters Licht zu führen, Charles.«
Sie lehnte sich zurück und richtete sich auf. Ein frühmorgendlicher Lichtstrahl bekränzte ihren kurzgeschorenen Kopf mit einem Glorienschein. Sie wirkte eher wie Jeanne d’Arc denn wie eine Vampir-Spionin.
»Ihr Krieg ist vorbei«, sagte er so freundlich wie möglich.
»Sie wissen viel über uns Vampire, Charles. Sie müssen einen bemerkenswerten Lehrer gehabt haben.«
Er spürte, wie er errötete, und rückte nervös seinen Kragen zurecht.
»Wer war sie?«
»Sie haben vermutlich nie von ihr gehört.«
»War sie alt? Eine Älteste?«
Beauregard nickte. Geneviève Dieudonné war sogar noch älter als der Graf. Ein Mädchen aus dem fünfzehnten Jahrhundert.
»Lebt sie noch?«
»Soviel ich weiß, ist sie wohlauf. In Amerika, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Keine Ausflüchte, Charles. Sie wissen genau, wo sie steckt. Schließlich ist es Ihr Beruf, den Dingen auf der Spur zu bleiben.«
Geertruida Zelle hatte ihn ertappt. Geneviève war in Kalifornien und züchtete Blutorangen.
»Es war dumm von ihr, Sie altern und sterben zu lassen, Charles. Nein, das nehme ich zurück. Das war Ihre persönliche Entscheidung. Ich an ihrer Stelle hätte dafür gesorgt, dass Sie sich danach verzehren, sich zu verwandeln. Ich hätte meine Kräfte benutzt.«
»Ihre ›Kräfte‹? Madame Zelle, mir scheint, Sie haben zu viel Zeitung gelesen.«
»Nein, wir besitzen durchaus gewisse Kräfte. Es ist nicht alles nur Fantasterei.«
Die Dämmerung färbte den Himmel rosa. Ihr Gesicht war blasser denn je. Ihre Schergen hatten sie ausgehungert. Sie musste beträchtliche Qualen leiden. Viele Neugeborene hätte der rote Durst längst in den Wahnsinn getrieben.
»Dass sie es unterlassen hat, einen Mann durch Hinterlist von seinem Entschluss abzubringen, obgleich es zu seinem Besten wäre, stellt sie vermutlich über mich.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass Geneviève sich über niemanden stellen würde.«
»Geneviève? Ein hübscher Name. Ich hasse sie schon jetzt.«
Beauregard rief sich die Schmerzen ins Gedächtnis. Und erfreulichere Dinge. Ein roter Fächer stand am Himmel.
»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte Geertruida Zelle nüchtern.
»Das ist bedauerlich«, räumte er ein.
»Nun gut. Ihrer Vampirdame zuliebe werde ich Ihnen verraten, wie es mir gelungen ist zu überleben. Sie haben sich als äußerst großzügig erwiesen, obwohl Sie es nicht nötig hatten, und dies ist mein Geschenk an Sie. Verfahren Sie nach Belieben damit. Gewinnen Sie den Krieg, wenn er gewonnen werden kann.«
War dies ein Trick?
»Nein, Charles«, sagte sie. Entweder hatte sie seine Gedanken gelesen, oder sein Misstrauen war ihm deutlich anzusehen. »Ich bin nicht die Scheherazade des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich habe keineswegs die Absicht, mein Stelldichein mit dem Tod hinauszuschieben.«
Er versuchte diesen Gedanken zu verdrängen.
»Überzeugen Sie mich, Geertruida. Überzeugen Sie mich davon, dass ich nicht Ihr letztes Opfer werden soll.«
»Ein gerechter Einwand, Charles. Ich werde Ihnen einen Ort und einen Namen nennen. Und wenn Sie interessiert sind, werde ich fortfahren.«
Beauregard nickte. Geertruida Zelle lächelte ein zweites Mal, als würde sie ein Blatt von Figurenkarten ablegen.
»Château du Malinbois«, sagte sie. »Professor ten Brincken.«
Darauf hatte er gehofft. Ein weiterer Strang des Spinnennetzes.
»Ich bin überzeugt«, sagte er und versuchte krampfhaft, seine Wissbegierde zu verbergen.
»Sehen Sie«, fuhr sie fort, und ihr Fangzahn schimmerte, »ein Vampir weiß alles. Ich will mich kurz fassen. Sie können mitschreiben, wenn Sie möchten. Die Welt hat ihr Urteil über mich gefällt, und ich will mich nicht rechtfertigen. Ich bin dem Rat meines Herzens gefolgt, selbst wenn die Richtung, die ich einschlug, oftmals die falsche war …«
Auf dem Exerzierplatz drängte sich eine kleine Schar von Zeitungsschreibern und anderweitig Interessierten um einen Bunkerofen. Der letzte Schnee war geschmolzen, wenngleich die kiesigen Eispfützen hier und da das Exerzieren zu einem Wagnis hätten werden lassen. Beauregard blickte in die Runde. Keiner von Geertruida Zelles »Verehrern« hatte es für nötig befunden, diesem Schauspiel beizuwohnen.
Ob ihre Geschichte nur eine Abschiedsvorstellung war? Vielleicht wollte sie ihn so kurz vor ihrem Tode mit einer letzten Lüge täuschen, die ihn vom eigentlichen Vorhaben der Deutschen in Malinbois ablenkte. Doch er war geneigt, ihr Glauben zu schenken. Der Graf von Dracula war ein romantischer Denker, und ihre Geschichte war ein romantisches Schauermärchen mitsamt Schlössern, Grüften, Blut und dem Untergang geweihten Edelleuten. Er hatte die verbleibenden Seiten seines Notizbuchs mit Kurzschrift gefüllt.
Die Soldaten des Erschießungskommandos traten an wie zum Appell. Knaben mit uralten Augen. Nach vier Jahren sahen nicht nur die Untoten älter aus, als sie tatsächlich waren. Beauregard fragte sich, ob diese poilus glücklicher gewesen wären, wenn statt der Zelle Mireau am Pfahl gestanden hätte. Den gemeinen Soldaten war der General verhasster als der Kaiser.
»Charles«, riss ihn eine Frauenstimme aus seinen Gedanken. »Wir begegnen uns an den merkwürdigsten Orten.«
Die kleine Vampirfrau trug Reithosen und eine gegürtete Jacke. Ihr rötliches Haar steckte unter einer übergroßen Stoffmütze, und ihre Augen waren hinter dicken, blau getönten Gläsern verborgen. Die helle Stimme verriet ihre irische Herkunft.
»Kate«, sagte er, überrascht und erfreut. »Guten Morgen.«
Sie setzte ihre Brille ab und blinzelte in das verblichene Zartrot des bedeckten Himmels.
»Den Morgen will ich Ihnen zugestehen.«
Kate Reed war zehn Jahre jünger als er und hatte sich mit fünfundzwanzig verwandelt. In den dreißig Jahren ihres Vampirlebens waren ihre Augen nicht gealtert.
Die Journalistin war während der Zeit des Schreckens zur leidlichen Heldin aufgestiegen. Der Karpatischen Garde immer zwei Schritte voraus, hatte sie eine Untergrundzeitschrift herausgegeben. Auch während der Regentschaft König Victors war sie der Obrigkeit mit kritischer Strenge begegnet. Als fabianische Sozialistin und Verfechterin der Autonomie Irlands schrieb sie für den New Statesman und das Cambridge Magazine. Seit dem Beginn der Auseinandersetzungen hatte man sie zweimal aus Frankreich ausgewiesen und einmal in Irland festgesetzt.
»Ich dachte, Sie seien nach London abberufen worden«, sagte er.
Sie schenkte ihm ein knappes, verschmitztes Lächeln, und ihre Augen funkelten. »Ich habe mich von der Grub Street zurückgezogen und als Freiwillige einen Sanitätswagen chauffiert. Unsere alte Freundin Mina Harker gehört dem Auswahlkomitee an; sie ist nach wie vor darum bemüht, ihren Fehler wiedergutzumachen. Ich wurde mit dem nächsten Schiff zurückgeschafft.«
»Dann sind Sie also gar keine Reporterin?«
»Ich bin Beobachterin, wie immer. Eines der wenigen Metiers, die wir Vampire wirklich beherrschen. Kein Wunder, wir haben ein langes Leben und zu viel freie Zeit.«
Die ersten Sonnenstrahlen spießten die Wolken, und sie setzte ihre Brille wieder auf.
Er und Kate Reed hatten eine gemeinsame Vergangenheit. Sie beide waren Kinder eines anderen Jahrhunderts. Doch im Gegensatz zu ihm besaß sie das Rüstzeug, diese neue Ära zu meistern und zu überdauern.
»Ich habe Sie immer schon bewundert«, sagte er.
»Sie reden, als wollte man Sie erschießen.«
»Das wäre vielleicht sogar das Beste. Ich bin alt und müde, Kate.«
Sie nahm seine Hand und drückte sie. Er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihm wehtat. Wie viele Vampire vergleichsweise jüngerer Herkunft wusste sie ihre Kräfte nicht recht zu dosieren.
»Charles, Sie sind wahrscheinlich der letzte anständige Mensch in ganz Europa. Sie dürfen sich unter keinen Umständen entmutigen lassen. So blödsinnig Ihnen das Gerede vom ›Krieg zur Beendigung des Krieges‹ auch erscheinen mag, wir können es in die Tat umsetzen. Diese Welt gehört uns ebenso wie Ruthven oder Dracula.«
»Und ihr?«
Er wandte den Kopf und reckte das Kinn. Während die Sonne die Kaserne erhellte, wurde Geertruida Zelle vom Schließer und zwei Wachposten ins Freie geführt. Auf eigenen Wunsch trug sie einen Schleier, um ihr empfindliches Gesicht gegen das Licht zu schützen. Sie hatte die Augenbinde verweigert und auf geistigen Beistand verzichtet.
»Madame Mata Hari hat sich töricht verhalten«, sagte sie höhnisch. »Ich kann nicht allzu viel Mitleid für sie aufbringen. Mit ihren Ränken hat sie brave Männer en gros in den Tod getrieben.«
»Sie sind eine fabianische Patriotin.«
»In Britannien gibt es nichts, was sich durch die Pfählung des Premierministers nicht beheben ließe.«
»Jetzt klingen Sie wie Vlad Tepes.«
»Noch ein Gentleman, dem es sehr zum Vorteil gereichen würde, wenn man ihm ein gutes Stück stabilen Hagedorns hintansetzte.«
»Ich habe Ihren Artikel über den Prozess gelesen, Kate.«
Ihre Stimme zitterte leicht, weil sie versuchte, ihre Eitelkeit zu unterdrücken. »Und …?«
»Sie haben gesagt, was gesagt werden musste.«
»Aber der warmblütige, kaltherzige General Mireau stolziert immer noch einher wie ein narbengesichtiger Pfau, klirrt bei jungen Vampiren mit seinen Orden und kniet zur Messe nieder mit einem Gewissen, so rein wie das Wasser von Vichy.«
»Sie müssten eigentlich wissen, dass die Oberbefehlshaber der Streitkräfte es als Ehrensache betrachten, nicht auf den Rat einfacher Journalisten zu hören. General Pétain hat Ihre Artikel sicher mit Interesse gelesen.«
»Ich habe noch mehr zu schreiben. Mireau muss zur Rechenschaft gezogen werden.«
»Und Sir Douglas Haig?«
»Er auch, die ganze verfluchte Mischpoke.«
Geertruida Zelle wurde an den Pfahl gestellt, und ein Wachposten fesselte ihr die Hände. Sie hielt ihren verschleierten Kopf hoch erhoben, unerschrocken.
»Die Maikönigin«, bemerkte Kate.
Der Sergeant des Exekutionspelotons verlas den Richterspruch. Seine dünne Stimme verlor sich im bitterkalten Wind. Mindestens zehn Klagepunkte wurden mit dem Tod geahndet. Als er das Urteil verlesen hatte, rollte der Sergeant das Papier zusammen und steckte es in seinen Gürtel. Er zog und hob sein Schwert; acht Soldaten legten an und zielten. Sieben Kugeln aus Silber, eine aus Blei. Da niemand wusste, in wessen Lauf der Blindgänger steckte, konnte sich jeder von ihnen einreden, den tödlichen Schuss nicht abgegeben zu haben. Das Schwert schwankte und fiel. Schüsse durchsiebten den Rumpf der Gefangenen. Eine verirrte Kugel zernarbte den Boden ein Dutzend Yards hinter dem Pfahl. Geertruida Zelles Kopf sank auf die Brust, und der Schleier glitt ihr wie ein Umhang von den Schultern und wehte mit dem Wind davon. Die Morgensonne fiel auf ihr Gesicht und bräunte es in Sekundenschnelle. Rauch strömte ihr aus Mund und Augen.
»Damit wäre der Fall erledigt«, sagte Kate. »Grausige Geschichte.«
Beauregard wusste, dass es noch nicht vorbei war. Der Sergeant schritt über den Exerzierplatz, ging neben der toten Frau in Stellung und packte das Schwert wie eine Sense.
»Grundgütiger«, stieß Kate hervor.
Mit einem Hieb versenkte der Sergeant sein Schwert in Geertruida Zelles Hals. Die Klinge blieb im Knochen stecken. Mit behandschuhten Händen umfasste er Heft und Spitze und presste die versilberte Stahlklinge hindurch, bis sie in das Holz des Pfahls drang. Geertruida Zelles Kopf fiel zu Boden, und der Sergeant riss ihn an den Haaren in die Höhe, damit ihn jeder sehen konnte. Das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit versengt, die Katzenaugen geschrumpft wie Erbsen.

