I
IM WESTEN NICHTS NEUES
1
Geschwader Condor
Vier Meilen hinter den Linien hörte man in
einem fort das
Donnern schwerer Geschütze. Harschklumpen
schimmerten matt auf dem finsteren, zernarbten Feldweg. Der Schnee
war bereits mehrere Tage alt. Lieutenant Edwin Winthrop saß in
seinen Trenchcoat und eine nutzlose Tartandecke gehüllt im Fond;
insektengroße Hagelsplitter spickten sein Gesicht. Er hatte Angst,
seine gefrorenen Schnurrbartspitzen könnten abbrechen. Der offene
Daimler taugte nicht für eine eisige französische Winternacht wie
diese. Sergeant Dravot war, wie alle Toten, unempfindlich gegen die
Kälte. Den Nachtaugen des Fahrers entging nichts.
In Maranique kam es zu einer Verzögerung. Während
Winthrop allmählich zu einem Eiszapfen gefror, überflog ein
Corporal mit skeptischem Blick seine Papiere.
»Wir hatten eigentlich Captain Spenser erwartet,
Sir«, erläuterte die Wache. Der Mann war doppelt so alt wie
Winthrop.
»Captain Spenser ist von seinem Posten entbunden
worden«, sagte Winthrop. Jede weitere Erklärung war überflüssig.
Der Corporal hatte den Fehler begangen, sich an Spenser zu
gewöhnen.
In diesem Gewerbe ein unverzeihlicher Fauxpas. »Wir
befinden uns im Krieg. Falls Ihnen das entgangen sein
sollte.«
Blutrotes Mündungsfeuer färbte die tief hängenden
Wolken über dem nahen Horizont. Wenn eine Granate in einem
bestimmten Winkel durch die Luft schnitt, so übertönte sie mit
ihrem Pfeifen selbst das babylonischste Bombardement. Es hieß, wer
dieses Schrillen im Schützengraben höre, dem brachte das Geschoss
den sicheren Tod.
Der Corporal salutierte und winkte den Stabswagen
durch. Als Flugplatz diente ein umgebauter Bauernhof. Tiefe
Fahrspuren wiesen den Weg zu einem Haus.
Das Geschwader Condor war bis zum heutigen
Nachmittag Spensers Truppe gewesen. Und obschon er über eine Stunde
gebüffelt hatte, war es Winthrop nicht gelungen, ihr Geheimnis zu
ergründen. Zwar hatte man ihn über die bevorstehende Aufgabe in
groben Zügen unterrichtet, die Einzelheiten lagen jedoch nach wie
vor im Dunkeln.
»Viel Glück, junger Mann«, hatte Beauregard gesagt.
»Sie können sich einen Stern damit verdienen.«
Er begriff nicht, wie ein Zivilist, obgleich er auf
mysteriöse Weise eng mit dem Wing verbunden schien, ihm eine
Beförderung in Aussicht stellen konnte, doch Charles Beauregard
flößte ihm Vertrauen ein. Winthrop fragte sich, wie viel Vertrauen
er dem bedauernswerten Captain Eliot Spenser hatte einflößen
können.
Da Winthrop bereits seit einiger Zeit in Frankreich
weilte, wusste er, dass er, um nicht zu zittern, nur die Muskeln
anzuspannen brauchte. Doch die Erinnerung an Spenser, der ihn mit
blutüberströmtem Gesicht anlächelte, raubte ihm jegliche
Beherrschung. Seine schmerzenden Wangenmuskeln erschlafften, und er
klapperte mit den Zähnen wie eine Marionette.
Obgleich das Bauernhaus verdunkelt war, ließen
schwache Lichtstreifen die Umrisse der Fenster sichtbar werden.
Dravot
öffnete den Wagenschlag. Winthrop stieg aus; überfrorener Rasen
knirschte unter seinen Sohlen, und feuchter Atemdunst benetzte
seinen Schal. Dravot nahm Haltung an. Sein Blick war starr und
unerschrocken, und unter seinem Schnurrbart ragten spitze Fangzähne
hervor. Kein Wölkchen strömte ihm aus Mund und Nase. Der Sergeant
brauchte nicht zu atmen. Er wäre selbst gegen eine Horde wilder
Barbaren standhaft geblieben. Falls Dravot persönliche Ansichten
und Gefühle hegte, so waren sie unergründlich.
Eine Tür ging auf. Rauchschwangeres Licht und
gedämpftes Stimmengewirr drangen ins Freie.
»Hallo, Spenser«, rief jemand, »kommen Sie rein und
trinken Sie einen Schluck mit uns.«
Als Winthrop das Quartier betrat, erstarben die
Gespräche. Ein Grammophon kam jaulend zum Stillstand und erlöste
die »Arme Butterfly« von ihrer Qual. Der niedrige Raum diente als
provisorische Messe. Die Piloten spielten Karten, schrieben Briefe
oder lasen.
Ihm wurde mulmig zumute. Rote Augen nahmen ihn ins
Visier. Die Soldaten waren ausnahmslos Vampire.
»Ich bin Lieutenant Winthrop. Ich habe Captain
Spenser abgelöst.«
»Ach nein«, meinte ein finster dreinblickender
Bursche in einer hinteren Ecke, »was Sie nicht sagen!«
Der Mann bekleidete den höchsten Rang im Raum.
Major Tom Cundall. Zunächst konnte Winthrop nicht erkennen, ob der
Geschwaderkommandeur warmen oder kalten Blutes war. Nach Einbruch
der Dunkelheit bekamen die meisten Kriegsteilnehmer diesen
raubgierigen, gehetzten Blick, den man gemeinhin mit den Untoten in
Verbindung brachte.
»Ein warmblütiger Kamerad«, bemerkte Cundall und
verzog höhnisch den Mund. Ein Vampir. Sein Lächeln hatte ihn
verraten.
»Wie ich sehe, bleibt der Diogenes-Club seinen Prinzipien
treu.«
Spenser war ein lebendiger Mensch. Wenigstens war
er es noch gewesen, als Winthrop ihn zuletzt gesehen hatte.
Gleiches galt für Beauregard. Doch das beruhte nicht auf einem
strikten Reglement, sondern verdankte sich einzig und allein dem
Zufall. Warmblüter wurden nicht bevorzugt. Im Gegenteil.
»Hat ein Schlitzohr heimlich ein Bombenattentat auf
den Diogenes-Club verübt?«, fragte ein Pilot mit verstohlenem
Grinsen.
»Sachte, Courtney«, sagte jemand.
Hunnen, die rückwärtige Stellungen attackierten,
galten bei den Frontsoldaten als Helden. Die roten Sterne eines
Stabsoffiziers kamen einem Kainsmal gleich. Die scharlachroten
Flecken auf seinen Rangabzeichen riefen Spott und Hohn hervor.
Winthrop hatte weder um einen sicheren Posten noch um seine
Aufnahme in den Diogenes-Club gebeten. Auch dies verdankte sich dem
puren Zufall.
»Captain Spenser hat einen Nervenzusammenbruch
erlitten«, sagte Winthrop mit geheuchelter Teilnahmslosigkeit. »Er
hat sich schwere Wunden zugefügt.«
»Grundgütiger!«, stieß ein Mann mit rotem Haar
hervor. »Ein Revolver ist eben kein Spielzeug«, spöttelte Courtney.
Er hatte brennende, verwegene Augen, ein australisches Näseln in
der Stimme und einen wie mit spitzer Feder hingetupften
Schnurrbart. »Er sollte sich was schämen!«
»Captain Spenser hat sich vier Dreizollnägel in den
Schädel getrieben«, erklärte Winthrop. »Er ist auf unbestimmte Zeit
beurlaubt.«
»Ich wusste gleich, dass mit dem Burschen was nicht
stimmt«, sagte ein Amerikaner mit hohler Stimme und blickte von
seiner Pariser Zeitung auf.
»Wer dabei erwischt wird, wie er sich den
Heimatschuss verpassen
will, endet für gewöhnlich vor einem Exekutionskommando«, meinte
Courtney.
»Captain Spenser war großen Belastungen
ausgesetzt.«
»Damit steht er nicht allein«, bemerkte der
Amerikaner. Ein schwarzer Hut beschattete sein hageres Gesicht,
doch seine Augen glommen im Dunkeln.
»Lass Winthrop in Frieden, Allard«, insistierte
Cundall. »Er ist nur ein unschuldiger Bote.«
Allard steckte seine vorspringende Nase wieder in
die Zeitung. Er verfolgte die Heldentaten von Judex, dem Rächer der
Enterbten. Presseberichten zufolge war auch Judex ein Vampir.
Der rothaarige Blutsauger wollte noch mehr über
Spenser wissen, doch Winthrop hatte nichts weiter zu berichten. Er
hatte den Offizier nur flüchtig zu Gesicht bekommen, als dieser in
den Krankenwagen verladen worden war. Er war ins Kriegslazarett von
Craiglockart bei Edinburgh gebracht worden, das gemeinhin als
»Dottyville« bekannt war.
Es entbrannte eine hitzige Debatte über die
einzigartige Methode, mittels derer Spenser sich zum Invaliden
befördert hatte. Allard meinte, in manchen Regionen Russlands gebe
es Vampirmörder, die den Blutsaugern seit alters lieber Eisendorne
in den Schädel trieben, statt ihnen Holzpflöcke ins Herz zu
schlagen.
»Woher kennst du eigentlich all diese
Schauergeschichten?«, fragte Courtney.
»Das Böse ist nun mal mein Steckenpferd«,
antwortete Allard, und seine Augen brannten wie glühende Kohlen.
Plötzlich fing der Amerikaner grundlos an zu kichern. Sein
düsteres, kehliges Glucksen wuchs an zu freudlosem Gelächter. Nicht
nur Winthrop sträubten sich die Haare.
»Reißen Sie sich zusammen, Allard«, sagte Cundall.
»Da gerinnt einem ja das Blut in den Adern.«
Die Piloten waren, selbst für Vampire,
furchteinflößend. Wie
die französische Groupe des Cigognes bestand das Geschwader
Condor fast ausschließlich aus Überlebenden, oftmals den einzigen
Überlebenden ihrer früheren Staffel. Um hier aufgenommen zu werden,
musste man unzählige Tode gestorben sein. Unter den Männern waren
einige der berühmtesten, erfolgreichsten Asse der Alliierten.
Winthrop fragte sich, ob sie auch einen Einsatz fliegen würden, bei
dem sich nur wenige Einzelsiege erringen ließen. Im Wing wurden
Cundall’s Condors als ruhmsüchtige, ordensgeschmückte Mörder
verachtet. Beauregard hatte ihn ermahnt, sich von den Piloten nicht
auf der Nase herumtanzen zu lassen.
Ein junger Vampir schleppte sich mit wuchtigen
Tritten eine Wendeltreppe herab. Trotz seiner verrenkten Gliedmaßen
wirkten seine Bewegungen wendig und geschickt. Er wischte sich den
roten Mund mit einem weißen Schal. Seine rosige Gesichtsfarbe
verriet, dass er sich soeben genährt hatte. Hinter der Front gab es
ungewöhnlich dienstbare, wenn auch kostspielige französische
Mädchen. Andernfalls blieb immer noch das liebe Vieh.
»Spenser hat versucht, seinen Kopfschmerz à la
Moldau zu kurieren«, erklärte Courtney dem Krüppel. »Nägel ins
Gehirn.«
Ball schwang sich an in die Balken eingelassenen
Griffen wie ein Affe durch den Raum. Schließlich machte er es sich
in einem Sessel neben dem Grammophon bequem, seine Augen schwammen
in Blut. Wenn sie satt waren, dösten manche Vampire träge vor sich
hin wie Schlangen. In früheren Zeiten, als man nosferatu
jagte wie pestverseuchte Ratten, waren sie am schwächsten, wenn sie
Nahrung aufgenommen hatten, und versteckten sich in Särgen oder
Gräbern. Ball sank mit halb offenem Mund in sich zusammen, sein
Kinn war blutbesudelt.
»Ich brauche einen Piloten«, sagte Winthrop leiser
als geplant.
»Da sind Sie bei uns goldrichtig«, meinte
Cundall.
Niemand meldete sich freiwillig.
»Nehmen Sie Bigglesworth«, sagte Courtney. »Die
Daily Mail nennt ihn einen ›Ritter der Lüfte‹.«
Ein junger Lieutenant errötete leicht; kirschrote
Flecken erschienen auf seinen kreideweißen Wangen. Courtney war
offensichtlich Cundalls Zweitbesetzung für die Rolle des
Stubenzynikers.
»Lass gut sein, alter Knabe.«
Unter missbilligendem Knurren bekundeten seine
Genossen ihre Unterstützung für den Lieutenant. Die Bande von
Schuljungen schien Courtney kein allzu großes Kopfzerbrechen zu
bereiten.
Major Cundall dachte nach und sagte: »Reichlich
trübes Wetter zum Fliegen, meinen Sie nicht auch?«
Winthrop rief sich Beauregards Unterweisung ins
Gedächtnis und erklärte: »Der Diogenes-Club möchte einen Blick auf
etwas Bestimmtes werfen. Ein einzelner Aufklärer könnte über den
Wolken hinter die feindlichen Linien gelangen und dann hinabstoßen
und Fotos schießen.«
»Das reinste Kinderspiel«, meinte Cundall. »Mit der
Nummer werden wir am Ende noch den Krieg gewinnen.«
Winthrop ärgerte sich über den
Geschwaderkommandeur. Nichts gegen ein wenig Schabernack, aber die
Form musste gewahrt bleiben. Der Diogenes-Club pflegte seine Zeit
nicht nutzlos zu vertändeln.
Er requirierte einen Spieltisch und breitete die
Karte darauf aus.
»Das ist unser Ziel«, sagte er und deutete mit dem
Finger darauf. »Uns sind seltsame Gerüchte zu Ohren
gekommen.«
Hellhörig geworden, traten die Piloten näher. Ball
krabbelte seitwärts aus seinem Sessel und humpelte herbei. Um das
Gleichgewicht nicht zu verlieren, klammerte er sich mit kalter Hand
an Winthrops Schulter. Am Boden war Albert Ball ein untüchtiger
Krüppel, in der Luft jedoch war er flink und behände wie kein
Zweiter, das As der Alliierten-Asse.
»Das Château du Malinbois«, sagte der errötende
Lieutenant. »Eine Hunnenstellung.«
»Das erste Jagdgeschwader«, setzte einer seiner
Kameraden hinzu, der fast ebenso rotes Haar hatte wie
Albright.
»Ganz recht, Ginger. Das gute alte JG1. Wir sind
die besten Freunde.«
»Richthofens Zirkus«, sagte Allard mit düsterer
Stimme. Als er den berühmten Namen hörte, spuckte Ball verächtlich
aus. Die blutige Schliere verfehlte die Karte und versickerte im
Fries.
»Kümmern Sie sich nicht um Ball«, bemerkte Ginger.
»Seit der lumpige Lothar, der teuflische Bruder des Roten Barons,
ihn vom Himmel geholt hat, liegt er mit ihm in Fehde. Familienehre
und so weiter.«
»Unseren Erkenntnissen zufolge ist das Château mehr
als nur ein Quartier für deutsche Flieger«, sagte Winthrop. »Nachts
gehen dort sonderbare Dinge vor. Es herrscht ein reges Kommen und
Gehen von, ähem, ungewöhnlichen Gestalten.«
»Und der Diogenes-Club will Fotos? Wir haben letzte
Woche einen ganzen Schlag davon geschossen.«
»Bei Tage, Sir.«
Winthrop nahm die Hände von der Karte, die sich
daraufhin zu einem Rohr zusammenrollte, und legte Fotografien des
Château du Malinbois auf den Tisch. Flugabwehrfeuer, sogenanntes
Archie, hing in schwarzen Wolken zwischen Schloss und Kamera.
Winthrop tippte auf eines der Bilder. »Diese Türme
sind mit Tarnnetzen umhüllt. Als wolle uns der Boche verheimlichen,
was er im Schilde führt. Camouflage, wie unsere
französischen Verbündeten wohl sagen würden.«
»Das macht neugierig«, meinte Ginger.
Cundall runzelte die Stirn. »Reichlich dunkel zum
Fotografieren, wenn Sie mich fragen. Ich glaube kaum, dass die
Bilder etwas werden würden.«
»Sie wären erstaunt, wenn Sie wüssten, was wir aus
einem dunklen Bild ersehen können, Sir.«
»Mag sein.«
Cundall nahm die Fotografien in Augenschein. Er
legte die Hand auf den Tisch und trommelte mit seinen dicken,
spitzen Fingernägeln.
»Der Pilot hat eine Signalpistole. Er kann eine
Leuchtrakete abfeuern, um etwas Licht auf die Sache zu
werfen.«
»›Eine Leuchtrakete abfeuern‹. Gar nicht dumm, bei
Licht besehen«, sagte Cundall. »Ein schlechter Scherz, verzeihen
Sie.«
»Das JG1 wird über unseren Besuch entzückt sein«,
meinte Courtney. »Womöglich rollt es sogar den roten Teppich für
uns aus.«
Das Archie auf den Bildern schien den Streben der
Maschine des Fotografen bedrohlich nah.
»Die Zirkusleute werden sich mit Rheinwein und
Jungfernblut zuprosten«, sagte Cundall, »und mit der Anzahl von
Engländern prahlen, die sie vom Himmel geholt haben. Nur wir sind
dumm genug, bei diesem Sauwetter einen Mann in die Luft zu
schicken.«
»Sehr unsportlich, diese Hunnen«, bemerkte Ginger.
»Sitzen hinter dem warmen Ofen.«
»Die Leuchtrakete wird sie ins Freie locken«, sagte
Albright. »Mit Archie ist zu rechnen. Vielleicht steigt sogar ein
Albatros auf.«
»Flügellahme Vögel, diese Albatrosse«, meinte
Courtney.
Cundall schien von den Bildern wie hypnotisiert.
Obgleich die Zinnen unter dem Beschuss etwas gelitten hatten, war
das Schloss bei weitem imposanter (und vermutlich auch bequemer)
als das
Bauernhaus. Wie alle Kampftruppen war auch das Royal Flying Corps
davon überzeugt, dass der Feind es besser hatte.
»Na gut, Winthrop«, sagte Cundall. »Suchen Sie sich
einen aus.«
Damit hatte er nicht gerechnet. Er blickte in die
Runde. Ein oder zwei Piloten wandten sich ab. Cundalls diebisches
Grinsen entblößte die scharfen Spitzen seiner Zähne.
Winthrop kam sich vor wie eine Maus in einer
Katzenzucht. Er dachte an die blutigen Nagelköpfe in Spensers
Schädel.
»Am geeignetsten wäre wohl der Mann, der diese
Bilder geschossen hat.«
Cundall inspizierte die Seriennummer, die an den
Rand der Fotografie gekritzelt war.
»Rhys Davids. Keine gute Idee. Der ist in den Dutt
gegangen. Vorgestern Nacht.«
»Das ist bislang nicht bestätigt«, sagte
Bigglesworth. »Er könnte auch dem Feind in die Hände gefallen
sein.«
»Für uns ist er auf jeden Fall verloren.«
Winthrop blickte erneut in die Runde. Niemand trat
vor. Obwohl er wusste, dass der Krieg in Frankreich mit anderen
Mitteln geführt wurde als in der regierungstreuen Presse, hatte er
mit einem edlen Wettstreit von Freiwilligen gerechnet.
»Hier ist eine Aufstellung aller Namen, Sie haben
die Wahl.«
Cundall reichte ihm ein Schreibbrett. Winthrop warf
einen Blick auf die Dienstliste des Geschwaders Condor. Mehrere
Namen waren durchgestrichen, unter ihnen auch »Rhys Davids,
A.«
»Albright, J.«, wählte er den ersten Namen.
»Na schön«, sagte der rothaarige Captain. Obgleich
er die Uniform des RFC trug, war auch er Amerikaner. Cundalls
kundiges Geschwader war ein Sammelbecken für Ausländer jeglicher
Couleur.
»Wie geht’s Ihrer Kiste, Red?«, fragte
Cundall.
Albright zuckte die Achseln. »Besser denn je. Die
Kamera ist noch installiert.«
»Wie praktisch.«
Albright wirkte ruhig und gesetzt. Für einen Vampir
war er von ungewöhnlich stämmiger Statur, mit kantigem Schädel und
kräftigem Kiefer, wie aus massivem Stein gehauen. Er würde
standhaft bleiben, komme, was da wolle.
»Ball, dann bist du unser vierter Mann beim
Bridge«, rief Courtney. »Red hat versprochen, mit Brown gegen mich
und Williamson anzutreten.«
Albright zuckte resigniert die Achseln, während
Ball sich zu den Kartenspielern gesellte.
»Ich bin gegen Mitternacht zurück«, sagte
Albright.
Alle stöhnten über diesen alten Witz.
Winthrop fühlte sich verpflichtet, eine Laterne
unter die Flügel der Royal Aircraft Factory SE5a zu halten und die
Kameras zu inspizieren, die anstelle von Cooper-Bombenträgern dort
installiert waren. Sie wurden, wie Bomben, mit Hilfe einer
Abzugsleine im Cockpit ausgelöst. Die Platten wurden eingelegt.
Dies gehörte zu Dravots Aufgaben.
Mit dem unbehaglichen Gefühl, dass er der Einzige
war, der nicht im Dunkeln sehen konnte, löschte Winthrop das
Licht.
Albright hievte sich ins Cockpit und überprüfte
seine Geschütze, ein starr montiertes Vickers, das durch den sich
drehenden Propeller feuerte, und ein auf der oberen Tragfläche
angebrachtes schwenkbares Lewis. Auch wenn es bei Ausflügen wie
diesem nur selten zu Schussgefechten kam. Zweck der Übung war es,
unbemerkt hinter die Linien zu gelangen und Fotos zu schießen,
bevor der Feind zum Gegenschlag ausholen konnte. Deshalb war dies
eine Einmannmission: Zu viele Flugzeuge hätten Malinbois
in Unruhe versetzt. Der Boche stieg nur in Notfällen auf. Die
Alliierten flogen unablässig Angriffsstreifen, um die Mittelmächte
daran zu erinnern, wer der Herr am Himmel war.
Cundall und seine Kameraden waren aus dem Haus
gekommen, um Albright starten zu sehen. Die Piloten warfen einen
fachmännischen Blick auf die SE5a und inspizierten den mit
geflickten Einschusslöchern übersäten Rumpf. Sie kamen überein,
dass die verhältnismäßig neue Maschine in annehmbarem Zustand sei.
Obgleich der Diogenes-Club dem Geschwader Condor jedes gewünschte
Flugzeug beschaffen konnte, hingen die Piloten sehr an ihren
Mühlen.
Um Gefühl in seine tauben Zehen zu befördern,
stampfte Winthrop mit den Füßen. Es war stockdunkel. Das Flugzeug
war ein riesiges Schattenskelett. Vampire fühlten sich bei Nacht so
wohl wie er zur Mittagszeit auf der Pier in Brighton. Aufgrund
ihrer angepassten Augen eigneten sich die Untoten zum Nachtflug,
zum Nachtkampf. Ihretwegen war dies der erste Tag-und-Nacht-Krieg
der Geschichte.
Ginger versetzte dem Propeller der SE5a einen
kräftigen Schwung. Doch der Hispano-Suiza-Motor sprang beim ersten
Mal nicht an.
»Ein bisschen mehr Schmackes«, sagte Bertie, einer
der Kameraden.
Wären die Vampire nicht gewesen (insbesondere der
Rohling, der sich inzwischen Graf von Dracula zu nennen
pflegte), so wäre es natürlich gar nicht erst zum Krieg gekommen.
Der jüngste Versuch des Grafen, die Macht über Europa an sich zu
reißen, hatte zu einem Konflikt geführt, der sämtliche Nationen auf
dem Erdball in sich zu verwickeln schien. Selbst die Amerikaner
waren eingetreten. Der Kaiser meinte, der moderne Deutsche
verkörpere den Geist der alten Hunnen, doch tatsächlich war es
Dracula, der, voller Stolz auf seine Blutsverwandtschaft mit dem
Hunnenkönig
Attila, den Inbegriff der Barbarei des zwanzigsten Jahrhunderts
darstellte.
Ginger drehte ein zweites Mal an dem Propeller. Der
Motor knurrte, und erstickte Beifallsrufe waren zu hören. Albright
salutierte und sagte: »Bis Mitternacht.« Die Maschine rollte über
holprigen Rasen, tauchte in den Schatten der Bäume und schwang sich
in die Luft. Als ein Windstoß sie erfasste, wackelte sie
leicht.
»Wieso Mitternacht?«, erkundigte sich
Winthrop.
»Weil Red immer um Mitternacht zurückkommt«, sagte
Bertie. »Er macht seine Sache schnell und gründlich und kehrt dann
ins Quartier zurück. Deshalb nennen wir ihn Captain
Midnight.«
»Captain Midnight?«
»Ja. Klingt albern, nicht?« Der Pilot grinste.
»Bisher hat es ihm Glück gebracht. Red ist ein erstklassiger Pilot.
Bis sie aufgelöst wurde, war er bei der Escadrille
Lafayette. Er ist zu uns gekommen, weil die Yankees ihn als
untauglich befunden haben. Das American Air Corps ist
ausschließlich warmblütigen Männern vorbehalten.«
Albrights Mühle verschwand in einer tief hängenden
Wolkenbank. Das Brummen des Motors verschmolz mit dem Pfeifen des
Windes und Musikfetzen aus dem Grammophon in der Bauernstube. Die
»Arme Butterfly« wartete von neuem. Sergeant Dravot starrte gebannt
in den Nachthimmel.
Major Cundall sah nach seiner Uhr (einer jener
neumodischen Apparate, die am Handgelenk getragen wurden, damit sie
im Schützengraben nicht verlorengingen) und vermerkte die Startzeit
in einem Logbuch. Winthrop warf einen Blick auf seine Taschenuhr.
Halb elf am Abend des 14. Februar 1918. Valentinstag. Daheim würde
Catriona zu Recht voller Sorge an ihn denken.
»Jetzt können wir nur noch warten«, sagte Cundall.
»Kommen Sie rein und wärmen Sie sich auf.«
Winthrop hatte gar nicht bemerkt, wie durchgefroren
er war. Er schob die Uhr in seine Westentasche und folgte den
Piloten zum Bauernhaus zurück.
2
Der Alte
Während der gesamten Überfahrt sah
Beauregard mit Unbehagen zu dem Verwundeten hinüber, der in einer
Ecke der Kabine lag. Angesichts seiner Verfassung verhielt sich
Captain Spenser ungewöhnlich ruhig.
Als ein Bursche ihn gefunden hatte, war er eben im
Begriff gewesen, sich einen fünften Nagel in den Kopf zu treiben.
Offenbar hatte er seinen ganzen Schädel mit Eisendornen spicken
wollen. Die Diagnose lautete auf nervliches Versagen, und
Beauregard schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es vermutlich
einer ruhigen Hand bedurfte, um sich solch einer Operation zu
unterziehen.
Beauregard machte sich Vorwürfe, weil er die
Belastungen verkannt hatte, denen Spenser auf Geheiß des
Diogenes-Clubs ausgesetzt gewesen war. Ein Mensch konnte durchaus
zu viel wissen. Bisweilen wünschte Beauregard, auch sein Schädel
würde sich öffnen und seine Geheimnisse entweichen lassen. Es wäre
eine Wonne, unschuldig und unwissend zu sein.
Nach vielen Jahren im Dienste des Diogenes-Clubs
gehörte Beauregard nun, wie der ehrwürdige Mycroft und der
exzentrische Smith-Cumming, der herrschenden Clique, dem höchsten
Stab des Secret Service, an. Er hatte sein ganzes Leben im
Verborgenen verbracht.
Das Wasser des Kanals war ruhig. Beauregard
plauderte mit Godfrey, einem Krankenträger, der den Quäkern
angehörte. Er hatte den Sanitätsdienst dem Gefängnis vorgezogen und
war für seine Tapferkeit in der Schlacht um den Vimy-Rücken mit
einem Orden ausgezeichnet worden. In Beauregards Augen war ein
Mann, der bereit war, für sein Vaterland zu sterben, nicht aber für
es zu töten, ein besserer Mensch. Er trauerte um jeden, den er
getötet hatte; und er trauerte um jenen kurzen Augenblick, in dem
er sein Opfer hatte entkommen lassen. Um den Preis seines eigenen
Lebens hätte er Graf Dracula ein Ende machen können. Je älter er
wurde, desto öfter dachte er an jene qualvollen Sekunden.
Am Newhaven Quay wurde die kleine Schar toll
gewordener Offiziere bereits von Krankenschwestern erwartet. In der
Gruppe waren die Männer ruhig und fügsam. Die Schwestern trieben
sie sanft, aber bestimmt zusammen. Noch vor vier Jahren hatte die
Armee hinter jedem Fall von Frontneurose einen erbärmlichen
Feigling vermutet. Doch nach unzähligen mörderischen Kampfeinsätzen
waren Zusammenbrüche in den Reihen der höheren Offiziere nachgerade
de rigeur. Selbst der zweite Sohn des Herzogs von Denver
befand sich unter dem heutigen Haufen von
Dottyville-Patienten.
Das Dock lag im Dunkeln. Deutsche U-Boote wurden im
Kanal vermutet. Beauregard wünschte dem teilnahmslosen Spenser
alles Gute, gab Godfrey seine Karte und überquerte dann den
finsteren Bahnsteig, um den Schnellzug nach London zu nehmen.
An der Victoria Station wurde er von Ashenden,
einem jungen Burschen, der sich in der Schweiz als äußerst
kaltblütig erwiesen hatte, in Empfang genommen und durch die dunkle
Stadt chauffiert. Obgleich es regnete und kein Laternenschein die
Straßen erhellte, waren allenthalben tatendurstige Nachtschwärmer
zu sehen. Selbst im Herzen des Empires, das nur wenige Luftangriffe
erlitten hatte, war der Krieg allgegenwärtig. Theater, Restaurants
und Kneipen (und zweifellos auch Lasterhöhlen und Bordelle)
wimmelten von Soldaten, die verzweifelt zu vergessen suchten. Um
jeden Uniformierten drängten sich Scharen begeisterter Männer, die
danach gierten, »unseren Jungs« eine Lage auszugeben, und Trauben
heißblütiger junger Frauen, die den verehrten Helden ihre
Liebesgunst bezeigen wollten. Plakate drohten Drückebergern mit
drakonischen Strafen. Glutäugige Vampirmädchen durchstreiften
Piccadilly und Shaftesbury Avenue mit weißen Federn, um sie an ihre
untoten Brüder zu verteilen, die nicht im Dienst des Königs
standen. Im Hyde Park hatte man den originalgetreuen Nachbau eines
Schützengrabens errichtet, um der Zivilbevölkerung einen Eindruck
von den Bedingungen in Frankreich zu vermitteln; seine Reinlichkeit
und die zahlreichen Vergünstigungen der Heimat entlockten den
beurlaubten Frontkämpfern bestenfalls ein müdes Lächeln. In der
Queen’s Hall dirigierte Thomas Beecham ein No German
Concert. Bei der Auswahl von Stücken englischer, französischer
und belgischer Komponisten hatte man auf die diabolische Kultur von
Beethoven, Bach und Wagner ausdrücklich verzichtet. Das Scala
Cinema zeigte Wochenschauen mit (größtenteils in den Shire Counties
nachgestellten) Frontaufnahmen und Mary Pickford in Die kleine
Fledermaus.
Wären auf den Straßen Londons Lichtspiele gedreht
worden, so hätten Tausende und Abertausende von Einzelheiten eine
Stadt im Kriegszustand erkennen lassen, von der Verkehrspolizistin
bis hin zur bewaffneten Schutzwache vor einem Fleischerladen. Einen
Mann im vorgerückten Alter wie Beauregard gemahnten viele dieser
Dinge an die Zeit des Schreckens vor dreißig Jahren, als Britannien
unter dem Joch des damaligen Prinzgemahls gelitten hatte.
Kommentatoren wie H. G. Wells und Edmund Gosse vertraten die
Ansicht, der Weltkrieg sei die logische Folge einer versäumten
Pflicht. Denn statt den Dämonenfürsten
auf einen seiner Pfähle zu hieven, hatten die Revolutionäre der
neunziger Jahre Dracula gnädig des Landes verwiesen. Als König
Victor im Jahre 1897 zum zweiten Mal den Thron bestieg, machte Lord
Ruthven dem Blutvergießen ein Ende. Der Premierminister konnte das
Parlament dazu bewegen, die Erbfolge zu bestätigen, was seinem
früheren Gönner Dracula das Recht zu regieren versagte und einen
neuerlichen Bürgerkrieg verhindern half.
Der junge Ashenden zeigte sich nachsichtig gegen
die Menschenmassen auf der Fahrbahn. Während sie bei laufendem
Motor darauf warteten, dass eine Kapelle der Heilsarmee den Weg
frei machte, klopfte es plötzlich an die Fensterscheibe. Der
Chauffeur hob den Blick und sah mit der seinem Berufsstand
angemessenen Nervosität hinaus. Eine weiße Feder schwebte durch den
Fensterspalt und flatterte zu Boden.
»Das kommt davon, wenn man im Geheimen seinen
Dienst verrichtet«, sagte Beauregard.
Ashenden legte die Feder in eine Blechbüchse neben
den Schaltknüppel, in der sich ein Revolver sowie drei oder vier
weitere Schandzeichen befanden.
»Sie werden es noch zu einem prächtigen Gefieder
bringen.«
»Es gibt nicht mehr viele Burschen meines Alters in
Zivil. Manchmal stürzen sich die Weiber auf mich wie die Fliegen,
um mir ihre Federn anzuheften.«
»Ich will sehen, ob ich Ihnen nicht ein Ordensband
besorgen kann.«
»Nicht nötig, Sir.«
Die Zeit des Schreckens hatte Beauregard die
aufregendsten Momente seines Lebens beschert. Die Nächte der Gefahr
waren ihm in guter Erinnerung geblieben. Die längst verheilten
Bisswunden an seinem Hals verursachten ihm Schmerzen. Er dachte an
seine Gefährtin in jenen Nächten, eine Älteste namens Geneviève.
Inzwischen war er in Gedanken jedoch immer häufiger
bei seiner Gattin Pamela, die gestorben war, noch bevor Dracula
seine transsylvanische Festung überhaupt verlassen hatte. Pamela
war die Welt seiner Jugend, die ihm nun sonnenhell und liebreizend
erschien. Eine Welt ohne Vampire. Geneviève hingegen war das
Zwielicht, erregend, doch gefährlich. Sie hatte ihre Spuren bei ihm
hinterlassen. Bisweilen wurde er von plötzlichen Eingebungen
überfallen und wusste, was sie fühlte, was sie tat.
Soldaten hoben die Schranke und winkten sie in die
Downing Street. Die Leibwachen des Premierministers waren Älteste,
Karpater, die sich im Zuge von Ruthvens Revolte gegen den Pfähler
gewandt hatten. Sie trugen mittelalterliche Helme und Kürasse und
waren mit Säbeln und Karabinern ausgerüstet. Sowie Dracula zum
Angriff gegen Ruthven überging, würden diese Vampire ihrem
einstigen Generalissimus mutig die Stirne bieten. Es blieb ihnen
auch gar nichts anderes übrig, denn Dracula würde versuchen, sie
auf der Stelle zu töten. Er kannte kein Erbarmen, wie dieser Krieg
eindrucksvoll bewies.
Dracula hatte England verlassen, wie er hergekommen
war, als Treibgut. Als das Land sich gegen ihn stellte, gab sich
der Prinzgemahl gefangen und wurde in den Tower von London
gesperrt. Es war eine List: Der spinnenartige Gebieter über den
Tower, Graf von Orlok, seinem Genossen Ältesten treu zu Diensten,
verhalf ihm zu einer waghalsigen Flucht. Dracula trieb in einem
Sarg durch das Traitor’s Gate und erreichte erst die Themse, dann
die offene See.
Nachdem Dracula entkommen war, bestand Geneviève
darauf, an Beauregards Bett zu wachen. Sie befürchtete, der Graf
könne die Gelegenheit beim Schopf packen und sich an ihnen rächen.
Sie hatten seiner Schreckensherrschaft ein Ende gesetzt. Doch der
Graf hatte offensichtlich dringendere Geschäfte zu erledigen und
verzichtete darauf, es ihnen heimzuzahlen. Diese Missachtung
ärgerte Geneviève. Schließlich hatten sie den Gang der Geschichte
verändert. So glaubten sie zumindest. Vielleicht hatten Einzelne
auf die Zeitläufe doch nur geringen Einfluss.
Der Wagen hielt vor Nummer zehn. Ein
Vampir-Bediensteter in Livree stürzte aus der Tür. Zum Schutz gegen
den Nieselregen hielt er eine Daily Mail über seine Perücke
gebreitet. Beauregard wurde die Treppe zur Amtswohnung des
Premierministers hinaufgeführt.
In Europa wanderte Dracula wie dereinst König Lear
von Hof zu Hof, wobei er sich das Missfallen seiner Gastgeber über
Parlamente zunutze machte, die ihre Monarchen in die Wüste
schickten. Sein Geblüt erstreckte sich auf Häuser, mit denen er
durch seine Vermählung mit der hochseligen Königin Viktoria und
seine weit verstreuten sterblichen Nachkommen verbunden war. Nach
Jahrhunderten zählten sämtliche gekrönten Häupter Europas Vlad
Tepes zu ihren bemerkenswerten Vorfahren.
Als er dem Bediensteten seinen Überzieher reichte,
bemerkte Beauregard, dass noch immer reichlich französischer
Schlamm an seinen Stiefeln klebte. Dass Kriege so nah der Heimat
ausgefochten wurden, war ein Wunder der Moderne. Obschon seine
alten Knochen sich dem mit aller Macht zu widersetzen schienen,
ließ er Männer wie Ashenden und Edwin Winthrop hinund
herfliegen.
In Russland verwandelte Dracula dünnblütige
Romanows, deren Gestalt sich daraufhin katastrophal veränderte.
Rasputin gelangte durch die Behauptung an die Macht, die rasende
Werwolfswut, die den Zarewitsch befallen habe, lasse sich nur durch
Zauberei kurieren. Doch der heilige Scharlatan war tot, von einem
upyr-Fürsten in Stücke gerissen. Der Zar war von den
bolsheviki eingekerkert worden. Erkenntnissen des
Diogenes-Clubs zufolge, hatte Dracula höchstselbst dafür gesorgt,
dass Lenin in seinem berühmten versiegelten Zug nach Russland
hineingeschmuggelt werden konnte.
Nummer zehn war erneut umgestaltet worden. Die
Empfangshalle beherbergte eine Galerie von Porträts, die von den
bedeutendsten Künstlern der letzten drei Jahrzehnte stammten:
Whistler, Hallward, Sickert, Jimson. Zum Leidwesen seiner
Kabinettskollegen, denen alles suspekt erschien, was über ein
idyllisches Landschaftsbild von Constable hinausging, bekannte
Ruthven sich inzwischen voller Leidenschaft zum Vortizismus.
Beauregard hielt vergeblich nach Gemälden Ausschau, die etwas
anderes zum Thema hatten als den derzeitigen Premierminister. Das
graue, sardonische Gesicht blickte mit kalten Augen von einem guten
Dutzend Leinwänden herab. Ruthvens Selbstverliebtheit machte nicht
einmal vor Werken halt, die ihn alles andere als vorteilhaft
erscheinen ließen, wie Wyndham Lewis’ Schilderung seiner Besuche an
der Front.
Im Juli des Jahres 1905 brachte die Romanow-Yacht
Stella Polaris Dracula in die Bucht von Björkö vor der
finnischen Küste. Per Ruderboot wurde er zur Hohenzollern,
der eleganten weiß-goldenen Jacht eines seiner zahlreichen
angeheirateten Großneffen, Kaiser Wilhelms II., weiterbefördert.
Dem Diogenes-Club war es seinerzeit gelungen, die in der für
Europas Königshäuser typischen, mit
verwandtschaftlich-diplomatischem Schmelz überzuckerten Sprache
gegenseitigen Misstrauens abgefassten Communiqués des Fürsten von
Bülow, dem damaligen Reichskanzler des Kaisers, an Konstantin
Pobedonoszew, einem engen Berater des Zaren, auf halbem Wege
abzufangen. Der Kaiser war von dem Irrglauben beseelt, der dunkle
Kuss werde seinen verwelkten Arm wieder erblühen lassen. Die Russen
rührten die Trommel für Draculas Geblüt und verheimlichten den
Zustand des dahinsiechenden Zarewitsch, um Willi dazu zu bewegen,
die Last des früheren Prinzgemahls auf sich zu nehmen.
Beauregard trug sich in die Besucherliste ein und
eilte über einen Korridor zum Kabinett. Mit silberbewehrten Piken
bewaffnete
Karpater säumten den Flur. Kostaki, ein rehabilitierter Ältester,
dessen Sturz während der Zeit des Schreckens mit einem
vertrauensvollen Posten belohnt worden war, hob die Hand an seinen
Helm, als Beauregard an ihm vorüberhastete.
Der Fürst, der sich nun Graf von Dracula zu
nennen pflegte, hatte sich zu einer Zierde des kaiserlichen Hofes
in Berlin gemausert. Mit großem Prunk und Pomp verwandelte er
Wilhelm. Endlich konnte der Kaiser seinen verhassten Arm strecken
und eine ordentliche Faust machen. Nichts hatte Willi sich
sehnlicher gewünscht, als seine neu gewonnenen Finger in das
Fleisch seiner monarchischen Widersacher zu bohren, sie ihrer
Herrschaft über die Ozeane und diverser Gebiete im Osten und in
Afrika, im Pazifik und in Asien zu berauben. Deutschland, sagte er,
müsse ein einig Volk von Vampiren werden und seinen Platz im
Mondschein finden.
Britische und französische Schriftsteller
verfassten Romane nach dem Vorbild der Schlacht von Dorking
und prophezeiten einen Krieg zwischen dem Deutschland Draculas und
der zivilisierten Welt. In Vicomte Northcliffes Daily Mail
erschienen derlei Räuberpistolen in Serie, und Die Invasion von
1910 bescherte ihrem Verfasser William Le Queux beachtlichen
Erfolg. Bezahlte Strategen vertraten die Ansicht, die neuen Hunnen
würden Blitzattacken auf isolierte Außenposten vorziehen. Da wenig
Aussicht bestand, die Auflage der Mail in der Provinz zu
erhöhen, verlangte Northcliffe, dass in der Geschichte die Invasion
jeder größeren englischen Stadt vorkommen müsse. Die Einwohner von
Norwich und Manchester verschlangen die schauerlichen Schilderungen
ihres Schicksals unter der Belagerung untoter Ulanen. Beauregard
dachte an die Plakatträger der Mail, die als Vorgeschmack
auf die fiktive Besatzung in deutscher Uniform durch die Stadt
stolziert waren.
Der Diogenes-Club erfuhr von den Bemühungen des
Kaisers
auf dem Gebiet der Industrialisierung und Erweiterung der
Seestreitkräfte, doch hatte diese Nachricht bedauerlicherweise
wenig Einfluss auf Ruthvens Bemühungen um Galerie-Eröffnungen und
Gesellschaftsbälle. Deutsche Eisenbahngleise schlängelten sich quer
über den Kontinent, wodurch eine rasche Mobilmachung ermöglicht
wurde. Während Britanniens Dreadnoughts die Meereswellen regierten,
beherrschten Willis U-Boote die Tiefen. Als der geniale englische
Ingenieur Heath Robinson sich an die Entwicklung von Luftfahrzeugen
machte, versicherte sich Dracula der Dienste des Holländers Anthony
Fokker, der immer neue Bomber und Jagdflugzeuge konstruierte.
Der Vampirismus verbreitete sich über das gesamte
Territorium der Mittelmächte. Älteste wagten sich nach
Jahrhunderten des unwürdigen Nomadisierens in die Öffentlichkeit
zurück und lebten auf Besitzungen in Deutschland und
Österreich-Ungarn. In Britannien hatte sich der Vampirismus bislang
ungehemmt ausbreiten können, doch nun bestand Dracula darauf, die
Verwandlung Neugeborener zu regulieren. Ein Gesetz schloss
bestimmte Klassen und Rassen von Männern und Frauen von der
Verwandlung aus. Wilhelm machte sich darüber lustig, dass
Britannien und Frankreich Dichter und Ballerinen in den Stand der
Unsterblichkeit erhoben; unter seiner Herrschaft war dieses
Vorrecht jenen vorbehalten, die bereit waren, für ihr Vaterland zu
kämpfen und ihre menschliche Beute selbst zu reißen.
Nachdem er eine ganze Reihe militärischer und
politischer Stellungen bekleidet hatte, übernahm Dracula im Jahre
1914 den Posten des Kanzlers und Oberbefehlshabers der Streitkräfte
des Deutschen Reiches. Beauregard fragte sich, wie der frühere Vlad
Tepes Bündnisse unterstützen konnte, die ihn gegen Rumänien - das
Land, für das er einst in den Kampf gezogen war - und an die Seite
der Türkei stellten, des Imperiums, dem er um den Preis seines
warmen Blutes widerstanden hatte.
Vor dem Kabinett wurde Beauregard von Mansfield
Smith-Cumming in Empfang genommen, dem monokeltragenden
Meisterspion, der wie er der herrschenden Clique angehörte.
Gerüchten zufolge hatte sich der Vampir mit einem Federmesser ein
Bein amputiert, um sich aus den Trümmern eines Autounfalls befreien
und seinen Mantel über seinen sterbenden Sohn breiten zu können,
der sich über die Kälte beklagte. Sein Bein war bis zum Kniegelenk
nachgewachsen; unter einem dicken Bündel von Verbänden bildete sich
ein neuer Fuß.
»Beauregard«, sagte Smith-Cumming breit grinsend,
»was halten Sie von der Verkleidung?«
Smith-Cumming freute sich wie ein kleines Kind,
dass sein Beruf es ihm erlaubte, sich zu verkleiden. Er trug einen
übergroßen, offenkundig falschen Bart. Er verdrehte die Augen und
ließ seinen Rosshaarschnauzer tanzen wie ein Komödiant der
Fred-Karno-Truppe.
»Sehe ich nicht aus wie ein leibhaftiger Hunne?
Können Sie sich vorstellen, wie ich einer belgischen Nonne an die
Gurgel gehe?«
Er entblößte riesige falsche Hauer, dann spuckte er
sie aus, und darunter kamen seine zierlichen Fangzähne zum
Vorschein.
»Wo ist Mycroft?«, fragte Beauregard.
Smith-Cumming blickte so ernst drein, wie es ihm in
seiner Verkleidung möglich war. »Böse Neuigkeiten, fürchte ich. Ein
neuerlicher Anfall.«
Mycroft Holmes hatte der herrschenden Clique des
Diogenes-Clubs schon angehört, als Beauregard Mitglied geworden
war. Seine Pläne hatten die Nation während der Zeit des Schreckens
zusammengehalten. Seither hatte er alles darangesetzt, den neuen
König und seinen ewigen Premierminister Ruthven in ihrer
wunderlichen Schwärmerei zu mäßigen.
»Wir stehen unter Druck. Ich nehme an, Sie haben
von Spenser gehört.«
Smith-Cumming nickte angewidert.
»Ich habe ihn durch Winthrop ersetzt. Er kommt
zügig voran. Ich bin äußerst zuversichtlich, dass er rasch aufholen
wird.«
»Gräuliche Nächte, Beauregard«, meinte
Smith-Cumming.
Alles hatte am Sonntag, dem 28. Juni 1914, in
Sarajewo begonnen, fern der Grenzen, wo die Mächte Europas sich
ankläfften wie durch einen Zaun getrennte Hunde.
Erzherzog Franz Ferdinand, der Neffe von Kaiser
Franz Joseph, reiste mit seiner morganatischen Gemahlin Sophie
Fürstin Hohenberg durch Bosnien. Seit dem Zusammenbruch des
Osmanischen Reiches im Jahre 1877 auf sich selbst gestellt, war
Bosnien schwerlich als das reizvollste Fleckchen Europas zu
bezeichnen, dennoch betrachtete Österreich-Ungarn es als natürliche
Ergänzung seines ohnehin aufgeblähten und unregierbaren
Herrschaftsgebietes. Franz Joseph hatte die Provinz im Jahre 1908
auf geradezu betrügerische Art und Weise annektiert. Das nicht ganz
zu Unrecht als Werkzeug Russlands verschriene Serbien führte
ebenfalls etwas gegen Bosnien und seine Schwesterprovinz, die
Herzegowina, im Schilde.
Der Erzherzog war ein nosferatu, eine
Provokation. Die Slawen und Muselmanen duldeten keine Vampire,
schon gar nicht als Herrscher. Serbische Irredentisten machten die
zahlenmäßige Überlegenheit der Untoten am kaiserlichen Hofe mit
Trompetenschall bekannt, um jene aufzurühren, die
Bosnien-Herzegowina von blutsaugenden Habsburgern befreien wollten.
Um den schönen Schein zu wahren, entsandten die untoten Berater des
Zaren (ausnahmsweise ohne den fanatischen Warmblüter Rasputin)
Agenten nach Sarajewo, um fackelschwingende Rotten von
christlich-orthodoxen Vampirgegnern, serbischen Nationalisten und
Kaffeehaus-Revoluzzern aufzuwiegeln. Pamphlete mit obszönen
Darstellungen der ehelichen Beziehungen zwischen dem Erzherzog und
seiner augenscheinlich warmblütigen
Sophie, einer als Blutmilchkuh karikierten Tschechin, gerieten in
Umlauf.
Die Mittelmächte hegten die felsenfeste
Überzeugung, Zar Nikolaus höchstselbst habe einen jüngeren Van
Helsing namens Gavrilo Princip beauftragt, Franz Ferdinand mit
Kugeln zu durchsieben, das Vampirherz der Habsburger mit Silber zu
spicken und bei dieser Gelegenheit auch gleich die schorfhalsige
Sophie zu ermorden. Zudem sollten alle Anhänger der Sache der
Verbündeten Princip für einen Irren halten, der unabhängig von den
Großmächten gehandelt hatte, wenn nicht gar für einen Agenten des
kriegslüsternen Kaisers.
Beauregard hatte Mycroft einmal gefragt, ob
Russland seine Finger im Spiel habe. Der große alte Mann räumte
ein, dass dies niemand so recht sagen könne. Einerseits versorge
die Ochrana Princips Gesinnungsgenossen zweifellos mit barem Geld
(und wahrscheinlich auch mit Silberkugeln); andererseits wisse
nicht einmal Artamanov, der Finanzattaché der Russen, ob der
mysteriöse Attentäter zu seinen Kontakten zählte.
Der Kaiser witterte eine Chance, die Grenzen
Europas neu zu ziehen, und drängte den asketischen Bürokraten Franz
Ferdinand dazu, ein Communiqué an Serbien zu richten, das einer
Kriegserklärung gleichkam. Russland war gezwungen, Serbien gegen
Österreich-Ungarn zu verteidigen; Deutschland musste Kaiser Franz
Joseph im Krieg gegen die Russen unterstützen; Frankreich war
vertraglich gehalten, jegliche Nation zu attackieren, die sich mit
den Romanows anlegte; Deutschland musste erst durch Belgien
marschieren, um zum Schlag gegen Frankreich ausholen zu können; und
Großbritannien hatte sich verpflichtet, die Neutralität Belgiens zu
bewahren. Nachdem Princips Silberkugel den Erzherzog durchbohrte,
fiel das Kartenhaus in sich zusammen.
In jenem Sommer hatte Beauregard, der seinem
fünfundsechzigsten Lebensjahr entgegensah, mit dem Gedanken
gespielt, in
den Ruhestand zu treten. Als jedoch eine Allianz nach der anderen
eingefordert wurde, als ein Land nach dem anderen mobilmachte,
erkannte er, dass er seinen Posten unmöglich verlassen konnte.
Widerstrebend sah er ein, dass es zum Krieg kommen würde.
Im Jahre 1918 war die Frage, wer Bosnien
beherrschte, nebensächlich. Die Romanows blickten dem Tod durch
Holzpflock und Sichel ins Auge. Franz Joseph hatte den Verstand
verloren, und sein Reich wurde von einem zänkischen Pöbelhaufen
österreichischer und magyarischer Ältester regiert. Der Kaiser
hatte die Kriegsführung längst Graf von Dracula und seinen
neugeborenen Adepten Hindenburg und Ludendorff überlassen.
Die Tür des Kabinetts ging auf, und die beiden
treuen Mitglieder der herrschenden Clique wurden zu dem Ältesten
geführt, der Großbritannien unter dem Banner König Victors
regierte.
»Gentlemen«, sagte Lord Ruthven, »kommen Sie herein
und nehmen Sie Platz.«
Der Premierminister war von Kopf bis Fuß in
Taubengrau gekleidet, von Schlafrock und Gamaschen bis hin zu
gekräuselter Halsbinde und elegant geschwungenem Zylinder. Er saß
an seinem nackten Schreibtisch, neckisch unter einem seiner
unzähligen Porträts posierend, einer martialischen Studie Elizabeth
Asquiths. Das mittelmäßige Gemälde würde es vermutlich zu einiger
Berühmtheit bringen, da der Vater der Künstlerin in Ruthvens
Regierung der nationalen Einheit den Posten des Innenministers
bekleidete.