7

Kate

Das Gerücht, das Kate in Paris zu Ohren gekommen war, hatte sich bestätigt: Mata Hari lehnte es ab, sich von einem Priester die letzte Beichte abnehmen zu lassen, war jedoch durchaus bereit, die Nacht vor ihrer Hinrichtung mit Charles Beauregard vom Diogenes-Club zu verbringen.
Zu Beginn ihrer Journalistenlaufbahn hatte sie erkannt, dass sie Charles nur auf Schritt und Tritt zu folgen brauchte, um eine Geschichte an Land zu ziehen. Wo immer man ihn antraf, war er der stille Mittelpunkt eines Mahlstroms von Intrigen. Würde er sich jemals entschließen, sein Wissen preiszugeben, würde die Geschichte umgeschrieben werden müssen. Regierungen würden stürzen, Kolonien revoltieren, Duelle würden ausgefochten, Ehen geschieden werden. Charles war der Achsnagel Großbritanniens; oftmals schon hatte Kate das heftige Verlangen verspürt, ihn mit einem Ruck herauszuziehen.
Was für einen Vampir hätte er abgegeben.
Sie bemühte sich, Charles nicht allzu sehr zu löchern. Er war ein zu gewiefter Kunde, um sich wie ein kleiner Beamter von einem mädchenhaften Grinsen und einer beiläufigen Frage übertölpeln zu lassen. Zudem kannte er sie seit vielen Jahren. Die Masche der wirrköpfigen Närrin, ihr verlässlichstes Handwerkszeug auf dem Gebiet der Täuschung, hätte sich bei ihm nicht verfangen.
Der Sergeant des Exekutionspelotons füllte einen Sack mit der Asche des Kopfes der Spionin und posierte damit für die Fotografen. Das Erschießungskommando nahm Haltung an und präsentierte das Gewehr. Bei jeder zischenden Blitzpulverexplosion schreckten die jungen Veteranen, von Erinnerungen überwältigt, zusammen.
Kate beobachtete Charles, der die Fotografen beobachtete. Sein hochgeschlossener Kragen war kein Ausdruck altmodischen Temperaments, sondern diente allein dazu, die purpurrote Färbung seines Halses zu verbergen. Eine feine weinfarbene Linie umsäumte seinen Kragen. Er wirkte im Alter weitaus stattlicher als in der Jugend, sein Haar war weiß, das Kinn fest. Er stand aufrecht, und die Jahre hatten sein Gesicht eher geglättet denn zerfurcht.
Die Älteste Geneviève Dieudonné war während der Zeit des Schreckens Charles’ Geliebte gewesen. Gewiss floss etwas von ihrem Blut in seinen Adern. Zwar hatte er sich dem dunklen Kuss verweigert, doch war es unmöglich, längere Zeit mit einer Vampirfrau zu verbringen, ohne von ihrem Blut zu kosten, und sei es nur ein kleines bisschen. So mancher warmblütige Mann erkaufte sich winzige Transfusionen, um seine Haarpracht zu behalten und seinen Bauchumfang zu schmälern. Das war eine wirksamere Verjüngungskur als Affendrüsen. Die Pharmazeuten ließen verlauten, Vampirblut sei eine geheime Ingredienz ihrer Arzneien.
Das Erschießungskommando wurde entlassen. Reporter bedrängten die Soldaten mit Fragen. Unter ihnen war auch Sydney Horler, der Gassenprediger der Mail.
»Sie lieben den Krieg«, sagte Kate. »Er liefert ihnen schmackhaftere Geschichten als Mörder aus der Kleinstadt und Ehebrecher vom Dorf.«
»Sie haben keine allzu hohe Meinung von Ihren Kollegen.«
»Mit diesen Geiern und Schmierfinken habe ich nichts gemein.«
»Was ist es für ein Gefühl«, brüllte Horler, »eine Frau zu erschießen?«
Falls sie die Frage überhaupt verstanden hatten, enthielten sich die Soldaten einer Antwort.
»Noch dazu eine schöne, wollüstige Frau?«, betonte der Engländer. »Würden Sie sagen, sie war ein Teufel in Menschengestalt, der nicht mehr Gnade verdiente als eine tödliche Kobra?«
Die Soldaten wandten sich um und gingen davon.
»Na gut, dann will ich das notieren. Teufel in Menschengestalt. Nicht mehr Gnade. Tödliche Kobra.«
Horler begann aufgeregt zu kritzeln.
»Ich glaube, wir haben soeben der Geburt einer Schlagzeile der heutigen Abendausgabe beigewohnt«, sagte Kate.
Charles war zu erschöpft, um ihr eine Antwort zu geben. Er sah auf seine Taschenuhr, legte den Finger an die Krempe seines Hutes und machte sich bereit zum Aufbruch.
»Seltsam. Ein warmblütiger Mann, der beim ersten Hahnenschrei ins Bett eilt. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht verwandelt haben?«
Charles rang sich ein Lächeln ab. »Kate, ich lebe seit vielen Jahren wie ein Vampir.«
Er ging einem nächtlichen Gewerbe nach, selbst in diesem verdrehten Jahrhundert, wo nach Einbruch der Dunkelheit Kriege ausgefochten und Friedensabkommen getroffen wurden.
»Nun, da Mata Hari nicht mehr ist, können Sie sich getrost zur Ruhe legen. Ihr Krieg ist gewonnen.«
»Sehr witzig, Kate.«
Sie stieg auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Sein Gesicht war eiskalt. Sie zügelte sich in ihrer Umarmung, um ihm nicht die Rippen zu brechen.
»Auf Wiedersehen, Charles.«
»Guten Tag, Kate.«
Er ging zu seinem Wagen. Sie leckte sich die Lippen und konnte ihn schmecken. Sein Blut war scharf. Die leiseste Berührung seiner Haut genügte, um ihr einen Eindruck seiner Stimmung zu vermitteln. Sie war erregt, weil sie wusste, dass auch Charles erregt war. Zwischen ihm und Mata Hari war etwas Wichtiges vorgefallen. Weiter konnte sie nichts erkennen, nichts Genaues wenigstens. Jammerschade. Wäre sie eine Älteste gewesen, wie Geneviève, hätte sie ihm den Verstand aussaugen können wie eine Orange und erfahren, was es zu erfahren gab.
Hätte sie diesen Kniff beherrscht, wäre sie der Versuchung zweifellos erlegen. Vampire gewannen von Jahrhundert zu Jahrhundert an Kraft und Macht. Viele Älteste wurden zu Ungeheuern. Sie konnten nach Gutdünken schalten und walten, ohne die Folgen fürchten zu müssen. Charles’ Geschmack verflog, und in ihrem Herzen pochte roter Durst.
In den ersten Jahren nach ihrer Verwandlung hatte sie in einem fort ihre Grenzen ausgelotet. Unterdessen erkannte sie diese, ebenso wie ihre Untoten-Bedürfnisse, als einen Teil ihres allnächtlichen Daseins. Merkwürdigerweise brauchte sie noch immer eine Brille, um die schreckliche Kurzsichtigkeit zu korrigieren, die sie in ihren warmblütigen Tagen so sehr gequält hatte. Die meisten Vampire überwanden ihre Gebrechlichkeiten mit der Verwandlung, doch bei ihr war das anders.
Als sie ihren Durst zu unterdrücken versuchte, verschwamm ihr alles vor den Augen. Das war ihre eigene Schuld. Hätte sie nicht von Charles gekostet, würde sie nun nicht solche Schmerzen leiden.
Sie zog es vor, sich nicht als Tote zu betrachten, obgleich sie wusste, dass sie sich der Selbsttäuschung hingab. Manche verwandelten sich, wie Geneviève, ohne den wirklichen Tod zu erleiden. Kate hingegen war durchaus gestorben. Mr. Frank Harris, ihr Fangvater, hatte es vorgezogen, seine Nachkommen auszusaugen, ehe er ihnen lebenspendendes Blut einflößte. Sie erinnerte sich an das Stocken ihres Herzens, die seltsame Stille in ihrem Kopf. Das war der Tod gewesen.
Ihr Herzklopfen ließ nach, und ihre Sehkraft kehrte zurück. Der Himmel war bedeckt, das spärliche Sonnenlicht konnte ihr nichts anhaben. Sie gehörte nicht zu jener Spezies von Vampiren, die bei Tagesanbruch schmorten und verdorrten. Sie war vom Geblüt der Marya Zaleska, einer aristokratischen Parasitin, die sich als uneheliche Tochter des Grafen Dracula ausgab. In Kate mischte sich der verwelkte Stammbaum der Zaleska mit Frank Harris’ überaus potentem Geist. Im Jahre 1888 hatte ihr der berühmte Redakteur versichert, die körperliche Liebe sei das Tor zum Erwachsenwerden, und sie daraufhin, auf einem Diwan im Séparée des Restaurants Kettner, voller Enthusiasmus durch dieses Tor geleitet. Nachdem er sie zur Frau gemacht hatte, hatte er sich verpflichtet gefühlt, sie auch zum Vampir zu machen.
Obgleich viele junge Frauen Harris’ Überredungskünsten erlegen waren, hatten, außer ihr, all seine Nachkommen den Tod gefunden. Sie hatten sich als zu schwach für ein so starkes Geschlecht erwiesen. Auch Harris war nicht mehr, in der Zeit des Schreckens hatten Karpater ihn ermordet. Sie war betrübt; zwar hatte sich der liederliche Harris um seine Fangkinder wenig geschert, doch war er ein guter Zeitungsmann gewesen. Sie hatte sich nicht geschämt, ihn in der Welt der Nacht zum Gönner zu haben.
Charles’ Wagen fuhr davon, seine Geheimnisse waren tief in der Polsterung der Limousine versunken. Das Erschießungskommando zerstreute sich, und die anderen Journalisten machten sich eilig daran, die Lücken in ihren bereits geschriebenen Geschichten zu füllen. Jed Leland vom New York Inquirer, einer der wenigen kompetenten Amerikaner, hob einen Bleistift an die Krempe seines Strohhuts. Sie erwiderte den Gruß, in der sicheren Annahme, er wolle sie in ein lästiges Gespräch verwickeln. Doch Leland trottete mit den anderen davon und begab sich auf die Suche nach einem estaminet, wo sie zwischen anis und Katzenblut ihren Zeitungstext zusammenschmieren konnten.
Kurz nach ihrer Verwandlung waren ihre durchstochenen Ohren verheilt, und sie hatte zu ihrem Schrecken festgestellt, dass sie wieder Jungfrau war. Doch dieser Zustand war rasch und mit bleibender Wirkung behoben worden. Damals war es eine größere Schmach, »entehrt« zu werden, als sich in einen Vampir zu verwandeln.
Der Prozess der Anpassung, des Lernens war noch lange nicht beendet. Es war schwer zu sagen, was aus ihr werden würde. Sie hatte feierlich geschworen, sich nicht in ein Monstrum zu verwandeln.
Allein auf dem Exerzierplatz, marschierte sie zum Wachthaus, ihre scharfen Sinne waren hellwach. Sie wollte ihre Spur auf eigene Faust verfolgen. Und sie wollte sich mit niemandem über dem Rang eines Corporals einlassen. Mit ihrer Verurteilung von General Mireau hatte sie sich in der französischen Armee zahlreiche Freunde gemacht, wenn auch nur wenige unter den Offizieren. Ihre Artikel über die Affäre Dreyfus hatten die Franzosen verstimmt, und ihre jüngsten Schriften waren nicht geeignet, ihre Zuneigung zurückzugewinnen.
Durch eine kahle Hecke sah sie, dass auf der Straße ein französischer Stabswagen parkte. Seine Fenster waren verdunkelt. War eine von Mata Haris Eroberungen gekommen, um ihr heimlich Lebewohl zu sagen? Oder um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich tot war?
Corporal Jacques Lantier erwartete sie in seiner armseligen Stube. Sein Gesicht war ein finsterer Wirrwarr tiefer Narben. Als dem Feind binnen zwei Tagen achtzig Prozent der entblößten Franzosen anheimgefallen waren, hatte der klägliche Rest von General Mireaus Kommando seinen Befehl »bis zum letzten Mann« verweigert und den Rückzug über die hundert Yards morastigen Geländes angetreten, den sie zwar erobert, aber nicht hatten halten können. Der verstümmelte Lantier hatte Glück gehabt. Gesund und munter wäre er womöglich unter dem Dutzend Männer gewesen, die Mireau wegen Feigheit hatte erschießen lassen. So qualifizierte er sich für einen Platz im inoffiziellen Veteranenbund aller Entstellten, der Union des Gueules Cassées, der Bruderschaft der Matschgesichter.
Mit der Spitze seines kleinen Fingers öffnete Lantier ein Loch in seiner unteren Gesichtshälfte und schob einen Glimmstängel hinein. Kate nahm die ihr angebotene Zigarette dankend an, und Lantier gab ihr mit einem Zündholz Feuer.
Der Corporal hustete, und Rauchwolken umhüllten sein Gesicht. Einerseits war er der Journalistin selbstverständlich dankbar, dass sie General Mireau verurteilt hatte, doch es gab triftigere Gründe. Vor dem Krieg hätte man für zwanzig Francs ein ganzes Pferd bekommen. Jetzt war dafür allenfalls ein Stückchen Pferdefleisch zu haben.
»Die beiden haben sehr leise gesprochen, Mademoiselle«, entschuldigte sich Lantier, »und ich höre nicht mehr so gut …«
Eines seiner Ohren fehlte ganz, das andere war ein eitriger Klumpen.
»Aber Sie haben etwas gehört.«
Sie fügte dem Geldbündel in seiner Hand immer neue Noten hinzu.
»Ein Wörtchen hier und da … ein paar Namen … Château du Malinbois, Professor ten Brincken, Baron von Richthofen, General Karnstein …«
Für jeden Namen gab es weitere zehn Francs.
»Das reicht«, entschied sie. »Sagen Sie mir, was Sie gehört haben.«
Lantier zuckte die Achseln und begann …
 
Als Corporal Lantier geendet hatte, war es fast Mittag. Kate hatte ein ganzes Notizbuch vollgeschrieben, wusste jedoch nicht recht, was sie von seiner Geschichte halten sollte. Sie hatte gehörige Lücken. Mit etwas Scharfsinn würde sie die eine oder andere füllen können, die meisten aber nicht.
Zwar hatte sie mit Neuigkeiten über die Perfidien General Mireaus gerechnet, doch dies ließ die ganze Sache in einem völlig anderen Licht erscheinen. Sie würde dringend Informationen über Richthofens Monstrositätenkabinett einholen müssen. Dass Charles eigens nach Paris gereist war, um Mata Hari anzuhören, deutete darauf hin, dass hier eine Geschichte verborgen lag.
Lantier geleitete sie hinaus. Ohne ihre einzige Gefangene war die Kaserne tot. Das Erschießungskommando befand sich auf Urlaub in Paris und würde bei Sonnenuntergang in die Schützengräben zurückkehren.
Sie gingen über den Exerzierplatz. Kate blieb stehen und untersuchte den Pfahl, an dem Mata Hari gestorben war.
»Nach der Enthauptung«, sagte Lantier, »standen junge Männer Schlange, um ihre Taschentücher in das Blut zu tauchen. Als Andenken.«
»Oder um davon zu kosten. Es wirkt gewiss berauschend. Das Blut von Mata Hari.«
Lantier spuckte aus und verfehlte den Pfahl.
»Vampirblut könnte helfen …«, begann sie und deutete auf Lantiers Gesicht.
Er schüttelte den Kopf und spuckte ein zweites Mal aus. »Der Teufel soll euch holen, ihr verfluchten Blutsauger! Wozu seid ihr schon gut?«
Sie wusste keine Antwort. Viele Franzosen, besonders die aus der Provinz, dachten wie Lantier. Der Vampirismus hatte hier nicht Fuß gefasst wie in Britannien, Deutschland und Österreich-Ungarn. Zwar hatte auch Frankreich seine Ältesten - wie zum Beispiel Geneviève - und eine wachsende Schar von Neugeborenen, häufig selbst ernannte »Symbolisten« und »Moderne«, doch in den besten Kreisen waren Vampire noch immer nicht gänzlich willkommen.
Alfred Dreyfus war zum Sündenbock geworden, weil er zugleich Jude und Vampir gewesen war.
Sie sagte Lantier Lebewohl und verließ den Exerzierplatz. Ihr getreues Hoopdriver-Fahrrad lehnte an einem alten Anbindepfosten der Kavallerie neben dem Haupteingang. Der Stabswagen stand noch immer auf der Straße.
Kate wusste, dass sie in Gefahr war. Diesen Spürsinn hatte sie während der Zeit des Schreckens entwickelt. Ihre Nägel schossen hervor wie Katzenkrallen.
Sie trat um die Hecke herum auf die Straße und nahm den Wagen in Augenschein. Auf dem Vordersitz saß ein Chauffeur, und der Fond stand einen Spaltbreit offen. Jemand blickte sie aus Schweinsäuglein an.
»Ego te exorcisat«, kreischte eine Stimme. »Leide, du gemeine Hure, leide die Qualen der Verdammten!«
Ein schwarz gekleideter Mann sprang hinter einem Zaun hervor und stürzte auf sie zu. Der wildäugige, weißhaarige Priester hatte in seinem Versteck auf sie gelauert. Sie erkannte ihn sofort, doch sie hatte keine Zeit, sich seinen Namen ins Gedächtnis zu rufen. Unter lauten Flüchen in schlechtem Latein und Gossen-Französisch schleuderte ihr der Priester eine Flüssigkeit ins Gesicht. Ihre Brille war mit trüben Tropfen übersät.
Im ersten Moment glaubte sie, der Wahnsinnige habe sie mit Vitriolöl übergossen. Säure zerfraß das Fleisch eines Vampirs bis auf die Knochen. Auch wenn sie sich davon erholte, würde sie die nächsten fünfzig Jahre aussehen wie Lantier. Doch kein Brennen war zu spüren, kein Zischen zu vernehmen.
Der Priester schwenkte seine Flasche. Ein zweiter Spritzer traf ihre Stirn und rann ihr übers Gesicht. Sie schmeckte klares Wasser. Nein, erkannte sie, nicht klares Wasser. Weihwasser.
Verblüfft lachte sie auf. Einige katholische Vampire waren durchaus empfindlich gegen derlei Dinge, doch sie war eine alte Anglikanerin. Ihre Familie war protestantisch bis ins Mark; als er von Kates Verwandlung erfuhr, meinte ihr Vater: »Wenigstens hat die kleine Närrin nicht den abscheulichen römischen Antichristen in die Arme geschlossen.«
Der Priester trat kokett zurück, um sich an der Vernichtung der verderbten Höllenkreatur zu ergötzen. Er presste ein großes, grob geschnitztes Kruzifix an seine Brust und reckte eine Handvoll Hostien in die Höhe.
Ihre Mütze hatte sich selbstständig gemacht, und ihr Haar wehte im Wind. Sie hob die Kopfbedeckung auf und tupfte sich damit das Gesicht.
»Ich bin ganz nass, Sie Idiot«, stieß sie hervor.
Der Priester warf eine Hostie nach ihr. Er schien zu hoffen, dass sie sich in ihren Schädel bohren würde wie ein japanisches shuriken. Die Oblate blieb an ihrer feuchten Stirne kleben.
Erbost zermalmte sie die Hostie mit den Zähnen und spuckte die Krümel aus.
»Wo ist der Wein? In mir wütet der rote Durst. Verwandeln Sie ein Fläschchen, dann habe ich ausreichend Blut zu trinken.«
Die Attacke hatte ihre Blutgier geweckt. Sie würde schon bald frische Nahrung brauchen.
Der Priester schwenkte das Kreuz und überschüttete sie mit den Verwünschungen des Himmels. Ein Gesicht verschwand blitzschnell im Wageninnern. Sie glaubte ein französisches Képi mit einer Menge Eichenlaub daran erkannt zu haben.
»Sie sind Pater Pitaval. Sie waren bei Mata Haris Verhandlung.«
Pitaval, ein abtrünniger Jesuit, war der Beichtvater Mireaus. Und, so schien es, sein getreuer Vampirmörder.
»Eine lächerliche Vorstellung, Pater. Kaum der Rede wert.«
Er hielt ihr das Kruzifix vor die Nase, und sie stieß es von sich.
»Befragen Sie Ihr Gewissen«, rief sie, sowohl an Mireau als auch an den Priester gewandt.
Er hob das Kruzifix wie einen Dolch und stach damit nach ihrer Brust. Die Spitze war scharf genug, um als der sprichwörtliche Pflock zu dienen, doch sie wehrte den Hieb ohne Mühe ab. Ihre Rauchglasbrille fiel herunter, und die Welt verschwamm ihr vor den Augen. Sie sah eine schwarze Gestalt auf sich zukommen und trat beiseite. Sie nahm alle Kraft zusammen, ergriff den Priester und schleuderte ihn gegen den Wagen.
Sie tastete im Kies umher, fand ihre Brille und setzte sie wieder auf. Pitaval kroch auf den Wagen zu. Die Tür knallte ins Schloss, noch ehe er ihn erreicht hatte. Rasch wurde das dunkle Fenster hochgekurbelt. Mit der Schnelligkeit eines Vampirs sprang sie über den Priester hinweg und umfasste den Türgriff mit eiserner Faust. Sie sprengte das Schloss und freute sich, als sie den Mechanismus brechen hörte.
General Mireau saß steif im finsteren Wageninnern und starrte sie aus hasserfüllten Augen an. Er hatte eine Begleiterin, eine kleine Neugeborene im durchsichtigen weißen Leichenhemd. Sie hatte sich die Handgelenke mit rouge gefärbt, wo Mireau sie mit einem Rosenkranz gefesselt hatte, um ihn zu täuschen, was die Wirkung religiöser Artefakte auf Vampirfleisch anbetraf. Dass der General eine Vorliebe für untote Mädchen hegte, hatte Kate bereits geahnt. Sie hoffte, dass die Neugeborene schlau genug war, ihn nach Strich und Faden auszusaugen und zu plündern.
Sie schüttelte den Kopf. Mireau versteckte sich hinter seiner Begleiterin.
»Schwester«, sagte Kate, »dein Blutgeschmack lässt sehr zu wünschen übrig.«
Das Vampirmädchen wand und krümmte sich. Sie war vermutlich Tänzerin oder Schauspielerin. Wenn nicht gar eine Spionin.
Kate bückte sich und steckte den Kopf in den Wagen. In Mireaus kalten Augen loderten Flammen der Furcht. Er schob die Neugeborene vor, als wolle er einen sich sträubenden Hund zum Kampfe hetzen. Die Vampir-Pudeldame öffnete den Mund und entblößte zögernd ihre Hauer. Sie versuchte zu fauchen.
Kate spielte mit dem Gedanken, das närrische Mädchen ins Freie zu zerren und ihrem Hinterteil eine ordentliche Tracht Prügel zu verpassen. Eine grausame Strafe: An der Sonne würde sie zu Staub zerfallen.
Pater Pitaval war wieder auf den Beinen, er wirkte verängstigt. Der General bekam nicht allzu viel für seine Patronage.
»Mireau, haben Sie eigentlich kein Schamgefühl im Leib?«, fragte Kate.
Sie drehte sich um und ging davon. Sie hörte, wie der General mit seinen Untergebenen schimpfte. Ein winziger Funke der Genugtuung wärmte ihr das Herz. Zwar hatte sie nicht viel erreicht, aber Mireau war so sehr getroffen, dass er gewiss zurückschlagen würde. Wenn sie sich in Trab hielt, konnte sie ihn besiegen.
Doch es gab wichtigere Dinge zu bedenken. Zum Beispiel das Château du Malinbois.
Sie stieg auf ihr Fahrrad und strampelte davon. Auf dem Weg zum Bahnhof pfiff sie die »Barcarole« aus Hoffmanns Erzählungen und dachte an Flieger und Tänzerinnen.