Andere saßen in tiefen Lehnsesseln im Raum
verstreut. Lord Asquith studierte mit säuerlicher Miene
Frontberichte. Field Marshal Sir Douglas Haig weilte in Frankreich,
doch General Sir William Robertson und General Sir Henry Williams
vom Generalstab Seiner Majestät waren zugegen; beide trugen erste
Garnitur. Churchill, der milchgesichtige Rüstungsminister, hatte
seinen
beträchtlichen Wanst unter einem hemdähnlichen Rock versteckt und
sich einen amerikanischen Gürtel mit in Holstern steckenden
Pistolen um die Hüften geschnallt. Lloyd George, der
Kriegsminister, stand am Fenster und kaute auf einer kalten Pfeife.
Neben dem Premierminister saß kleinlaut der geheimnisvolle Caleb
Croft aus dem Innenministerium, seine blutigen Klauen steckten in
wollenen Fäustlingen. Croft befasste sich mit Dingen von
unvorstellbarer Grausamkeit.
Beauregard und Smith-Cumming nahmen inmitten des
kleinen Kreises Platz.
»Sagen Sie«, säuselte Ruthven, »was macht der
geheime Krieg?«
3
Nach Mitternacht
Courtney zog das Grammophon auf und setzte
die Nadel wieder an den Anfang. »Arme Butterfly« war die einzige
Platte im Quartier. Winthrop fragte sich, ob den anderen die Arie
ebenso unpassend erschien wie ihm. Die Butterfly wartete, doch
Pinkerton, das Schwein, kam nicht zurück. Alle drei Minuten schwand
die unglückliche Cho-Cho-San dahin, von ihrem Vampir-Liebsten
ausgeblutet und verlassen. Winthrop fand die Geschichte seit jeher
enervierend, und diese auf wenige Verse eingedampfte Fassung war in
höchstem Maße enervierend.
»Früher hatten wir eine tolle Sammlung«, behauptete
Williamson, als Winthrop seinem Unmut über das begrenzte Repertoire
Ausdruck verlieh. »La Bohème, Chu Chin Chow, ›Nimm ein rotes
Augenpaar‹ …«
»Bei einem Saufgelage sind sie dann allesamt zu
Bruch gegangen«, sagte Bertie.
»Die Vampyre von Venedig fehlen mir«, meinte
Ginger.
»Aber was für ein grandioses Saufgelage«, schwärmte
Courtney. »Das beste Saufgelage aller Zeiten. Die
demoiselles spüren ihre Bisswunden noch heute.«
Die Platte war zu Ende, und das Grammophon begann
zischend zu stottern. Courtney hob den Trichter, und die »Arme
Butterfly« begann von vorn.
Die Bridge-Partie hatte sich zerschlagen. Die
Piloten lungerten in der Messe herum, ohne ein Wort über Red
Albright zu verlieren, und beobachteten Winthrop mit einer Mischung
aus Neugier und Argwohn. Er bildete sich ein, dass ihm einige
Vampire hungrige Blicke zuwarfen.
»Ist Ihr Posten hier von Dauer?«, fragte
Bigglesworth.
»Nichts ist von Dauer«, fuhr Courtney dazwischen.
»Nicht mal die Unsterblichkeit.«
»Man hat mir gesagt, ich sei von nun an Ihre
einzige Verbindung zum Diogenes-Club, als Ersatz für Captain
Spenser.«
»Wie schön«, sagte Brown, ein sauertöpfischer
Kanadier.
»Dann passen Sie auf Ihren Kopf auf«, riet
Williamson.
»Ich werde mich bemühen.«
»Der Diogenes-Club ist mir vollkommen rätselhaft«,
meinte Courtney. »Ich kann hinter unseren Befehlen beim besten
Willen kein System erkennen. Hier eine Straße fotografieren, dort
eine Brücke bombardieren, einen Ballon vom Himmel holen, einen
stummen Passagier hinter die feindlichen Linien befördern …«
›»Fragt nicht die Gründe‹«, zitierte Bertie.
Courtney brummte mürrisch.
»Ich weiß auch nicht mehr als Sie«, sagte Winthrop
pflichtschuldig. »Geheimdienste sind von Natur aus
rätselhaft.«
»Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir uns hier
dummdreist in Gefahr begeben, nur um den Hunnen zu verwirren«,
sagte Courtney, »ihm einen komplizierten Streich zu spielen.«
»Wenn es denn wenigstens komisch wäre«, meinte
Williamson.
Winthrop blickte drei- oder viermal in der Minute
auf seine Taschenuhr. Mitternacht schien keine Sekunde näher zu
rücken. Er widerstand dem Drang, sich den Zeitmesser ans Ohr zu
halten, um sich zu vergewissern, dass er noch tickte.
Die Schallplatte begann von vorn. Lacey kehrte von
seinem Besuch bei »Mademoiselle« im ersten Stock zurück. Der
Engländer aus dem Kreis um Bigglesworth wirkte von dem Blut des
Mädchens wie beseelt, seine Augen schossen hin und her, und seine
spitzen Finger fanden keine Ruhe.
Allards neuerliches Lachen klang, als würde man mit
einer Scherbe einen Knochen schaben.
»Der erste Name auf der Liste«, grübelte er vor
sich hin. »Letzte Woche noch hätte es mich getroffen. Und ich wäre
zum Château hinausgeflogen.«
»Sie haben recht daran getan, sich zu beschweren«,
sagte Cundall.
Allard schwieg. Er wankte in eine Ecke und
verschwand im Schatten.
»Man hatte Allards Namen falsch geschrieben«,
erklärte Cundall. »Es fehlte ein L, und so hieß er A-L-A-R-D.
Deshalb stand er vor Albright auf der Liste. Er beklagte sich bei
Lieutenant-Colonel Raymond, und der erteilte den törichten Tippsen
im Wing einen strengen Verweis. Seitdem schreiben sie seinen Namen
richtig.«
»Vielleicht stehst du bald wieder an erster
Stelle«, meinte Courtney. Keiner lachte.
»Sie hätten Pilot werden sollen«, sagte Cundall zu
Winthrop.
»Ihr Name fängt mit W an. Sie brauchten nie und nimmer
aufzusteigen. Selbst Williamson müsste noch vor Ihnen in die
Luft.«
Den ersten Namen auf der Liste zu wählen, war eine
schwachköpfige Idee gewesen. Doch jede andere Entscheidung wäre
ebenso willkürlich ausgefallen. Cundalls Sticheleien kränkten
Winthrop. Der Geschwaderkommandeur trug die alleinige Verantwortung
für den Entschluss, auch wenn er ihn einem anderen überlassen
hatte.
Selbst die Vampire waren unruhig und nervös. Das
Gespräch nahm eine lächerliche Wendung. Bertie und Lacey prahlten
mit ihren exzentrischen, verrückten Tanten.
Winthrop dachte an Spenser und fragte sich, was
einen Mann dazu bewegen mochte, sich Nägel ins Gehirn zu treiben.
Als er fortgetragen worden war, hatte Spenser gelächelt. Er schien
keine Schmerzen zu leiden.
In einer Ecke befand sich eine alte Standuhr mit
gesprungenem Zifferblatt, sie war um zehn vor sieben
stehengeblieben. Winthrops Blick wanderte zwischen dem zerbrochenen
Zeitanzeiger und seinem Taschenchronometer hin und her. Noch
zwanzig Minuten bis Mitternacht.
Das Château du Malinbois lag etwa vierzig Meilen
entfernt. Eine SE5a schaffte 120 Meilen in der Stunde, doch über
den Wolken, wo er sich nur nach den Sternen richten konnte, würde
Albright langsamer fliegen. Womöglich musste er mehrmals in die
Tiefe stoßen, um einen Blick auf das Gelände werfen zu können, ehe
er sein Ziel gefunden hatte. Wie alle Vampire war auch Captain
Midnight nur ein Mensch.
Wenn Albright bis zwölf Uhr nicht zurück war, hieß
das nicht, dass er nicht kommen würde.
Die »Arme Butterfly« verlor an Tempo, und Courtney
zog sie wieder auf. Nach einem drolligen, überdrehten Quieken fand
sie in ihren alten Trott zurück.
Hangen und Bangen. Bangen und Hangen.
Winthrop dachte an Catriona. Er musste ihr
schreiben, dass er einen neuen Posten innehatte. Den Diogenes-Club
durfte er dabei natürlich nicht erwähnen. Auch würden die Zensoren
jedes Wort über Spenser tilgen. Kein Wunder, dass die Armee
vorgedruckte Feldpostkarten bereithielt: Fehlendes ergänzen,
Unzutreffendes streichen und bitte unterschreiben. Er wollte, er
hätte sich mit Cat beraten können. Sie hatte einen scharfen
Verstand und die seltene Gabe, die Dinge aus einem anderen
Blickwinkel zu betrachten.
»Noch zwei Minuten«, sagte Williamson.
Winthrop sah auf seine Uhr. Die Zeit war im Nu
vergangen. Nachdem eine Sekunde zunächst eine Viertelstunde
gedauert hatte, war die letzte Viertelstunde in Sekundenschnelle
verstrichen.
»Ich glaube, ich höre ihn«, sagte Bertie.
Blitzschnell hob Courtney die Nadel von der Platte
und bewahrte die »Arme Butterfly« so vor dem sicheren Tod. Bis auf
das Rauschen in seinem Kopf und das unablässige Bombardement hörte
Winthrop nichts. Oder doch?
Cundall schlenderte übertrieben lässig zur Tür und
riss sie auf. In der Ferne war ohne Zweifel ein Geräusch zu hören,
ein Surren oder Knattern.
»Pünktlich auf die Minute«, sagte Courtney.
»Captain Midnight kehrt zurück.«
Cundall trat ins Freie, und die anderen folgten
ihm, freudig erregt. Durch die offene Tür fiel Licht auf das
Rollfeld. Eine hünenhafte Gestalt starrte in den Himmel. Dravot war
die ganze Zeit über auf seinem Posten geblieben. Es hätte Winthrop
nicht gewundert, wenn an der Nase des Sergeants ein Eiszapfen
gehangen hätte.
Da keiner der Piloten den Verdacht geäußert hatte,
Albright
werde nicht zurückkehren, durften sie sich nun auch nicht
erleichtert zeigen.
»Keine Frage, eine SE5a«, sagte Williamson.
»Unverkennbar, dieses Husten.«
Winthrop sah die schwarzen Umrisse der geballten
Wolken. Er machte einen langen Hals.
»Da, seht«, rief Ball und reckte einen an Ellbogen
und Handgelenk geknickten Arm.
Plötzlich brach etwas durch die Wolken. Winthrop
konnte den Motor deutlich hören. Als er merkte, dass er den Atem
anhielt, stieß er eine Dunstfahne hervor.
»Kann er den Flugplatz sehen?«, fragte er.
»Sicher doch«, gab Cundall barsch zurück. »Er hat
Augen wie ein Luchs. Trotzdem kann es nicht schaden, ihm ein wenig
heimzuleuchten. Ach, Allard, seien Sie doch so gut und schießen Sie
eine Leuchtrakete ab.«
Der Amerikaner zog eine Signalpistole aus seinem
Umhang, hob sie über den Kopf und feuerte. Eine purpurfarbene
Rakete explodierte hoch am Himmel, färbte die Wolkenbank von innen
und tauchte den Platz in violettes Licht.
Die SE5a wendete und begann mit dem Anflug auf das
Feld. Winthrop hatte Piloten Kunststücke vollführen sehen, um bei
ihren Kameraden am Boden Eindruck zu schinden (so mancher Sieger
eines Hahnenkampfes hatte sich bei dem törichten Versuch, vor
hübschen Krankenschwestern den Helden zu markieren, den Hals
gebrochen), doch Albright wusste es besser. Cundall’s Condors waren
durch Kunststücke nicht zu beeindrucken.
Plötzlich wusste Winthrop, warum die Presse sich so
sehr für Flieger interessierte. Sie waren einsame Adler, keine
anonyme Masse. Die einzigen ritterlichen Helden in der klaffenden
Wunde aus blutgetränktem Schlamm, die sich von Belgien nach
Norditalien quer durch Europa zog.
Das violette Licht erlosch, als die Rakete zu Boden
stürzte. Allard schoss eine zweite in den Himmel.
»Was ist denn das?«, fragte Winthrop.
Über der SE5a war, undeutlich in der purpurroten
Wolke, ein geflügelter Schatten zu erkennen. Winthrop hörte nur
Albrights Maschine. Der Schatten stieß herab, eher ein riesenhafter
Vogel denn ein Flugzeug. Albright feuerte ihm von unten eine Salve
in den Bauch. Vom Boden aus war das Mündungsfeuer nur eine Garbe
winziger Funken. Der Schatten klammerte sich an die SE5a und riss
sie mit sich in die Höhe. Eng umschlungen verschwanden sie in den
Wolken. Allard schoss zwei weitere Leuchtraketen ab, eine nach der
anderen.
Major Cundalls von violetter Glut zerfurchte Miene
war wie versteinert.
Nach wenigen Sekunden fing der Motor an zu
stottern, und das Brummen verstummte. Die Wolken schienen sich zu
teilen. Jaulend fiel etwas vom Himmel. Albrights Maschine trudelte
mit rasender Geschwindigkeit dem Erdboden entgegen, der Wind pfiff
laut durch die Verspannung. Ein Flügel riss sich los. Die SE5a
bohrte sich mit der Schnauze voran in den Acker und brach in sich
zusammen wie ein Kastendrachen. Winthrop wartete auf eine
Explosion.
Die Piloten liefen auf das Wrack zu. Der
Flackerschein der Leuchtraketen tauchte alles in ein violettes
Licht. Das Leitwerk war abgebrochen, die Flügel hingen in Fetzen.
Die gleichlaufenden Schlitze in der Bespannung sahen aus wie
Klauenhiebe.
Winthrop erreichte die SE5a kurz nach Cundall. Ein
paar Yards entfernt kamen sie schlitternd, vorsichtig, zum Stehen.
Der Treibstofftank konnte jede Sekunde explodieren. Brennendes
Benzin bescherte einem Vampir einen ebenso üblen Tod wie einem
warmblütigen Menschen.
Die Piloten scharten sich um das zerschmetterte
Flugzeug. Der
qualmende Lauf der Lewis ragte zwischen verbogenem Metall und
Stoff ins Leere. Dravot drängte sich vor, riss die Überreste der
Maschine auseinander und durchwühlte das Wrack. Er fand eine der
Kameras und inspizierte die Platte. Sie war zerbrochen.
»Wo ist er?«, fragte Bigglesworth.
Das Cockpit war unbesetzt. Niemand hatte den
Piloten zu Boden stürzen sehen.
Hatte Albright einen Fallschirm mitgenommen? Wenn
ja, hatte er damit gegen die Vorschriften verstoßen. Es hieß, dass
Fallschirme der Feigheit Vorschub leisteten. Sie wurden
ausschließlich an Ballonbeobachter ausgegeben.
»Seht nur!«, rief Allard.
Winthrop folgte dem Blick des Amerikaners
himmelwärts. Die letzten purpurroten Funken verglommen in den
Wolken. Der fliegende Schatten war nach wie vor undeutlich zu
erkennen, vom Luftstrom getragen, drehte er gemächlich seine
Runden. Er sah aus wie ein merkwürdiger Fledermausdrachen. Dann
plötzlich war er verschwunden.
»Da fällt etwas vom Himmel«, sagte Ginger.
Ein schrilles Pfeifen war zu hören, und sie stoben
auseinander. So kurz vor seiner Beförderung im Bombenhagel zu
sterben, konnte auch nur ihm passieren. Winthrop warf sich in das
kalte Gras, schlug die Arme über dem Kopf zusammen und dachte kurz
an Catriona.
Etwa ein Dutzend Yards vom Wrack entfernt fiel mit
einem dumpfen Schlag etwas zu Boden, explodierte jedoch nicht.
Winthrop nahm all seinen Mut zusammen, stand auf und wischte Gras
und Eissplitter von seinem Mantel.
»Grundgütiger«, sagte Cundall. »Das ist Red.«
Die Vampire umringten den gefallenen Piloten.
Winthrop schlug sich nach vorn durch.
Die nachtschwarze Fliegerkluft des verrenkten Etwas
war von
oben bis unten aufgerissen. Die verschrumpelte Gesichtshaut klebte
am Schädel, die Augen quollen lidlos aus den Höhlen. Was sie da
sahen, war eine ausgeblutete Karikatur von Albrights scharf
geschnittenen Zügen. Am Hals befand sich eine ledrige Wunde von der
Größe einer Orange, die den Blick freigab auf Wirbel, blasses
Muskelfleisch und die Unterseite des Kieferknochens. Der Körper war
verdörrt, eine klapprige, in Stofffetzen gehüllte Vogelscheuche.
Albright war ausgesaugt, jeglicher Substanz beraubt worden.
Cundall und die anderen blickten in den
stockfinsteren Himmel. Winthrop zerrte die Uhr aus seiner Tasche.
Sie musste kaputtgegangen sein, als er sich zu Boden geworfen
hatte, denn sie war um Punkt Mitternacht stehengeblieben.
4
Graue Eminenzen
Ich würde es außerordentlich begrüßen, wenn
Sie uns über das Château du Malinbois in Kenntnis setzen könnten«,
sagte Lord Ruthven und bewunderte seine rautenförmigen Fingernägel.
Immer wenn er Ruthvens monotone, ausdruckslose Stimme hörte, musste
Beauregard unwillkürlich mit den Zähnen knirschen.
Smith-Cumming, der seine Verkleidung abgelegt
hatte, wies auf Beauregard.
Der räusperte sich und begann: »Es hat zweifellos
etwas Mysteriöses an sich, Herr Premierminister. Wir haben das
Geschwader Condor auf die Sache angesetzt. Zunächst dachten wir,
der Wirbel um das Schloss verdanke sich dem einfachen Umstand, dass
es sich bei Richthofens Zirkus, dem Ihnen allen wohlbekannten
JG1, um eine hochgeschätzte Einheit handelt. Die Deutschen lieben
ihre Flieger.«
»Nicht mehr und nicht weniger als wir die unseren,
Sir«, verkündete Lloyd George. »Sie sind die Ritter dieses Krieges,
ohne Furcht und ohne Tadel. Sie haben die ruhmreiche Zeit der
Chevalerie wiederauferstehen lassen, nicht allein durch ihre kühnen
Taten, sondern auch durch ihr edles Gemüt.«
»Ganz recht«, pflichtete Beauregard bei, in der
sicheren Annahme, dass der Minister aus einer seiner Reden
zitierte. »Aber unsere Helden sind, im Ganzen, bescheidene Männer.
Wir brauchen keine Batterie von Reklameagenten und
Porträtfotografen, wie sie das Kriegspresseamt unterhält, um für
Leute wie Max Immelmann, Oswald Boelcke und Manfred von Richthofen
die Trommel zu rühren.«
Der Name des Roten Barons hing in der Luft.
»Es wäre äußerst vorteilhaft, wenn wir diesen
Richthofen vom Himmel holen könnten«, meinte Sir William Robertson.
Der warmblütige General hielt nichts von neumodischen Erfindungen
wie Flugzeugen und Panzern. »Damit wäre der Beweis erbracht, dass
es im Krieg keine Richtwege gibt. Keinen Ersatz für ein gutes Pferd
und einen besseren Mann.«
»Es spricht ohne Frage einiges für diesen
Standpunkt«, sagte Beauregard, ohne näher zu erläutern, was
tatsächlich dafür sprach. »Aber was dem Diogenes-Club Sorge
bereitet, ist der Umstand, dass es um den Zirkus ungewöhnlich ruhig
geworden ist, seit er in Malinbois die Zelte aufgeschlagen hat.
Zwar verzeichnen die Deutschen nach wie vor mit schöner
Regelmäßigkeit einen Luftsieg nach dem anderen, aber die bei der
Presse und in der Öffentlichkeit so beliebten sensationellen
Einzelheiten sind rar geworden. Das JG1 hat ungewöhnliche
Unterstützung bekommen.«
»Ungewöhnlich?«, bohrte Ruthven.
»Das Château steht unter dem Befehl von General
Karnstein, einem österreichischen Ältesten, der unseren
Erkenntnissen zufolge zu den engsten Vertrauten des Grafen von
Dracula gehört.«
Die kalten Augen Ruthvens verrieten Interesse. Der
Premierminister verfolgte die Machenschaften seiner Genossen voller
Neugier. Unter den Ältesten war er ein Ausgestoßener; seine Haltung
gegenüber den bekannteren Blutgeschlechtern war von Neid nicht
unbefleckt.
»Ich kenne den Vampir. Er ist das Oberhaupt einer
weit verzweigten Sippe. Seit seine grauenhafte Tochter den
wirklichen Tod gefunden hat, ist er nicht mehr der Alte.«
Verstohlen zog der Rüstungsminister ein großes,
bewusstloses Kaninchen aus der Tasche. Churchill war ein großer
Freund des Alkohols. Seine besondere Vorliebe bestand darin, das
Blut von Tieren mit Madeira anzureichern. Er setzte seine wulstigen
Lippen an die Kehle des Kaninchens und begann dezent zu
saugen.
»Hmmm … lecker«, murmelte er. Die übrigen
Anwesenden enthielten sich wohlweislich eines Kommentars. Asquith,
auch kein Kostverächter, sah durstig aus.
»General Karnstein gibt unweit der Front
Gesellschaften und Konferenzen«, sagte Beauregard. »Neben den
üblichen Namen, wie Anthony Fokker, ist uns zu Ohren gekommen, dass
auch der eine oder andere Vampirälteste zugegen war. Sowie einige
ungewöhnliche Neugeborene. Unter ihnen auch Geertruida
Zelle.«
»Ihre große Versuchung, Beauregard«, sagte Ruthven.
»Die gefährliche und geheimnisvolle Mata Hari.«
»Meine? Wohl kaum.«
»Ohne Ihre Mithilfe hätten wir sie nie
gefasst.«
Beauregard kehrte bescheiden die Handflächen nach
oben. Obgleich die Presse sie groß herausgestellt hatte, war
Geertruida Zelle nicht die Spionin, als die sie ausgegeben wurde.
Dennoch hatte man sie gefasst, und nun sah sie ihrer Hinrichtung
entgegen. Ihre
»Opfer« waren in der Hauptsache hochrangige französische
Offiziere, unter ihnen auch der unselige General Mireau. Pétain
bestand auf ihrer zeremoniellen Vernichtung, während Beauregard den
Premierminister ersucht hatte, sie zu begnadigen. Doch das war
unwahrscheinlich: Da die Deutschen Schwester Edith Clavell auf dem
Scheiterhaufen verbrannt hatten, glaubte Ruthven, um die Rechnung
auszugleichen, kämen die Alliierten nicht umhin, Mata Hari zu
erschießen.
»Wir alle sind doch Männer von Welt«, meinte der
Premierminister. »Ich für meinen Teil kann mir durchaus vorstellen,
weshalb das deutsche Oberkommando die Künste einer Mata Hari auf
Malinbois zum Einsatz bringt. Der Graf pflegt seine unerschrockenen
Krieger reichlich zu belohnen.«
Churchill steckte das blutbesudelte Kaninchen in
seine Jagdtasche zurück und brach in gurgelndes Gelächter aus. Er
hatte Madeira in den Adern, und seine Augen röteten sich in den
Winkeln. Bis auf das Karminrot seiner schlaffen Lippen war sein
volles Gesicht puderweiß.
»Hier geht es um mehr als bloße Unzucht oder
Schwelgerei«, sagte Beauregard zurückhaltend. »Wenn sie es hoch
hergehen lassen wollten, würden die Deutschen daraus kein Geheimnis
machen. Im Gegenteil, sie tun ihr Bestes, um den amourösen Ruhm der
Flieger-Asse noch zu mehren, indem sie Romanzen mit berühmten
Schönheiten erfinden, die kaum länger dauern als eine Pose für die
Pressefotografen.«
Ruthven blickte in die Runde seiner Berater und
tippte sich mit dem Fingernagel gegen einen Vorderzahn. Er dachte
demonstrativ nach.
»Smith-Cumming«, sagte er. »Was macht unser alter
Freund Graf von Dracula?«
Der Meisterspion zog ein Büchlein voller in einer
persönlichen Chiffre verfasster Notizen zu Rate.
»Er ist in Berlin gesehen worden. Er wird kommenden
Monat in Brest-Litowsk mit den bolsheviki zusammentreffen,
wo sich der Iwan aller Voraussicht nach zur Demobilisierung
bereiterklären wird.«
»Jammerschade. Schließlich bin ich stets dafür
gewesen, das Britische Empire bis auf den letzten Tropfen
Russenblutes zu verteidigen.«
Die Generale und Minister lachten verhalten über
Ruthvens Scherz. Selbst der maskenhafte Mr. Croft setzte ein
gequältes Lächeln auf.
Smith-Cumming blätterte um. »Unter unseren Berliner
Agenten herrscht bemerkenswerte Einigkeit darüber, dass der Graf
keineswegs die Absicht hat, dem Château du Malinbois kommenden
Monat einen Besuch abzustatten. In diesem Falle scheint es höchst
sonderbar, dass uns diese Nachricht derart aufgedrängt wird.
Schließlich macht sich auch niemand die Mühe, uns davon zu
unterrichten, dass der Kaiser keineswegs die Absicht hat,
seinem Barbier einen Besuch abzustatten, um sich die
Schnurrbartspitzen wichsen zu lassen.«
»Kommenden Monat?«, brummte Churchill.
»Wird der Graf sich nicht in Malinbois aufhalten«,
bekräftigte Smith-Cumming.
»Wann hat Dracula das Château zum letzten Mal
besucht?«
»Vor etwa hundert Jahren, Herr
Premierminister.«
»Was schließen wir daraus?«
Smith-Cumming zuckte die Achseln. »Eine raffinierte
Intrige ist im Gange, keine Frage. Wir messen uns mit Meistern
ihres Faches.«
»Wenn die Russen erst einmal aus dem Spiel sind,
wird der Hunne einen Großangriff auf die Westfront ansetzen«, sagte
Churchill. »Graf Dragulya ist berühmt für diese
Vernichtungstaktik.«
Churchill bevorzugte eine wunderliche Aussprache
von »Dracula«. Doch das war nur eine seiner unzähligen
Schrullen.
»Das ist doch lachhaft«, polterte General Sir Henry
Wilson. »Dazu fehlen dem Kaiser die Männer und die Mittel, der
Schliff und der Schneid. Haig wird Ihnen bestätigen, dass
Deutschland ein ausgemachter Popanz ist. Der Hunne ist schwer
getroffen, er hat den Kopf verloren. Er kann nur mehr im Staube
kriechen und verbluten.«
»Es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen zuzustimmen«,
sagte Ruthven, »doch den Wilden Willi zu bekämpfen, wollen wir
anderen überlassen. Winston hat ganz Recht. Uns steht ein
Generalangriff bevor. Ich bin mit dem transsylvanischen Rohling
seit alters bekannt. Er ist so falsch wie Katzengold, er sagt Gott
und meint Kattun. Er wird erst einhalten, wenn wir ihm Einhalt
gebieten. Selbst dann muss er vernichtet werden. Wir dürfen Dracula
kein zweites Mal das Leben schenken.«
»Ich teile die Ansicht des Premierministers«, sagte
Lloyd George. »Dracula kommandiert die Mittelmächte. Wir müssen
seinen Willen brechen.«
Beauregard räumte verdrossen ein, dass auch er an
eine Großoffensive glaube. »Wenn die Feindseligkeiten an der
Ostfront erst beendet sind, steht uns für den Kampf im Westen ein
Millionenheer zur Verfügung. Im Feuer der Schlacht gehärteter
Stahl, keine milchbärtigen Rekruten.«
»Und Malinbois?«, fragte Ruthven. »Ob das Château
Draculas Vorposten ist? Er wird gewiss ins Feld ziehen wollen. In
dieser Hinsicht ist er ein eitler Barbar. Noch hat er es nicht
getan, aber es wird ihn zweifellos danach gelüsten.«
»Das Schloss wäre ein vorzügliches Hauptquartier«,
meinte Beauregard. »Um eine Bodenoffensive zum Erfolg zu führen,
muss er uns in der Luft den Schneid abkaufen. Dazu braucht er das
JG1 an seiner Seite.«
Erregt ließ Ruthven die Hand auf seinen
Schreibtisch niedersausen. Seine monotone Stimme schwoll an zu
einem ohrenbetäubenden Kreischen.
»Ich hab’s! Er will seine schwarzen Schwingen
ausbreiten und fliegen. Er wird mit seinem Luftschiff, der
Attila, aufsteigen. In diesem Krieg geht es allein um ihn
und mich. Wir sitzen uns am Schachbrett Europa gegenüber. Für ihn
bin ich das Großbritannien, das ihn erniedrigt und verspottet hat.
Für mich ist er der Vampir der Vergangenheit, die es zu überwinden
gilt. Es ist ein Kampf um Philosophie und Ästhetik …«
In Churchills Bauch rumorte es, und Lloyd George
inspizierte die Aufschläge seiner gestreiften Hosen. Beauregard
fragte sich, ob Millionen wirklich Toter glaubten, sie seien für
Philosophie und Ästhetik in den Krieg gezogen.
»Dies ist unser Duell. Mein Verstand gegen den
seinen. Er ist gerissen, das muss man ihm lassen. Und mutig, zu
allem bereit. Wie er sein Spielzeug liebt: seine Züge, seine
Flugmaschinen, seine schweren Geschütze. Er ist wie ein monströses
Kind. Wenn er seinen Willen nicht bekommt, wird er die Welt
verwüsten.«
Ruthven stand auf und vollführte dramatische
Gebärden, als posiere er für ein Porträt: Der Premierminister in
seiner ganzen Pracht.
»Doch ich weiß, wie wir unseren bösen Feind zu Fall
bringen werden. Beauregard, behalten Sie Schloss Malinbois im Auge.
Ich wünsche Einzelheiten, Fakten, Zahlen. Mr. Croft, dies scheint
mir ein Projekt so recht nach Ihrem Geschmack zu sein. Sie werden
Beauregards Berichte entgegennehmen und in eine Ordnung
bringen.«
Der Mordagent runzelte die Augenbrauen.
Ruthven fuhr fort: »Wir können Draculas
Kinderstuben-Schwärmereien gegen ihn benutzen, ihn in unsere Falle
locken und unsere Hände um seine vermaledeite Kehle
schließen.«
5
Der Prophet von Prag
Lichtdolche stachen durch die Ritzen
zwischen den scharf gezackten Ziegeln, die das niedrige,
abschüssige Dach bedeckten. Die kletternde Sonne raubte ihm die
Kraft, doch in ihm wütete der rote Durst. Er hungerte nach
Menschenblut. Edgar Poe wähnte sich, wie immer, einen armen
Hund.
Er saß auf seiner Pritsche, hatte die Ellbogen auf
die Knie gestützt und hielt den Kopf gesenkt, damit er nicht gegen
die Decke stieß. An der gegenüberliegenden Wand ragten, zwei oder
drei Reihen tief, massive Büchersäulen in die Höhe. Die dicksten,
nur selten benutzten Bände bildeten einen literarischen Sims, der
ihm als Tisch diente. Ein halbvoller Humpen seimigen Saftes stand
in einer kreisförmigen Vertiefung im Leineneinband seines Schiller.
Der Gestank von tagealtem Tierblut stach ihm in Mund und Nase. Sein
Magen setzte sich zur Wehr, doch bald schon würde er trinken
müssen.
Dies war nicht die erste Durststrecke seit seiner
Verwandlung. Warmblütigen Menschen fraß der Hunger Löcher in den
Bauch; der nosferatu-Schmerz hingegen war ein pulsierendes
Feuer im Herzen, verbunden mit einem quälenden Verlangen im Hals
und auf der Zunge. Die Nährkraft des Blutes lag im Geschmack und
der Substanz sowie der geistigen Verschmelzung bei der
Vampir-Kommunion.
Ihn ins Ghetto, Prags uraltes Repositorium für
Ausländer und Ungeliebte, zu sperren, war von erlesener
Grausamkeit. Dem von Franz Joseph und Kaiser Wilhelm erlassenen
Grazer Edikt zufolge war es einem Hebräer verboten, sich zu
verwandeln. Daher betrachteten die Juden den Vampir als Raubtier
und hielten ihre Frauen von ihm fern. Wie bei den meisten unter dem
Diktat des
Grafen von Dracula erlassenen Edikten wurde jeglicher Verstoß mit
standrechtlicher Pfählung geahndet.
Es war nicht leicht, seinen inneren Vampir zu
nähren. Er war gezwungen, sich bei einem koscheren Fleischer
Tierblut zu verschaffen. Der Israelit war ein verfluchter
Halsabschneider. Der Preis für ein paar ranzige Tropfen
Rinderblutes war in drei Jahren um das Zehnfache gestiegen.
Manchmal trieb ihn das Verlangen nach dem süßen, wohlriechenden
Blut junger Frauen an den Rand des Wahnsinns. Stark und schwach
zugleich, blickte er in einen Mahlstrom. Mit einer Mischung aus
Grausen und Entzücken gedachte er der Nacht, da ihn das Verlangen
überkommen würde. Mit scharfen Klauenhieben würde er in eine nahe
gelegene Bodenkammer dringen und eine fette Ehefrau oder Tochter
zwingen, sich ihm hinzugeben. Dann, gesättigt, würde er seinen
poetischen Träumereien nachhängen, und die Worte würden ihm aus der
Feder sprudeln wie Wasser aus einer Quelle. Die Juden würden seiner
unglücklichen Laufbahn mit einem Pflock ein blutiges Ende
bereiten.
Eines Abends im Mai 1917 war Poe aus seiner
Lethargie erwacht und musste feststellen, dass der kurzsichtige
Feigling Wilson die Vereinigten Staaten von Amerika in den
europäischen Konflikt verwickelt hatte. Mit einem Federstrich hatte
Wilson aus Edgar Poe einen Feind der Mittelmächte gemacht. Damals
hatte er in einem halbwegs behaglichen Logierhaus am
Sladkowskyplatz gewohnt und sich als Dozent ein kümmerliches
Einkommen verdient. Obgleich der Ruhm der Schlacht von St.
Petersburg recht schnell wieder verblasst war, hatte sein Name
etwas von seinem alten Glanz behalten. Wenn alle Stricke rissen,
konnte er immer noch den »Raben« rezitieren, die einzige Konstante
seines Lebens, seines Ruhms. Er betrachtete das Gedicht schon lange
nicht mehr als sein Werk und verabscheute das »Nimmermehr«-Geplärr
von ganzem Herzen.
Heute, acht Monate später, hauste er auf einem
Dachboden, kaum größer als ein Sarg. Das Ghetto war ein schmutziges
Labyrinth aus engen, überdachten Gässchen, eher Tunnel denn
Straßen. Ein verseuchter Bienenstock aus Holz und Mörtel. Jedes
Zimmer beherbergte unglaubliche Mengen schnatternder, schwatzender
Hebräer. Europa wimmelte von Untermenschen. Wenn er sich über die
Salniter Gasse hinauswagte, musste Poe eine Armbinde tragen, die
ihn als feindlichen Ausländer kenntlich machte.
Er war mit großen Erwartungen von den finsteren und
chaotischen Gestaden seines vaterländischen Philistia in eine alte
Welt der Kultur aufgebrochen. Doch statt der gesuchten Freiheit
hatte er nur alte Feinde vorgefunden, den Neid der Geringeren und
die Versuchung der Verzweiflung. Die wenigen, die sich
bereitgefunden hatten, seinen Fall zu überdenken, behandelten ihn
wie ein Rätsel im Gewand eines Plagegeistes, einen wundersamen
Kauz, dessen nähere Betrachtung sich nicht lohnte.
Sein Zahnfleisch wich zurück, und seine spitzen
Zähne schmerzten. Eine eiserne Faust schloss sich um sein Herz. Er
konnte es nicht mehr ertragen. Seine Schwäche verfluchend, ergriff
er den Humpen und kippte sich die klumpigen Reste in die brennende
Kehle.
Unbeschreibliche Fäulnis überschwemmte seinen Mund,
und schwarzer Schmerz sprengte ihm den Schädel. Es war rasch
vorbei. Der rote Durst war, fürs Erste wenigstens, gestillt. Es
blieb ein widerlicher Nachgeschmack, als sei das Blut mit
Maschinenöl versetzt gewesen.
Das Blut trübte seinen Verstand. Er dachte an
blasshäutige Frauen mit lebhaften Augen, strahlendem Lächeln und
langem feinem Haar. Ligeia, Morella, Berenice, Lenore, Madeline.
Ihre Gesichter verschmolzen in eins. Virginia. Seine Gemahlin war
mit Blut im Mund entschlafen, ihre Kinderstimme im Gesang erstickt.
Später
kehrte sie zurück aus ihrem Grab und bedeckte ihn mit langzähnigen
Küssen. Sie säugte ihn mit ihrem Blut und verwandelte ihn.
Inzwischen war Virginia wirklich tot, mit Atlanta verbrannt, und
doch war sie ihm Frau, Tochter, Schwester und Mutter zugleich. Er
lebte mit ihrem Geschmack auf der Zunge und ihrem Blut in seinem
unsterblichen Körper.
Plötzlich hämmerte es gegen die Tür. Erschrocken
sprang er von der Pritsche. Sein schwindelnder Schädel prallte
gegen einen Balken, und er stöhnte. Er riss die Tür auf, schälte
den Teppich von den nackten Bodendielen. Draußen, auf dem obersten
Treppenabsatz, stand ein Vampir in Uniform und funkelte ihn unter
dem adlerbewehrten Schirm seines Tschakos wütend an. Seine
Schnurrbartspitzen waren gezwirbelt und gewichst. Poe erkannte den
Boten der Kommission für feindliche Ausländer.
»Guten Morgen, Herr Unteroffizier Paulier«, sagte
Poe auf Deutsch. Deutsch war die Amtssprache Österreich-Ungarns. Es
gab Tschechen und Polen, die kein Wort in ihrer eigenen Zunge über
die Lippen brachten. »Was verschafft Prags gefährlichstem
Angehörigen einer feindlichen Macht die Ehre Ihres Besuches?«
Statt einer Antwort streckte Paulier einen
hölzernen Arm aus. Ein Umschlag war mit einer Nadel an seinem
Handschuh befestigt. Wie so viele Funktionäre war der Bote ein
Wechselbalg des Krieges. Sein Blut war nicht kräftig genug, um ein
verlorenes Glied neu zu bilden. Poe löste den Brief und schlitzte
ihn mit spitzem Fingernagel auf. Paulier machte wortlos kehrt und
stieg die vielen Treppen wieder hinab, seine falsche Hand klapperte
gegen die Geländerstäbe.
Eine der gegenüberliegenden Türen öffnete sich
einen Spaltbreit, und etwa drei Fuß über dem Boden glänzten große,
feuchte Augen. Das ganze Haus schwärmte von Ratten und semitischen
Kindern. Degenerierte Rassen konnten sich ungehemmmt vermehren.
Dracula tat recht daran, ihnen zu verbieten, sich in Vampire
zu verwandeln. Poe fletschte die Fangzähne und fauchte. Die Tür
fiel ins Schloss. Er las die Nachricht von der Kommission. Man
zitierte ihn erneut vor das Gericht am Hradschiner Platz.
Der Nachmittag schleppte sich dahin. Poe saß
allein in einem kathedralenhaften Wartesaal und horchte, wie die
Zeit verrann. Seit seiner Verwandlung besaß er ein so scharfes
Gehör, dass er selbst das Räderwerk einer Uhr deutlich wahrzunehmen
vermochte. Ein durch Mark und Bein gehendes Knirschen und Klicken
begleitete jede Sekunde. Noch das winzigste Geräusch hallte in
seinem Schädel wider wie Regentropfen auf einem Trommelfell.
Insgeheim pflegte er das Amt, in dessen Räumlichkeiten man ihn
nicht zum ersten Mal zitierte, als den Palast von
Vondervotteimittiss zu bezeichnen. Seine staubigen Winkel und
kalten, harten Bänke waren vom Gang der Geschichte unberührt
geblieben.
Vor vier Jahren, bei Kriegsausbruch, standen dem
Kaiserreich genügend Mittel und Wege zur Verfügung, gegen
feindliche Ausländer vorzugehen, die innerhalb seiner Grenzen
gefangen waren. Es gab Internierungslager und
Rückführungsprogramme. Doch die Bürokraten und Diplomaten, die sich
mit derlei Feinheiten befassten, waren in der Armee untergetaucht
und aller Voraussicht nach nicht mehr am Leben. Seit dem späten
Kriegseintritt der Vereinigten Staaten verschlug es nur noch wenige
ihrer Bürger hinter die feindlichen Linien. Poe, der sich längst
nicht mehr als Amerikaner fühlte, befand sich in einer äußerst
sonderbaren Lage. Kaum einer der Passanten wusste um die
tatsächliche Bedeutung seiner lachhaften Armbinde. Er wurde weitaus
häufiger von vornehmen Damen angegangen, die ihm nahelegten, er
möge seine Pflicht in Uniform erfüllen, als von patriotischen
Seelen, die in ihm einen Todfeind der Habsburger erkannten.
Das Zifferblatt der Uhr, groß wie ein Wagenrad, war
in eine klassizistische Orgie aus schmuddeligem Marmor eingelassen,
welche über einer Tür befestigt hing, die selbst einen Hünen
doppelt und dreifach überragte. Bei ihr dauerte die Sekunde
eineinhalbmal länger als bei Poes Taschenuhr. Er verglich sein
Chronometer mit der Uhr, und es schien, als hätten sich die beiden
Zeitanzeiger verschworen, mit derselben Geschwindigkeit zu laufen.
Als er die Uhr schließlich in seine Westentasche zurückschob, wurde
der Wandzeitmesser wieder langsamer. Quälende Pausen dehnten jedes
Ticken.
Er hatte keine Heimat mehr, doch was seinen Fall
noch komplizierte, war Die Schlacht von St. Petersburg.
Obgleich es allenthalben in den Schmutz gezogen wurde, bewahrte ihn
das Buch vor dem leidigen Schicksal, in ein Kriegsgefangenenlager
verbracht zu werden. Im Falle einer Rückführung wäre ihm in seinem
Geburtsland gewiss kein freundlicher Empfang zuteilgeworden. Da er
im Sezessionskrieg für die Sache der Rebellen gefochten hatte,
weigerte er sich, die Vereinigten Staaten mit ihrer jetzigen
Verfassung anzuerkennen. Während Wilson heuchlerisch Neutralität
gepredigt hatte, war er heimlich der Triple Entente zu Hilfe
geeilt; Poe trat bekanntermaßen offen für den gerechten und
unausweichlichen Triumph der Mittelmächte ein.
Zu Beginn des Krieges hatte er versucht, ein
Offizierspatent in den Armeen Österreich-Ungarns zu erwerben. Von
Neidern und Narren am Fronteinsatz gehindert, hatte er seine längst
verstummte Muse zu neuen Höhenflügen angespornt. Verfasst in einem
einwöchigen, fiebrigen Anfall von Schaffenskraft, beschrieb Die
Schlacht von St. Petersburg, wie Wilhelm und Franz Joseph
binnen eines Monats Frankreich in die Knie zwangen und sich sodann
der feierlichen Pflicht zuwandten, Russland zu erobern. Eine
Geschichte von wagemutigen Dampfrossattacken und kühnen,
blaublütigen Helden, die den Kampfgeist großer Tage mit den Wundern
der modernen Wissenschaft verband. Ganz Europa stand im Banne
seiner Schilderung des von Zeppelinflotten belagerten St.
Petersburg
und der völligen Unterwerfung der Kosaken durch motorisierte
Ulanen. Dracula zeigte sich so fasziniert von der Vorstellung eines
selbst getriebenen Molochs, der sich Schienen legte, um darauf ins
Herz des Zarenreiches vorzustoßen, dass er eine Prüfung über die
Möglichkeit verlangte, ein solches Gefährt nachzubauen. Dies fand
die Unterstützung des Ingenieurs Robur, dem unentwegten Streiter
für den Einsatz von Luftkriegsschiffen. In England und Amerika
erschienen Raubdrucke »vom berühmten Verfasser des ›Raben‹«. Ein
gewissenloser Belgier, der sich J. H. Rosny aîné nannte, kopierte
das Buch Kapitel für Kapitel unter dem Titel La bataille de
Vienne, wobei er aus den deutschen Figuren Franzosen machte und
russische Ortsnamen durch Schauplätze in Deutschland und
Österreich-Ungarn ersetzte. Poe gewann seinen Ruf als Visionär
zurück, den er in seinen warmblütigen Tagen errungen hatte, und war
als Redner sehr begehrt. Er besuchte Turnanstalten und teilte seine
Vision mit markigen, frisch uniformierten jungen Männern, die sie
in die Tat umsetzen würden. Es schien, als könne er solch infantile
Plagiatoren wie Monsieur Verne und Mister Wells auf alle Zeit
vergessen machen.
Ein alter Mann trappelte durch den Wartesaal. Er
zog einen Schubkarren mit prall geschnürten Bündeln vergilbten
Papiers hinter sich her. Obgleich er warmen Blutes war, roch er
saftlos und dürr. Ohne Poe eines Blickes zu würdigen, verschwand
der Schreiber durch eine Seitentür in einem labyrinthischen Archiv.
Das Hohe Gericht des Amtes war eine Festung des vergessenen
Wissens, eine Alexandrinische Bibliothek der Nichtigkeiten.
Obschon die »Prophezeiungen« der Schlacht von
St. Petersburg nunmehr von denselben Kritikern verdammt wurden,
die sie einst als vorbildlich gepriesen hatten, hielt Poe seine
Vision für wahrhaftiger als die der Kriegsberichterstatter. Seine
Welt hätte Wirklichkeit sein sollen; nicht das schlammige,
retranchierte, todbringende Patt, das ganz Europa lähmte. Die
Briten hätten
entweder neutral bleiben oder gegen ihren Erbfeind, den Franzosen,
zu Felde ziehen müssen. Wahrlich, was scherte sich ein Brite um das
kleine, rotznäsige Belgien? Zeppeline würden majestätisch über den
versklavten Horden der Steppe schweben. Die Großen Kaiserreiche
würden sich alles Unreinen entledigen und die Geschicke des
Planeten lenken.
Edgar Poe wäre der größte Prophet seiner Zeit. Es
hieß, dass kein Vampir ein Werk von bleibendem ästhetischem oder
intellektuellem Wert erschaffen könne. Poe gierte danach, dieses
Diktum zu entkräften. Doch die Welt von Glanz und Gloria, die kurz
vor der Geburt zu stehen schien, verwandelte sich mit einem Mal in
einen Alb der Langeweile und des Hungers.
Die Aufschläge seiner Hosen waren ausgefranst, und
er trug einen Zelluloidkragen, der mit Federharz gesäubert werden
musste. Es war eine Gnade Gottes, dass Virginia nicht mehr zu
erleben brauchte, in welch jämmerlichem Zustand ihr Eddy sich
befand.
Ein Bediensteter trat ein. Er trug eine bodenlange
Schürze und eine übergroße Mütze mit grüner Augenblende. Er hielt
ein Glöckchen in die Höhe und ließ es schellen. Das Klingeling war
eine wahre Folter für Poes Ohren.
»Herr Poe, wenn Sie mir folgen möchten«, sagte der
Bedienstete in schlechtem Deutsch.
Die Unterredung fand nicht in einer Stube, sondern
in einem hohen Flur statt. Durch schmale Fenster fiel schmutziges
Licht. Amtsdiener schoben schwere Karren über den Korridor. Poe
musste sich gegen die Wand drücken, um sie passieren zu
lassen.
Poe traf nicht zum ersten Mal auf Kafka, einen
scharfsinnigen Juden mit wunderlichen Segelohren und
durchdringendem Blick. Da dem Schreiber die Vorstellung, dass ein
Amerikaner sich im Ghetto aufhielt, nicht recht zu behagen schien,
legte er bei der Lösung des Falles schwunghaften Eifer an den Tag.
Bislang hatten
seine Bemühungen jedoch nur zu einer wachsenden Flut von
widersprüchlichen Notizen seiner Vorgesetzten geführt. Trotzdem
hatte Poe ihn in sein Herz geschlossen. Er war die einzige Seele in
ganz Prag, die Poe nicht allein der Schlacht von St.
Petersburg und des »Raben« wegen kannte, und hatte ihn sogar
gebeten, eine billige Ausgabe der Tales of Mystery and
Imagination mit einer Widmung zu versehen. Zwar hatte Kafka
beiläufig erwähnt, dass auch er gelegentlich zur Feder greife, doch
da Poe keine nähere Bekanntschaft mit dem Juden schließen mochte,
gab er sich betont gleichgültig. Poe wurde einem gewissen Hanns
Heinz Ewers vorgestellt, einem überaus vornehm gekleideten Vampir,
der sich offenbar auf vielerlei Gebieten für bewandert hielt.
Anders als die meisten Deutschen trug er keine Uniform, sondern
einen Anzug.
»Welche Ironie, Herr Poe«, sagte Ewers, »wir sind
wahrhaftig Zwillinge, Spiegelbilder, Doppelgänger. Als der Krieg
ausbrach, war ich in Ihrem Vaterland, in New York City …«
»Ich betrachte das föderalistische Amerika schon
seit langem nicht mehr als mein Vaterland. Ich habe mein
Nationalgefühl bei Appomattox verloren.«
»Wie Sie meinen. Auch ich war verzweifelt, wie Sie
es jetzt sind. Auch ich war Dichter, Philosoph und Visionär,
schrieb Aufsätze, Abhandlungen und Sensationsromane. Ich habe neue
Gebiete der Kunst für mich erobert, einschließlich des
Kinematographen. Als Vorhallen-Agitator stand ich in den Diensten
meines Kaisers, aber leider reichten meine Bemühungen nicht aus,
das Missverständnis zwischen der Neuen und der Alten Welt zu
klären. Ich wurde interniert und deportiert. Ich wollte Sie schon
lange einmal kennenlernen, Herr Poe.«
Poe blickte Ewers in die Augen und sah, dass etwas
fehlte. Ewers war eine halbfertige Imitation, die ihre inwendigen
Mängel durch Übertreibung wettzumachen versuchte.
»Ich habe kurzzeitig erwogen, Sie zu verklagen,
Herr Ewers«, sagte Poe geradeheraus. »Der Student von Prag,
ein Lichtspiel, für das Sie verantwortlich zeichnen, ist ein
schmähliches Plagiat meiner Erzählung ›William Wilson‹.«
Die Beschuldigung traf Ewers wie eine Ohrfeige ins
Gesicht, doch er hatte sich im Nu gefasst. »Gewiss nicht mehr und
nicht weniger, als Ihr ›William Wilson‹ ein Plagiat E.T.A.
Hoffmanns ist.«
»Kein Vergleich«, erwiderte Poe ungerührt.
Ewers lächelte. Der Mann erfüllte Poe mit Abscheu.
Sein Betragen war ebenso töricht, ungeschlacht und fadenscheinig
wie seine Romane und Erzählungen. Dass er beim Film arbeitete,
stand ihm bestens zu Gesicht. Den Grimassen, Verrenkungen und
Narreteien des kinema war eine Vulgarität zu eigen, die an
Ewers haftete wie nasser Kot.
»Der Fall Edgar Poe wäre zu prüfen«, erinnerte
Kafka und hielt einen dicken Ordner voller Papiere in die
Höhe.
»Nein«, sagte Ewers und ergriff den Ordner mit der
ganzen Kraft eines Untoten. »Was Sie betrifft, so ist der Fall
Edgar Poe hiermit erledigt. Deutschland benötigt seine Dienste, und
Prag wird ihn mir als Repräsentanten von Kaiser und Krone
übergeben.«
Kafka zauderte, und seine Augen flackerten. Poe war
ungewiss, doch es schien, als zaudere der Schreiber aus Sorge um
ihn.
Ein einbeiniger Mann mit verhülltem Gesicht
humpelte vorüber. Auf dem Rücken trug er einen Korb wie eine
Winzerkiepe, halbvoll mit stehengebliebenen Taschenuhren.
»Herr Poe«, sagte Ewers, »man hat Sie für eine
gewisse Aufgabe von größter nationaler Bedeutung auserwählt
…«
»Der Wind hat sich gedreht, Herr Ewers. Ich blicke
auf eine hervorragende Militärlaufbahn in meinem früheren Vaterland
zurück, einschließlich eines Studiums an der Akademie von West
Point, und doch wurden all meine Bemühungen, als Freiwilliger in
die Armeen der Kaiserreiche einzutreten, schroff und verächtlich
abgewiesen. Obwohl ich eine international anerkannte Autorität auf
dem Gebiet der modernen Kriegsführung bin, habe ich auf meine
zahlreichen brieflichen Vorschläge an die Herren Generale Moltke,
Falkenhayn, Ludendorff und Hindenburg keinerlei Antwort erhalten
…«
»Im Namen des Kaisers und des Grafen von Dracula
möchte ich Ihnen das Bedauern einer ganzen Nation aussprechen«,
verkündete Ewers und streckte die Hand aus, als wolle er den Segen
spenden.