8

Die Festung

Im Château du Malinbois herrschte ewige Nacht. Bei Tage waren die mittelalterlichen Fensterschlitze verrammelt, die steinernen Gänge von wenigen Kerzen spärlich erhellt. Selbst ein Vampir spürte die Kälte im feuchten Bauch des Schlosses. Das Geräusch herabtropfenden Wassers war ebenso allgegenwärtig wie das granitgedämpfte Donnern der Geschütze. Nur im Arbeitsbereich der Wissenschaftler bediente man sich der Elektrizität. Im Untersuchungsraum gab es nicht einen finsteren Winkel. Alles war in grelles Licht getaucht. Man brauchte sich nur auf den Tisch zu betten, und schon lag das ganze Innenleben bloß.
Leutnant Erich von Stalhein fragte sich, ob General Karnstein Malinbois gewählt hatte, um den Fliegern das Gefühl zu geben, lebendig begraben worden zu sein, um ihren Wunsch zu fliegen anzufachen. Hoch am Himmel, beflügelt von den ungezügelten Luftströmen und der Kraft des Mondes, ließen sie die Fesseln der Erde hinter sich.
Stalhein wälzte sich auf den Bauch, während ten Brincken weitere Messergebnisse überprüfte. Der Direktor war ein mürrischer Bär mit buschigen grauen Augenbrauen und ähnelte eher einem Hafenboxer denn einem Wissenschaftler. Womöglich rührte seine Vorliebe für die physische Vervollkommnung des Menschen von dem Wissen um sein bärenhaftes Aussehen her.
Über dem Tisch war eine Reihe drehbarer Leuchten angebracht. Stalheins Stammesgenossen erblühten im Mondschein, mit Glühdrähten in Glasbirnen wussten sie nichts anzufangen. Kaltes Kunstlicht verschaffte ihnen keinerlei Befriedigung.
Dr. Caligari, der Nervenarzt vom ersten Jagdgeschwader, war eingetreten. Stalhein hörte sein unbeholfenes Watscheln, roch seine stinkenden Kleider. Insgeheim hielt er Caligari für einen Quacksalber. Wie ten Brincken war er vom Vampirismus fasziniert. Bei ihren Zusammenkünften versuchte er Stalhein jedes Mal auszuhorchen und stellte ihm Fragen über Fragen zur Blutsaugerei.
»Hals- und Brustmuskulatur sind hervorragend entwickelt«, erklärte ten Brincken dem Arzt. »Sie sind derart ausgeprägt, dass man sie mit einer Gradeinteilung versehen könnte. Es scheint eine umfassende Veränderung einzutreten. Eine Evolution.«
Die Wissenschaftler sprachen über ihn, als sei er ein Leichnam, den sie zum Vergnügen sezierten. Stalhein war diese Art der Behandlung gewohnt. Seine Ehrerbietung gegen den Kaiser zwang ihn, solche Untersuchungen über sich ergehen zu lassen. Kein Flieger des JG1 wurde von dieser Pflicht befreit, nicht einmal der Baron.
Ten Brincken beendete die Untersuchung und schaltete die Deckenleuchten aus. Mit der Schnelligkeit eines Vampirs glitt Stalhein vom Tisch und stand auf. Caligari fuhr erschrocken zusammen, er trug einen altmodischen Frack. Stalhein kleidete sich an, stieg in Reithosen und Stiefel und schlüpfte in ein frisches Hemd. Ten Brincken, plötzlich ölig wie ein Kammerdiener, half ihm in seinen Waffenrock. Er schob die Arme hinein und knöpfte ihn von unten nach oben zu.
»Schön, schön, Herr Leutnant«, flötete ten Brincken. »Ganz vortrefflich.«
Nackt war Stalhein nichts weiter als ein Studienobjekt. In Uniform gemahnte er an einen Dämonenfürsten.
Ten Brinckens Domizil war eine Mischung aus Altem und Modernem. Die steinernen Mauern datierten aus dem vierzehnten Jahrhundert und waren mit allerlei wissenschaftlichen Urkunden geschmückt. Der Direktor kritzelte Hieroglyphen in einen messinggebundenen Band, der einem Kloster zu entstammen schien, doch eine Reihe chirurgischer Hilfsmittel in einem Gestell aus Stahl und Glas fesselten den Blick. Ten Brincken, Caligari und die anderen - Dr. Krueger, Ingenieur Rotwang, Dr. Orlof und Professor Hansen - bezeichneten sich als Wissenschaftler, wenngleich sich bisweilen mittelalterliches Alchemie-Gefasel in ihr Kauderwelsch von Evolution und Vererbung schlich.
Für die Angehörigen der Generation von Stalheins Vater war der Vampir ein Fabeltier. Binnen weniger Jahrzehnte hatte sich die altertümliche Magie zu einem respektablen Gebiet der modernen Wissenschaft gemausert. Verständlicherweise bestand zwischen den beiden eine tiefe Kluft. General Karnstein, der Bevollmächtigte des Grafen von Dracula, war ein Ältester; da er sich für eine Kreatur der Finsternis erachtete, hatte er ein Zentennium der Verfolgung hinter sich, nur um im zwanzigsten Jahrhundert ans Licht gezerrt und in seinen alten Stand zurückversetzt zu werden.
Stalhein salutierte und verließ das Laboratorium. Im Halbdunkel des schmalen Korridors, der an der Treppe zur Großen Halle endete, fand er sich besser zurecht. Musik wehte die Stufen herab. Ein Strauß-Walzer.
Mit einem dunklen Gefühl der Beunruhigung stieg er in die Halle hinauf. Obgleich ten Brinckens Untersuchungen nur selten schmerzhaft waren, stürzten sie Stalhein immer wieder in Verwirrung. Ihr geheimer Zweck wurde ihm vorenthalten. Er redete sich ein, dass seine Pflicht darin bestand, zu handeln und nicht zu verstehen. Jeder Abschuss war ein kleiner Schritt auf dem Weg zum großen Sieg. Er hätte Mitleid für die kurzlebigen Warmblüter empfinden müssen; sie würden nie erfahren, was es hieß, die Lüfte zu beherrschen, das Blut eines Gegners zu kosten, das Licht des Mondes zu trinken.
Er wollte fliegen, sich auf seine Beute stürzen. Der Rückstoß sich entladender Gewehre, das Pfeifen des Windes in der Verspannung, der Anblick eines brennenden Flugzeugs, das dem Erdboden entgegentrudelte: All das gab ihm das Gefühl, am Leben zu sein. Seine Abschussbilanz lag bei respektablen neunzehn Siegen. In einer gewöhnlichen Jasta wäre dies eine beachtliche Leistung gewesen; in diesem Zirkus jedoch gehörte er zu den unbedeutenderen Jägern. Er hoffte dies zu ändern, so ihm dafür genügend Zeit blieb. Der Richtwert war Baron von Richthofens Bilanz; sie lag derzeit bei einundsiebzig Siegen.
Die verblichenen Porträts und modrigen Jagdtrophäen, mit denen die Halle einst geschmückt gewesen war, hatten Siegeszeichen des zwanzigsten Jahrhunderts Platz gemacht. Über einem Kamin von der Größe eines Eisenbahntunnels prangte wie an einem Kreuz der dreiundvierzig Fuß breite, mit Einschusslöchern gespickte Oberflügel einer RE8. Im Kamin, mit einer Ankerkette am Sims befestigt, baumelte das zum Kronleuchter umfunktionierte Vorderteil eines Motors: Die Zylinderköpfe waren mit brennenden Kerzen bestückt. Das Kurbelgehäuse bildete den Mittelpunkt eines wirren Mosaiks von Seriennummern aus der Leinwand alliierter Flugzeuge, viele von ihnen löchrig oder halb verkohlt. Das JG1 hatte Souvenirs von Bristol Fighter, Dolphin, Spad, Vickers, Tabloid, Nieuport-Delage, Bantam, Kangaroo und Caproni gesammelt. Dazu kamen erbeutete Gewehre, Kompasse und Höhenmesser, menschliche Schädel, Fliegerhauben, einzelne Stiefel, zerbrochene Kameras, Knochen, Synchronisationsvorrichtungen der Marke Constantinesco und Propeller.
Eine Fledermaus-Arie drang aus dem prachtvollen Trichter des nagelneuen Grammophons. Hammer, der den Pour le Mérite, den man ihm zu seinem vierzigsten Sieg verliehen hatte, an der stolzgeschwellten Brust trug, spielte Karten mit Kretschmar-Schuldorff, dem Geheimdienstoffizier, und Ernst Udet, einem hoffnungsvollen Flieger, der beinahe ebenso viele Abschüsse erzielt hatte wie Stalhein. Um eine Öllampe geschart, wirkten sie wie Zwerge in dem riesigen Gewölbe. Hammer war in einen übergroßen Kalmuckmantel gehüllt, der ihn wie einen Troll aussehen ließ. Theo paffte an einer Zigarette, deren Rauchwolke immer weiter in die Höhe stieg, die ferne Decke jedoch nie erreichen würde. Und Udet hatte sich, der neuesten Vampirmode folgend, vor kurzem ein Geweih stehen lassen. Mit Samtfetzen behängt, spross es aus schwärenden Wunden an seiner Stirn.
Die Dunkelheit ließ auf sich warten. Stalhein war für die Nachtstreife eingeteilt. Er versuchte seine Ungeduld zu zügeln.
Die anderen Flieger im Halbdunkel der Großen Halle waren auf die Jagd nach Sonnenuntergang ebenso erpicht wie Stalhein. Zarte Sauggeräusche drangen aus einem mit Vorhängen versehenen Séparée. Der unersättliche Bruno Stachel labte sich an dem Saft einer seiner französischen Geliebten. Stalhein vertrat die Ansicht, ein nosferatu solle sich nicht bei Tage nähren; es mache ihn zu benommen, um auf die Jagd zu gehen. Als einer der wenigen Flieger des JG1 ohne ein »von« vor seinem Namen stand Stachel abseits von den anderen; in einem Kader von Jägern war er nichts weiter als ein Mörder. Seine Bilanz zählte einunddreißig Siege.
»Sei gegrüßt, Erich«, rief ein junger blonder Vampir und hob eine feiste Hand an den Mützenschirm. »General Karnstein lässt seinen Glückwunsch übermitteln. Wir haben Meldung erhalten, dass dein Abschuss vorgestern Nacht bestätigt worden ist.«
Göring war der Registrator von Richthofens Zirkus. Er verzeichnete die Einzelsiege in einer Tabelle.
Zwei Nächte zuvor war Stalhein niedrig gekreuzt, im Schutz der Wolken, und hatte auf das Brummen von Motoren gelauscht. Unter einer Avro 504J hatte er steil nach oben gezogen und den Rumpf der Maschine mit Kugeln durchsiebt. Die Avro war ins Trudeln geraten, mit von Flammenzungen beleckten Flügeln. Er war ihr nach unten gefolgt, um neben dem Wrack zu landen und den Piloten auszusaugen, doch die Avro hatte sich mit Müh und Not hinter die Linien gerettet und war im Niemandsland zu Boden gegangen. Britisches Flugabwehrfeuer hatte ihn daran gehindert, zu landen und sein blutiges Werk zu vollenden. Laut Heeresverordnung durfte er auf keinen Fall vom Feind gesichtet werden; zumindest nicht von einem Feind, der danach noch in der Lage war, einen Bericht zu übermitteln.
»Der Engländer hieß Mosley. Offenbar aus guter Familie. Seine Laufbahn war zu Ende, bevor sie richtig begonnen hat.«
Stalhein dachte an die gefletschten Fangzähne unter einem lächerlich schmalen britischen Schnurrbart, der Rest des Gesichts war hinter Haube und Schutzbrille verborgen. Ein mittelprächtiger Sieg.
»Freust du dich nicht, Erich?«, fragte Göring. »Jetzt hast du die zwanzig voll.«
»Ich habe kein Blut getrunken«, gestand Stalhein.
»Aber du hast einen abgeschossen. Und nur darauf kommt es an.«
»Mir nicht.«
Die Enttäuschung über seinen unblutigen Sieg war fast noch größer, als wenn Mosley die Flucht gelungen wäre. Am Ende der Jagd musste er seinen Blutdurst stillen.
Göring klopfte ihm trotzdem auf den Rücken. Er hatte den geweihtragenden Udet überholt. Zu Beginn des Krieges hätte er für zwanzig Siege automatisch den Pour le Mérite bekommen; angesichts der großen Konkurrenz jedoch war die erforderliche Anzahl zur Erringung eines Blauen Max verdoppelt worden.
»Der Sieg des Barons ist ebenfalls bestätigt worden«, verriet Göring. »Ein Abschuss unter den Augen der Engländer. Captain James Albright, achtundzwanzig Siege. Ein echter Yankee.«
Mosley hatte vermutlich einer zweit- oder drittrangigen Streife angehört. Ein erfahrener Flieger hätte sich nicht so ohne weiteres vom Himmel holen lassen. Und doch zählte sein kümmerlicher Leichnam ebenso viel wie Richthofens Triumph über einen ruhmreichen Ritter der Lüfte. Göring, der wie ten Brincken ein enervierendes Faible für die Statistik besaß, führte eine zweite Tabelle, welche die Flieger nicht nach Einzelsiegen, sondern nach der Anzahl der Siege ihrer Opfer auflistete. Nach dieser Rechnung besaß der Baron einen uneinholbaren Vorsprung. Zu Beginn des Krieges, vor dem Tod des großen Boelcke, hatte Richthofen hauptsächlich langsame Aufklärer und Versprengte vom Himmel geholt; nun, da sein Blut in Wallung war, war er auf edlere Beute aus.
Stalhein war schon einmal abgeschossen worden, von dem bescheidenen britischen Ass James Bigglesworth, lange bevor er genügend Flugerfahrung besessen hatte, um sich für das JG1 zu qualifizieren. Es vergingen Monate, bis die Narben im Gesicht und auf dem Rücken verheilt waren. Er hatte nur überlebt, weil er aus seiner brennenden Fokker geschleudert worden war. Wenn er diese Schuld begleichen konnte, waren ihm Ruhm und Ehre gewiss. Mit seinen zweiundzwanzig Siegen war Bigglesworth das Wagnis wert. Kretschmar-Schuldorff zufolge war der Pilot in Maranique stationiert, in derselben Einheit wie der verstorbene Captain Albright.
Ein lebendes Geschoss riss den Vorhang aus der Schiene und schleifte ihn über den Steinfußboden. Ein fassförmiges Etwas von der Größe eines Kindes hatte sich in der Stoffbahn verfangen. Es quiekte und hinterließ eine Reihe blutiger Pfützen. Lothar von Richthofen trat, mit einem Kandelaber in der Hand, aus der leeren Maueröffnung. Er grinste wie ein Hund, Gesicht und Brust waren blutverschmiert.
Wenn Lothar der Hund war, war sein Bruder der Herr.
»Manfred frönt wieder einmal den Sünden seiner Jugend«, bemerkte Göring.
Der Blutgestank brannte Stalhein in der Nase und den Augen. Alle Vampire in der Halle waren mit einem Mal hellwach. Das Quieken klang, als würden scharfe Klauen über eine Schiefertafel kratzen. Das Bündel kämpfte mit dem schweren Vorhang und schüttelte ihn ab. Verängstigte Tieraugen glänzten.
Lothar trat zur Seite und ließ seinen Bruder vorbei. Rittmeister Manfred Freiherr von Richthofens Oberkörper war nackt, sein rötliches Fell schimmerte feucht. Er war der beste Gestaltwandler des JG1, die Hauptattraktion dieses fliegenden Monstrositätenkabinetts. Richthofen wirkte für gewöhnlich reserviert, um nicht zu sagen katatonisch, doch jetzt hatte ihn die Leidenschaft gepackt. Des Nachts Engländer zu töten, genügte ihm nicht; er musste tagsüber Wildschweine jagen, wie er es als Kind auf den schlesischen Ländereien seiner Familie getan hatte.
Der weiß Gott wie und um welchen Preis eingeschleuste Keiler drehte sich knurrend im Kreis, und Schaum tropfte ihm vom Maul. Richthofen pirschte sich an das Tier heran. Obgleich er barfuß ging, klickten seine spitzen Dornenklauen auf den Fliesen. Der Eber wich erschrocken zurück.
Emmelmans riesige Gestalt löste sich aus dem Schatten der Mauer, stürzte sich auf den Keiler und versuchte ihm die Krallen in den Rücken zu bohren. Doch das glitschige Biest entwand sich seinen Armen, und der Flieger klatschte zu Boden und schloss seine moosbewachsene Faust um den schmierigen Schwanz des Tieres. Auf ewig zwischen Koboldform und menschlicher Gestalt gefangen, versuchte der kolossale Emmelman den Eber an sich zu ziehen, doch der Schwanz glitt ihm durch die Finger. Richthofen sprang über seinen gestürzten Kameraden hinweg und brüllte seine Beute an.
Lothar jagte Richthofen hinterdrein, auch er wollte ein Stück vom großen Kuchen. Stalhein und Göring schlossen sich den Brüdern an. Obgleich das Blut des Schweins einen fauligen Gestank verströmte, regte sich Stalheins Vampirinstinkt. Spitze Fangzähne sprossen aus seinem Oberkiefer. Dichtes Fell kroch seinen Rücken hinauf. Das Dunkel lichtete sich.
Der Keiler rammte das Grammophon-Gestell, stürzte es um und bereitete dem Strauß-Walzer ein schnelles Ende. Das Vieh schüttelte seinen Kopf und zerstreute die Einzelteile des zerbrochenen Apparates in alle Himmelsrichtungen. Das war eine unerträgliche Beleidigung. Diese Schuld würde der Eber bitter büßen.
Untröstlich über den Verlust der Musik und vom Geruch des Blutes angelockt, kamen die Flieger aus dem Halbdunkel hervor. Wütende rote Augen folgten dem Schwanz des Keilers, während das Tier nach einem Ausweg suchte. Die Vampire rückten ihrer Beute auf den Leib. Stalhein war Teil einer perfekten Angriffsformation. Richthofen bildete, wie in der Luft, die Pfeilspitze. Stalhein befand sich außen rechts, am Sporn des Widerhakens, während der kleine Eduard Schleich die linke Außenposition besetzte. Emmelman bildete das Schlusslicht und humpelte den anderen hinterdrein, als wate er durch dicken Matsch.
Sie trieben den Eber auf eine offene Tür zu. Der dahinter liegende Gang führte ins Freie. Richthofen war ein Sportsmann. Wenn das Wild durch das Schlossportal gelangte, war es den Spielregeln entsprechend frei und hatte den Sieg errungen.
Schritt für Schritt rückte die Formation vor. Der Eber wich zurück, seine Hufe klapperten über die Fliesen. Richthofen blickte dem Tier fest in die Augen. Er legte größten Wert darauf, dass seine Beute ihn persönlich kennenlernte, ihm mit Respekt begegnete. Während er sich langsam vorwärtsschob, verlängerten sich seine Arme, und darunter kamen die Rudimente schlaffer Hautsäcke zum Vorschein. Die Finger seiner rechten Hand verwuchsen miteinander, die Nägel bildeten eine spitze Pyramide.
Der Keiler nahm Reißaus und lief davon. Die Flieger rannten hinterdrein, fädelten sich ohne zu drängeln durch das Nadelöhr der Tür und schwärmten wieder aus, um auf dem Gang beschleunigen zu können.
Eine Seitentür ging auf. Caligari kam auf den Korridor getrappelt, sein zerbeulter Hut wackelte bei jedem Schritt. Das Tier verfing sich zwischen seinen Beinen, und er wandte sich um. Vor Schreck wäre ihm beinahe der Zwicker von der Nase gefallen, als er sah, wie sich die Jagdgesellschaft auf ihn stürzte. Richthofen stieß den Nervenarzt beiseite, doch es schien, als ob das Schwein den Sieg davontragen würde. Die Tür am Ende des Ganges stand einen Spaltbreit offen, und ein Sonnenstrahl fiel herein. Das Licht streifte den Rücken des Keilers. Das Tier witterte die kalte Luft der Freiheit.
Manfred von Richthofen nahm all seine Kräfte zusammen und ging zum Angriff über. Er sprang wohl an die sechs oder sieben Meter, die Arme ausgestreckt wie Flügelschwingen. Eine Hand krallte sich in die stacheligen Nackenhaare des Keilers. Richthofen ließ sich mit voller Wucht auf den Eber fallen. Blut rann ledrige Haut hinab. Der Jäger zerrte seine Beute in die Dunkelheit zurück, fort von der Tür.
Stalhein war von dem Tierblut wie berauscht. Er kämpfte gegen seine niederen Instinkte an. Zwar gab es selbstverständlich reinere Beute. Aber Sieg war Sieg.
Göring quittierte die Großtat des Barons mit begeistertem Applaus. Der dicke Hermann war ein geborener Speichellecker, ein langzüngiger Stellvertreter.
Richthofen rang mit dem Eber, dann stemmte er ihn über seinen Kopf. Einen Augenblick lang war er Herkules, der Proteus in den Himmel hob. Sein Gesicht war das eines roten Löwen, die Nase glühend, die Mähne von der Jagd zerzaust, das fangzahnbewehrte Maul weit aufgerissen. Er schleuderte das Schwein zu Boden, wo es benommen liegen blieb. Eine Steinfliese barst mit lautem Krachen. Das Tier wand sich wie ein Wurm, leistete kaum noch Gegenwehr. Wie ein geübter Matador ging Richthofen in Tötungsposition, krümmte seinen langen rechten Arm wie einen Säbel und zog die dornbeschlagene Hand zurück. Mit lautem Triumphgeheul stieß er unterhalb des Schwanzes zu und stach das Schwein regelrecht ab. Dann rammte er den Arm tief in die Eingeweide seiner Beute. Ihre Augen erloschen, und der Kopf des Ebers schnellte hoch, als eine blutige Faust durch seine Kehle brach. Das Schwein steckte an Richthofens ausgestrecktem Arm wie an einem Spieß.
Der Baron machte sich los und bewunderte den rot glänzenden Ärmel, der seinen Arm umhüllte. Dann ging er neben dem toten Tier in die Knie und tauchte, sein gutes Recht in Anspruch nehmend, die Zunge zärtlich in die triefende Halswunde. Er trank nur wenig; nicht der Blutdurst, sondern die Jagdlust hatte ihn getrieben. Als er fertig war, erhob er sich und ließ seine Kameraden das Schwein in Stücke reißen. Er stand daneben wie ein Herr, der seinen Hunden dabei zusieht, wie sie über ihre Belohnung herfallen. Caligari, der noch immer zitterte, warf einen Blick auf das Gelage und watschelte davon mit den Worten, die Jäger hätten offensichtlich den Verstand verloren.
Im Gedränge erkämpfte sich Stalhein ein zerfetztes Schweineohr. Um diesen grandiosen Preis zu erringen, schlitzte er sich an Udets Geweih den Arm auf und renkte sich bei dem Versuch, Emmelman beiseitezudrängen, zu allem Überfluss auch noch die Schulter aus. Er hütete seinen Leckerbissen, kehrte den anderen Vampiren den Rücken und saugte an dem abgerissenen Hörorgan. Die Flieger ringsum schmatzten, schlangen, schlürften, würgten. Es schmeckte widerlich, doch es versetzte ihn in einen wahren Freudentaumel.

9

La morte parisienne

Als die Sonne unterging, kehrte er in einem Straßencafé am Montmartre ein. Selbst an einem eisigen Wintertag wie diesem saßen zumeist untote habitués an den Tischen auf dem Trottoir. Sie schwatzten und flirteten, lasen und tranken. Todgeweihte Schneeflocken schmolzen auf Hüten, Händen und Gesichtern. Winthrop entschied sich für einen Tisch am Ofen im Innern des Cafés und bat den patron um eine Kanne englischen Tees. Da er im Umgang mit britischen Offizieren durchaus bewandert war, wusste der Franzose, was man von ihm verlangte, und so ließ er Gewürze, Kaffee und Likör links liegen und nahm traurig und verschämt ein ordinäres Päckchen Lipton’s von einem verborgenen Regal.
Binnen weniger Minuten, in denen der Tee auf Trinktemperatur abkühlte, erhielt er unsittliche Anträge von zwei filles de joie und einem krausköpfigen Jüngling; ein fangzahnbewehrter Zwerg erklärte sich bereit, um den Preis eines Laibes Brot sein Porträt zu zeichnen; das Gerücht, der verwegene Dieb Fantomas habe in einer nahe gelegenen Straße eine reiche Witwe um ihr Smaragdcollier erleichtert, machte die Runde; ein zweiter notleidender Künstler versuchte, Karikaturen des Kaisers und des Grafen von Dracula unters Volk zu bringen; ein gutgläubiger Australier ließ sich für einen zehn Centimes teuren anis ganze zehn Francs abknöpfen; und es kam zu einer Messerstecherei zwischen einem untoten Apachen und einem einarmigen, warmblütigen Veteranen, der den Unversehrten wider Erwarten zur Strecke brachte. Dies war vermutlich das vielgerühmte vie parisienne; es erschien ihm reichlich albern. Ein Haufen ungezogener Kinder.
Als es dunkel war, beglich er seine Rechnung und bahnte sich einen Weg zwischen den dicht besetzten Tischen hindurch zum Ausgang des estaminet. Amerikaner, Neulinge im Krieg und in Europa, waren besonders reich vertreten. Da sie alles und jeden bestaunten und bestarrten, waren sie unter den Pariser Taschendieben überaus beliebt. James Gatz, ein »Lootenant«, den Winthrop flüchtig kannte, grüßte ihn mit einem schnarrenden »alter Knabe«. Winthrop eilte davon, bevor Gatz ihn einholen konnte; es war Nacht, er war im Dienst. Er winkte dem Amerikaner zum Abschied und hoffte, dass der junge Mann den Abend unversehrt an Herz, Hals und Börse überstehen würde.
An der Place Pigalle wurde er von Kindern umringt, die ihn um cadeaux angingen. Bei näherer Betrachtung erwiesen sich die meisten dieser Kreaturen als Vampire, vermutlich älter als er. Ein goldhaariger Knabe krümmte seine Finger zu Klauen und klammerte sich an Winthrops Rock. Das seelenalte Kind versuchte ihn gurrend und fauchend zu hypnotisieren.
Sergeant Dravot, Winthrops Schatten, löste sich aus einem finsteren Winkel, befreite ihn von dem lästigen Schmarotzer und schleuderte ihn zu seinen Kameraden zurück. Die verwahrlosten Kinder liefen davon und umschwärmten die Beine erschrockener Soldaten und ihrer Liebchen.
Zum Dank nickte er Dravot zu und überprüfte die Knöpfe an seinem Rock. Noch immer spürte er die Fingerspitzen des wilden Knaben auf seiner Brust. Der Sergeant verschwand wieder in der Menge; notfalls hätte er selbst Fantomas das Lebenslicht ausgeblasen. Obgleich es ihn mit Trost erfüllte, einen Schutzengel zu haben, ärgerte es Winthrop, dass man ihm nicht zutraute, seine Geschäfte allein zu erledigen. Dravot hatte bisweilen etwas Gouvernantenhaftes.
Scheinbar ziellos mischte er sich unter das Theaterpublikum. Das Grand Guignol brachte André de Lordes berüchtigtes Maldurêve, das Théâtre des Vampires hingegen spielte Offenbachs Operette La morte amoureuse mit dem berühmten Cancan »Clarimonde«. Im Robert-Houdin bot der warmblütige Illusionist Georges Méliès sensationelle Taschenspielereien dar, von denen er behauptete, nicht einmal ein Vampir mit seinen übernatürlichen Kräften könne dergleichen vollbringen. In einer der zahlreichen Aufführungen rein weiblicher Ensembles, die gegenwärtig die Pariser Bühnen zierten, gab die Bernhardt ihren blutigen Macbeth. Da die meisten Mimen in den Krieg gezogen waren, verhielt es sich genau umgekehrt wie zu Shakespeares Zeiten, und viele Männerrollen wurden von Frauen en travestie gespielt. Falls der Krieg jemals ein Ende fand, würde eine zweite Revolution vonnöten sein, um die göttliche Sarah in einen Rock zurückzuzwingen.
Das in einer namenlosen Seitenstraße fernab der großen Häuser gelegene Théâtre Raoul Privache war weder prächtig noch berühmt. Vor Erhalt des mit »Diogenes« unterzeichneten Billets mit den Einzelheiten dieser Zusammenkunft hatte er noch nie von dem établissement gehört. Ein Plakat zeigte eine hagere Frau mit großen Augen in einem knapp sitzenden Trikot. Die Ankündigung lautete schlicht: Isolde - Les frissons des vampires. Eine kleine Schar von Fanatikern forderte wütend Einlass. Sie waren fast ausschließlich männlichen Geschlechts, trugen größtenteils Uniform und boten denselben gierigen, hohläugigen Anblick wie die Frau auf dem Plakat.
Winthrop gesellte sich unter das ins Foyer strömende Publikum und hielt nach Dravot Ausschau. Mitunter glich es einem Spiel, den Sergeant ausfindig zu machen. Obgleich er breitschultrig war und die meisten Menschen um Haupteslänge überragte, bereitete es dem Vampir keine allzu große Mühe, sich zu tarnen, da er die seltene Fähigkeit besaß, sich völlig an seine Umgebung anzupassen.
Als Winthrop dem caissier seinen Namen nannte, führte der ihn einen schmalen, dunklen Korridor hinab zu einer privaten Loge. Dravot folgte ihm und ging an der Tür in Stellung. Er würde auf den Genuss der Aufführung verzichten müssen. Der blättrigen Tapete und dem schwachen Modergeruch nach zu urteilen, würde der Sergeant nicht allzu viel verpassen.
Winthrop öffnete die Tür und betrat die Loge. Ein Mann saß in einem bequemen Sessel und paffte an einer Zigarre.
»Edwin! Pünktlich auf die Minute. Nehmen Sie Platz.«
Sie tauschten einen festen Händedruck, und Winthrop setzte sich. Charles Beauregard hatte volles weißes Haar und einen gestutzten grauen Schnurrbart. Sein Gesicht war faltenlos, und er wirkte hellwach und agil. Soviel Winthrop wusste, hatte Beauregard sich während der Zeit des Schreckens ausgezeichnet und einmal sogar die Ritterwürde abgelehnt.
Jenseits des Balkons begaben sich die murmelnden Zuschauer eilig auf ihre Plätze. Ein Pianist versuchte einem altersschwachen Instrument wohlklingende Laute zu entlocken.
Beauregard offerierte ihm eine Zigarre, doch Winthrop rauchte lieber seine eigene Marke. Er zündete sich eine Zigarette an und löschte die Streichholzflamme.
»Ich habe Ihren Bericht gelesen«, sagte Beauregard. »Schlimme Geschichte, neulich nachts. Sie trifft keine Schuld.«
»Ich habe Albright ausgesucht und ihn in den Tod geschickt.«
»Und ich habe Sie ausgesucht, wie auch mich jemand ausgesucht hat. Ich habe mir Albrights Akte angesehen, und ich muss sagen, Sie hätten keine bessere Wahl treffen können.«
Ein geflügelter Schatten flatterte an Winthrops geistigem Auge vorüber.
»Die Deutschen haben den Sieg Manfred von Richthofen zuerkannt«, sagte Beauregard. »Wenn ein Flieger des Geschwaders Condor gegen den Roten Baron eine Chance hatte, dann war es Captain Albright.«
Demnach handelte es sich bei dem geheimnisvollen Schatten also um den Roten Baron höchstpersönlich. Winthrop überlegte, was für eine Mühle Richthofen wohl flog. Ein neues, tödliches Modell.
»Das deutsche Oberkommando stellt seine Mordbuben in der Presse groß heraus. Wir besitzen keineswegs das Monopol auf säbelrasselnden Chauvinismus. Wenn zwanzig Fokker ein alliiertes Flugzeug abschießen, wird das Verdienst in aller Regel denen zugesprochen, die in der Publikumsgunst am höchsten stehen.«
»Es war nur eine Maschine mit Albright am Himmel.«
»Ich habe nicht behauptet, Richthofen sei ein Engel.«
Eine Untersuchung hatte ergeben, dass Albright völlig ausgetrocknet war. Thorndyke, der Spezialist, der die Autopsie vorgenommen hatte, war zu dem Schluss gelangt, der Leichnam sei nicht nur seines Blutes, sondern jeglicher Flüssigkeit beraubt worden.
»Captain Albright wurde aus seiner SE5a gezerrt und in der Luft getötet. So etwas habe ich noch nie erlebt.«
»Es geschieht nichts Neues unter dem Mond, mein lieber Edwin. Nicht einmal in diesem modernen Mörderspiel.«
Das Saallicht erlosch, und der Pianist hieb in die Tasten und schändete eine Melodie aus Schwanensee. Der Vorhang ging auf. Abgesehen von einem Rohrstuhl und einem offenen Schiffskoffer war die Bühne leer.
Eine Vampirfrau betrat die Szene, der durchsichtige Umhang, der in Falten über ihr Trikot fiel, gemahnte an die Schwingen einer Motte. Sie war die Isolde von den Plakaten. Ihr Gesicht war streng, wenig anziehend. An Wangen und Schläfen traten die Schädelknochen hervor. Die Fangzähne, die ihr aus dem Mund ragten, schnitten tiefe Kerben in Kinn und Unterlippe.
Isolde schritt zu den Klängen der Musik auf der winzigen Bühne auf und ab. Das Publikum war mucksmäuschenstill.
»Unser Interesse am Château du Malinbois wächst von Tag zu Tag«, sagte Beauregard mit einem Seitenblick auf Isolde. »Seltsame Geschichten sind im Umlauf.«
Mit schwarzen Krallen teilte Isolde ihr langes, glattes Haar. Ihr Hals war schrecklich dünn, die Adern waren deutlich zu erkennen.
»Sämtliche Piloten kannten das Schloss«, sagte Winthrop. »Sie sind von Richthofen geradezu besessen. Er ist ihr ärgster Feind.«
»Über siebzig Siege.«
»Sein Tod wäre für uns alle eine Erleichterung.«
»Seltsam: Ein Soldat, der die Abzugsleine einer Haubitze zieht oder ein Maschinengewehr bedient, tötet in wenigen Sekunden oftmals genauso viele Gegner wie unser Roter Baron während des gesamten Krieges. Und doch erscheint nur der Flieger in der Presse. Rittmeister Manfred Freiherr von Richthofen. Er hat den Pour le Mérite, den Blauen Max. Das Victoria-Kreuz der Hunnen. Und so viele geringere Ehrenzeichen, dass man sie kaum zählen kann.«
Isolde löste den Kragen ihres Umhangs und ließ ihn zu Boden gleiten. Sie war furchtbar dürr. Ihre Rippen traten wie Zaunlatten hervor.
»Geben Sie gut Obacht, Edwin. Es ist ein hässliches, aber überaus lehrreiches Schauspiel.«
Der Vampir nahm feierlich ein Messer aus dem Koffer und hielt es in die Höhe. Es schien nichts Ungewöhnliches daran zu sein. Isolde bohrte die Spitze in die Vertiefung unterhalb des Adamsapfels, ritzte die Haut, ohne dass Blut floss, und schnitt ihr Trikot entzwei. Der Stoff löste sich von ihrer Haut. Ihre Brüste waren nicht weiter bemerkenswert, doch ihre Warzen waren groß und dunkel.
Winthrop hatte zwar nur wenig Erfahrung mit dem frivolen Treiben von Paris, aber die farblose Isolde schien ihm zu unterentwickelt, um wahrhaftig Anerkennung finden zu können. Die beliebten Mädchen der Folies-Bergère waren wesentlich üppiger ausgestattet als diese armselige Kreatur, fette Tauben im Vergleich zu diesem mageren Spatz.
Sie zuckte die Achseln, und die obere Hälfte ihres Hemdes glitt ihr über die Schultern auf die Hüfte. Ihre Haut war makellos bis auf die grünliche Färbung. Isolde setzte sich das Messer noch einmal an die Kehle und führte einen zweiten Schnitt vom Brustbein bis hinab zum Bauch. Es floss nur wenig Blut.
»Sie ist keine Neugeborene«, sagte Beauregard. »Isolde ist bereits seit über tausend Jahren ein Vampir.«
Winthrop sah etwas genauer hin, vermochte jedoch keinerlei Anhaltspunkt für die sagenhafte Kraft und Macht der Ältesten zu erkennen. Mit ihren starren Fangzähnen wirkte Isolde hilflos und verloren, beinahe lächerlich.
»Sie ist schon einmal guillotiniert worden.«
Isolde klemmte sich die Klinge zwischen die Lippen und nahm beide Hände zu Hilfe. Sie schob die Fingernägel unter die Ränder ihrer selbst beigebrachten Wunde und schälte die Haut von ihrer rechten Brust. Bei jeder Bewegung spannten und entspannten sich ihre freiliegenden Muskeln. Sie glitt mit der ganzen Hand unter die Haut, lockerte die Umhüllung ihrer Schulter und streifte sie ab wie ein Hemd.
Das Publikum war hingerissen. Winthrop war angewidert, von den Zuschauern wie von der Künstlerin.
»Wir begreifen unsere Grenzen nicht«, meinte Beauregard. »Wenn wir zum Vampir werden, sind wir der Möglichkeit nach imstande, die natürliche Gestalt des menschlichen Körpers zu verändern.«
Als Isolde sich umwandte, riss die Haut an ihrem Rücken. Rotrandige Lappen hingen schlaff herunter. Allein mit den Fingernägeln und ein paar Schnitten ihres Messers zog sie sich systematisch die Haut ab.
Eine Gruppe von Amerikanern, die irrtümlich angenommen hatten, Isolde werde sich auf andere Art entblättern, stürmte unter lautem Protestgeschrei hinaus. »Ihr habt doch nicht mehr alle Tassen im Schrank«, brüllte einer.
Isolde blickte ihnen nach und zog die Haut wie einen schulterlangen gant glacé von ihrem rechten Arm.
»Manche Vampire, Edwin, sind ebenso wenig imstande, ihre Gestalt zu wandeln wie Sie oder ich. Insbesondere die vom Geblüt Ruthvens und Chandagnacs. Andere wieder, unter ihnen die vom Geschlecht der Dracula, besitzen Fähigkeiten, die noch nicht einmal annähernd erforscht sind.«
Isolde verstümmelte sich mit steinerner Miene und wilden Gebärden. Ihre Haut hing in schlotterigen Fetzen. Winthrop wollte sich der Magen umdrehen, doch es gelang ihm, seine Übelkeit im Zaum zu halten. Das ganze Theater stank nach Blut. Ein wahrer Segen, dass nur wenige Vampire sich im Raum befanden; sie hätten vermutlich den Verstand verloren. Die Künstlerin riss ihre weiße Haut in Streifen und warf sie in die Menge.
»Sie hat treue Anhänger«, sagte Beauregard. »Des Esseintes, der Dichter, hat ihr einige Sonette gewidmet.«
»Es ist ein Jammer, dass de Sade sich nicht verwandelt hat. Er hätte an diesem Schauspiel seine helle Freude gehabt.«
»Vielleicht hat er sie zu seiner Zeit gesehen. Sie tritt seit einer Ewigkeit mit dieser Nummer auf.«
Ihr schimmernder Torso glich einem anatomischen Präparat, fahle Knochen in feuchtem Fleisch. Sie hob ihren gehäuteten rechten Arm und leckte ihn vom Ellbogen bis zum Handgelenk, tauchte ihre Zunge in das rote Nass. Ihre Arterien waren deutlich zu erkennen, durchsichtige Röhren, in denen das Blut pochte und pulsierte.
Zahlreiche Zuschauer waren aufgesprungen und drängten sich am Bühnenrand. In den Folies hätten sie alle fünfe gerade sein lassen und lauthals geschrien und gejohlt. Hier waren sie still und leise, starrten mit angehaltenem Atem auf die Bühne und versperrten ihren Kameraden die Sicht.
Wie viele dieser Männer hätten zugegeben, dass sie das Raoul Privache besuchten?
»Hat man ihr nach der Enthauptung den Kopf wieder angenäht?«
Sie bohrte die Zähne in ihr Handgelenk, nagte die Arterie durch und begann zu saugen. Blut schoss aus der Röhre, und sie schluckte gierig.
»Nein, man hat sie begraben«, erklärte Beauregard. »Ihr Leib verfaulte, aber ihrem Kopf wuchs ein neuer Körper. Das dauerte zehn Jahre.«
Sie holte Atem und grinste mit bluttriefendem Kinn ins Publikum, dann wiederholte sie ihre Attacke. Während sie saugte, krümmten sich ihre ausgestreckten Finger zu einer nutzlosen Faust.
»Es heißt, seitdem sei sie nicht mehr dieselbe.«
»Wie weit kann sie gehen?«
»Sie meinen, ob sie sich mit Haut und Haar verschlingen kann, so dass nichts mehr übrig ist? Ich weiß es nicht. Bislang hat sie darauf verzichtet.«
Isoldes rohes Fleisch welkte und wechselte die Farbe, während sie sich das Blut aussaugte, ihr Gesicht hingegen schwoll auf und erblühte.
»Ich glaube, wir haben genug gesehen«, sagte Beauregard und erhob sich.
Winthrop war erleichtert. Er würde niemals zu Isoldes Anhängern gehören.
Sie traten auf den Korridor hinaus. Dravot stand neben der Tür und las die neueste Ausgabe von Comic Cuts. Beauregard und der Sergeant waren alte Kameraden.
»Danny, kümmern Sie sich brav um unseren jungen Lieutenant?«
»Ich tue, was in meiner Macht steht, Sir.«
Beauregard lachte. »Das freut mich. Das Schicksal des Empire ruht auf seinen Schultern.«
Winthrop wurde den Gedanken an Isolde nicht los.
»Was halten Sie von einem Spaziergang, Edwin?«
Sie verließen das Theater. Die klare, kalte Luft war eine Wohltat. Der Schnee blieb nicht liegen, sondern überzog den Gehsteig mit schmutzig braunem Matsch. Winthrop und Beauregard schlenderten dahin, Dravot folgte ihnen im Abstand von etwa zwanzig Schritten.
»Als ich in Ihrem Alter war«, sagte Beauregard, »glaubte ich, in einer anderen Welt als dieser alt werden zu können.«
Winthrop war im Jahre 1896, nach der Zeit des Schreckens, zur Welt gekommen. Vampire waren ihm ebenso selbstverständlich wie Hochwild oder Holländer. Von seinem Vater wusste er, was die Briten von Beauregards Generation durchgemacht hatten, all die Veränderungen, an die sie sich während der Zeit des Schreckens hatten gewöhnen müssen.
»Ich erinnere mich an die Jahre, als Ruthven noch nicht Premierminister und Edward Albert Victor noch nicht König war. Da offensichtlich keiner der beiden Herren die Absicht hegt, das Zeitliche zu segnen, ist es gut möglich, dass sie ihr Amt selbst dann noch ausüben werden, wenn ich längst zu Staub zerfallen bin. Dasselbe gilt für Sie, es sei denn, Sie fassen die Gelegenheit beim Schopfe und verwandeln sich.«
»Ich? Mich verwandeln? In ein solches Monstrum?«
Winthrop deutete zum Raoul Privache und dachte an Isoldes rot unterlaufene Augen, während sie sich bis zur Besinnungslosigkeit an ihrem eigenen Blut berauschte.
»Nicht alle Vampire sind von ihrem Geblüt. Sie sind keine besondere Spezies, Edwin. Keine Ungeheuer und Dämonen. Sie sind nichts als eine Erweiterung unserer selbst. Von Geburt an verwandeln wir uns auf millionenfache Weise. Warum also nicht auch in einen Vampir?«
Winthrop hatte natürlich schon einmal daran gedacht, sich zu verwandeln. Kurz nach dem Tod seines Vaters hatte seine Mutter ihn beredet, doch den dunklen Kuss zu suchen, sich gegen die Sterblichkeit zu wappnen. Mit siebzehn war er dazu noch nicht bereit gewesen. Heute erging es ihm kaum besser. Zudem wusste er, dass dieser Entschluss wohlüberlegt sein wollte: Die Frage des Geblüts war von entscheidender Bedeutung.
»Die beste Freundin, die ich jemals hatte, war ebenso ein Vampir«, sagte Beauregard, »wie mein ärgster Feind.«
Einige Meilen entfernt ereignete sich eine Explosion. Flammen loderten gen Himmel und ließen die fischbäuchige Silhouette eines Zeppelins sichtbar werden. Seit etwa einem Monat häuften sich die Luftangriffe. Die Pariser nannten die deutschen Brandgeschosse inzwischen »Liebesgrüße des Kaisers«. Zeppeline flogen so hoch, dass sie ihre Bomben unmöglich gezielt abwerfen konnten, deshalb konnte es alles und jeden treffen. Die Angriffe erfolgten nicht aus militärischen Gründen; Dracula hatte eine Politik des »Terrors« verfügt, um die Moral der Alliierten zu brechen.
»Vor unserer nächsten Unterredung möchte ich, dass Sie dies lesen«, sagte Beauregard und reichte Winthrop einen Umschlag. »Man könnte es eine Lebensbeichte nennen. Eine Frau, die heute Morgen erschossen wurde, hat mir ihre Geschichte erzählt, und ich habe mein Möglichstes getan, sie in ihren Worten wiederzugeben. Sich genauestens einzuprägen, was die Leute sagen, ist eine Kunst, in der Sie sich beizeiten üben sollten. Häufig werden Sie feststellen, dass sie Ihnen Dinge verraten haben, von denen sie selbst nichts wussten.«
Winthrop schob sich den Umschlag in die Tasche. In der Ferne klangen Brandglocken. Die Reichweite des französischen Flugabwehrfeuers war zu gering, um dem Luftschiff etwas anhaben zu können. Der Zeppelin gewann an Höhe und verschwand in den Wolken. Eine Angriffsformation bestand für gewöhnlich aus fünf oder sechs Schiffen. Wenn der Hunne etwas Bestimmtes zerstören wollte, schickte er einen seiner großen Gotha-Langstreckenbomber.
»Wie gern würde ich eines dieser Biester in Flammen aufgehen sehen«, meinte Winthrop.
Beauregard richtete den Blick gen Himmel, und Schneeflocken benetzten wie Tränen seine Wimpern.
»Ich bin müde und muss gehen. Lesen Sie Madame Zelles Geständnis so aufmerksam wie irgend möglich. Vielleicht entdecken Sie etwas, das mir entgangen ist.«
Der Alte wandte sich um und marschierte davon, sein Stock klapperte über das Pflaster. Eine Horde betrunkener Amerikaner machte ihm höflich Platz. Zu seiner Zeit hatte Charles Beauregard gewiss eine stattliche Figur abgegeben. Auch jetzt noch war er der bei weitem beeindruckendste Mann im Dienst des Königs, dem Winthrop je begegnet war.
Winthrop hielt nach Dravot Ausschau und hatte ihn sogleich entdeckt. Der Sergeant stand regungslos im Schatten eines Baldachins. Es bereitete ihm von Mal zu Mal weniger Schwierigkeiten, Dravot ausfindig zu machen. Allmählich hatte er den Bogen heraus.