Kafkas Blick schnellte zwischen Poe und Ewers hin
und her. Poe hatte den Eindruck, dass der Jude seine Ansichten über
den Deutschen teilte, wenngleich er über einen weitaus größeren
Erfahrungsschatz verfügte, um seinen Widerwillen zu
rechtfertigen.
»Worauf warten Sie?«, schnauzte Ewers den Schreiber
an. »Herr Poe ist ein wichtiger Mann. Händigen Sie ihm seine
Reisepapiere aus. Wir werden morgen in Berlin erwartet.«
Kafka schlug seinen Aktenordner auf und reichte Poe
ein Dokument.
»Die benötigen Sie jetzt nicht mehr«, sagte Ewers,
zerrte mit scharfen Krallen an Poes Ärmel und riss die Armbinde
herunter. »Von nun an sind Sie in den Kaiserreichen so sicher, als
wären Sie ein reinblütiger Deutscher.«
Mit einem Schlag fühlte sich Poe ein zweites Mal
verwandelt.
6
Mata Hari
Die Gefangene war Beauregards Bitte um
einen Besuch mit Freuden nachgekommen. Auch wenn er nicht in Sachen
Malinbois hätte ermitteln müssen, hätte er sie vermutlich
aufgesucht. Obgleich er bei ihrem Prozess ausgesagt hatte, waren
sie einander nie begegnet.
Als er den Verschlag des Stabswagens öffnete und
auf den Exerzierplatz trat, war ihm, als setze er den Fuß auf einen
Friedhof. Die Verurteilte wurde in einer Kaserne bei Paris gefangen
gehalten, die schon lange nicht mehr ihren ursprünglichen Zwecken
diente, da die Bewohner fort, vom Krieg verschlungen waren. Die
leeren Fenster der langen Gänge wirkten staubig und verschmutzt.
Nur ein Schlafsaal war bewohnt. Acht Männer, die von der Front
abgezogen worden waren, um als Erschießungskommando zu dienen,
schliefen in seliger Ruhe. Für sie war dies gewiss eine
Erleichterung.
Die Nacht war pechschwarz. Die Gefangene sollte,
wie ein warmblütiger Verbrecher, bei Morgengrauen erschossen
werden. Der Sonnenuntergang wäre ein weitaus günstigerer Zeitpunkt
zur Hinrichtung eines Vampirs gewesen.
In einer Stube brannte ein einsames Licht.
Beauregard klopfte an die Tür. Lantier, ein Veteran, dem eine
Gesichtshälfte fehlte, öffnete und bat ihn herein. Der Schließer
gab ihm höflich, aber unmissverständlich zu verstehen, dass er sich
von Besuchern, die den Gelüsten einer Feindin Frankreichs Vorschub
leisteten, nur ungern in seiner Nachtruhe stören ließ.
Lantier überflog Beauregards Besuchserlaubnis und
schnalzte bei jeder hochrangigen Unterschrift laut mit der Zunge.
Schließlich entschied er zu Beauregards Gunsten und ließ den
Engländer
in Mata Haris Zelle geleiten, nachdem er ihn in rasendem
Französisch über die Verhaltensmaßregeln unterrichtet hatte, die es
der Dame gegenüber zu beachten galt. Berührungen und der Austausch
von Gegenständen waren strengstens untersagt.
Der Ruhm der Vampirfrau würde ihren Tod vermutlich
überdauern. Solcherlei Theater befeuerte die übertriebenen
Geschichten, die man sich von ihr erzählte. Die »Opfer« von Madame
zeichneten sie als unwiderstehliche Verführerin, damit sie nicht in
den Verdacht gerieten, an den Erfolgen der Spionin in gewissem Maße
mitschuldig zu sein. Eine gewöhnliche Frau war unmöglich imstande,
so vielen Großen und Guten Geheimnisse zu entlocken. Dies war ein
extremes Beispiel für die Art der Bezauberung, die Vampire dem
Volksglauben entsprechend über ihre wehrlose Beute auszuüben
pflegten.
Die meisten der Offiziere, deren Namen im
Zusammenhang mit ihrem Fall, der unter Ausschluss der
Öffentlichkeit verhandelt worden war, Erwähnung gefunden hatten,
standen nach wie vor im aktiven Dienst. Lediglich einige kleine
Lieutenants waren mit ihr untergegangen. Der abscheuliche General
Mireau plante soeben seine nächste Offensive.
Man hatte ernsthaft vorgeschlagen, diesem Kommando
sollten ausschließlich im Krieg entmannte Veteranen zugeteilt
werden. Während er Lantier langsam zu den Zellen folgte, fragte
sich Beauregard, ob man diese schwachköpfige Idee tatsächlich
verwirklicht hatte. Wenn ja, deutete dies auf eine erschreckende
Unkenntnis über den physischen Akt zwischen einem Vampir und seinem
Opfer hin.
Lantier öffnete eine stabile Tür und ließ ihn in
die Zelle. Der kleine Raum war ungetüncht und verströmte die
Atmosphäre eines Kleiderschranks.
Die Gefangene saß an einem kleinen Fenster und
betrachtete den Untergang des Mondes. Mit ihrem kurzgeschnittenen
Haar und dem formlosen Baumwollkleid ähnelte sie in nichts der
diamantgeschmückten Verführerin, die ganz Paris verzaubert
hatte.
Sie wandte sich um und war in der Tat wunderschön.
Sie gab sich als Halb-Javanerin aus, doch Beauregard wusste, dass
sie die Tochter eines holländischen Hutmachers aus der Provinz war.
Nach der Verwandlung hatten ihre Augen sich verändert. Sie hatte
geschlitzte Pupillen, wie eine Katze. Die Wirkung war überaus
bemerkenswert.
»Madame Zelle?«, fragte er höflich, doch ohne
besonderen Nachdruck.
Anmutig stand sie auf und erwiderte seinen Gruß.
»Mr. Beauregard.«
Achselzuckend betrachtete er ihre blasse,
ausgestreckte Hand.
»Vorschriften«, erklärte er mit matter
Stimme.
Die Gefangene versuchte ein Lächeln. »Natürlich.
Wenn Sie mich berühren würden, wären Sie mein Sklave. Sie würden
die Wachen überwältigen und bis aufs Messer kämpfen, um mir zur
Flucht zu verhelfen.«
»So ungefähr.«
»Wie albern.«
Der Schließer brachte ihm einen Stuhl. Sie nahm
wieder Platz, und er setzte sich.
»Sie sind also der raffinierte Engländer, der mich
gefasst hat?«
»Bedauerlicherweise ja.«
»Da gibt es nicht das Geringste zu bedauern. Sie
haben nur Ihre Pflicht erfüllt.«
Vor dem Krieg hatte er sie ihren berühmten
javanischen Todestanz tanzen sehen. Zwar war sie keine Isadora und
ihr unbekannter Lehrer kein Diaghilew, doch der gewaltige Eindruck,
den sie bei ihrem Publikum - ob öffentlich oder privat, ob Fähnrich
oder General - hinterlassen hatte, war nicht zu leugnen.
»Sie sind ein ehrbarer englischer Patriot, und ich
bin eine prinzipienlose holländische Abenteurerin. Nicht
wahr?«
»Dazu möchte ich mich nicht äußern, Madame.«
Ihre Augen wurden größer. In ihrem Blick lag kalte,
planlose Wut. Doch das war noch nicht alles.
»Sie sind Warmblüter, nicht wahr?«
Hatte sie ihn für einen Vampir gehalten? Manche
nosferatu glaubten, dass nur ein Blutsauger es an
Verstandeskraft mit ihnen aufnehmen könne.
»Wie alt sind Sie, Mr. Beauregard?«
Eine ungewöhnliche Frage. »Vierundsechzig.«
»Ich hätte Sie für fünf oder zehn Jahre jünger
gehalten. Vampirgift hat Ihr Blut befleckt und den Alterungsprozess
verzögert. Aber das spielt keine Rolle. Es ist noch nicht zu spät,
sich zu verwandeln. Sie könnten ewig leben, wieder jung
werden.«
»Ist das eine so angenehme Aussicht?«
Ihr Lächeln wirkte echt, nicht aufgesetzt. Ein
winziger funkelnder Fangzahn lugte zwischen ihren roten Lippen
hervor.
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum, das gebe ich
gern zu. Anders als Sie bin ich unsterblich, aber im Gegensatz zu
mir werden Sie den morgigen Sonnenaufgang noch erleben.«
Er versuchte einen verstohlenen Blick auf seine
Armbanduhr zu werfen. Noch zwei Stunden bis Tagesanbruch.
»Das Todesurteil kann immer noch aufgeschoben
werden.«
»Haben Sie Dank für Ihr Mitgefühl, Engländer. Wie
ich höre, sind Sie persönlich für mein Leben eingetreten. Damit
haben Sie Ihren Ruf aufs Spiel gesetzt.«
Wenn sie nicht tatsächlich imstande war, ihrem
Gegenüber mit einem einzigen Blick wohlgehütete Geheimnisse zu
entlocken, konnte sie unmöglich wissen, dass er ihre Begnadigung
empfohlen hatte.
Ihr Lächeln wurde breiter und entblößte einen
Fangzahn. »Ich
habe meine Quellen. Geheimnisse lassen sich leicht
entschlüsseln.«
»Wie Sie eindrucksvoll bewiesen haben.«
»Sie sollten Ihr Licht nicht unter den Scheffel
stellen. Sie haben meine armseligen Geheimnisse ergründet wie ich
die vieler berühmter Männer. Allein durch konzentriertes Nachdenken
ist es Ihnen gelungen, meine Schleier und Intrigen zu durchschauen.
Kompliment.«
Er versuchte sich ihrer Schmeicheleien zu erwehren.
Sie zählten zu ihren stärksten Waffen. Alternde Offiziere waren
ihre bevorzugte Beute gewesen.
»Ich habe die Kunst der Enthüllung bei Meistern
ihres Faches erlernt«, erklärte Beauregard.
»Sie sind ein ranghohes Mitglied der herrschenden
Clique des Diogenes-Clubs, der zweit- oder drittwichtigste Mann des
britischen Geheimdienstes.«
Sie wusste mehr, als bei ihrem Prozess ans Licht
gekommen war.
»Keine Sorge, Charles. Ich werde Ihre wenigen mir
bekannten Geheimnisse mit in mein armseliges Grab nehmen.«
Plötzlich gebrauchte sie seinen Vornamen.
»Es tut mir aufrichtig leid, Geertruida«, erwiderte
er ihre Vertraulichkeit.
»Geertruida?«, sagte sie und ließ sich den
ungewohnten Namen auf der spitzen Zunge zergehen. »Geertruida«,
bekannte sie schließlich. Enttäuscht ließ sie die schmalen
Schultern sinken. »Wie hässlich, wie erbärmlich, wie plump. Beinahe
deutsch. Aber es ist nun einmal der Name, mit dem ich
geboren wurde, der Name, unter dem ich sterben werde.«
»Aber nicht der Name Ihrer Unsterblichkeit«, meinte
er.
Mit langen Fingern umrahmte sie ihr hübsches
Gesicht und ließ im Mondlicht dramatisch ihre Nägel flattern.
»Nein, ich werde auf ewig Mata Hari sein.«
Sie parodierte die Amerikanerin Theda Bara. Falls
es je einen Film über Mata Hari geben würde (und es würde gewiss
viele geben), dann war Theda Bara, eine berufsmäßige Vampirfrau,
deren Name ein Anagramm von »Arab Death« war, die einzige
Schauspielerin für diese Rolle. Sie gehörte einem Blutgeschlecht
an, das sich ohne weiteres im Bild festhalten ließ. Viele Vampire
erschienen auf Zelluloid als eine Art verwischter Klecks.
»Man wird mich doch nicht vergessen, oder?«, fragte
sie, plötzlich verwundbar geworden. »Mein Stern wird nicht
verblassen und von dem einer neuen Verführerin überstrahlt.«
Womöglich hatte diese Frau ihr Leben lang eine
Rolle gespielt; ihre Schleier bargen keinerlei Realität. Oder
vielleicht gab es ein geheimes Ich, das sie in ihren wirklichen Tod
mitnehmen würde.
»Man wird mir kein Pardon gewähren, Charles. Keine
Begnadigung in letzter Sekunde. Nicht wahr? Man wird mich
töten.«
»Ich fürchte, eine gewisse Person hat darauf
bestanden«, gab er traurig zu.
»General Mireau«, stieß sie wütend hervor. »Sein
Blut war dünn, müssen Sie wissen. Wie englische Suppe. Nichts für
ungut. Aber wissen Sie, wie viele Menschen durch ihn ums Leben
gekommen sind? Er hat seinen Leuten allein mehr Schaden zugefügt
als unter meinem Einfluss.«
Unter den Truppen des Generals war eine Meuterei
ausgebrochen. Mireau zählte zu den schlimmsten jener uniformierten
Narren, die den Krieg für eine Feuergrube hielten, die mit lebenden
Männern aufgeschüttet werden musste, um die Flammen zum Erlöschen
zu bringen. Der General glaubte, dass der Tod dieser Frau das Blut
von seinen Händen waschen würde.
»Die andere Seite ist keinen Deut besser«, sagte
sie. »Es war ebenso leicht, die Deutschen zu übertölpeln.«
Zu Beginn des Krieges hatte Geertruida Zelle für
den französischen Geheimdienst gearbeitet. Obgleich es dafür
keinerlei Beweise
gab, wusste er, dass sie auch für die Russen, die Ungarn, die
Türken und die Italiener tätig gewesen war. Sogar für die
Briten.
»Bei Hofe wurde ich dem Kaiser vorgestellt. Graf
von Dracula hat mich verwandelt.«
In diesem neuen, kalten Jahrhundert war der Graf um
sein Geblüt besorgt wie nie zuvor. Er trug, mehr als jeder andere
Vampirälteste, die Verantwortung dafür, dass die Seuche sich über
ganz Europa ausgebreitet hatte. Nun wachte er mit strenger Hand
über die Auswahl derer, die er zu verwandeln trachtete. Geertruida
Zelle war auch warmen Blutes eine bemerkenswerte Frau
gewesen.
»Wie ich sehe, sind Sie nicht erstaunt.«
Sie hob die Hand. Im Mondschein schimmerte sie
fahl, die blauen Adern waren deutlich zu erkennen. Im Nu hatte sie
sich in eine mit Flughäuten versehene Monsterklaue verwandelt,
Daumen und Finger bewehrt mit dorngespickten Widerhaken. Dann war
sie wieder menschlich.
»Kolossal«, sagte er. »Nur ein direkter Abkömmling
seines Geblüts könnte diesen Trick vollführen.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte sie, neckisch und
geheimnisvoll. »Aber was mich betrifft, haben Sie durchaus Recht.
Man hat mir ebenso übel mitgespielt wie ich den Generälen
Europas.«
Beauregard kam der Gedanke, dass sie sich
vollkommen verwandeln konnte. Sie besaß genügend Kraft, die Mauern
ihrer Zelle zu durchbrechen. Doch irgendetwas hielt sie davon
ab.
»Endlich werde ich von ihm befreit.«
Das also war des Rätsels Lösung. Beauregard
verspürte einen Anflug von Enttäuschung.
»Ich habe mich nicht freiwillig gestellt. Ihr Sieg
gilt als veritable Heldentat. Dennoch bin ich keineswegs
verzweifelt. Es gibt Schlimmeres als den Tod, so lautet eine
Binsenwahrheit.«
Beauregard wusste aus Erfahrung, dass diese Ansicht
unter Draculas Nachkommen weit verbreitet war.
»Er ist ein Ungeheuer. Dracula.«
Beauregard nickte. »Wir sind uns begegnet.«
»Ihr Briten«, fuhr sie fort, »ihr habt recht daran
getan, ihn des Landes zu verweisen.«
»Ganz so einfach war das nicht.«
»Mag sein. Und doch hat Britannien Dracula nicht
gewähren lassen, und Deutschland ist sein Paradies geworden.«
»Der Graf versteht es, sich bei Hofe Einfluss zu
verschaffen. Darin übt er sich seit bald fünfhundert Jahren.«
Geertruida Zelle beugte sich vor und streckte den
Arm aus. Der Schließer schrie. Die Pistole an seinem Gürtel war mit
Silber geladen. Die Hand der Gefangenen erstarrte in der Luft,
Zentimeter von Beauregards Arm entfernt. Sie sah ihm in die
Augen.
»Er wird dieses Jahrhundert in ein Schlachtfeld
verwandeln«, sagte sie mit ernster Stimme. »In seinen warmblütigen
Tagen hat er ein Drittel seiner Untertanen umgebracht. Stellen Sie
sich vor, was er erst denen antun wird, die er als seine Feinde
betrachtet.«
»Deutschland steht kurz vor der Kapitulation«,
zitierte er die amtlichen Verlautbarungen und wünschte, er wüsste
es nicht besser.
»Es ist nicht leicht, einen Betrüger hinters Licht
zu führen, Charles.«
Sie lehnte sich zurück und richtete sich auf. Ein
frühmorgendlicher Lichtstrahl bekränzte ihren kurzgeschorenen Kopf
mit einem Glorienschein. Sie wirkte eher wie Jeanne d’Arc denn wie
eine Vampir-Spionin.
»Ihr Krieg ist vorbei«, sagte er so freundlich wie
möglich.
»Sie wissen viel über uns Vampire, Charles. Sie
müssen einen bemerkenswerten Lehrer gehabt haben.«
Er spürte, wie er errötete, und rückte nervös
seinen Kragen zurecht.
»Wer war sie?«
»Sie haben vermutlich nie von ihr gehört.«
»War sie alt? Eine Älteste?«
Beauregard nickte. Geneviève Dieudonné war sogar
noch älter als der Graf. Ein Mädchen aus dem fünfzehnten
Jahrhundert.
»Lebt sie noch?«
»Soviel ich weiß, ist sie wohlauf. In Amerika, wenn
mich nicht alles täuscht.«
»Keine Ausflüchte, Charles. Sie wissen genau, wo
sie steckt. Schließlich ist es Ihr Beruf, den Dingen auf der Spur
zu bleiben.«
Geertruida Zelle hatte ihn ertappt. Geneviève war
in Kalifornien und züchtete Blutorangen.
»Es war dumm von ihr, Sie altern und sterben zu
lassen, Charles. Nein, das nehme ich zurück. Das war Ihre
persönliche Entscheidung. Ich an ihrer Stelle hätte dafür gesorgt,
dass Sie sich danach verzehren, sich zu verwandeln. Ich
hätte meine Kräfte benutzt.«
»Ihre ›Kräfte‹? Madame Zelle, mir scheint, Sie
haben zu viel Zeitung gelesen.«
»Nein, wir besitzen durchaus gewisse Kräfte. Es ist
nicht alles nur Fantasterei.«
Die Dämmerung färbte den Himmel rosa. Ihr Gesicht
war blasser denn je. Ihre Schergen hatten sie ausgehungert. Sie
musste beträchtliche Qualen leiden. Viele Neugeborene hätte der
rote Durst längst in den Wahnsinn getrieben.
»Dass sie es unterlassen hat, einen Mann durch
Hinterlist von seinem Entschluss abzubringen, obgleich es zu seinem
Besten wäre, stellt sie vermutlich über mich.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass Geneviève sich
über niemanden stellen würde.«
»Geneviève? Ein hübscher Name. Ich hasse sie schon
jetzt.«
Beauregard rief sich die Schmerzen ins Gedächtnis.
Und erfreulichere Dinge. Ein roter Fächer stand am Himmel.
»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte Geertruida
Zelle nüchtern.
»Das ist bedauerlich«, räumte er ein.
»Nun gut. Ihrer Vampirdame zuliebe werde ich Ihnen
verraten, wie es mir gelungen ist zu überleben. Sie haben sich als
äußerst großzügig erwiesen, obwohl Sie es nicht nötig hatten, und
dies ist mein Geschenk an Sie. Verfahren Sie nach Belieben damit.
Gewinnen Sie den Krieg, wenn er gewonnen werden kann.«
War dies ein Trick?
»Nein, Charles«, sagte sie. Entweder hatte sie
seine Gedanken gelesen, oder sein Misstrauen war ihm deutlich
anzusehen. »Ich bin nicht die Scheherazade des zwanzigsten
Jahrhunderts. Ich habe keineswegs die Absicht, mein Stelldichein
mit dem Tod hinauszuschieben.«
Er versuchte diesen Gedanken zu verdrängen.
»Überzeugen Sie mich, Geertruida. Überzeugen Sie
mich davon, dass ich nicht Ihr letztes Opfer werden soll.«
»Ein gerechter Einwand, Charles. Ich werde Ihnen
einen Ort und einen Namen nennen. Und wenn Sie interessiert sind,
werde ich fortfahren.«
Beauregard nickte. Geertruida Zelle lächelte ein
zweites Mal, als würde sie ein Blatt von Figurenkarten
ablegen.
»Château du Malinbois«, sagte sie. »Professor ten
Brincken.«
Darauf hatte er gehofft. Ein weiterer Strang des
Spinnennetzes.
»Ich bin überzeugt«, sagte er und versuchte
krampfhaft, seine Wissbegierde zu verbergen.
»Sehen Sie«, fuhr sie fort, und ihr Fangzahn
schimmerte, »ein Vampir weiß alles. Ich will mich kurz fassen. Sie
können mitschreiben, wenn Sie möchten. Die Welt hat ihr Urteil über
mich gefällt, und ich will mich nicht rechtfertigen. Ich bin dem
Rat meines Herzens gefolgt, selbst wenn die Richtung, die ich
einschlug, oftmals die falsche war …«
Auf dem Exerzierplatz drängte sich eine kleine
Schar von Zeitungsschreibern und anderweitig Interessierten um
einen Bunkerofen. Der letzte Schnee war geschmolzen, wenngleich die
kiesigen Eispfützen hier und da das Exerzieren zu einem Wagnis
hätten werden lassen. Beauregard blickte in die Runde. Keiner von
Geertruida Zelles »Verehrern« hatte es für nötig befunden, diesem
Schauspiel beizuwohnen.
Ob ihre Geschichte nur eine Abschiedsvorstellung
war? Vielleicht wollte sie ihn so kurz vor ihrem Tode mit einer
letzten Lüge täuschen, die ihn vom eigentlichen Vorhaben der
Deutschen in Malinbois ablenkte. Doch er war geneigt, ihr Glauben
zu schenken. Der Graf von Dracula war ein romantischer Denker, und
ihre Geschichte war ein romantisches Schauermärchen mitsamt
Schlössern, Grüften, Blut und dem Untergang geweihten Edelleuten.
Er hatte die verbleibenden Seiten seines Notizbuchs mit Kurzschrift
gefüllt.
Die Soldaten des Erschießungskommandos traten an
wie zum Appell. Knaben mit uralten Augen. Nach vier Jahren sahen
nicht nur die Untoten älter aus, als sie tatsächlich waren.
Beauregard fragte sich, ob diese poilus glücklicher gewesen
wären, wenn statt der Zelle Mireau am Pfahl gestanden hätte. Den
gemeinen Soldaten war der General verhasster als der Kaiser.
»Charles«, riss ihn eine Frauenstimme aus seinen
Gedanken. »Wir begegnen uns an den merkwürdigsten Orten.«
Die kleine Vampirfrau trug Reithosen und eine
gegürtete Jacke. Ihr rötliches Haar steckte unter einer übergroßen
Stoffmütze, und ihre Augen waren hinter dicken, blau getönten
Gläsern verborgen. Die helle Stimme verriet ihre irische
Herkunft.
»Kate«, sagte er, überrascht und erfreut. »Guten
Morgen.«
Sie setzte ihre Brille ab und blinzelte in das
verblichene Zartrot des bedeckten Himmels.
»Den Morgen will ich Ihnen zugestehen.«
Kate Reed war zehn Jahre jünger als er und hatte
sich mit fünfundzwanzig verwandelt. In den dreißig Jahren ihres
Vampirlebens waren ihre Augen nicht gealtert.
Die Journalistin war während der Zeit des
Schreckens zur leidlichen Heldin aufgestiegen. Der Karpatischen
Garde immer zwei Schritte voraus, hatte sie eine
Untergrundzeitschrift herausgegeben. Auch während der Regentschaft
König Victors war sie der Obrigkeit mit kritischer Strenge
begegnet. Als fabianische Sozialistin und Verfechterin der
Autonomie Irlands schrieb sie für den New Statesman und das
Cambridge Magazine. Seit dem Beginn der Auseinandersetzungen
hatte man sie zweimal aus Frankreich ausgewiesen und einmal in
Irland festgesetzt.
»Ich dachte, Sie seien nach London abberufen
worden«, sagte er.
Sie schenkte ihm ein knappes, verschmitztes
Lächeln, und ihre Augen funkelten. »Ich habe mich von der Grub
Street zurückgezogen und als Freiwillige einen Sanitätswagen
chauffiert. Unsere alte Freundin Mina Harker gehört dem
Auswahlkomitee an; sie ist nach wie vor darum bemüht, ihren Fehler
wiedergutzumachen. Ich wurde mit dem nächsten Schiff
zurückgeschafft.«
»Dann sind Sie also gar keine Reporterin?«
»Ich bin Beobachterin, wie immer. Eines der wenigen
Metiers, die wir Vampire wirklich beherrschen. Kein Wunder, wir
haben ein langes Leben und zu viel freie Zeit.«
Die ersten Sonnenstrahlen spießten die Wolken, und
sie setzte ihre Brille wieder auf.
Er und Kate Reed hatten eine gemeinsame
Vergangenheit. Sie beide waren Kinder eines anderen Jahrhunderts.
Doch im Gegensatz zu ihm besaß sie das Rüstzeug, diese neue Ära zu
meistern und zu überdauern.
»Ich habe Sie immer schon bewundert«, sagte
er.
»Sie reden, als wollte man Sie
erschießen.«
»Das wäre vielleicht sogar das Beste. Ich bin alt
und müde, Kate.«
Sie nahm seine Hand und drückte sie. Er versuchte
sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihm wehtat. Wie viele
Vampire vergleichsweise jüngerer Herkunft wusste sie ihre Kräfte
nicht recht zu dosieren.