10

In gehobenen Kreisen

Trotz der prachtvoll bemalten Decken und lederbezogenen Chaiselongues war auch dies nichts weiter als ein Wartesaal. Er würde den Rest seines Lebens in derlei Räumlichkeiten verbringen, in der Hoffnung, gleichgültige Würdenträger mögen ihre geschätzten Tätigkeiten unterbrechen und sich Edgar Poes Belangen widmen. Aus seiner Zeit bei der Armee und in West Point war er mit der Parole »Gut Ding will Weile haben« wohlvertraut. Der Welt größte Militärmacht hatte dieses Diktum im Staatsrecht verankert. Prag war nichts weiter als ein Lehngut Berlins, die Hauptstadt der Wartezimmer, die metropolis der Pflichtvergessenheit. In Böhmen war Poe nur einer unter vielen gewesen, ein unscheinbares Gesicht in der Menge. Hier war er ein kleiner Schatten in einer Welt der Finsternis.
Die Halle wimmelte von Männern, deren Aufmachung auf Einfluss und Ansehen schließen ließ. Mit den befiederten Helmen, goldenen Quasten, schimmernden Schulterstücken, polierten Knöpfen, funkelnden Orden, weißen Umhängen, gewichsten Stiefeln, brokatbesetzten Westen und gestreiften Hosen, die sich vor Poes Augen tummelten, hätte man das komplette Ensemble einer komischen Oper ausstaffieren können. Trotzdem durchmaßen die Bittsteller gereizt den Saal oder sanken müde in sich zusammen und demonstrierten Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit. Poe fiel unter letztere, Ewers unter erstere Kategorie. Er lief auf und ab wie ein Wachposten, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, der Hals so steif, als habe er einen Ladestock verschluckt.
Sie hatten eine Unterredung mit Dr. Mabuse, dem Leiter des Kriegspresseamtes. Obgleich es auf Mitternacht zuging, herrschte im ganzen Haus rege Betriebsamkeit. Poe hatte bislang nichts weiter herausbekommen, als dass man ihn bitten würde, ein Buch zu schreiben. Er hatte vorsorglich verschwiegen, dass ihm in den vergangenen drei Jahren nicht einmal ein humoristisches Couplet gelungen war.
Hauptleute und Unterführer umklammerten Aktenbündel, in der Hoffnung, die schlechten Nachrichten, die sie im Gepäck hatten, so schnell wie möglich loszuwerden. Die unendlich lange Wartezeit machte die Rangunterschiede zwischen Oberst, General und Feldmarschall vergessen.
Bisweilen schoss ein Schreiber mit einem zottigen Haarnest auf dem Kopf aus einer winzigen Tür wie aus einer Kuckucksuhr und rief einen Namen auf.
»Von Bayern«, bellte er. »Hauptmann Gregor von Bayern.«
Ein Ältester in einer schmucklosen, aber adretten Uniform erhob sich, als er seinen Namen hörte, und wurde aus dem Saal geleitet. Ewers’ neidischer Blick bohrte sich in von Bayerns Rücken, als dieser forschen Schrittes hinter einer Flügeltür verschwand, an der ein vergoldetes Basrelief des deutschen Kaiseradlers prangte.
»Älteste werden immer und überall bevorzugt«, sagte Ewers halblaut. »Diese jahrhundertealten Narren wissen zwar nicht, welches Jahr wir haben, dafür verfügen sie über ein Offizierspatent und die Möglichkeiten, einem tüchtigen Neugeborenen die Zukunft zu verdunkeln.«
Ewers schien von Missgunst geradezu zerfressen. Poe lernte immer wieder etwas Neues über seinen »Doppelgänger«.
In dem Eisenbahnwaggon erster Klasse hatte Poe, ganz benommen von Ewers’ endlosen Reminiszenzen, seinen Reisebegleiter nur ertragen, weil dessen Position ihm Patronage, Aufstieg oder Degradierung garantierte. Ewers’ Geschichten über das Leben im Dienste des Kaisers waren gespickt mit den verdienten Niederlagen derer, die ihn enttäuscht oder betrogen hatten. Jedes Juwel der Wahrheit, mit dem er seinen autobiografischen Monolog verzierte, wurde erst auf Hochglanz poliert und dann in ein Flechtwerk heilloser Fiktion gefasst.
Es war eine unangenehme Reise, und die zerfurchten Mienen der Soldaten, die aus dem Urlaub zurückkehrten, lauerten vor dem Abteil und in den Schatten zwischen den Waggons. Das Grau ihrer Uniformen färbte auf ihre Gesichter ab, und nur das Rot rings um die Augen verlieh ihnen einen Hauch von Frische.
Poe wurde nach wie vor von Geistern und Gespenstern heimgesucht. Auf einer Chaiselongue ganz in der Nähe saß, eingeklemmt zwischen einem aufgeblasenen Diplomaten und einem General mit Backenbart, ein Mann von der Front, ein wandelndes, wildäugiges Gerippe in einer übergroßen Uniform. Eine verschmutzte Depesche klemmte unter seinem Arm, und bei jedem Stiefeltritt, der über den marmornen Fußboden hallte, zuckte er vor Schreck zusammen. Er war ein lebender Toter, ein Warmblüter, der weitaus lebloser schien als die Vampire links und rechts von ihm. Sein zerbeulter Helm war mit französischem Schlamm besudelt. Die Vorderseite seines Rocks war von seinem Blut rosig verfärbt. Falls er jemals irgendwelche Rangabzeichen getragen hatte, waren sie entweder bis zur Unkenntlichkeit befleckt oder aber abgerissen. Sein müdes Gesicht war eine Maske des Schmerzes.
Der General aß geräuschvoll lebende Mäuse aus einer braunen Papiertüte und tat, als nehme er den Zustand seines Kameraden gar nicht wahr. Er rückte von ihm ab, um jegliche Berührung mit diesem widerwärtigen Wrack zu vermeiden. Auch der Diplomat starrte stumpfäugig ins Leere, damit er den Soldaten nicht ansehen musste. Die Würdenträger, neugeborene Vampire höchsten Ranges, unterhielten sich über den Kopf des Schlammfritzen hinweg über den Fortgang des Krieges. Da der Deutsche der Welt bester Kämpfer sei, waren sie sich einig, dass der Sieg unmittelbar bevorstehe. Nach der Kapitulation der Russkis gab es keinen Grund, Paris nicht noch vor der Schneeschmelze einzunehmen.
Der Soldat hielt sich den Bauch, als verdaue er gerade eine Sterndistel, und warf Poe einen vernichtenden Blick zu. Einen Augenblick lang glaubte er, der Mann habe ihn als den Verfasser der Schlacht von St. Petersburg identifiziert, und nun müsse er sich für sein Scheitern als Prophet der modernen Kriegsführung rechtfertigen. Der Gedanke verflog, doch er kochte vor Wut über den Diplomaten und den General. Sie und nicht Edgar Poe trugen die Verantwortung dafür, dass der Krieg einen anderen Verlauf genommen hatte als in seiner Vision.
»Poelzig«, verkündete der Schreiber. »Herr Oberst Hjalmar Poelzig.«
Ein blässlicher Offizier erhob sich und schlenderte gemächlich durch die Flügeltür. Poe vermutete, dass er Aktien einer Munitionsfabrik besaß. Nur jemand, der viel Geld verdiente, konnte derart blasiert und zufrieden wirken.
Ewers lief noch immer auf und ab; er schäumte vor Zorn. Er hatte dem Fahrer des Automobils, das sie von der Eisenbahn-Station zur Hofkanzlei befördert hatte, die Dringlichkeit ihrer Mission erklärt. Der Name Mabuse war bekannt genug, um den Mann zu einem waghalsigen Manöver anzuspornen. Ein heftiger Druck auf die Hupe hatte ein Pferd scheu gemacht. Kichernd hatte Ewers zugesehen, wie zwei Soldaten das Tier zu bändigen versucht hatten, und der Wagen war mit flatternden Adlerwimpeln vorbeigerast. In diesem riesenhaften Saal nun sah er sich auf sein wahres Format zurechtgestutzt, als die falkenäugigen Schreiber seine devoten Bitten entweder geflissentlich ignorierten oder unwirsch beiseitewischten. Wäre er nicht so müde und durstig gewesen, und hätte er sich seiner armseligen Kleidung nicht so sehr geschämt, hätte Poe es zweifellos genossen, wie der Prahlhans von Minute zu Minute kleiner wurde.
Ein junger Veteran, dessen zu einer Schnauze ausgestülptes Gesicht mit wundroten Narben übersät war, während sein verbrannter, zu einer Fledermausschwinge verkrümmter Arm nutzlos herunterbaumelte, kam mit einem Wagen voller Zeitungen herein, die er zum Verkauf anbot. Ein Oberst musste von der Titelseite erfahren, dass die geheimen Informationen, die er dem Oberkommando übermitteln sollte, inzwischen allgemein bekannt waren. Poe spielte mit dem Gedanken, sich eine Zeitung zu kaufen, als er bemerkte, dass er keinen Pfennig bei sich hatte.
Ewers versuchte einen Schreiber davon zu überzeugen, dass seine Laufbahn eine fürchterliche Wende nehmen werde, wenn Dr. Mabuse erführe, dass man ihn, den großen Hanns Heinz Ewers, habe warten lassen. Er bedeutete dem Schreiber, auf ein Wort von ihm werde er unverzüglich an die Westfront abbestellt. Der Schreiber ließ ihn gewähren, doch es passierte nichts.
Ewers war merkwürdigerweise der Einzige im Saal, der sich beschwerte. Der Feldmarschall wartete geduldig. Sehr deutsch. Jeder fügte sich in seinen Rang und seine Stellung. Alles überaus beruhigend, vorausgesetzt, man hatte einen Platz in der Pyramide. Wessen Stand sich nicht auf den ersten Blick an einem Schulterstück ablesen ließ, kam einem »unberührbaren« Inder gleich und wurde aus dem Kastensystem ausgeschlossen.
Der Soldat unterdrückte ein Stöhnen und hielt sich mit beiden Händen den Bauch, als bahnte sich ein Granatsplitter einen Weg durch seinen Leib. Poe hatte den Eindruck, dass ein schmales Blutrinnsal durch den Rock des Soldaten sickerte. Sein roter Durst erwachte, doch der abgelebte, schmutzige Soldat beleidigte sein Zartgefühl. Poe hätte wirklich ausgedörrt sein müssen, um sich von solch ärmlichem Fleisch zu nähren.
Plötzlich war die Stimmung im Saal wie ausgewechselt, als habe jemand Rauch bemerkt. Die Bittsteller waren wie eine äsende Rotwildherde, die auf die Schritte eines Jägers lauscht. Säuselndes Geflüster wehte wie ein Windhauch durch den Raum, und Poe hörte nur einen Namen, immer wieder.
»Dracula …«
Zwei Wärter hielten die Haupttür auf. Eine üble Gesellschaft kam herein. Selbst Ewers blieb stehen und nahm Haltung an.
»Dracula …«
Graf von Dracula war der älteste Vampir Europas, ein meisterhafter Stratege und großer Visionär, Architekt des Sieges und Verteidiger der Rasse. Allein seinen kolossalen Ränken und Intrigen war es zu verdanken, dass sich die Seuche auf der ganzen Welt hatte ausbreiten können. Als angeheirateter Onkel Kaiser Wilhelms II. hatte er auf die Kriegsführung angeblich größeren Einfluss als Hindenburg oder Ludendorff.
»Dracula …«
Soldaten kamen mit klappernden Stiefeln und Brustharnischen in den Saal marschiert. Es waren Älteste, die der Karpatischen Garde des Grafen angehörten und seit Jahrhunderten an seiner Seite fochten. Sie brachten einen eisigen Gestank nach geronnenem Blut und Schießpulver mit sich.
»Dracula …«
Ermutigt durch die Billigung der Schlacht von St. Petersburg seitens des Grafen, die dieser zwar nie zurückgezogen hatte, von der heutzutage jedoch auch niemand mehr sprach, hatte Poe dem Ältesten zu Beginn des Krieges mehrfach geschrieben. Eine Antwort war ihm nicht vergönnt gewesen.
»Dracula …«
Die Wiederholung des Namens glich einem Schrei, einem Gebet. Ein Adjutant wurde von einem Paar wütend knurrender Wölfe in den Saal gezerrt. Beim Anblick der Tiere fuhr Ewers erschrocken zusammen. Poe hatte gehört, bei den Wölfen handele es sich um Stellvertreter Draculas aus dessen warmblütigen Tagen, die er mittels seiner ungeheuren Kraft in treue Schutzgenossen verwandelt hatte.
Ein hochgewachsener Vampir kam mit weiten Schritten durch die Flügeltür. Über seiner schlichten Uniform trug er einen grauen Mantel. Poe betrachtete das Lederholster an seinem Gürtel, die schwarze Mütze mit matt schimmerndem Schirm, die spitzen Enden seines Schnurrbarts. Während die meisten seiner Mitältesten ihrer Zeit verhaftet blieben, wandelte sich Dracula von Krieg zu Krieg. Während seine Generale die Strategie von Waterloo und Borodino empfohlen, setzte der Graf Maschinengewehre gegen Kavallerieattacken ein und befahl, Europa kreuz und quer mit Schützengräben zu durchziehen. Er war ein wahrhaftes Chamäleon, ein ausgezeichneter Pragmatiker.
Eine Witwe fiel vor dem Grafen auf die Knie und küsste ihm die Hand, presste ihre Lippen auf seine schaufelförmigen Nägel. Er ließ sich ihre Aufmerksamkeit gefallen, war jedoch in größter Eile.
Obwohl er nicht eben dazu neigte, sich vor den Großen und Vornehmen zu beugen und zu buckeln, nahm auch Poe Haltung an. Ein Wort von Dracula würde genügen, um ihn von dem schauderhaften Ewers zu befreien und ihm eine angemessene Stellung zu verschaffen. Schon sein Großvater, General David Poe, war ein Kriegsherr gewesen, im Unabhängigkeitskrieg.
Eine Menschentraube versperrte Dracula den Weg. Der Graf konnte sich nicht unter die Leute wagen, ohne von Danksagern, Bittstellern und Opportunisten umringt zu werden. Poe besann sich auf seine Verdienste und drängte sich nach vorn hindurch. Das Gespräch zwischen Poe und Dracula. Ein Meilenstein in der Geschichte der Imagination. Je näher er der entourage des Grafen kam, desto dicker wurde die Luft, schwer und gesättigt. Als Poe den Kriegsherrn fast erreicht hatte, verlangsamten sich seine Schritte wie im Traum. Die Hintergrundgeräusche erstarben, und Poe hörte das Pochen eines ungeheuren Herzens, einen Trommelschlag des Lebens, der alles andere zum Verstummen brachte.
Im Vorübergehen wandte der Graf den Kopf. Er ließ den Blick über die Menge schweifen, erkannte Poe jedoch nicht wieder. Poe kam schlitternd zum Stehen und gaffte den Ältesten fassungslos an. Dracula eilte weiter. Zwei gefiederte Karpater, eine von ihnen eine Kriegerin mit tätowiertem Gesicht, hielten ihm den Rücken frei. Ihr feindseliger Blick nahm Poe den Mut. Der Älteste schritt unbehelligt durch den Saal und ließ die Bittsteller allein zurück. Die weinende Witwe suchte in den Armen eines konsternierten Unterführers Trost.
Poe spürte, wie die außerordentlichen Bedingungen, die in unmittelbarer Umgebung des Grafen herrschten, allmählich nachließen. Die gewöhnlichen Geräusche und Gerüche kehrten zurück und betörten seine Sinne.
Die Präsenz des Kriegsherrn war überwältigend und von nachhaltiger Wirkung. Ewers war wie elektrisiert und vermochte seine nervösen Energien kaum zu bändigen. Die Zeitungen voller schlechter Neuigkeiten von der Front waren vergessen. Die Offiziere steckten die Köpfe zusammen und besprachen neue Wege zum ruhmreichen Sieg. Sie waren sich einig, dass der große Durchbruch kurz bevorstand, ein vernichtender Schlag gegen Paris, ehe die Amerikaner in großer Zahl ins Kriegsgeschehen eingriffen.
Poe konnte Draculas Augen nicht vergessen.
Die adlergeschmückte Flügeltür öffnete sich wie von Geisterhand für die entourage des Grafen. Die Soldaten marschierten in die Halle und erklommen eine breite Treppe. Selbst durch die geschlossene Tür hörte Poe den Klang ihrer Stiefel auf den Marmorstufen. Der Herzschlag pulsierte in seinem Hirn, gab den Takt an für die Ausweitung des Reiches.
Über drei Viertel der anwesenden Vampire waren von Draculas Geblüt. Poe kam sich fehl am Platze vor: Virginia hatte den Namen ihres Fangvaters niemals erfahren, obgleich sie die Vermutung hegte, es könne sich um einen Spanier handeln. Er nannte sich Sebastian Newcastle. Der Vampir hatte den Dichter des Unheimlichen aufsuchen wollen, jedoch nur Mrs. Poe zu Hause angetroffen und sie daraufhin aus einer jähen Laune heraus verwandelt. Da weder Poe noch Virginia ihre Gestalt zu wandeln vermochten, stand fest, dass Newcastle nicht von Draculas Geblüt war. Dann und wann befiel Poe das heftige Verlangen, den Vampir aufzuspüren, der seine Virginia verwandelt hatte, doch seine Nachforschungen verliefen jedes Mal im Sande.
Im Wartesaal kehrte wieder Ruhe ein. Selbst das Herz des Grafen, das im Einklang mit Poes Puls geschlagen hatte, war nicht mehr zu hören.
Sein Blick fiel auf den Frontsoldaten, der allein auf seiner Chaiselongue saß. Anders als der General und der Diplomat hatte er sich beim Eintreten des Grafen nicht erhoben. Sein Schoß war rot gefleckt. Blut rann seine Kniehosen hinab in seine Stiefel. Eine frische Wunde hatte sich geöffnet. Womöglich würde er hier sterben.
Sein hohler Blick war den Karpatern gefolgt und klebte nun an der adlergeschmückten Flügeltür. Mit saurer Miene wandte der Soldat sich ab und spuckte auf den Boden. Als er sich vorbeugte, um zu husten, zitterte er am ganzen Körper. Nachdem er Kehle und Nase entleert hatte, sank er langsam in die Chaiselongue zurück.
»Unverschämtheit«, sagte Ewers. »Diese Posse wird nicht ohne Folgen bleiben. Das kann ich Ihnen …«
Da erschien der Schreiber und blickte sie an.
»Ach«, Ewers war erfreut, »endlich.«
»Baumer«, sagte der Schreiber, und seine helle Stimme hallte von den Wänden wider. »Feldwebel Paul Baumer.«
Ewers war außer sich, weil man ihn erneut übergangen hatte. Er hielt nach dem bedauernswerten Feldwebel Ausschau, um ihm ordentlich die Meinung zu geigen.
»Paul Baumer«, rief der Schreiber ein zweites Mal.
Niemand trat vor. Poe blickte den Soldaten an und sah das letzte Flattern seiner bleischweren Lider.
»Ich glaube, das ist Baumer«, sagte er und blickte auf.
Mürrisch murmelnd wandte sich der Schreiber dem Boten von der Front zu.
»Feldwebel Baumer«, sagte er. »Sie können jetzt hineingehen.«
Baumer bewegte die Schultern, doch es gelang ihm nicht, sich zu erheben. Die Depesche glitt aus seiner Achselhöhle und plumpste auf den marmornen Fußboden.
»Unverschämtheit«, sagte Ewers, als verstelle Baumer persönlich ihm den Weg in Dr. Mabuses Stube.
Am veränderten Geruch von Baumers Blut erkannte Poe, dass der Mann tot war. Die Hände, mit denen er sich den Bauch gehalten hatte, erschlafften und gaben den Blick auf seine feuchte Magengrube frei. Ein Insekt landete auf seiner Hand und breitete die Schwingen aus - ein Schmetterling. Der Schreiber wischte ihn weg und fühlte dem toten Mann den Puls. Er rief die Wärter herbei und trug ihnen auf, den Leichnam fortzuschaffen. In den Vertiefungen, die Baumer in der Chaiselongue hinterlassen hatte, sammelte sich Blut. Ohne den Toten eines Blickes zu würdigen, fing der Diplomat den Schmetterling in seiner Hand, betrachtete erst seine Flügelzeichnung und schob ihn sich dann in den Mund.
 
Der Schreibtisch schien sich über die Breite eines Tennisplatzes zu erstrecken. Dr. Mabuses Sessel stand erhöht, so dass er über die riesige, polierte Holzfläche auf sein Gegenüber hinabblicken konnte. Der Leiter des Kriegspresseamtes legte augenscheinlich großen Wert darauf, dass andere zu ihm aufsahen. Poe bemerkte, dass der Doktor von eher schmächtiger Statur war.
Mabuse hatte wirres weißes Haar und die roten Augen eines trunksüchtigen Neugeborenen. Er trug einen weißen Chirurgenkittel und um den Hals ein Eisernes Kreuz an einem schwarzen Band. Zu Ewers’ offenkundigem Verdruss zeigte sich der Chef begeistert, Herrn Edgar Allan Poe kennenzulernen.
»Ich habe den Namen meines Stiefvaters längst abgelegt, Herr Doktor. Als Edgar Poe bin ich zur Welt gekommen, und als Edgar Poe werde ich sie verlassen. Das Andenken John Allans braucht uns nimmermehr zu kümmern.«
Dr. Mabuses Augen leuchteten. »Sie haben mich ungeheuer inspiriert, Herr Poe. Ihre Geschichten ›Die Tatsachen im Falle Valdemar‹ und ›Mesmerische Offenbarung‹ haben meine Faszination für die Kunst der Hypnose geweckt.«
Vor dem Krieg, vor seiner Verwandlung war Mabuse eine Autorität auf dem Gebiet des Mesmerismus gewesen und hatte sich zu öffentlichen Schaustellungen hinreißen lassen. Kein Wunder, dass ein Mann von seinem Ansehen und Talent nun für die Propaganda zuständig war.
»Jeder Krieg braucht seine Helden, Herr Poe. Ganz besonders dieser Krieg. Da sie von Natur aus zurückhaltend sind, muss man für die meisten Helden die Trommel rühren.«
Dr. Mabuse sprach, als hielte er eine Rede. Die Lampen auf dem Schreibtisch verschatteten sein Gesicht zu einer Maske und brachten seine Augen zum Glühen. Zu Beginn des Krieges hatte Mabuse Turnanstalten besucht und Schülern und Studenten Vorträge gehalten. Die Zuhörer hatten sich nach seinen Vorlesungen nicht selten massenhaft freiwillig gemeldet.
»Ich nehme an, Manfred von Richthofen ist Ihnen bekannt.«
»Der Flieger?«
»Der Flieger. Unser wichtigster Krieger der Lüfte. Zweiundsiebzig Siege.«
Auch Poe hatte den Menschheitstraum vom Fliegen geträumt. In seinen warmblütigen Tagen hatte er den Ballon-Jux verfasst, und in der Schlacht von St. Petersburg hatte er den Kriegseinsatz von Luftschiffen und Kampfflugzeugen vorhergesagt.
»Die Alliierten brüsten sich, sie seien uns im Luftkampf an der Westfront überlegen«, sagte Dr. Mabuse und verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln. »Das wird sich noch vor Frühlingsanfang ändern.«
»Deutschland hat die besseren Flugzeuge«, brummte Ewers.
»Deutschland hat die besseren Männer. Das ist das Geheimnis unseres Sieges. Welche mechanischen Erfindungen man auch gegen uns richtet, wir Deutschen werden allein dank unseres Kampfgeistes die Oberhand gewinnen.«
Dr. Mabuse zog ein Dokument aus der Schublade und schob es Poe über den Tisch. Der betrachtete es aufmerksam.
Es war die Kopie eines Buchumschlags. Der rote Kampfflieger von Rittmeister Manfred Freiherr von Richthofen. Die krude Illustration zeigte einen geflügelten roten Schatten über einem abstürzenden feindlichen Flugzeug.
»Richthofen hat seine Autobiografie verfasst?«
»Der Freiherr ist ein Krieger und kein Mann des Wortes. Seine Geschichte bedarf der Bearbeitung durch einen Meister der Erzählkunst. Durch Sie, Herr Poe.«
Allmählich begriff er, was man von ihm erwartete.
»Sie wollen, dass ich ihm anonym die Feder führe?«
»›Anonym‹? Genau. Sie werden Richthofens Anonymus.«
Ewers kauerte im Schatten. Poe fragte sich, was er in dieser Angelegenheit für eine Rolle spielen mochte. Wenn H. H. Ewers tatsächlich ein so großer Schriftsteller war, weshalb verlangte dann nicht er nach dieser Ehre?
»Da er der deutschen Sprache mächtig ist, wird Ihnen Herr Ewers als Lektor zur Seite stehen.«
Ewers’ Miene verdüsterte sich zusehends. Seine vorgespiegelte Berühmtheit schwand von Sekunde zu Sekunde weiter dahin. Er glich weniger einem Doppelgänger als einem Botenjungen.
»Sie werden unverzüglich zum Château du Malinbois aufbrechen, wo Richthofen mit seinem ersten Jagdgeschwader stationiert ist. Unser bescheidener Held hat sich zu einer ausführlichen Unterredung bereiterklärt. Verwenden Sie, wenn möglich, seine Worte, aber machen Sie mehr daraus als eine Sammlung dröger Kriegsgeschichten. Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich Ihnen sage, dass die meisten Helden langweilige Burschen sind. Fangen Sie die Wahrheit ein, Herr Poe, aber polieren Sie sie ein wenig auf. Hauchen Sie ihr den Geist Ihrer Erzählungen ein. Aufregende Schlachten, außergewöhnliche Figuren, die ihrem Schicksal nur mit knapper Not entrinnen. Ein Buch ist überflüssig, wenn es niemand lesen möchte.«
Die Anonymität bereitete Poe keinerlei Kopfzerbrechen. Angesichts seiner derzeitigen Zweifel war es vermutlich sogar besser, wenn seine Urheberschaft geheim blieb. Er wusste nicht recht, ob er für derlei niedrige Skribententätigkeiten überhaupt geeignet war. Andererseits war er seit jeher nicht nur Dichter, sondern auch Journalist. Vielleicht ließen sich die kläglichen Überreste seiner verhärmten Muse zu diesem Zweck wiederbeleben.
»Sie müssen rasch arbeiten. Die Ereignisse überstürzen sich, wie Sie schnell feststellen werden, wenn Sie erst einmal an der Front sind …«
Die Front! Das Château du Malinbois lag im Brennpunkt des Krieges. Er würde ruhmreiche Schlachten schlagen. Nicht als Soldat, sondern als Dichter würde er in den Krieg ziehen. Er bekam die einmalige Gelegenheit, das Unrecht der Schlacht von St. Petersburg wiedergutzumachen. Wenn die Welt ihn enttäuschte, so musste er die Welt nach seinem Gusto umgestalten.
»Sie dürfen über Richthofens Vergangenheit jedoch keinesfalls die Gegenwart vergessen. Wenn Deutschland die Luftherrschaft zurückerobert, werden Sie zugegen sein, um die Siege für die Nachwelt festzuhalten.«
Die Stimme des Direktors klang besänftigend und überzeugend. Poe schwoll die Brust. Eine Pforte öffnete sich in seinem Geist: Bald würden die Worte wieder fließen. Er nahm Haltung an und salutierte.
»Dr. Mabuse, ich werde die mir auferlegte Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen, zum Ruhme des Kaisers und um die Sache der Mittelmächte zu befördern.«
»Herr Poe, mehr können wir von Ihnen nicht verlangen.«

11

Quo vadis, Kate?