»Charles, Sie sind wahrscheinlich der letzte
anständige Mensch in ganz Europa. Sie dürfen sich unter keinen
Umständen entmutigen lassen. So blödsinnig Ihnen das Gerede vom
›Krieg zur Beendigung des Krieges‹ auch erscheinen mag, wir können
es in die Tat umsetzen. Diese Welt gehört uns ebenso wie Ruthven
oder Dracula.«
»Und ihr?«
Er wandte den Kopf und reckte das Kinn. Während die
Sonne die Kaserne erhellte, wurde Geertruida Zelle vom Schließer
und zwei Wachposten ins Freie geführt. Auf eigenen Wunsch trug sie
einen Schleier, um ihr empfindliches Gesicht gegen das Licht zu
schützen. Sie hatte die Augenbinde verweigert und auf geistigen
Beistand verzichtet.
»Madame Mata Hari hat sich töricht verhalten«,
sagte sie höhnisch. »Ich kann nicht allzu viel Mitleid für sie
aufbringen. Mit ihren Ränken hat sie brave Männer en gros in
den Tod getrieben.«
»Sie sind eine fabianische Patriotin.«
»In Britannien gibt es nichts, was sich durch die
Pfählung des Premierministers nicht beheben ließe.«
»Jetzt klingen Sie wie Vlad Tepes.«
»Noch ein Gentleman, dem es sehr zum Vorteil
gereichen würde, wenn man ihm ein gutes Stück stabilen Hagedorns
hintansetzte.«
»Ich habe Ihren Artikel über den Prozess gelesen,
Kate.«
Ihre Stimme zitterte leicht, weil sie versuchte,
ihre Eitelkeit zu unterdrücken. »Und …?«
»Sie haben gesagt, was gesagt werden musste.«
»Aber der warmblütige, kaltherzige General Mireau
stolziert immer noch einher wie ein narbengesichtiger Pfau, klirrt
bei jungen Vampiren mit seinen Orden und kniet zur Messe nieder mit
einem Gewissen, so rein wie das Wasser von Vichy.«
»Sie müssten eigentlich wissen, dass die
Oberbefehlshaber der Streitkräfte es als Ehrensache betrachten,
nicht auf den Rat einfacher Journalisten zu hören. General Pétain
hat Ihre Artikel sicher mit Interesse gelesen.«
»Ich habe noch mehr zu schreiben. Mireau muss zur
Rechenschaft gezogen werden.«
»Und Sir Douglas Haig?«
»Er auch, die ganze verfluchte Mischpoke.«
Geertruida Zelle wurde an den Pfahl gestellt, und
ein Wachposten fesselte ihr die Hände. Sie hielt ihren
verschleierten Kopf hoch erhoben, unerschrocken.
»Die Maikönigin«, bemerkte Kate.
Der Sergeant des Exekutionspelotons verlas den
Richterspruch. Seine dünne Stimme verlor sich im bitterkalten Wind.
Mindestens zehn Klagepunkte wurden mit dem Tod geahndet. Als er das
Urteil verlesen hatte, rollte der Sergeant das Papier zusammen und
steckte es in seinen Gürtel. Er zog und hob sein Schwert; acht
Soldaten legten an und zielten. Sieben Kugeln aus Silber, eine aus
Blei. Da niemand wusste, in wessen Lauf der Blindgänger steckte,
konnte sich jeder von ihnen einreden, den tödlichen Schuss nicht
abgegeben zu haben. Das Schwert schwankte und fiel. Schüsse
durchsiebten den Rumpf der Gefangenen. Eine verirrte Kugel
zernarbte den Boden ein Dutzend Yards hinter dem Pfahl. Geertruida
Zelles Kopf sank auf die Brust, und der Schleier glitt ihr wie ein
Umhang von den Schultern und wehte mit dem Wind davon. Die
Morgensonne fiel auf ihr Gesicht und bräunte es in
Sekundenschnelle. Rauch strömte ihr aus Mund und Augen.
»Damit wäre der Fall erledigt«, sagte Kate.
»Grausige Geschichte.«
Beauregard wusste, dass es noch nicht vorbei war.
Der Sergeant schritt über den Exerzierplatz, ging neben der toten
Frau in Stellung und packte das Schwert wie eine Sense.
»Grundgütiger«, stieß Kate hervor.
Mit einem Hieb versenkte der Sergeant sein Schwert
in Geertruida Zelles Hals. Die Klinge blieb im Knochen stecken. Mit
behandschuhten Händen umfasste er Heft und Spitze und presste die
versilberte Stahlklinge hindurch, bis sie in das Holz des Pfahls
drang. Geertruida Zelles Kopf fiel zu Boden, und der Sergeant riss
ihn an den Haaren in die Höhe, damit ihn jeder sehen konnte. Das
Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit versengt, die Katzenaugen
geschrumpft wie Erbsen.
7
Kate
Das Gerücht, das Kate in Paris zu Ohren
gekommen war, hatte sich bestätigt: Mata Hari lehnte es ab, sich
von einem Priester die letzte Beichte abnehmen zu lassen, war
jedoch durchaus bereit, die Nacht vor ihrer Hinrichtung mit Charles
Beauregard vom Diogenes-Club zu verbringen.
Zu Beginn ihrer Journalistenlaufbahn hatte sie
erkannt, dass sie Charles nur auf Schritt und Tritt zu folgen
brauchte, um eine Geschichte an Land zu ziehen. Wo immer man ihn
antraf, war er der stille Mittelpunkt eines Mahlstroms von
Intrigen. Würde er sich jemals entschließen, sein Wissen
preiszugeben, würde die Geschichte umgeschrieben werden müssen.
Regierungen würden
stürzen, Kolonien revoltieren, Duelle würden ausgefochten, Ehen
geschieden werden. Charles war der Achsnagel Großbritanniens;
oftmals schon hatte Kate das heftige Verlangen verspürt, ihn mit
einem Ruck herauszuziehen.
Was für einen Vampir hätte er abgegeben.
Sie bemühte sich, Charles nicht allzu sehr zu
löchern. Er war ein zu gewiefter Kunde, um sich wie ein kleiner
Beamter von einem mädchenhaften Grinsen und einer beiläufigen Frage
übertölpeln zu lassen. Zudem kannte er sie seit vielen Jahren. Die
Masche der wirrköpfigen Närrin, ihr verlässlichstes Handwerkszeug
auf dem Gebiet der Täuschung, hätte sich bei ihm nicht
verfangen.
Der Sergeant des Exekutionspelotons füllte einen
Sack mit der Asche des Kopfes der Spionin und posierte damit für
die Fotografen. Das Erschießungskommando nahm Haltung an und
präsentierte das Gewehr. Bei jeder zischenden Blitzpulverexplosion
schreckten die jungen Veteranen, von Erinnerungen überwältigt,
zusammen.
Kate beobachtete Charles, der die Fotografen
beobachtete. Sein hochgeschlossener Kragen war kein Ausdruck
altmodischen Temperaments, sondern diente allein dazu, die
purpurrote Färbung seines Halses zu verbergen. Eine feine
weinfarbene Linie umsäumte seinen Kragen. Er wirkte im Alter
weitaus stattlicher als in der Jugend, sein Haar war weiß, das Kinn
fest. Er stand aufrecht, und die Jahre hatten sein Gesicht eher
geglättet denn zerfurcht.
Die Älteste Geneviève Dieudonné war während der
Zeit des Schreckens Charles’ Geliebte gewesen. Gewiss floss etwas
von ihrem Blut in seinen Adern. Zwar hatte er sich dem dunklen Kuss
verweigert, doch war es unmöglich, längere Zeit mit einer
Vampirfrau zu verbringen, ohne von ihrem Blut zu kosten, und sei es
nur ein kleines bisschen. So mancher warmblütige Mann erkaufte
sich winzige Transfusionen, um seine Haarpracht zu behalten und
seinen Bauchumfang zu schmälern. Das war eine wirksamere
Verjüngungskur als Affendrüsen. Die Pharmazeuten ließen verlauten,
Vampirblut sei eine geheime Ingredienz ihrer Arzneien.
Das Erschießungskommando wurde entlassen. Reporter
bedrängten die Soldaten mit Fragen. Unter ihnen war auch Sydney
Horler, der Gassenprediger der Mail.
»Sie lieben den Krieg«, sagte Kate. »Er liefert
ihnen schmackhaftere Geschichten als Mörder aus der Kleinstadt und
Ehebrecher vom Dorf.«
»Sie haben keine allzu hohe Meinung von Ihren
Kollegen.«
»Mit diesen Geiern und Schmierfinken habe ich
nichts gemein.«
»Was ist es für ein Gefühl«, brüllte Horler, »eine
Frau zu erschießen?«
Falls sie die Frage überhaupt verstanden hatten,
enthielten sich die Soldaten einer Antwort.
»Noch dazu eine schöne, wollüstige Frau?«,
betonte der Engländer. »Würden Sie sagen, sie war ein Teufel in
Menschengestalt, der nicht mehr Gnade verdiente als eine tödliche
Kobra?«
Die Soldaten wandten sich um und gingen
davon.
»Na gut, dann will ich das notieren. Teufel in
Menschengestalt. Nicht mehr Gnade. Tödliche Kobra.«
Horler begann aufgeregt zu kritzeln.
»Ich glaube, wir haben soeben der Geburt einer
Schlagzeile der heutigen Abendausgabe beigewohnt«, sagte
Kate.
Charles war zu erschöpft, um ihr eine Antwort zu
geben. Er sah auf seine Taschenuhr, legte den Finger an die Krempe
seines Hutes und machte sich bereit zum Aufbruch.
»Seltsam. Ein warmblütiger Mann, der beim ersten
Hahnenschrei ins Bett eilt. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht
verwandelt haben?«
Charles rang sich ein Lächeln ab. »Kate, ich lebe
seit vielen Jahren wie ein Vampir.«
Er ging einem nächtlichen Gewerbe nach, selbst in
diesem verdrehten Jahrhundert, wo nach Einbruch der Dunkelheit
Kriege ausgefochten und Friedensabkommen getroffen wurden.
»Nun, da Mata Hari nicht mehr ist, können Sie sich
getrost zur Ruhe legen. Ihr Krieg ist gewonnen.«
»Sehr witzig, Kate.«
Sie stieg auf die Zehenspitzen und hauchte ihm
einen Kuss auf die Wange. Sein Gesicht war eiskalt. Sie zügelte
sich in ihrer Umarmung, um ihm nicht die Rippen zu brechen.
»Auf Wiedersehen, Charles.«
»Guten Tag, Kate.«
Er ging zu seinem Wagen. Sie leckte sich die Lippen
und konnte ihn schmecken. Sein Blut war scharf. Die leiseste
Berührung seiner Haut genügte, um ihr einen Eindruck seiner
Stimmung zu vermitteln. Sie war erregt, weil sie wusste,
dass auch Charles erregt war. Zwischen ihm und Mata Hari war etwas
Wichtiges vorgefallen. Weiter konnte sie nichts erkennen, nichts
Genaues wenigstens. Jammerschade. Wäre sie eine Älteste gewesen,
wie Geneviève, hätte sie ihm den Verstand aussaugen können wie eine
Orange und erfahren, was es zu erfahren gab.
Hätte sie diesen Kniff beherrscht, wäre sie der
Versuchung zweifellos erlegen. Vampire gewannen von Jahrhundert zu
Jahrhundert an Kraft und Macht. Viele Älteste wurden zu Ungeheuern.
Sie konnten nach Gutdünken schalten und walten, ohne die Folgen
fürchten zu müssen. Charles’ Geschmack verflog, und in ihrem Herzen
pochte roter Durst.
In den ersten Jahren nach ihrer Verwandlung hatte
sie in einem fort ihre Grenzen ausgelotet. Unterdessen erkannte sie
diese, ebenso wie ihre Untoten-Bedürfnisse, als einen Teil ihres
allnächtlichen Daseins. Merkwürdigerweise brauchte sie noch
immer eine Brille, um die schreckliche Kurzsichtigkeit zu
korrigieren, die sie in ihren warmblütigen Tagen so sehr gequält
hatte. Die meisten Vampire überwanden ihre Gebrechlichkeiten mit
der Verwandlung, doch bei ihr war das anders.
Als sie ihren Durst zu unterdrücken versuchte,
verschwamm ihr alles vor den Augen. Das war ihre eigene Schuld.
Hätte sie nicht von Charles gekostet, würde sie nun nicht solche
Schmerzen leiden.
Sie zog es vor, sich nicht als Tote zu betrachten,
obgleich sie wusste, dass sie sich der Selbsttäuschung hingab.
Manche verwandelten sich, wie Geneviève, ohne den wirklichen Tod zu
erleiden. Kate hingegen war durchaus gestorben. Mr. Frank Harris,
ihr Fangvater, hatte es vorgezogen, seine Nachkommen auszusaugen,
ehe er ihnen lebenspendendes Blut einflößte. Sie erinnerte sich an
das Stocken ihres Herzens, die seltsame Stille in ihrem Kopf. Das
war der Tod gewesen.
Ihr Herzklopfen ließ nach, und ihre Sehkraft kehrte
zurück. Der Himmel war bedeckt, das spärliche Sonnenlicht konnte
ihr nichts anhaben. Sie gehörte nicht zu jener Spezies von
Vampiren, die bei Tagesanbruch schmorten und verdorrten. Sie war
vom Geblüt der Marya Zaleska, einer aristokratischen Parasitin, die
sich als uneheliche Tochter des Grafen Dracula ausgab. In Kate
mischte sich der verwelkte Stammbaum der Zaleska mit Frank Harris’
überaus potentem Geist. Im Jahre 1888 hatte ihr der berühmte
Redakteur versichert, die körperliche Liebe sei das Tor zum
Erwachsenwerden, und sie daraufhin, auf einem Diwan im Séparée des
Restaurants Kettner, voller Enthusiasmus durch dieses Tor
geleitet. Nachdem er sie zur Frau gemacht hatte, hatte er sich
verpflichtet gefühlt, sie auch zum Vampir zu machen.
Obgleich viele junge Frauen Harris’
Überredungskünsten erlegen waren, hatten, außer ihr, all seine
Nachkommen den Tod gefunden. Sie hatten sich als zu schwach für ein
so starkes Geschlecht
erwiesen. Auch Harris war nicht mehr, in der Zeit des Schreckens
hatten Karpater ihn ermordet. Sie war betrübt; zwar hatte sich der
liederliche Harris um seine Fangkinder wenig geschert, doch war er
ein guter Zeitungsmann gewesen. Sie hatte sich nicht geschämt, ihn
in der Welt der Nacht zum Gönner zu haben.
Charles’ Wagen fuhr davon, seine Geheimnisse waren
tief in der Polsterung der Limousine versunken. Das
Erschießungskommando zerstreute sich, und die anderen Journalisten
machten sich eilig daran, die Lücken in ihren bereits geschriebenen
Geschichten zu füllen. Jed Leland vom New York Inquirer,
einer der wenigen kompetenten Amerikaner, hob einen Bleistift an
die Krempe seines Strohhuts. Sie erwiderte den Gruß, in der
sicheren Annahme, er wolle sie in ein lästiges Gespräch verwickeln.
Doch Leland trottete mit den anderen davon und begab sich auf die
Suche nach einem estaminet, wo sie zwischen anis und
Katzenblut ihren Zeitungstext zusammenschmieren konnten.
Kurz nach ihrer Verwandlung waren ihre
durchstochenen Ohren verheilt, und sie hatte zu ihrem Schrecken
festgestellt, dass sie wieder Jungfrau war. Doch dieser Zustand war
rasch und mit bleibender Wirkung behoben worden. Damals war es eine
größere Schmach, »entehrt« zu werden, als sich in einen Vampir zu
verwandeln.
Der Prozess der Anpassung, des Lernens war noch
lange nicht beendet. Es war schwer zu sagen, was aus ihr werden
würde. Sie hatte feierlich geschworen, sich nicht in ein Monstrum
zu verwandeln.
Allein auf dem Exerzierplatz, marschierte sie zum
Wachthaus, ihre scharfen Sinne waren hellwach. Sie wollte ihre Spur
auf eigene Faust verfolgen. Und sie wollte sich mit niemandem über
dem Rang eines Corporals einlassen. Mit ihrer Verurteilung von
General Mireau hatte sie sich in der französischen Armee zahlreiche
Freunde gemacht, wenn auch nur wenige unter den Offizieren. Ihre
Artikel über die Affäre Dreyfus hatten die Franzosen verstimmt, und
ihre jüngsten Schriften waren nicht geeignet, ihre Zuneigung
zurückzugewinnen.
Durch eine kahle Hecke sah sie, dass auf der Straße
ein französischer Stabswagen parkte. Seine Fenster waren
verdunkelt. War eine von Mata Haris Eroberungen gekommen, um ihr
heimlich Lebewohl zu sagen? Oder um sich zu vergewissern, dass sie
auch wirklich tot war?
Corporal Jacques Lantier erwartete sie in seiner
armseligen Stube. Sein Gesicht war ein finsterer Wirrwarr tiefer
Narben. Als dem Feind binnen zwei Tagen achtzig Prozent der
entblößten Franzosen anheimgefallen waren, hatte der klägliche Rest
von General Mireaus Kommando seinen Befehl »bis zum letzten Mann«
verweigert und den Rückzug über die hundert Yards morastigen
Geländes angetreten, den sie zwar erobert, aber nicht hatten halten
können. Der verstümmelte Lantier hatte Glück gehabt. Gesund und
munter wäre er womöglich unter dem Dutzend Männer gewesen, die
Mireau wegen Feigheit hatte erschießen lassen. So qualifizierte er
sich für einen Platz im inoffiziellen Veteranenbund aller
Entstellten, der Union des Gueules Cassées, der Bruderschaft
der Matschgesichter.
Mit der Spitze seines kleinen Fingers öffnete
Lantier ein Loch in seiner unteren Gesichtshälfte und schob einen
Glimmstängel hinein. Kate nahm die ihr angebotene Zigarette dankend
an, und Lantier gab ihr mit einem Zündholz Feuer.
Der Corporal hustete, und Rauchwolken umhüllten
sein Gesicht. Einerseits war er der Journalistin selbstverständlich
dankbar, dass sie General Mireau verurteilt hatte, doch es gab
triftigere Gründe. Vor dem Krieg hätte man für zwanzig Francs ein
ganzes Pferd bekommen. Jetzt war dafür allenfalls ein Stückchen
Pferdefleisch zu haben.
»Die beiden haben sehr leise gesprochen,
Mademoiselle«, entschuldigte sich Lantier, »und ich höre nicht mehr
so gut …«
Eines seiner Ohren fehlte ganz, das andere war ein
eitriger Klumpen.
»Aber Sie haben etwas gehört.«
Sie fügte dem Geldbündel in seiner Hand immer neue
Noten hinzu.
»Ein Wörtchen hier und da … ein paar Namen …
Château du Malinbois, Professor ten Brincken, Baron von Richthofen,
General Karnstein …«
Für jeden Namen gab es weitere zehn Francs.
»Das reicht«, entschied sie. »Sagen Sie mir, was
Sie gehört haben.«
Lantier zuckte die Achseln und begann …
Als Corporal Lantier geendet hatte, war es fast
Mittag. Kate hatte ein ganzes Notizbuch vollgeschrieben, wusste
jedoch nicht recht, was sie von seiner Geschichte halten sollte.
Sie hatte gehörige Lücken. Mit etwas Scharfsinn würde sie die eine
oder andere füllen können, die meisten aber nicht.
Zwar hatte sie mit Neuigkeiten über die Perfidien
General Mireaus gerechnet, doch dies ließ die ganze Sache in einem
völlig anderen Licht erscheinen. Sie würde dringend Informationen
über Richthofens Monstrositätenkabinett einholen müssen. Dass
Charles eigens nach Paris gereist war, um Mata Hari anzuhören,
deutete darauf hin, dass hier eine Geschichte verborgen lag.
Lantier geleitete sie hinaus. Ohne ihre einzige
Gefangene war die Kaserne tot. Das Erschießungskommando befand sich
auf Urlaub in Paris und würde bei Sonnenuntergang in die
Schützengräben zurückkehren.
Sie gingen über den Exerzierplatz. Kate blieb
stehen und untersuchte den Pfahl, an dem Mata Hari gestorben
war.
»Nach der Enthauptung«, sagte Lantier, »standen
junge Männer Schlange, um ihre Taschentücher in das Blut zu
tauchen. Als Andenken.«
»Oder um davon zu kosten. Es wirkt gewiss
berauschend. Das Blut von Mata Hari.«
Lantier spuckte aus und verfehlte den Pfahl.
»Vampirblut könnte helfen …«, begann sie und
deutete auf Lantiers Gesicht.
Er schüttelte den Kopf und spuckte ein zweites Mal
aus. »Der Teufel soll euch holen, ihr verfluchten Blutsauger! Wozu
seid ihr schon gut?«
Sie wusste keine Antwort. Viele Franzosen,
besonders die aus der Provinz, dachten wie Lantier. Der Vampirismus
hatte hier nicht Fuß gefasst wie in Britannien, Deutschland und
Österreich-Ungarn. Zwar hatte auch Frankreich seine Ältesten - wie
zum Beispiel Geneviève - und eine wachsende Schar von Neugeborenen,
häufig selbst ernannte »Symbolisten« und »Moderne«, doch in den
besten Kreisen waren Vampire noch immer nicht gänzlich
willkommen.
Alfred Dreyfus war zum Sündenbock geworden, weil er
zugleich Jude und Vampir gewesen war.
Sie sagte Lantier Lebewohl und verließ den
Exerzierplatz. Ihr getreues Hoopdriver-Fahrrad lehnte an einem
alten Anbindepfosten der Kavallerie neben dem Haupteingang. Der
Stabswagen stand noch immer auf der Straße.
Kate wusste, dass sie in Gefahr war. Diesen
Spürsinn hatte sie während der Zeit des Schreckens entwickelt. Ihre
Nägel schossen hervor wie Katzenkrallen.
Sie trat um die Hecke herum auf die Straße und nahm
den Wagen in Augenschein. Auf dem Vordersitz saß ein Chauffeur, und
der Fond stand einen Spaltbreit offen. Jemand blickte sie aus
Schweinsäuglein an.
»Ego te exorcisat«, kreischte eine Stimme.
»Leide, du gemeine Hure, leide die Qualen der Verdammten!«
Ein schwarz gekleideter Mann sprang hinter einem
Zaun hervor und stürzte auf sie zu. Der wildäugige, weißhaarige
Priester hatte in seinem Versteck auf sie gelauert. Sie erkannte
ihn sofort, doch sie hatte keine Zeit, sich seinen Namen ins
Gedächtnis zu rufen. Unter lauten Flüchen in schlechtem Latein und
Gossen-Französisch schleuderte ihr der Priester eine Flüssigkeit
ins Gesicht. Ihre Brille war mit trüben Tropfen übersät.
Im ersten Moment glaubte sie, der Wahnsinnige habe
sie mit Vitriolöl übergossen. Säure zerfraß das Fleisch eines
Vampirs bis auf die Knochen. Auch wenn sie sich davon erholte,
würde sie die nächsten fünfzig Jahre aussehen wie Lantier. Doch
kein Brennen war zu spüren, kein Zischen zu vernehmen.
Der Priester schwenkte seine Flasche. Ein zweiter
Spritzer traf ihre Stirn und rann ihr übers Gesicht. Sie schmeckte
klares Wasser. Nein, erkannte sie, nicht klares Wasser.
Weihwasser.
Verblüfft lachte sie auf. Einige katholische
Vampire waren durchaus empfindlich gegen derlei Dinge, doch sie war
eine alte Anglikanerin. Ihre Familie war protestantisch bis ins
Mark; als er von Kates Verwandlung erfuhr, meinte ihr Vater:
»Wenigstens hat die kleine Närrin nicht den abscheulichen römischen
Antichristen in die Arme geschlossen.«
Der Priester trat kokett zurück, um sich an der
Vernichtung der verderbten Höllenkreatur zu ergötzen. Er presste
ein großes, grob geschnitztes Kruzifix an seine Brust und reckte
eine Handvoll Hostien in die Höhe.
Ihre Mütze hatte sich selbstständig gemacht, und
ihr Haar wehte im Wind. Sie hob die Kopfbedeckung auf und tupfte
sich damit das Gesicht.
»Ich bin ganz nass, Sie Idiot«, stieß sie
hervor.
Der Priester warf eine Hostie nach ihr. Er schien
zu hoffen, dass
sie sich in ihren Schädel bohren würde wie ein japanisches
shuriken. Die Oblate blieb an ihrer feuchten Stirne
kleben.
Erbost zermalmte sie die Hostie mit den Zähnen und
spuckte die Krümel aus.
»Wo ist der Wein? In mir wütet der rote Durst.
Verwandeln Sie ein Fläschchen, dann habe ich ausreichend Blut zu
trinken.«
Die Attacke hatte ihre Blutgier geweckt. Sie würde
schon bald frische Nahrung brauchen.
Der Priester schwenkte das Kreuz und überschüttete
sie mit den Verwünschungen des Himmels. Ein Gesicht verschwand
blitzschnell im Wageninnern. Sie glaubte ein französisches Képi mit
einer Menge Eichenlaub daran erkannt zu haben.
»Sie sind Pater Pitaval. Sie waren bei Mata Haris
Verhandlung.«
Pitaval, ein abtrünniger Jesuit, war der
Beichtvater Mireaus. Und, so schien es, sein getreuer
Vampirmörder.
»Eine lächerliche Vorstellung, Pater. Kaum der Rede
wert.«
Er hielt ihr das Kruzifix vor die Nase, und sie
stieß es von sich.
»Befragen Sie Ihr Gewissen«, rief sie, sowohl an
Mireau als auch an den Priester gewandt.
Er hob das Kruzifix wie einen Dolch und stach damit
nach ihrer Brust. Die Spitze war scharf genug, um als der
sprichwörtliche Pflock zu dienen, doch sie wehrte den Hieb ohne
Mühe ab. Ihre Rauchglasbrille fiel herunter, und die Welt
verschwamm ihr vor den Augen. Sie sah eine schwarze Gestalt auf
sich zukommen und trat beiseite. Sie nahm alle Kraft zusammen,
ergriff den Priester und schleuderte ihn gegen den Wagen.
Sie tastete im Kies umher, fand ihre Brille und
setzte sie wieder auf. Pitaval kroch auf den Wagen zu. Die Tür
knallte ins Schloss, noch ehe er ihn erreicht hatte. Rasch wurde
das dunkle Fenster hochgekurbelt. Mit der Schnelligkeit eines
Vampirs sprang sie über den Priester hinweg und umfasste den
Türgriff mit eiserner
Faust. Sie sprengte das Schloss und freute sich, als sie den
Mechanismus brechen hörte.