Obgleich sie den warmblütigen Männern keinen Anlass gab, sie zu beachten, vibrierten ihre nosferatu-Sinne. Der Luftangriff nahm ihre Aufmerksamkeit so sehr gefangen, dass Charles und sein Gefährte Edwin Winthrop sie schwerlich ertappen würden. Der hochgewachsene Vampir mit dem mächtigen Schnurrbart jedoch, der über die beiden wachte, bereitete ihr Unbehagen. Es war nicht leicht, ihrer Spur zu folgen, ohne Dravot ins Gehege zu geraten. Der Sergeant hielt sich seit jeher oftmals in Charles’ Nähe auf. Nun galt sein Interesse dem jüngeren Offizier. Allein dies gab Anlass zu allerlei Vermutungen.
Kate hatte Charles den ganzen Abend schon beschattet. Er zählte zu den aufmerksamsten Vertretern seines rauen Gewerbes, doch ihre Nachtsinne wurden von Jahr zu Jahr feiner und schärfer. Das rege Treiben von Paris erlaubte es, bequem in der Menge unterzutauchen. Ihre geringe Körpergröße tat ein Übriges. Wenn sie sich unter größere Menschen mischte, war sie wie eine Maus: Ein Schal verhüllte die untere Hälfte ihres Gesichts, ihre Hände steckten in ihren Mantelärmeln, und eine Strickmütze verbarg die Spitzen ihrer Ohren.
Alle anderen blickten auf, doch sie betrachtete das Pflaster, tastete sich eher hörend denn sehend voran, ganz auf Charles’ Stimme konzentriert. Im Lärm des Luftangriffs gingen die meisten Worte unter, doch Charles’ Timbre war leicht zu erkennen. Die Angehörigen ihres Geblüts besaßen ein ausgezeichnetes Gehör, was ihr als Reporterin nur zustatten kam.
Die Zeppeline befanden sich auf der anderen Seite des Flusses. Da sie über den Wolken schwebten, waren sie zwar nicht zu sehen, doch das fortwährende Dröhnen der Motoren war deutlich zu hören. Bombenexplosionen in der Ferne wurden von Schmährufen und Flüchen übertönt. Ziellose Schüsse verpufften am Himmel. Bei jeder Detonation bebte die Erde. Brände breiteten sich ungehindert aus.
Im Vorübergehen schlug ihr jemand die Brille von der Nase und entschuldigte sich flüchtig auf Französisch. Blitzschnell fischte sie die Augengläser aus der Luft und setzte sie sich blinzelnd wieder auf. Mit flatterndem, rot gesäumtem Umhang verschwand das Raubein im Gedränge. Einen Moment lang glaubte sie ihre Jagdbeute verloren, doch da hörte sie Charles’ Stimme, Gesprächsfetzen trieben durch den Lärm zu ihr heran.
Die Zeppeline näherten sich dem quartier, und unter den Passanten machte sich Panik breit. Pfeifend und donnernd fielen Bomben ohne Unterlass. Heute Nacht legten die Deutschen mit Brandbomben ganze Straßenzüge in Schutt und Asche. Sonst gossen Draculas Luftschiffe brennende Flüssigkeit aus, die an nacktem Fleisch haftete wie Pech. Das Zeug, das mit Wasser nicht zu löschen war, fraß sich durch bis auf die Knochen. Vampire mochten robuste Naturen sein, doch Feuer und Silber brachten auch ihnen den Tod. Da es in Europa von Untoten nur so wimmelte, hatte der Krieg zur Entwicklung grausiger Höllenmaschinen geführt, die dem seligen Van Helsing diebisches Vergnügen bereitet hätten. Fabrikanten, die Anteile an Silberminen besaßen, wurden über Nacht zu Rüstungsmillionären. Lady Jennifer Buckingham von der Brigade Freiwilliger Sanitäterinnen führte eine Silbersammlung durch und überredete die Reichen, Kaffeekannen und Kerzenleuchter gegen Bomben und Bajonette einzutauschen.
Während Charles im Théâtre Raoul Privache gewesen war, hatte sie draußen gewartet und das Kommen und Gehen der Besucher aufmerksam verfolgt. Edwin war ihr sofort aufgefallen; er gemahnte sie an Charles in Whitechapel während der Zeit des Schreckens, verwirrt und doch verschwiegen. Dravot folgte Edwin auf dem Fuße, ein sicheres Zeichen. Da sie um die Besonderheit des Raoul Privache wusste, war sie nicht allzu erstaunt, als der Engländer das Theater bereits vor Ende dessen, was man als den ersten Akt hätte bezeichnen können, wieder verließ. Selbst nach dreißig Jahren des Daseins als vermeintliches Geschöpf schauriger Finsternis flößten Kate die Ältesten Entsetzen ein. Isolde, eine der ältesten der Alten, war schwerlich eine gute Reklame für das ewige Leben.
Eine kleine Schar von Amerikanern drängte sich stolpernd und strauchelnd zwischen sie und ihre Beute. Einer von ihnen war verletzt, vermutlich hatte er nach übermäßigem Champagnergenuss oder infolge des Luftangriffs den Halt verloren. Aus seiner klaffenden Kopfwunde ergoss sich reichlich frisches Blut, überströmte sein knabenhaftes Antlitz und befleckte seine Uniform. Das Blut war ein unendlich faszinierendes Gemisch aus Scharlachrot und Gold. Sie wand sich vor Verlangen. Unter wohligen Schmerzen glitten die Fangzähne aus ihren Kieferscheiden. Sie hatte sich seit Nächten nicht genährt. Bald schon würde sie dieses unschöne Geschäft in Angriff nehmen müssen. Spitze Nägel staken in ihren Fäustlingen.
Die Soldaten machten große Augen. Sie musste aussehen wie eine Vogelscheuche. Ihr Schal löste sich und entblößte ihren Mund. Der Geruch von Blut lag in der Luft. Der verletzte Infanterist war zu Tode erschrocken. Milchbärte wie ihn gab es wie Sand am Meer: Bauernburschen, die niemals einen echten Vampir zu Gesicht bekommen hatten, den Kopf voller Gruselgeschichten. Mühsam schloss sie die Lippen über spitzen Augenzähnen. Sie versuchte ein Lächeln, und ein fürchterlicher Schmerz durchzuckte ihr Gesicht. Vielleicht verwandelte sie sich allmählich doch in ein abstoßendes Monstrum.
Nachdem sie ein letztes Mal die Köpfe zusammengesteckt hatten, gingen Charles und Edwin auseinander. Charles kehrte auf direktem Wege in seine Suite im Hotel Transsylvanie zurück. Dravot auf der anderen Straßenseite hingegen schlenderte Lieutenant Winthrop hinterdrein, als unternehme er einen nächtlichen Spaziergang. Kein Zweifel, er war das Werkzeug, das der herrschenden Clique die Kastanien aus dem Feuer holte. Kate war sich nicht sicher, ob der Sergeant sie bemerkt hatte.
Einer plötzlichen Regung folgend, ließ sie Charles in seine verdiente Herberge zurückkehren und heftete sich an Dravots Fersen. Während der Sergeant Edwin beschattete, beschattete sie ihn. Ihre Fähigkeiten wurden von neuem auf die Probe gestellt. Auf sprichwörtlichen Samtpfoten flitzte sie von einem finsteren Hauseingang zum nächsten. Sie lauschte den zahllosen Geräuschen der Nacht und konzentrierte sich auf die schweren, unverwechselbaren Schritte des Sergeants.
Als er aus dem Theater kam, wirkte Edwin fassungslos und aufgebracht, als habe ihn das Gesehene zutiefst verstört. Es hieß, Isolde habe einst ihren ganzen Leib regeneriert, wie ein Salamander, dem der Schwanz nachwächst. Über die Zähigkeit der Abkömmlinge von Draculas Geblüt erzählte man sich ähnliche Geschichten. Angesichts Isoldes bedauernswerter Lage schien es Kate, als sei die völlige Unzerstörbarkeit des Körpers keineswegs ein Garant für ewige Glückseligkeit. Charles hatte ihm Isolde aus guten Gründen vorgeführt. Doch was hatte dieses sich häutende Monstrum mit Mata Hari zu schaffen? Und, Corporal Lantiers Schilderung ihres Geständnisses in Ehren, mit dem Château du Malinbois?
Da sie gescheiterte Gestaltwandler gesehen hatte, hegte Kate in dieser Richtung keine Ambitionen. Zwar kamen Zähne und Klauen ihr mitunter recht zupass, doch verspürte sie nicht den geringsten Ehrgeiz, ihr Repertoire zu erweitern. Als sie ein warmblütiges Kind gewesen war, hatte ihre Mama sie oft ermahnt, keine Grimassen zu ziehen, denn »wenn der Wind dreht, wirst du auf alle Zeit damit geschlagen bleiben«; nun streunten gar zu viele Pseudo-Werwölfe umher, die »auf alle Zeit damit geschlagen« waren.
Edwin und Dravot steuerten auf einen von Brandbomben verwüsteten Platz zu. Eine Markthalle stand in Flammen, umringt von eimerschwingenden Löschmannschaften und wenig hilfsbereiten Gaffern. Das gusseiserne Skelett hob sich schwarz gegen die emporschlagenden Lohen ab, ächzte und quietschte in der Hitze. Der beißende Geruch von zerkochtem Gemüse stieg ihr in die Nase und verätzte ihr empfindliches Organ. Nicht weit von ihr wieherte in panischem Schmerz ein Pferd. Kate sah das Tier mit der Gabel eines Spritzenwagens ringen. Ein Mann mit einer abgetragenen Mütze auf dem Kopf versuchte die hartnäckig das Fell entlangzüngelnden Flammen mit bloßen Händen zu ersticken.
Dravot blieb stehen und hob den Blick. Kate tat es ihm nach. Die Zeppeline schwebten über ihnen und vergossen ungerührt den Feuertod. Kate hörte Motoren brummen. Französische Flieger waren gestartet, um die Hauptstadt zu verteidigen. Ein Luftschiff konnte höher steigen als alle Flugmaschinen der Alliierten. Geflügelte Schatten kreisten am Himmel. Die Alliierten hielten große Stücke auf ihre vielgerühmte »Luftherrschaft« über die Mittelmächte, doch Dracula und der Kaiser gaben keine Ruhe. Der wahnsinnige Robur kämpfte unbeirrt für den Einsatz seiner »Schlachtschiffe der Lüfte«.
Die Nägel ihrer rechten Hand wurden erneut zu Klauen und durchstachen ihren wollenen Fäustling. Manchmal spürte ihr Körper die Gefahr bereits, bevor sie etwas davon ahnte. Dravot war verschwunden. Es war an der Zeit, den Rückzug anzutreten. Sie hatte andere Methoden, ihre Geschichte zu verfolgen. Trotz seiner unerschütterlichen Loyalität seinen Dienstherren gegenüber war Dravot ebenso ein Mörder wie die Männer in den Zeppelinen.
Frank Harris hatte sie gelehrt, dass ein Journalist zuerst und vor allem der Wahrheit verpflichtet sei und nicht dem Patriotismus oder der Propaganda. Leider fand diese Haltung in Kriegszeiten nicht allzu viele Anhänger.
Eine Mauer stürzte ein, und glühende Ziegel purzelten über das Pflaster und drängten die Gaffer in die Gassen und Nebenstraßen zurück. Ein Schwall heißer Luft fegte über sie hinweg.
Kate erspähte Dravot hinter einem Flammenvorhang. Zum Glück waren sie durch eine Feuerschranke getrennt.
»Sie da, Miss Maus, kommen Sie her …«
Die Stimme gehörte einem Engländer, sein Tonfall war gebieterisch. Es war Lieutenant Winthrop. Sie tat wie geheißen.
Ein dicker Brei aus brennendem Gemüse kroch auf ihre Schuhe zu wie geschmolzene Lava. Mit festem Griff umklammerte ein Warmblüter ihren Arm und zerrte sie in eine schmale Seitenstraße. Hätte sie sich zur Wehr gesetzt, sie hätte Edwin ohne weiteres in Stücke reißen können. Doch dann würde sie Dravot die Stirn bieten müssen, der ihr zweifellos denselben Dienst erweisen würde.
»Mir immer hübsch dicht auf den Fersen, was? Wie es scheint, habe ich mir eine kleine Spionin geangelt. Eine Westentaschen-Mata-Hari.«
Während sie ihre Aufmerksamkeit auf Dravot gerichtet hatte, war Edwin ein Stück zurückgeblieben, um ihr hinterrücks aufzulauern. Sie war blindlings in die Falle getappt. Es war zwecklos, sich zur Wehr zu setzen. Schließlich standen sie auf derselben Seite.
»Ich habe nicht die leisssessste Ahnung, wovon Sssie sprechen, Sssir«, fauchte sie zaghaft durch scharf gezackte Zähne.
Dies war nicht der Zeitpunkt, ihren erregten Sinnen nachzugeben. Sie hörte den schwachen Puls an seinem Hals, in seinem Herzen. Er bedachte sie mit einem Lächeln, und die blaue Vene an seiner Schläfe tickte leise.
Plötzlich lachte Edwin. »Verzeihen Sie, aber Sie hören sich schrecklich albern an.«
Sie zwang ihre Fangzähne in die Kieferscheiden zurück. Die Nägel in ihren fest geballten Fäusten schrumpften.
»Mein Name ist Kate Reed, und ich habe mich freiwillig als Fahrerin zum Sanitätsdienst gemeldet. Sie können sich bei Lady Buckingham oder Mrs. Harker nach meinen Referenzen erkundigen.«
Er schien nicht sonderlich beeindruckt.
»Ich nehme an, Sie sind mir nur gefolgt, weil Sie die Eingebung hatten, dass mir gar Schreckliches zustoßen werde und ich Ihrer engelsgleichen Zuwendung bedarf?«
Um noch dümmer zu erscheinen, als sie es ohnehin schon tat, stellte sie sich fromm wie das sprichwörtliche Lamm. Er ließ von ihr ab und musterte sie von oben bis unten. Sie wusste, wie seltsam sie in ihrer Verkleidung auf ihn wirken musste.
»Ich wollte nur ein wenig bummeln«, behauptete sie und schlang mit erhabener Miene den Schal um ihre Schultern.
»Während eines Luftangriffs?«
Die Markthalle war ausgebrannt. Dravot war um das Feuer herumgeschlichen. Er stand am Ende der Straße, ein gutes Stück entfernt. Sie versuchte krampfhaft, ihre Krallen einzuziehen. Der Sergeant durfte keinesfalls annehmen, dass sie seinen Schützling bedrohte.
»Ihr Gesicht ist völlig rußverschmiert«, sagte Edwin wenig charmant.
Sie rieb sich mit den Fäustlingen die Wangen. Er tippte sich auf die Stirn, und sie konzentrierte ihre Bemühungen auf diese Stelle.
»Sie machen alles nur noch schlimmer. Mit dieser Brille sehen Sie aus wie ein Maulwurf.«
Als Kind hatte man sie »Maulwürfchen« gerufen. Penelope Churchward, das Prinzesschen ihres kleinen Kreises, hatte diesen Spitznamen sehr amüsant gefunden. Penny hatte lange nichts mehr von sich hören lassen.
»Sie sind überaus galant, Herr Stabsoffizier.«
»Lieutenant Winthrop, zu Ihren Diensten.«
Er hielt ihr die Hand hin wie eine Visitenkarte. Sie nahm seine Finger und drückte sie sanft, aber bestimmt. Er biss trotzig die Zähne zusammen und überspielte den Schmerz mit einem Lächeln.
»Sehr erfreut.« Sie machte einen Knicks und ließ ihn los.
Er krümmte die Finger, um sich zu vergewissern, dass sie noch zu gebrauchen waren.
»Sie sind die Katherine Reed, die so geistreiche Artikel für das Cambridge Magazine verfasst, nicht wahr? Die unerschrockene Journalistin, die verlangte, Field Marshal Haig wegen fahrlässigen Verhaltens vor Gericht zu stellen?«
Kate rutschte das Herz in die Hose. Wenn Edwin wusste, wer sie war, würde er vermutlich darauf dringen, ihr dieselbe Behandlung angedeihen zu lassen wie Mata Hari. Sie malte sich aus, wie Dravot ihr mit stiller Befriedigung den Kopf von den Schultern riss.
»Ich hatte die Ehre, für diese Zeitschrift schreiben zu dürfen«, erwiderte sie unverbindlich.
»Wie ich höre, verehren Sie die Frontsoldaten, denen es gelungen ist, das Cambridge an der Zensur vorbeizuschmuggeln, wie eine Heldin.«
Seine Worte klangen wie ein Kompliment.
»Und wurden Sie nach dem Osteraufstand nicht verhaftet? Ich scheine Sie mit den Gore-Booths und den Spring-Rices dieser Welt in einen Topf geworfen zu haben. Fabianerin und Fenierin.«
»Ich schreibe nur, was ich sehe.«
»Ich bin erstaunt, dass Sie durch diese Brille überhaupt etwas sehen.«
Diesmal klangen seine Worte wie ein Scherz.
»Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, dass es als unhöflich empfunden werden könnte, andere Menschen in einem fort auf ihre Schwächen hinzuweisen?«
Edwin grinste, doch so leicht war er nicht hinters Licht zu führen. Er hatte Mumm in den Knochen. Er war kein dahergelaufener, törichter Stabsoffizier. Aber das hatte sie bereits geahnt. Der Lieutenant vertändelte seine Zeit nicht mit dem Zählen von Rinderpökelfleischkonserven. Er bewegte sich im Dunstkreis des Diogenes-Clubs.
Sie beschloss, die Reporterin zu spielen.
»Wie beurteilen Sie den derzeitigen Verlauf des Krieges? Ist die alliierte Luftherrschaft bedroht?«
Die Art, wie er die Achseln zuckte, war nicht zitierfähig.
»Da Sie zu diesem Thema nichts zu sagen haben, wird es Sie gewiss nicht stören, wenn ich Ihnen eine gute Nacht wünsche und meiner Wege gehe? Ich habe dringende Geschäfte zu erledigen.«
Er trat zurück und breitete die Arme aus.
»Ganz und gar nicht. Gute Nacht, Katherine.«
»Das ist nur mein nom de plume. Man nennt mich Kate.«
»Na denn. Gute Nacht, Kate.«
Sie nickte artig. »Danke, gleichfalls, Edwin.«
Er ging ihr nicht auf den Leim. »Ich habe Ihnen meinen Namen nicht verraten.«
Sie berührte ihre Nasenspitze. »Ich habe meine Quellen, Lieutenant.«
Bevor er weiter in sie dringen konnte, machte sie sich aus dem Staub. Als sie davonging, hörte sie, wie Dravot neben Winthrop trat, um sich mit ihm zu beraten. Zu ihrer Erleichterung setzte sich der Sergeant nicht auf ihre Fährte. Mit jedem Schritt wurde ihr wohler ums Herz.
Die Zeppeline hatten sich offenbar nach Deutschland fortgestohlen. Die Leute an der Wasserspritze bekamen die Brände nach und nach unter Kontrolle. Es hatte wieder zu schneien angefangen, und matschiger Schlamm schwappte im Rinnstein. Binnen Stunden würde alles Löschwasser gefrieren und das quartier in eine Schlittschuhbahn verwandeln.
Sie dachte nach. Nie wieder würde sie unbemerkt auf hundert Yards an Edwin Winthrop herankommen. Und er würde Charles Bericht erstatten, worauf ihr Name erneut die Liste unerwünschter Kriegsberichterstatter zieren würde. Sie musste die Affäre Malinbois ganz anders angehen. Mehr denn je war sie überzeugt, dass an der Sache etwas faul war.

12

Blutgeschlechter

Die Welt hat ihr Urteil über mich gefällt, und ich will mich nicht rechtfertigen. Ich bin dem Rat meines Herzens gefolgt, selbst wenn die Richtung, die ich einschlug, oftmals die falsche war. Obgleich man mich wegen Spionage hinrichten wird, bin ich in Wahrheit eine recht armselige Spionin. Wer wüsste das besser als Sie, mein lieber Charles? Ich bin nur eine Kurtisane. Man nennt mich nicht zu Unrecht die Letzte der grandes horizontales. In diesem schrecklichen Jahrhundert muss ich wohl für eine Prostituierte angesehen werden, nichts weiter …«
Bei dem Manuskript handelte es sich um das quasi mit eigener Hand verfasste Geständnis der Geertruida Zelle, die man aus der Tagespresse nur unter ihrem Künstlernamen Mata Hari kannte. Winthrop hatte die Lektüre eigentlich verschieben wollen, doch nun saß er im Zug nach Amiens, in einem Coupé zusammengepfercht mit einem gewissen Captain Drummond, dessen Durchhalteparolen ihm die Galle schwellen ließen. Der feiste, rotgesichtige Vampir hätte eine erstklassige Bulldogge abgegeben, mit anderen Worten, er war ein hundsgemeiner Irrer. Als eifriger Verfechter der »Großoffensive« war Drummond der festen Überzeugung, der einzig sichere Weg zum Sieg führe über einen gemeinsamen Angriff aller alliierten Heere.
»Da werden die Wurstfresser die Beine in die Hand nehmen und das Weite suchen«, sagte Drummond. Sein breites Grinsen entblößte zwei Reihen ineinandergreifender Fangzähne. »Zu einer ordentlichen Klopperei fehlt dem verfluchten Hunnen doch der Schneid.«
Angesichts vier Jahre mörderischer, verlustreicher Kämpfe um ein paar Meilen morastigen Geländes hielt er Drummond für verrückt. Zwei kaum der Akademie entwachsene Lieutenants teilten die Ansichten des Captains. Winthrop bezweifelte, dass sie an der Front auch nur eine Woche überleben würden. Der Hunne mochte dem Tommy nicht den Schneid abkaufen können, doch verfügte er zweifellos über befestigte MG-Stellungen.
»Das ist verdammt noch mal unsere einzige Chance«, meinte Drummond, ebenso dickköpfig wie ein Politiker im Wahlkampf. »Durch eine Großoffensive zum Sieg.«
Die beiden Lieutenants pflichteten ihm begeistert bei und schworen Stein und Bein, in vorderster Front kämpfen zu wollen. Drummond hatte sie und alle ihnen unterstellten Männer soeben über die Klinge springen lassen.
»Wenn diese dämlichen Politiker uns aus den Schützengräben kommen ließen, würden wir den sächsischen Schweinen und preußischen Pantoffelhelden die Tracht Prügel verabreichen, die sie redlich verdienen. Ist der Kaiser erst einmal auf einen starken Pfahl gehievt, werden wir nach Russland vorstoßen und die verflixten bolsheviki das Fürchten lehren.«
Winthrop malte sich aus, wie die Wogen des Krieges um den Erdball brausten, ganze Kontinente heimsuchten wie ein strenger Winter.
»Lassen Sie es sich gesagt sein, der wahre Feind ist jene mordgierige Bande ausländischer Juden, die schon die dünnblütigen Romanows zugrunde gerichtet hat.«
Drummond beendete seine Suada und erzählte blutrünstige Geschichten von Deutschen, die er mit bloßen Zähnen und Klauen erledigt hatte. Winthrop schob dringende Geschäfte vor und las weiter.
 
»Ich bin ein direkter Abkömmling Draculas. Als der Graf sich am kaiserlichen Hofe niederließ, verwandelte er die eine oder andere von uns. Zu Lebzeiten war er ein orientalischer Potentat und unterhält seit jeher einen Harem. Obgleich er es hartnäckig leugnen würde, sind seine Gewohnheiten durch und durch osmanisch. Zum Glück war ich für ihn nur eine flüchtige Zerstreuung. Da wir uns nicht widerspruchslos seinem Willen beugen, sind ihm die Frauen dieses Jahrhunderts unheimlich. Er bevorzugt die fügsamen, abergläubischen Närrinnen seiner Epoche. Seine Liebsten, die er Ehefrauen nennt, sind ihm seit Jahrhunderten ergeben. Sie haben das Gemüt von Kindern und den Appetit raubgieriger Bestien, kreischen immerfort ›ich will‹, ›sofort‹ und ›her damit‹. Ich selbst bin von ganz anderem Schlag, und doch befürchte ich, dass eine Entartung unvermeidlich ist. Nun werde ich nie erfahren, ob auch mein Geblüt dieses Übel in sich trägt.
Nachdem er mich verwandelt hatte, war ich sein Eigentum. Seine Sklavin, mit der er nach Belieben umspringen konnte. Auch jetzt noch gehöre ich ganz Dracula. Die Dämmerung wird mich von ihm erlösen. Nach ein paar endlosen Monaten im Sommer 1910 lockerte der Graf die Schlinge. Zunächst trat er seine ausschließlichen Rechte ab. Fortan war ich verpflichtet, die Gelüste seiner karpatischen Kumpane zu befriedigen. Viele Älteste trinken nichts als Neugeborenenblut. Sie betrachten die Warmblüter mit Abscheu. Ich war die Gefährtin Armand Teslas. Vor seinem Tod war Dr. Tesla der Chef von Draculas Geheimpolizei. Er war für seine Grausamkeit berühmt und fand besonderes Vergnügen daran, das Fleisch von Neugeborenen mit Weihwasser zu beträufeln, was bei den Angehörigen mancher Blutgeschlechter schreckliche Entstellungen hervorruft, auch wenn es dafür keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Es ist zwar unmodern, dies zuzugeben, doch wir sind keine Geschöpfe der Natur. Vampire sind Ausgeburten der Hölle. Wenn er in Wut geriet, drohte Tesla, mein Gesicht zu verstümmeln. Selbst wenn ich dies überlebt hätte, wäre mein Kurtisanendasein beendet gewesen. Aber ich errang die Wertschätzung des Doktors, und so wurde ich verschont.
Tesla bildete mich zur Spionin aus und verschaffte mir Zugang zu den diplomatischen Kreisen von London, Paris und Berlin. Nur der Graf war mächtiger und einflussreicher als er, und deshalb brachte Dracula ihn um. Sie wussten das bereits, nicht wahr? Das sehe ich Ihnen deutlich an. Eine Frau braucht keine Gedanken lesen zu können, auch wenn manche Vampire dazu durchaus in der Lage sind.
Das ist seine größte Schwäche, Charles. Wer sich als zu tüchtig erweist, erregt sein Misstrauen. Und wird von ihm vernichtet. Er ist ein stolzer Sprössling Attilas, doch ein Volk lässt sich nicht mehr regieren wie ein Barbarenstamm. Deutschland und Österreich-Ungarn brauchen die tüchtigen Männer, die Dracula ermordet hat. Nur Narren und die tückischsten Verräter überleben. Kein Mann allein, nicht einmal Dracula, kann dieses Reich zusammenhalten. Er ist in Großbritannien gescheitert, und er wird in Deutschland scheitern. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass von Europa nach seinem Sturz noch genug übrig ist, um einen Neuanfang zu wagen.«
 
Captain Drummond kicherte noch immer über seine persönlichen Pläne für »Lenin, Trotzki und ihr ungewaschenes Pack«. Winthrop schauderte. Dracula war bei weitem nicht das letzte Monstrum in Europa.
»Nach Teslas Tod ernannte man mich zur persona non grata, und ich wurde nach Paris beordert. Man besorgte mir eine Wohnung, und ich arbeitete wieder als Tänzerin wie früher. Mabuse, Teslas Nachfolger, befahl mir, so viele Würdenträger zu umgarnen, wie ich nur konnte.«
 
Der Frau wurde zur Last gelegt, General Mireau, einem weiteren Verfechter der Drummond’schen Methode zum Massenselbstmord, die Pläne für eine Offensive der Franzosen entlockt zu haben. Aufgrund dieser Anklage sollte sie hingerichtet werden.
 
»In Wahrheit wurde ich aufgehalten, so dass ich die Nachricht erst wenige Minuten vor dem Angriff weitergeben konnte. Falls mein Bericht das deutsche Oberkommando überhaupt erreicht hat, haben diese Narren vor lauter Freude über die Verluste der Franzosen wahrscheinlich nichts davon bemerkt. Mireaus kolossaler Plan bestand darin, bei Morgengrauen zu attackieren. Das war alles. Er befahl ein zwanzigminütiges Bombardement, um den Stacheldraht zu beseitigen und die deutschen Kanoniere aus dem Schlaf zu reißen, bevor er sich mit einer Flasche Cognac im sicheren Stabsquartier zum Frühstück niedersetzte, während hunderttausend tapfere poilus aus den Schützengräben kletterten, um von geballtem Mörser- und MG-Feuer in Stücke gerissen zu werden.
Ich bin nur eine Hure, die in der Kriegskunst ebenso bewandert ist wie eine Gans, aber selbst mir blieb nicht verborgen, dass dieser Plan leicht zu durchschauen war. Bei Morgengrauen attackieren, ich bitte Sie! Warum nicht ein markierter Scheinangriff, um den Feind aus der Reserve zu locken und seine Batterien auszukundschaften, dann gezieltes Bombardement, um die Abwehrstellungen auszuradieren, und dann der große Vernichtungsschlag? Ist es nicht sonderbar, dass selbst ich einen vernünftigeren Plan aushecken kann als der sagenhafte General Mireau? Wen wundert’s, dass der Esel stur auf meiner Hinrichtung beharrt (bei Morgengrauen, versteht sich), aus Angst, Hindenburg könne meine Dienste als Strategin in Anspruch nehmen. Andererseits habe ich nicht den geringsten Zweifel, dass Deutschland über ein Heer von Abc-Schützen verfügt, die Schlachtpläne entwerfen könnten, durch die der gute General mit Leichtigkeit zu täuschen und zu übertölpeln wäre.«
 
Demselben Gedanken hatte Kate Reed bereits in ihren Artikeln über die affaire Mireau Ausdruck verliehen.
»Immer feste drauf«, rief Drummond, »bei Morgengrauen! Lasst uns die Kerls mit kaltem Silber munter machen!«
Dieser Krieg wurde von wild gewordenen Idioten geführt.
 
»Charles, Sie haben mich nach dem Château du Malinbois gefragt. Nun gut. Es ist das derzeitige Hauptquartier des ersten Jagdgeschwaders, das vom Baron von Richthofen befehligt wird. Die Zeitungen sind voll von seinen Heldentaten. Wegen ihrer ungeheuren Wendigkeit wird die Einheit auch ›Fliegender Zirkus‹ genannt. Die Burschen haben den Kniff raus, alles im Nu auf einen Zug zu laden und zu einer neuen Stellung zu verbringen. Bei Kriegsbeginn widersetzte sich der Baron dem Befehl, sein Flugzeug en Camouflage zu streichen, und bestand darauf, dass die Maschine grellrot anzumalen sei. Wie Ihnen jedermann, der schon einmal versucht hat, einen roten Ball auf einer grünen Wiese ausfindig zu machen, bestätigen wird, passt sich die Farbe Rot erstaunlich gut in die Landschaft ein. Und nachts ist rot - sogar für Vampiraugen - schwarz. Sie werden überrascht sein, doch Deutschlands himmlische Helden sind bei ihren im Schlamm kriechenden Kameraden nicht allzu beliebt. Die Presse wird nicht müde, die fliegerischen Kraftakte von Richthofens Zirkus in die Welt hinauszuplärren, während das Geschwader bei den Bodentruppen und selbst bei den Piloten anderer Staffeln nur als ›das fliegende Monstrositätenkabinett‹ bekannt ist. Eine durchaus passende Bezeichnung, wie ich finde. Malinbois ist überdies ein Forschungszentrum, unter dem Direktorat von Professor ten Brincken. Aus meinen Nächten als Braut Draculas entsinne ich mich dieses Mannes nur als eines demütigen Bittstellers bei Hofe. Der Palast wimmelte von Spinnern jeglicher Couleur. Der Graf ist ein fanatischer Bewunderer des Modernen und von Zügen und Flugmaschinen geblendet wie ein kleiner Junge, und so lud er den Professor, eines von unzähligen Genies, zur Privataudienz. Dort sah ich ihn, einen heldenhaften, warmblütigen Rohling, mit finsterem Blick vor Draculas Amtsstube auf und ab stolzieren. Soviel ich wusste, war er kein Erfinder, sondern Naturforscher. Er war mir auf den ersten Blick zuwider. Gewitterwolken verdüsterten seine Stirn, und er hatte etwas Schauriges an sich. Damals war es unter Lebenden der letzte Modeschrei, sich extrem verdünnte Dosen Silbersalz zu injizieren. Nachdem sie auf diese Art ihr Blut besudelt hatten, wähnten sie sich vor den durstigen Untoten sicher. Selbst wenn ten Brincken keine derartigen Vorkehrungen getroffen hätte, bezweifle ich, dass ich von seinem öligen Blut auch nur einen Tropfen hätte kosten mögen.
Als ich nach Malinbois beordert wurde, nahm ich an, ich solle lediglich als Zierde dienen. Flieger sind für ihre ausschweifenden Gesellschaften berühmt. Deutschland labte sich an seinen Helden, und welche Labsal könnte größer sein als Mata Hari?
Ich traf am frühen Abend ein und wurde von ten Brincken in Empfang genommen, der mich in sein Operationszimmer führte und mir befahl, mich zu entkleiden. Er unterzog mich einer gründlichen Untersuchung, wie einen Gaul, der zur Versteigerung steht. Ja, er schaute mir sogar ins Maul. Mit allerlei Greifzirkeln und Sonden vermerkte er noch die geringsten Messungen. Eigentlich habe ich keine Skrupel, nackt in der Öffentlichkeit aufzutreten, doch die neugierigen Finger des Professors verursachten mir Unbehagen. Er entnahm mir eine Blutprobe und stellte die Phiole in einen Kühlschrank voll mit anderen etikettierten Fläschchen. Er bat mich, meine Gestalt in einen Wolf oder eine Fledermaus zu verwandeln. Ich weigerte mich. Ich führe keine Zauberkunststücke vor. Er insistierte. Bei uns im Untersuchungszimmer befand sich ein Offizier in Uniform, ein gewisser General Karnstein. Er bedeutete mir freundlich, aber bestimmt, ten Brinckens Bitte nachzukommen.«
 
Das aus der Steiermark stammende Geschlecht der Karnsteins zählte zu den vornehmsten Europas. Der General, einer von Draculas treu ergebenen Verbündeten in Österreich-Ungarn, war das hoch geachtete Haupt seiner Fangfamilie. Seine Beteiligung wies darauf hin, dass die Mittelmächte Malinbois für eine große Sache hielten.
 
»Ich verwandelte mich, ganz und gar. Ich kann Ihnen das nicht erklären. Ich denke einfach an eine meiner zahlreichen Gestalten, und mein Körper wird dehnbar und geschmeidig. Ich zerfließe und nehme neue Form an. Wie die meisten von Draculas Nachkommen werde ich zu einem Riesenwolf, dem prähistorischen Schrecken Europas. Auf Java erlernte ich den Schlangentanz. Ich war die Geliebte eines malaiischen Ältesten, eines pontianak. Sein Blut fließt in meinen Adern. Das unterscheidet mich vom gemeinen nosferatu. Für ten Brincken und den General nahm ich erst Schlangengestalt an und warf die neue Haut dann ab. Ten Brincken liebkoste und streichelte den Balg, als bereite es ihm sinnliches Vergnügen, hielt ihn ans Licht und bewunderte die Schuppen, die in allen Regenbogenfarben schillerten. Man sagt, die Männer seien Wachs in meinen diamantgeschmückten Händen, Charles.« Winthrop versuchte, sich Mata Hari als Schlange vorzustellen. Er hatte ihren berühmten javanischen Schlangentanz zwar nie gesehen, aber liebestrunkene Verehrer hatten ihm davon berichtet.
 
»Karnstein sagte, ich erinnere ihn an eine verlorene Fangtochter, die sich in eine große, schwarze Katze verwandeln konnte. Der Bursche hat eine Vorliebe für neugeborene Mädchen. Ich wusste, dass ich bloß meine ganze Aufmerksamkeit auf den General zu richten brauchte, um ihn zu meinem Sklaven zu machen. Die meisten Ältesten sind leicht gewonnen. Sie mögen Kraft und Macht besitzen, doch Spitzfindigkeit und Scharfsinn zählen nicht zu ihren Stärken. Ten Brincken füllte seine Tabellen aus, und ich wurde entlassen.
Ein Flügel des Schlosses war zur Gänze mir und meinesgleichen vorbehalten - Kurtisanen. In den Zimmern gab es Salben und Schminkfarben en masse. Überall standen Koffer und Truhen voller Trachten und Kostüme. Ein Gutteil der prachtvollen Gewänder war brüchig und vermodert. Ich wusste sofort, dass diese Orgie von Männern geplant worden war, die wenig Ahnung von, geschweige denn Interesse an Schwelgerei und Ausschweifung hatten.
Ich war nicht der einzige Glanzpunkt des Banketts. Mehrere Frauen und ein Jüngling, allesamt Vampire, waren zugegen. Im Ankleidezimmer traf ich auf Lady Marikowa, eine der monströsen Ehefrauen, die Dracula in seinem transsylvanischen Exil zu Diensten standen. Sie wurde von Lola-Lola - einer durchtriebenen neugeborenen Vettel - bewacht, damit sie nicht im blinden Rausch der Sinne einen Verehrer niedermachte. Alte Vampirschlampen wie sie sind leidenschaftlich, aber grausam. Des Weiteren standen auf der Gästeliste: Sadie Thompson, eine amerikanische Abenteurerin mit toten schwarzen Augen; der Baron Meinster, ein goldhaariger, mädchenhafter Lebemann; Faustina, die größte Zierde eines venezianischen Bordells; sowie eine elegante Älteste namens Lemora. Wir waren recht gewandte und erfahrene Huren, aber wir hatten noch etwas gemein. Wir alle waren Abkömmlinge Draculas.«
 
Draußen brach die Dämmerung herein. Bäume säumten die Eisenbahngeleise, viele von ihnen verkrüppelt und zerschossen. Die Felder waren grau, eine dünne Schneeschicht überlagerte den Schlamm. Der Zug näherte sich Amiens. Winthrop hörte das ununterbrochene Stottern der Geschütze. Im Zwielicht zuckte Drummond kaum merklich zusammen und zog das Rouleau herunter.
Jedes Schulkind wusste, dass die Verbreitung des Vampirismus in der zivilisierten Welt fast ausschließlich auf Dracula zurückging. Bis in die achtziger Jahre hinein hatten nur ein paar versprengte, abergläubische Seelen tatsächlich an die Existenz der Untoten geglaubt. Dracula hatte die Karten neu gemischt. Obgleich er der Urvater des Vampirismus war, hatte er weitaus weniger direkte Nachkommen, als die meisten Leute annahmen. Während seiner Zeit in England hatte er lediglich drei Frauen verwandelt: Lucy Westenra, Wilhelmina Harker und Königin Viktoria. Die inzwischen rehabilitierte, reuige Mrs. Harker hatte er zu seinem verlängerten Zahn gemacht, um seinen Stammbaum en gros zu erweitern.
Die Vampire
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