General Mireau saß steif im finsteren Wageninnern
und starrte sie aus hasserfüllten Augen an. Er hatte eine
Begleiterin, eine kleine Neugeborene im durchsichtigen weißen
Leichenhemd. Sie hatte sich die Handgelenke mit rouge
gefärbt, wo Mireau sie mit einem Rosenkranz gefesselt hatte, um ihn
zu täuschen, was die Wirkung religiöser Artefakte auf Vampirfleisch
anbetraf. Dass der General eine Vorliebe für untote Mädchen hegte,
hatte Kate bereits geahnt. Sie hoffte, dass die Neugeborene schlau
genug war, ihn nach Strich und Faden auszusaugen und zu
plündern.
Sie schüttelte den Kopf. Mireau versteckte sich
hinter seiner Begleiterin.
»Schwester«, sagte Kate, »dein Blutgeschmack lässt
sehr zu wünschen übrig.«
Das Vampirmädchen wand und krümmte sich. Sie war
vermutlich Tänzerin oder Schauspielerin. Wenn nicht gar eine
Spionin.
Kate bückte sich und steckte den Kopf in den Wagen.
In Mireaus kalten Augen loderten Flammen der Furcht. Er schob die
Neugeborene vor, als wolle er einen sich sträubenden Hund zum
Kampfe hetzen. Die Vampir-Pudeldame öffnete den Mund und entblößte
zögernd ihre Hauer. Sie versuchte zu fauchen.
Kate spielte mit dem Gedanken, das närrische
Mädchen ins Freie zu zerren und ihrem Hinterteil eine ordentliche
Tracht Prügel zu verpassen. Eine grausame Strafe: An der Sonne
würde sie zu Staub zerfallen.
Pater Pitaval war wieder auf den Beinen, er wirkte
verängstigt. Der General bekam nicht allzu viel für seine
Patronage.
»Mireau, haben Sie eigentlich kein Schamgefühl im
Leib?«, fragte Kate.
Sie drehte sich um und ging davon. Sie hörte, wie
der General mit seinen Untergebenen schimpfte. Ein winziger Funke
der Genugtuung
wärmte ihr das Herz. Zwar hatte sie nicht viel erreicht, aber
Mireau war so sehr getroffen, dass er gewiss zurückschlagen würde.
Wenn sie sich in Trab hielt, konnte sie ihn besiegen.
Doch es gab wichtigere Dinge zu bedenken. Zum
Beispiel das Château du Malinbois.
Sie stieg auf ihr Fahrrad und strampelte davon. Auf
dem Weg zum Bahnhof pfiff sie die »Barcarole« aus Hoffmanns
Erzählungen und dachte an Flieger und Tänzerinnen.
8
Die Festung
Im Château du Malinbois herrschte ewige
Nacht. Bei Tage waren die mittelalterlichen Fensterschlitze
verrammelt, die steinernen Gänge von wenigen Kerzen spärlich
erhellt. Selbst ein Vampir spürte die Kälte im feuchten Bauch des
Schlosses. Das Geräusch herabtropfenden Wassers war ebenso
allgegenwärtig wie das granitgedämpfte Donnern der Geschütze. Nur
im Arbeitsbereich der Wissenschaftler bediente man sich der
Elektrizität. Im Untersuchungsraum gab es nicht einen finsteren
Winkel. Alles war in grelles Licht getaucht. Man brauchte sich nur
auf den Tisch zu betten, und schon lag das ganze Innenleben
bloß.
Leutnant Erich von Stalhein fragte sich, ob General
Karnstein Malinbois gewählt hatte, um den Fliegern das Gefühl zu
geben, lebendig begraben worden zu sein, um ihren Wunsch zu fliegen
anzufachen. Hoch am Himmel, beflügelt von den ungezügelten
Luftströmen und der Kraft des Mondes, ließen sie die Fesseln der
Erde hinter sich.
Stalhein wälzte sich auf den Bauch, während ten
Brincken weitere
Messergebnisse überprüfte. Der Direktor war ein mürrischer Bär mit
buschigen grauen Augenbrauen und ähnelte eher einem Hafenboxer denn
einem Wissenschaftler. Womöglich rührte seine Vorliebe für die
physische Vervollkommnung des Menschen von dem Wissen um sein
bärenhaftes Aussehen her.
Über dem Tisch war eine Reihe drehbarer Leuchten
angebracht. Stalheins Stammesgenossen erblühten im Mondschein, mit
Glühdrähten in Glasbirnen wussten sie nichts anzufangen. Kaltes
Kunstlicht verschaffte ihnen keinerlei Befriedigung.
Dr. Caligari, der Nervenarzt vom ersten
Jagdgeschwader, war eingetreten. Stalhein hörte sein unbeholfenes
Watscheln, roch seine stinkenden Kleider. Insgeheim hielt er
Caligari für einen Quacksalber. Wie ten Brincken war er vom
Vampirismus fasziniert. Bei ihren Zusammenkünften versuchte er
Stalhein jedes Mal auszuhorchen und stellte ihm Fragen über Fragen
zur Blutsaugerei.
»Hals- und Brustmuskulatur sind hervorragend
entwickelt«, erklärte ten Brincken dem Arzt. »Sie sind derart
ausgeprägt, dass man sie mit einer Gradeinteilung versehen könnte.
Es scheint eine umfassende Veränderung einzutreten. Eine
Evolution.«
Die Wissenschaftler sprachen über ihn, als sei er
ein Leichnam, den sie zum Vergnügen sezierten. Stalhein war diese
Art der Behandlung gewohnt. Seine Ehrerbietung gegen den Kaiser
zwang ihn, solche Untersuchungen über sich ergehen zu lassen. Kein
Flieger des JG1 wurde von dieser Pflicht befreit, nicht einmal der
Baron.
Ten Brincken beendete die Untersuchung und
schaltete die Deckenleuchten aus. Mit der Schnelligkeit eines
Vampirs glitt Stalhein vom Tisch und stand auf. Caligari fuhr
erschrocken zusammen, er trug einen altmodischen Frack. Stalhein
kleidete sich an, stieg in Reithosen und Stiefel und schlüpfte in
ein frisches Hemd. Ten Brincken, plötzlich ölig wie ein
Kammerdiener, half ihm in
seinen Waffenrock. Er schob die Arme hinein und knöpfte ihn von
unten nach oben zu.
»Schön, schön, Herr Leutnant«, flötete ten
Brincken. »Ganz vortrefflich.«
Nackt war Stalhein nichts weiter als ein
Studienobjekt. In Uniform gemahnte er an einen
Dämonenfürsten.
Ten Brinckens Domizil war eine Mischung aus Altem
und Modernem. Die steinernen Mauern datierten aus dem vierzehnten
Jahrhundert und waren mit allerlei wissenschaftlichen Urkunden
geschmückt. Der Direktor kritzelte Hieroglyphen in einen
messinggebundenen Band, der einem Kloster zu entstammen schien,
doch eine Reihe chirurgischer Hilfsmittel in einem Gestell aus
Stahl und Glas fesselten den Blick. Ten Brincken, Caligari und die
anderen - Dr. Krueger, Ingenieur Rotwang, Dr. Orlof und Professor
Hansen - bezeichneten sich als Wissenschaftler, wenngleich sich
bisweilen mittelalterliches Alchemie-Gefasel in ihr Kauderwelsch
von Evolution und Vererbung schlich.
Für die Angehörigen der Generation von Stalheins
Vater war der Vampir ein Fabeltier. Binnen weniger Jahrzehnte hatte
sich die altertümliche Magie zu einem respektablen Gebiet der
modernen Wissenschaft gemausert. Verständlicherweise bestand
zwischen den beiden eine tiefe Kluft. General Karnstein, der
Bevollmächtigte des Grafen von Dracula, war ein Ältester; da er
sich für eine Kreatur der Finsternis erachtete, hatte er ein
Zentennium der Verfolgung hinter sich, nur um im zwanzigsten
Jahrhundert ans Licht gezerrt und in seinen alten Stand
zurückversetzt zu werden.
Stalhein salutierte und verließ das Laboratorium.
Im Halbdunkel des schmalen Korridors, der an der Treppe zur Großen
Halle endete, fand er sich besser zurecht. Musik wehte die Stufen
herab. Ein Strauß-Walzer.
Mit einem dunklen Gefühl der Beunruhigung stieg er
in die
Halle hinauf. Obgleich ten Brinckens Untersuchungen nur selten
schmerzhaft waren, stürzten sie Stalhein immer wieder in
Verwirrung. Ihr geheimer Zweck wurde ihm vorenthalten. Er redete
sich ein, dass seine Pflicht darin bestand, zu handeln und nicht zu
verstehen. Jeder Abschuss war ein kleiner Schritt auf dem Weg zum
großen Sieg. Er hätte Mitleid für die kurzlebigen Warmblüter
empfinden müssen; sie würden nie erfahren, was es hieß, die Lüfte
zu beherrschen, das Blut eines Gegners zu kosten, das Licht des
Mondes zu trinken.
Er wollte fliegen, sich auf seine Beute stürzen.
Der Rückstoß sich entladender Gewehre, das Pfeifen des Windes in
der Verspannung, der Anblick eines brennenden Flugzeugs, das dem
Erdboden entgegentrudelte: All das gab ihm das Gefühl, am Leben zu
sein. Seine Abschussbilanz lag bei respektablen neunzehn Siegen. In
einer gewöhnlichen Jasta wäre dies eine beachtliche Leistung
gewesen; in diesem Zirkus jedoch gehörte er zu den unbedeutenderen
Jägern. Er hoffte dies zu ändern, so ihm dafür genügend Zeit blieb.
Der Richtwert war Baron von Richthofens Bilanz; sie lag derzeit bei
einundsiebzig Siegen.
Die verblichenen Porträts und modrigen
Jagdtrophäen, mit denen die Halle einst geschmückt gewesen war,
hatten Siegeszeichen des zwanzigsten Jahrhunderts Platz gemacht.
Über einem Kamin von der Größe eines Eisenbahntunnels prangte wie
an einem Kreuz der dreiundvierzig Fuß breite, mit Einschusslöchern
gespickte Oberflügel einer RE8. Im Kamin, mit einer Ankerkette am
Sims befestigt, baumelte das zum Kronleuchter umfunktionierte
Vorderteil eines Motors: Die Zylinderköpfe waren mit brennenden
Kerzen bestückt. Das Kurbelgehäuse bildete den Mittelpunkt eines
wirren Mosaiks von Seriennummern aus der Leinwand alliierter
Flugzeuge, viele von ihnen löchrig oder halb verkohlt. Das JG1
hatte Souvenirs von Bristol Fighter, Dolphin, Spad, Vickers,
Tabloid, Nieuport-Delage, Bantam, Kangaroo und
Caproni gesammelt. Dazu kamen erbeutete Gewehre, Kompasse und
Höhenmesser, menschliche Schädel, Fliegerhauben, einzelne Stiefel,
zerbrochene Kameras, Knochen, Synchronisationsvorrichtungen der
Marke Constantinesco und Propeller.
Eine Fledermaus-Arie drang aus dem
prachtvollen Trichter des nagelneuen Grammophons. Hammer, der den
Pour le Mérite, den man ihm zu seinem vierzigsten Sieg verliehen
hatte, an der stolzgeschwellten Brust trug, spielte Karten mit
Kretschmar-Schuldorff, dem Geheimdienstoffizier, und Ernst Udet,
einem hoffnungsvollen Flieger, der beinahe ebenso viele Abschüsse
erzielt hatte wie Stalhein. Um eine Öllampe geschart, wirkten sie
wie Zwerge in dem riesigen Gewölbe. Hammer war in einen übergroßen
Kalmuckmantel gehüllt, der ihn wie einen Troll aussehen ließ. Theo
paffte an einer Zigarette, deren Rauchwolke immer weiter in die
Höhe stieg, die ferne Decke jedoch nie erreichen würde. Und Udet
hatte sich, der neuesten Vampirmode folgend, vor kurzem ein Geweih
stehen lassen. Mit Samtfetzen behängt, spross es aus schwärenden
Wunden an seiner Stirn.
Die Dunkelheit ließ auf sich warten. Stalhein war
für die Nachtstreife eingeteilt. Er versuchte seine Ungeduld zu
zügeln.
Die anderen Flieger im Halbdunkel der Großen Halle
waren auf die Jagd nach Sonnenuntergang ebenso erpicht wie
Stalhein. Zarte Sauggeräusche drangen aus einem mit Vorhängen
versehenen Séparée. Der unersättliche Bruno Stachel labte sich an
dem Saft einer seiner französischen Geliebten. Stalhein vertrat die
Ansicht, ein nosferatu solle sich nicht bei Tage nähren; es
mache ihn zu benommen, um auf die Jagd zu gehen. Als einer der
wenigen Flieger des JG1 ohne ein »von« vor seinem Namen stand
Stachel abseits von den anderen; in einem Kader von Jägern war er
nichts weiter als ein Mörder. Seine Bilanz zählte einunddreißig
Siege.
»Sei gegrüßt, Erich«, rief ein junger blonder
Vampir und hob eine feiste Hand an den Mützenschirm. »General
Karnstein lässt
seinen Glückwunsch übermitteln. Wir haben Meldung erhalten, dass
dein Abschuss vorgestern Nacht bestätigt worden ist.«
Göring war der Registrator von Richthofens Zirkus.
Er verzeichnete die Einzelsiege in einer Tabelle.
Zwei Nächte zuvor war Stalhein niedrig gekreuzt, im
Schutz der Wolken, und hatte auf das Brummen von Motoren gelauscht.
Unter einer Avro 504J hatte er steil nach oben gezogen und den
Rumpf der Maschine mit Kugeln durchsiebt. Die Avro war ins Trudeln
geraten, mit von Flammenzungen beleckten Flügeln. Er war ihr nach
unten gefolgt, um neben dem Wrack zu landen und den Piloten
auszusaugen, doch die Avro hatte sich mit Müh und Not hinter die
Linien gerettet und war im Niemandsland zu Boden gegangen.
Britisches Flugabwehrfeuer hatte ihn daran gehindert, zu landen und
sein blutiges Werk zu vollenden. Laut Heeresverordnung durfte er
auf keinen Fall vom Feind gesichtet werden; zumindest nicht von
einem Feind, der danach noch in der Lage war, einen Bericht zu
übermitteln.
»Der Engländer hieß Mosley. Offenbar aus guter
Familie. Seine Laufbahn war zu Ende, bevor sie richtig begonnen
hat.«
Stalhein dachte an die gefletschten Fangzähne unter
einem lächerlich schmalen britischen Schnurrbart, der Rest des
Gesichts war hinter Haube und Schutzbrille verborgen. Ein
mittelprächtiger Sieg.
»Freust du dich nicht, Erich?«, fragte Göring.
»Jetzt hast du die zwanzig voll.«
»Ich habe kein Blut getrunken«, gestand
Stalhein.
»Aber du hast einen abgeschossen. Und nur darauf
kommt es an.«
»Mir nicht.«
Die Enttäuschung über seinen unblutigen Sieg war
fast noch größer, als wenn Mosley die Flucht gelungen wäre. Am Ende
der Jagd musste er seinen Blutdurst stillen.
Göring klopfte ihm trotzdem auf den Rücken. Er
hatte den geweihtragenden Udet überholt. Zu Beginn des Krieges
hätte er für zwanzig Siege automatisch den Pour le Mérite bekommen;
angesichts der großen Konkurrenz jedoch war die erforderliche
Anzahl zur Erringung eines Blauen Max verdoppelt worden.
»Der Sieg des Barons ist ebenfalls bestätigt
worden«, verriet Göring. »Ein Abschuss unter den Augen der
Engländer. Captain James Albright, achtundzwanzig Siege. Ein echter
Yankee.«
Mosley hatte vermutlich einer zweit- oder
drittrangigen Streife angehört. Ein erfahrener Flieger hätte sich
nicht so ohne weiteres vom Himmel holen lassen. Und doch zählte
sein kümmerlicher Leichnam ebenso viel wie Richthofens Triumph über
einen ruhmreichen Ritter der Lüfte. Göring, der wie ten Brincken
ein enervierendes Faible für die Statistik besaß, führte eine
zweite Tabelle, welche die Flieger nicht nach Einzelsiegen, sondern
nach der Anzahl der Siege ihrer Opfer auflistete. Nach dieser
Rechnung besaß der Baron einen uneinholbaren Vorsprung. Zu Beginn
des Krieges, vor dem Tod des großen Boelcke, hatte Richthofen
hauptsächlich langsame Aufklärer und Versprengte vom Himmel geholt;
nun, da sein Blut in Wallung war, war er auf edlere Beute
aus.
Stalhein war schon einmal abgeschossen worden, von
dem bescheidenen britischen Ass James Bigglesworth, lange bevor er
genügend Flugerfahrung besessen hatte, um sich für das JG1 zu
qualifizieren. Es vergingen Monate, bis die Narben im Gesicht und
auf dem Rücken verheilt waren. Er hatte nur überlebt, weil er aus
seiner brennenden Fokker geschleudert worden war. Wenn er diese
Schuld begleichen konnte, waren ihm Ruhm und Ehre gewiss. Mit
seinen zweiundzwanzig Siegen war Bigglesworth das Wagnis wert.
Kretschmar-Schuldorff zufolge war der Pilot in Maranique
stationiert, in derselben Einheit wie der verstorbene Captain
Albright.
Ein lebendes Geschoss riss den Vorhang aus der
Schiene und
schleifte ihn über den Steinfußboden. Ein fassförmiges Etwas von
der Größe eines Kindes hatte sich in der Stoffbahn verfangen. Es
quiekte und hinterließ eine Reihe blutiger Pfützen. Lothar von
Richthofen trat, mit einem Kandelaber in der Hand, aus der leeren
Maueröffnung. Er grinste wie ein Hund, Gesicht und Brust waren
blutverschmiert.
Wenn Lothar der Hund war, war sein Bruder der
Herr.
»Manfred frönt wieder einmal den Sünden seiner
Jugend«, bemerkte Göring.
Der Blutgestank brannte Stalhein in der Nase und
den Augen. Alle Vampire in der Halle waren mit einem Mal hellwach.
Das Quieken klang, als würden scharfe Klauen über eine
Schiefertafel kratzen. Das Bündel kämpfte mit dem schweren Vorhang
und schüttelte ihn ab. Verängstigte Tieraugen glänzten.
Lothar trat zur Seite und ließ seinen Bruder
vorbei. Rittmeister Manfred Freiherr von Richthofens Oberkörper war
nackt, sein rötliches Fell schimmerte feucht. Er war der beste
Gestaltwandler des JG1, die Hauptattraktion dieses fliegenden
Monstrositätenkabinetts. Richthofen wirkte für gewöhnlich
reserviert, um nicht zu sagen katatonisch, doch jetzt hatte ihn die
Leidenschaft gepackt. Des Nachts Engländer zu töten, genügte ihm
nicht; er musste tagsüber Wildschweine jagen, wie er es als Kind
auf den schlesischen Ländereien seiner Familie getan hatte.
Der weiß Gott wie und um welchen Preis
eingeschleuste Keiler drehte sich knurrend im Kreis, und Schaum
tropfte ihm vom Maul. Richthofen pirschte sich an das Tier heran.
Obgleich er barfuß ging, klickten seine spitzen Dornenklauen auf
den Fliesen. Der Eber wich erschrocken zurück.
Emmelmans riesige Gestalt löste sich aus dem
Schatten der Mauer, stürzte sich auf den Keiler und versuchte ihm
die Krallen in den Rücken zu bohren. Doch das glitschige Biest
entwand sich seinen Armen, und der Flieger klatschte zu Boden und
schloss
seine moosbewachsene Faust um den schmierigen Schwanz des Tieres.
Auf ewig zwischen Koboldform und menschlicher Gestalt gefangen,
versuchte der kolossale Emmelman den Eber an sich zu ziehen, doch
der Schwanz glitt ihm durch die Finger. Richthofen sprang über
seinen gestürzten Kameraden hinweg und brüllte seine Beute
an.
Lothar jagte Richthofen hinterdrein, auch er wollte
ein Stück vom großen Kuchen. Stalhein und Göring schlossen sich den
Brüdern an. Obgleich das Blut des Schweins einen fauligen Gestank
verströmte, regte sich Stalheins Vampirinstinkt. Spitze Fangzähne
sprossen aus seinem Oberkiefer. Dichtes Fell kroch seinen Rücken
hinauf. Das Dunkel lichtete sich.
Der Keiler rammte das Grammophon-Gestell, stürzte
es um und bereitete dem Strauß-Walzer ein schnelles Ende. Das Vieh
schüttelte seinen Kopf und zerstreute die Einzelteile des
zerbrochenen Apparates in alle Himmelsrichtungen. Das war eine
unerträgliche Beleidigung. Diese Schuld würde der Eber bitter
büßen.
Untröstlich über den Verlust der Musik und vom
Geruch des Blutes angelockt, kamen die Flieger aus dem Halbdunkel
hervor. Wütende rote Augen folgten dem Schwanz des Keilers, während
das Tier nach einem Ausweg suchte. Die Vampire rückten ihrer Beute
auf den Leib. Stalhein war Teil einer perfekten Angriffsformation.
Richthofen bildete, wie in der Luft, die Pfeilspitze. Stalhein
befand sich außen rechts, am Sporn des Widerhakens, während der
kleine Eduard Schleich die linke Außenposition besetzte. Emmelman
bildete das Schlusslicht und humpelte den anderen hinterdrein, als
wate er durch dicken Matsch.
Sie trieben den Eber auf eine offene Tür zu. Der
dahinter liegende Gang führte ins Freie. Richthofen war ein
Sportsmann. Wenn das Wild durch das Schlossportal gelangte, war es
den Spielregeln entsprechend frei und hatte den Sieg
errungen.
Schritt für Schritt rückte die Formation vor. Der
Eber wich zurück, seine Hufe klapperten über die Fliesen.
Richthofen blickte dem Tier fest in die Augen. Er legte größten
Wert darauf, dass seine Beute ihn persönlich kennenlernte, ihm mit
Respekt begegnete. Während er sich langsam vorwärtsschob,
verlängerten sich seine Arme, und darunter kamen die Rudimente
schlaffer Hautsäcke zum Vorschein. Die Finger seiner rechten Hand
verwuchsen miteinander, die Nägel bildeten eine spitze
Pyramide.
Der Keiler nahm Reißaus und lief davon. Die Flieger
rannten hinterdrein, fädelten sich ohne zu drängeln durch das
Nadelöhr der Tür und schwärmten wieder aus, um auf dem Gang
beschleunigen zu können.
Eine Seitentür ging auf. Caligari kam auf den
Korridor getrappelt, sein zerbeulter Hut wackelte bei jedem
Schritt. Das Tier verfing sich zwischen seinen Beinen, und er
wandte sich um. Vor Schreck wäre ihm beinahe der Zwicker von der
Nase gefallen, als er sah, wie sich die Jagdgesellschaft auf ihn
stürzte. Richthofen stieß den Nervenarzt beiseite, doch es schien,
als ob das Schwein den Sieg davontragen würde. Die Tür am Ende des
Ganges stand einen Spaltbreit offen, und ein Sonnenstrahl fiel
herein. Das Licht streifte den Rücken des Keilers. Das Tier
witterte die kalte Luft der Freiheit.
Manfred von Richthofen nahm all seine Kräfte
zusammen und ging zum Angriff über. Er sprang wohl an die sechs
oder sieben Meter, die Arme ausgestreckt wie Flügelschwingen. Eine
Hand krallte sich in die stacheligen Nackenhaare des Keilers.
Richthofen ließ sich mit voller Wucht auf den Eber fallen. Blut
rann ledrige Haut hinab. Der Jäger zerrte seine Beute in die
Dunkelheit zurück, fort von der Tür.
Stalhein war von dem Tierblut wie berauscht. Er
kämpfte gegen seine niederen Instinkte an. Zwar gab es
selbstverständlich reinere Beute. Aber Sieg war Sieg.
Göring quittierte die Großtat des Barons mit
begeistertem Applaus. Der dicke Hermann war ein geborener
Speichellecker, ein langzüngiger Stellvertreter.
Richthofen rang mit dem Eber, dann stemmte er ihn
über seinen Kopf. Einen Augenblick lang war er Herkules, der
Proteus in den Himmel hob. Sein Gesicht war das eines roten Löwen,
die Nase glühend, die Mähne von der Jagd zerzaust, das
fangzahnbewehrte Maul weit aufgerissen. Er schleuderte das Schwein
zu Boden, wo es benommen liegen blieb. Eine Steinfliese barst mit
lautem Krachen. Das Tier wand sich wie ein Wurm, leistete kaum noch
Gegenwehr. Wie ein geübter Matador ging Richthofen in
Tötungsposition, krümmte seinen langen rechten Arm wie einen Säbel
und zog die dornbeschlagene Hand zurück. Mit lautem Triumphgeheul
stieß er unterhalb des Schwanzes zu und stach das Schwein
regelrecht ab. Dann rammte er den Arm tief in die Eingeweide seiner
Beute. Ihre Augen erloschen, und der Kopf des Ebers schnellte hoch,
als eine blutige Faust durch seine Kehle brach. Das Schwein steckte
an Richthofens ausgestrecktem Arm wie an einem Spieß.
Der Baron machte sich los und bewunderte den rot
glänzenden Ärmel, der seinen Arm umhüllte. Dann ging er neben dem
toten Tier in die Knie und tauchte, sein gutes Recht in Anspruch
nehmend, die Zunge zärtlich in die triefende Halswunde. Er trank
nur wenig; nicht der Blutdurst, sondern die Jagdlust hatte ihn
getrieben. Als er fertig war, erhob er sich und ließ seine
Kameraden das Schwein in Stücke reißen. Er stand daneben wie ein
Herr, der seinen Hunden dabei zusieht, wie sie über ihre Belohnung
herfallen. Caligari, der noch immer zitterte, warf einen Blick auf
das Gelage und watschelte davon mit den Worten, die Jäger hätten
offensichtlich den Verstand verloren.
Im Gedränge erkämpfte sich Stalhein ein zerfetztes
Schweineohr. Um diesen grandiosen Preis zu erringen, schlitzte er
sich
an Udets Geweih den Arm auf und renkte sich bei dem Versuch,
Emmelman beiseitezudrängen, zu allem Überfluss auch noch die
Schulter aus. Er hütete seinen Leckerbissen, kehrte den anderen
Vampiren den Rücken und saugte an dem abgerissenen Hörorgan. Die
Flieger ringsum schmatzten, schlangen, schlürften, würgten. Es
schmeckte widerlich, doch es versetzte ihn in einen wahren
Freudentaumel.
9
La morte parisienne
Als die Sonne unterging, kehrte er in einem
Straßencafé am Montmartre ein. Selbst an einem eisigen Wintertag
wie diesem saßen zumeist untote habitués an den Tischen auf
dem Trottoir. Sie schwatzten und flirteten, lasen und tranken.
Todgeweihte Schneeflocken schmolzen auf Hüten, Händen und
Gesichtern. Winthrop entschied sich für einen Tisch am Ofen im
Innern des Cafés und bat den patron um eine Kanne englischen
Tees. Da er im Umgang mit britischen Offizieren durchaus bewandert
war, wusste der Franzose, was man von ihm verlangte, und so ließ er
Gewürze, Kaffee und Likör links liegen und nahm traurig und
verschämt ein ordinäres Päckchen Lipton’s von einem verborgenen
Regal.
Binnen weniger Minuten, in denen der Tee auf
Trinktemperatur abkühlte, erhielt er unsittliche Anträge von zwei
filles de joie und einem krausköpfigen Jüngling; ein
fangzahnbewehrter Zwerg erklärte sich bereit, um den Preis eines
Laibes Brot sein Porträt zu zeichnen; das Gerücht, der verwegene
Dieb Fantomas habe in einer nahe gelegenen Straße eine reiche Witwe
um ihr Smaragdcollier
erleichtert, machte die Runde; ein zweiter notleidender Künstler
versuchte, Karikaturen des Kaisers und des Grafen von Dracula
unters Volk zu bringen; ein gutgläubiger Australier ließ sich für
einen zehn Centimes teuren anis ganze zehn Francs abknöpfen;
und es kam zu einer Messerstecherei zwischen einem untoten Apachen
und einem einarmigen, warmblütigen Veteranen, der den Unversehrten
wider Erwarten zur Strecke brachte. Dies war vermutlich das
vielgerühmte vie parisienne; es erschien ihm reichlich
albern. Ein Haufen ungezogener Kinder.
Als es dunkel war, beglich er seine Rechnung und
bahnte sich einen Weg zwischen den dicht besetzten Tischen hindurch
zum Ausgang des estaminet. Amerikaner, Neulinge im Krieg und
in Europa, waren besonders reich vertreten. Da sie alles und jeden
bestaunten und bestarrten, waren sie unter den Pariser
Taschendieben überaus beliebt. James Gatz, ein »Lootenant«, den
Winthrop flüchtig kannte, grüßte ihn mit einem schnarrenden »alter
Knabe«. Winthrop eilte davon, bevor Gatz ihn einholen konnte; es
war Nacht, er war im Dienst. Er winkte dem Amerikaner zum Abschied
und hoffte, dass der junge Mann den Abend unversehrt an Herz, Hals
und Börse überstehen würde.
An der Place Pigalle wurde er von Kindern umringt,
die ihn um cadeaux angingen. Bei näherer Betrachtung
erwiesen sich die meisten dieser Kreaturen als Vampire, vermutlich
älter als er. Ein goldhaariger Knabe krümmte seine Finger zu Klauen
und klammerte sich an Winthrops Rock. Das seelenalte Kind versuchte
ihn gurrend und fauchend zu hypnotisieren.
Sergeant Dravot, Winthrops Schatten, löste sich aus
einem finsteren Winkel, befreite ihn von dem lästigen Schmarotzer
und schleuderte ihn zu seinen Kameraden zurück. Die verwahrlosten
Kinder liefen davon und umschwärmten die Beine erschrockener
Soldaten und ihrer Liebchen.
Zum Dank nickte er Dravot zu und überprüfte die
Knöpfe an
seinem Rock. Noch immer spürte er die Fingerspitzen des wilden
Knaben auf seiner Brust. Der Sergeant verschwand wieder in der
Menge; notfalls hätte er selbst Fantomas das Lebenslicht
ausgeblasen. Obgleich es ihn mit Trost erfüllte, einen Schutzengel
zu haben, ärgerte es Winthrop, dass man ihm nicht zutraute, seine
Geschäfte allein zu erledigen. Dravot hatte bisweilen etwas
Gouvernantenhaftes.
Scheinbar ziellos mischte er sich unter das
Theaterpublikum. Das Grand Guignol brachte André de Lordes
berüchtigtes Maldurêve, das Théâtre des Vampires hingegen
spielte Offenbachs Operette La morte amoureuse mit dem
berühmten Cancan »Clarimonde«. Im Robert-Houdin bot der warmblütige
Illusionist Georges Méliès sensationelle Taschenspielereien dar,
von denen er behauptete, nicht einmal ein Vampir mit seinen
übernatürlichen Kräften könne dergleichen vollbringen. In einer der
zahlreichen Aufführungen rein weiblicher Ensembles, die gegenwärtig
die Pariser Bühnen zierten, gab die Bernhardt ihren blutigen
Macbeth. Da die meisten Mimen in den Krieg gezogen waren,
verhielt es sich genau umgekehrt wie zu Shakespeares Zeiten, und
viele Männerrollen wurden von Frauen en travestie gespielt.
Falls der Krieg jemals ein Ende fand, würde eine zweite Revolution
vonnöten sein, um die göttliche Sarah in einen Rock
zurückzuzwingen.
Das in einer namenlosen Seitenstraße fernab der
großen Häuser gelegene Théâtre Raoul Privache war weder prächtig
noch berühmt. Vor Erhalt des mit »Diogenes« unterzeichneten Billets
mit den Einzelheiten dieser Zusammenkunft hatte er noch nie von dem
établissement gehört. Ein Plakat zeigte eine hagere Frau mit
großen Augen in einem knapp sitzenden Trikot. Die Ankündigung
lautete schlicht: Isolde - Les frissons des vampires. Eine
kleine Schar von Fanatikern forderte wütend Einlass. Sie waren fast
ausschließlich männlichen Geschlechts, trugen größtenteils Uniform
und boten denselben gierigen, hohläugigen Anblick wie die Frau auf
dem Plakat.
Winthrop gesellte sich unter das ins Foyer
strömende Publikum und hielt nach Dravot Ausschau. Mitunter glich
es einem Spiel, den Sergeant ausfindig zu machen. Obgleich er
breitschultrig war und die meisten Menschen um Haupteslänge
überragte, bereitete es dem Vampir keine allzu große Mühe, sich zu
tarnen, da er die seltene Fähigkeit besaß, sich völlig an seine
Umgebung anzupassen.
Als Winthrop dem caissier seinen Namen
nannte, führte der ihn einen schmalen, dunklen Korridor hinab zu
einer privaten Loge. Dravot folgte ihm und ging an der Tür in
Stellung. Er würde auf den Genuss der Aufführung verzichten müssen.
Der blättrigen Tapete und dem schwachen Modergeruch nach zu
urteilen, würde der Sergeant nicht allzu viel verpassen.
Winthrop öffnete die Tür und betrat die Loge. Ein
Mann saß in einem bequemen Sessel und paffte an einer
Zigarre.
»Edwin! Pünktlich auf die Minute. Nehmen Sie
Platz.«
Sie tauschten einen festen Händedruck, und Winthrop
setzte sich. Charles Beauregard hatte volles weißes Haar und einen
gestutzten grauen Schnurrbart. Sein Gesicht war faltenlos, und er
wirkte hellwach und agil. Soviel Winthrop wusste, hatte Beauregard
sich während der Zeit des Schreckens ausgezeichnet und einmal sogar
die Ritterwürde abgelehnt.
Jenseits des Balkons begaben sich die murmelnden
Zuschauer eilig auf ihre Plätze. Ein Pianist versuchte einem
altersschwachen Instrument wohlklingende Laute zu entlocken.
Beauregard offerierte ihm eine Zigarre, doch
Winthrop rauchte lieber seine eigene Marke. Er zündete sich eine
Zigarette an und löschte die Streichholzflamme.
»Ich habe Ihren Bericht gelesen«, sagte Beauregard.
»Schlimme Geschichte, neulich nachts. Sie trifft keine
Schuld.«
»Ich habe Albright ausgesucht und ihn in den Tod
geschickt.«
»Und ich habe Sie ausgesucht, wie auch mich jemand
ausgesucht hat. Ich habe mir Albrights Akte angesehen, und ich muss
sagen, Sie hätten keine bessere Wahl treffen können.«
Ein geflügelter Schatten flatterte an Winthrops
geistigem Auge vorüber.
»Die Deutschen haben den Sieg Manfred von
Richthofen zuerkannt«, sagte Beauregard. »Wenn ein Flieger des
Geschwaders Condor gegen den Roten Baron eine Chance hatte, dann
war es Captain Albright.«
Demnach handelte es sich bei dem geheimnisvollen
Schatten also um den Roten Baron höchstpersönlich. Winthrop
überlegte, was für eine Mühle Richthofen wohl flog. Ein neues,
tödliches Modell.
»Das deutsche Oberkommando stellt seine Mordbuben
in der Presse groß heraus. Wir besitzen keineswegs das Monopol auf
säbelrasselnden Chauvinismus. Wenn zwanzig Fokker ein alliiertes
Flugzeug abschießen, wird das Verdienst in aller Regel denen
zugesprochen, die in der Publikumsgunst am höchsten stehen.«
»Es war nur eine Maschine mit Albright am
Himmel.«
»Ich habe nicht behauptet, Richthofen sei ein
Engel.«
Eine Untersuchung hatte ergeben, dass Albright
völlig ausgetrocknet war. Thorndyke, der Spezialist, der die
Autopsie vorgenommen hatte, war zu dem Schluss gelangt, der
Leichnam sei nicht nur seines Blutes, sondern jeglicher Flüssigkeit
beraubt worden.
»Captain Albright wurde aus seiner SE5a gezerrt und
in der Luft getötet. So etwas habe ich noch nie erlebt.«
»Es geschieht nichts Neues unter dem Mond, mein
lieber Edwin. Nicht einmal in diesem modernen Mörderspiel.«
Das Saallicht erlosch, und der Pianist hieb in die
Tasten und
schändete eine Melodie aus Schwanensee. Der Vorhang ging
auf. Abgesehen von einem Rohrstuhl und einem offenen Schiffskoffer
war die Bühne leer.
Eine Vampirfrau betrat die Szene, der durchsichtige
Umhang, der in Falten über ihr Trikot fiel, gemahnte an die
Schwingen einer Motte. Sie war die Isolde von den Plakaten. Ihr
Gesicht war streng, wenig anziehend. An Wangen und Schläfen traten
die Schädelknochen hervor. Die Fangzähne, die ihr aus dem Mund
ragten, schnitten tiefe Kerben in Kinn und Unterlippe.
Isolde schritt zu den Klängen der Musik auf der
winzigen Bühne auf und ab. Das Publikum war
mucksmäuschenstill.
»Unser Interesse am Château du Malinbois wächst von
Tag zu Tag«, sagte Beauregard mit einem Seitenblick auf Isolde.
»Seltsame Geschichten sind im Umlauf.«
Mit schwarzen Krallen teilte Isolde ihr langes,
glattes Haar. Ihr Hals war schrecklich dünn, die Adern waren
deutlich zu erkennen.
»Sämtliche Piloten kannten das Schloss«, sagte
Winthrop. »Sie sind von Richthofen geradezu besessen. Er ist ihr
ärgster Feind.«
»Über siebzig Siege.«
»Sein Tod wäre für uns alle eine
Erleichterung.«
»Seltsam: Ein Soldat, der die Abzugsleine einer
Haubitze zieht oder ein Maschinengewehr bedient, tötet in wenigen
Sekunden oftmals genauso viele Gegner wie unser Roter Baron während
des gesamten Krieges. Und doch erscheint nur der Flieger in der
Presse. Rittmeister Manfred Freiherr von Richthofen. Er hat den
Pour le Mérite, den Blauen Max. Das Victoria-Kreuz der Hunnen. Und
so viele geringere Ehrenzeichen, dass man sie kaum zählen
kann.«
Isolde löste den Kragen ihres Umhangs und ließ ihn
zu Boden gleiten. Sie war furchtbar dürr. Ihre Rippen traten wie
Zaunlatten hervor.
»Geben Sie gut Obacht, Edwin. Es ist ein
hässliches, aber überaus lehrreiches Schauspiel.«
Der Vampir nahm feierlich ein Messer aus dem Koffer
und hielt es in die Höhe. Es schien nichts Ungewöhnliches daran zu
sein. Isolde bohrte die Spitze in die Vertiefung unterhalb des
Adamsapfels, ritzte die Haut, ohne dass Blut floss, und schnitt ihr
Trikot entzwei. Der Stoff löste sich von ihrer Haut. Ihre Brüste
waren nicht weiter bemerkenswert, doch ihre Warzen waren groß und
dunkel.
Winthrop hatte zwar nur wenig Erfahrung mit dem
frivolen Treiben von Paris, aber die farblose Isolde schien ihm zu
unterentwickelt, um wahrhaftig Anerkennung finden zu können. Die
beliebten Mädchen der Folies-Bergère waren wesentlich üppiger
ausgestattet als diese armselige Kreatur, fette Tauben im Vergleich
zu diesem mageren Spatz.
Sie zuckte die Achseln, und die obere Hälfte ihres
Hemdes glitt ihr über die Schultern auf die Hüfte. Ihre Haut war
makellos bis auf die grünliche Färbung. Isolde setzte sich das
Messer noch einmal an die Kehle und führte einen zweiten Schnitt
vom Brustbein bis hinab zum Bauch. Es floss nur wenig Blut.
»Sie ist keine Neugeborene«, sagte Beauregard.
»Isolde ist bereits seit über tausend Jahren ein Vampir.«
Winthrop sah etwas genauer hin, vermochte jedoch
keinerlei Anhaltspunkt für die sagenhafte Kraft und Macht der
Ältesten zu erkennen. Mit ihren starren Fangzähnen wirkte Isolde
hilflos und verloren, beinahe lächerlich.
»Sie ist schon einmal guillotiniert worden.«
Isolde klemmte sich die Klinge zwischen die Lippen
und nahm beide Hände zu Hilfe. Sie schob die Fingernägel unter die
Ränder ihrer selbst beigebrachten Wunde und schälte die Haut von
ihrer rechten Brust. Bei jeder Bewegung spannten und entspannten
sich ihre freiliegenden Muskeln. Sie glitt mit der ganzen Hand
unter die Haut, lockerte die Umhüllung ihrer Schulter und streifte
sie ab wie ein Hemd.
Das Publikum war hingerissen. Winthrop war
angewidert, von den Zuschauern wie von der Künstlerin.
»Wir begreifen unsere Grenzen nicht«, meinte
Beauregard. »Wenn wir zum Vampir werden, sind wir der Möglichkeit
nach imstande, die natürliche Gestalt des menschlichen Körpers zu
verändern.«
Als Isolde sich umwandte, riss die Haut an ihrem
Rücken. Rotrandige Lappen hingen schlaff herunter. Allein mit den
Fingernägeln und ein paar Schnitten ihres Messers zog sie sich
systematisch die Haut ab.
Eine Gruppe von Amerikanern, die irrtümlich
angenommen hatten, Isolde werde sich auf andere Art entblättern,
stürmte unter lautem Protestgeschrei hinaus. »Ihr habt doch nicht
mehr alle Tassen im Schrank«, brüllte einer.
Isolde blickte ihnen nach und zog die Haut wie
einen schulterlangen gant glacé von ihrem rechten Arm.
»Manche Vampire, Edwin, sind ebenso wenig imstande,
ihre Gestalt zu wandeln wie Sie oder ich. Insbesondere die vom
Geblüt Ruthvens und Chandagnacs. Andere wieder, unter ihnen die vom
Geschlecht der Dracula, besitzen Fähigkeiten, die noch nicht einmal
annähernd erforscht sind.«
Isolde verstümmelte sich mit steinerner Miene und
wilden Gebärden. Ihre Haut hing in schlotterigen Fetzen. Winthrop
wollte sich der Magen umdrehen, doch es gelang ihm, seine Übelkeit
im Zaum zu halten. Das ganze Theater stank nach Blut. Ein wahrer
Segen, dass nur wenige Vampire sich im Raum befanden; sie hätten
vermutlich den Verstand verloren. Die Künstlerin riss ihre weiße
Haut in Streifen und warf sie in die Menge.
»Sie hat treue Anhänger«, sagte Beauregard. »Des
Esseintes, der Dichter, hat ihr einige Sonette gewidmet.«
»Es ist ein Jammer, dass de Sade sich nicht
verwandelt hat. Er hätte an diesem Schauspiel seine helle Freude
gehabt.«
»Vielleicht hat er sie zu seiner Zeit gesehen. Sie
tritt seit einer Ewigkeit mit dieser Nummer auf.«
Ihr schimmernder Torso glich einem anatomischen
Präparat, fahle Knochen in feuchtem Fleisch. Sie hob ihren
gehäuteten rechten Arm und leckte ihn vom Ellbogen bis zum
Handgelenk, tauchte ihre Zunge in das rote Nass. Ihre Arterien
waren deutlich zu erkennen, durchsichtige Röhren, in denen das Blut
pochte und pulsierte.
Zahlreiche Zuschauer waren aufgesprungen und
drängten sich am Bühnenrand. In den Folies hätten sie alle fünfe
gerade sein lassen und lauthals geschrien und gejohlt. Hier waren
sie still und leise, starrten mit angehaltenem Atem auf die Bühne
und versperrten ihren Kameraden die Sicht.
Wie viele dieser Männer hätten zugegeben, dass sie
das Raoul Privache besuchten?
»Hat man ihr nach der Enthauptung den Kopf wieder
angenäht?«
Sie bohrte die Zähne in ihr Handgelenk, nagte die
Arterie durch und begann zu saugen. Blut schoss aus der Röhre, und
sie schluckte gierig.
»Nein, man hat sie begraben«, erklärte Beauregard.
»Ihr Leib verfaulte, aber ihrem Kopf wuchs ein neuer Körper. Das
dauerte zehn Jahre.«
Sie holte Atem und grinste mit bluttriefendem Kinn
ins Publikum, dann wiederholte sie ihre Attacke. Während sie
saugte, krümmten sich ihre ausgestreckten Finger zu einer nutzlosen
Faust.
»Es heißt, seitdem sei sie nicht mehr
dieselbe.«
»Wie weit kann sie gehen?«
»Sie meinen, ob sie sich mit Haut und Haar
verschlingen kann,
so dass nichts mehr übrig ist? Ich weiß es nicht. Bislang hat sie
darauf verzichtet.«
Isoldes rohes Fleisch welkte und wechselte die
Farbe, während sie sich das Blut aussaugte, ihr Gesicht hingegen
schwoll auf und erblühte.
»Ich glaube, wir haben genug gesehen«, sagte
Beauregard und erhob sich.
Winthrop war erleichtert. Er würde niemals zu
Isoldes Anhängern gehören.
Sie traten auf den Korridor hinaus. Dravot stand
neben der Tür und las die neueste Ausgabe von Comic Cuts.
Beauregard und der Sergeant waren alte Kameraden.
»Danny, kümmern Sie sich brav um unseren jungen
Lieutenant?«
»Ich tue, was in meiner Macht steht, Sir.«
Beauregard lachte. »Das freut mich. Das Schicksal
des Empire ruht auf seinen Schultern.«
Winthrop wurde den Gedanken an Isolde nicht
los.
»Was halten Sie von einem Spaziergang,
Edwin?«
Sie verließen das Theater. Die klare, kalte Luft
war eine Wohltat. Der Schnee blieb nicht liegen, sondern überzog
den Gehsteig mit schmutzig braunem Matsch. Winthrop und Beauregard
schlenderten dahin, Dravot folgte ihnen im Abstand von etwa zwanzig
Schritten.
»Als ich in Ihrem Alter war«, sagte Beauregard,
»glaubte ich, in einer anderen Welt als dieser alt werden zu
können.«
Winthrop war im Jahre 1896, nach der Zeit des
Schreckens, zur Welt gekommen. Vampire waren ihm ebenso
selbstverständlich wie Hochwild oder Holländer. Von seinem Vater
wusste er, was die Briten von Beauregards Generation durchgemacht
hatten, all die Veränderungen, an die sie sich während der Zeit des
Schreckens hatten gewöhnen müssen.
»Ich erinnere mich an die Jahre, als Ruthven noch
nicht Premierminister und Edward Albert Victor noch nicht König
war. Da offensichtlich keiner der beiden Herren die Absicht hegt,
das Zeitliche zu segnen, ist es gut möglich, dass sie ihr Amt
selbst dann noch ausüben werden, wenn ich längst zu Staub zerfallen
bin. Dasselbe gilt für Sie, es sei denn, Sie fassen die Gelegenheit
beim Schopfe und verwandeln sich.«
»Ich? Mich verwandeln? In ein solches
Monstrum?«
Winthrop deutete zum Raoul Privache und dachte an
Isoldes rot unterlaufene Augen, während sie sich bis zur
Besinnungslosigkeit an ihrem eigenen Blut berauschte.
»Nicht alle Vampire sind von ihrem Geblüt. Sie sind
keine besondere Spezies, Edwin. Keine Ungeheuer und Dämonen. Sie
sind nichts als eine Erweiterung unserer selbst. Von Geburt an
verwandeln wir uns auf millionenfache Weise. Warum also nicht auch
in einen Vampir?«
Winthrop hatte natürlich schon einmal daran
gedacht, sich zu verwandeln. Kurz nach dem Tod seines Vaters hatte
seine Mutter ihn beredet, doch den dunklen Kuss zu suchen, sich
gegen die Sterblichkeit zu wappnen. Mit siebzehn war er dazu noch
nicht bereit gewesen. Heute erging es ihm kaum besser. Zudem wusste
er, dass dieser Entschluss wohlüberlegt sein wollte: Die Frage des
Geblüts war von entscheidender Bedeutung.
»Die beste Freundin, die ich jemals hatte, war
ebenso ein Vampir«, sagte Beauregard, »wie mein ärgster
Feind.«
Einige Meilen entfernt ereignete sich eine
Explosion. Flammen loderten gen Himmel und ließen die fischbäuchige
Silhouette eines Zeppelins sichtbar werden. Seit etwa einem Monat
häuften sich die Luftangriffe. Die Pariser nannten die deutschen
Brandgeschosse inzwischen »Liebesgrüße des Kaisers«. Zeppeline
flogen so hoch, dass sie ihre Bomben unmöglich gezielt abwerfen
konnten, deshalb konnte es alles und jeden treffen. Die Angriffe
erfolgten
nicht aus militärischen Gründen; Dracula hatte eine Politik des
»Terrors« verfügt, um die Moral der Alliierten zu brechen.
»Vor unserer nächsten Unterredung möchte ich, dass
Sie dies lesen«, sagte Beauregard und reichte Winthrop einen
Umschlag. »Man könnte es eine Lebensbeichte nennen. Eine Frau, die
heute Morgen erschossen wurde, hat mir ihre Geschichte erzählt, und
ich habe mein Möglichstes getan, sie in ihren Worten wiederzugeben.
Sich genauestens einzuprägen, was die Leute sagen, ist eine Kunst,
in der Sie sich beizeiten üben sollten. Häufig werden Sie
feststellen, dass sie Ihnen Dinge verraten haben, von denen sie
selbst nichts wussten.«
Winthrop schob sich den Umschlag in die Tasche. In
der Ferne klangen Brandglocken. Die Reichweite des französischen
Flugabwehrfeuers war zu gering, um dem Luftschiff etwas anhaben zu
können. Der Zeppelin gewann an Höhe und verschwand in den Wolken.
Eine Angriffsformation bestand für gewöhnlich aus fünf oder sechs
Schiffen. Wenn der Hunne etwas Bestimmtes zerstören wollte,
schickte er einen seiner großen Gotha-Langstreckenbomber.
»Wie gern würde ich eines dieser Biester in Flammen
aufgehen sehen«, meinte Winthrop.
Beauregard richtete den Blick gen Himmel, und
Schneeflocken benetzten wie Tränen seine Wimpern.
»Ich bin müde und muss gehen. Lesen Sie Madame
Zelles Geständnis so aufmerksam wie irgend möglich. Vielleicht
entdecken Sie etwas, das mir entgangen ist.«
Der Alte wandte sich um und marschierte davon, sein
Stock klapperte über das Pflaster. Eine Horde betrunkener
Amerikaner machte ihm höflich Platz. Zu seiner Zeit hatte Charles
Beauregard gewiss eine stattliche Figur abgegeben. Auch jetzt noch
war er der bei weitem beeindruckendste Mann im Dienst des Königs,
dem Winthrop je begegnet war.
Winthrop hielt nach Dravot Ausschau und hatte ihn
sogleich entdeckt. Der Sergeant stand regungslos im Schatten eines
Baldachins. Es bereitete ihm von Mal zu Mal weniger
Schwierigkeiten, Dravot ausfindig zu machen. Allmählich hatte er
den Bogen heraus.
10
In gehobenen Kreisen
Trotz der prachtvoll bemalten Decken und
lederbezogenen Chaiselongues war auch dies nichts weiter als ein
Wartesaal. Er würde den Rest seines Lebens in derlei Räumlichkeiten
verbringen, in der Hoffnung, gleichgültige Würdenträger mögen ihre
geschätzten Tätigkeiten unterbrechen und sich Edgar Poes Belangen
widmen. Aus seiner Zeit bei der Armee und in West Point war er mit
der Parole »Gut Ding will Weile haben« wohlvertraut. Der Welt
größte Militärmacht hatte dieses Diktum im Staatsrecht verankert.
Prag war nichts weiter als ein Lehngut Berlins, die Hauptstadt der
Wartezimmer, die metropolis der Pflichtvergessenheit. In
Böhmen war Poe nur einer unter vielen gewesen, ein unscheinbares
Gesicht in der Menge. Hier war er ein kleiner Schatten in einer
Welt der Finsternis.
Die Halle wimmelte von Männern, deren Aufmachung
auf Einfluss und Ansehen schließen ließ. Mit den befiederten
Helmen, goldenen Quasten, schimmernden Schulterstücken, polierten
Knöpfen, funkelnden Orden, weißen Umhängen, gewichsten Stiefeln,
brokatbesetzten Westen und gestreiften Hosen, die sich vor Poes
Augen tummelten, hätte man das komplette Ensemble einer komischen
Oper ausstaffieren können. Trotzdem durchmaßen
die Bittsteller gereizt den Saal oder sanken müde in sich zusammen
und demonstrierten Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit. Poe fiel unter
letztere, Ewers unter erstere Kategorie. Er lief auf und ab wie ein
Wachposten, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, der Hals so
steif, als habe er einen Ladestock verschluckt.
Sie hatten eine Unterredung mit Dr. Mabuse, dem
Leiter des Kriegspresseamtes. Obgleich es auf Mitternacht zuging,
herrschte im ganzen Haus rege Betriebsamkeit. Poe hatte bislang
nichts weiter herausbekommen, als dass man ihn bitten würde, ein
Buch zu schreiben. Er hatte vorsorglich verschwiegen, dass ihm in
den vergangenen drei Jahren nicht einmal ein humoristisches Couplet
gelungen war.
Hauptleute und Unterführer umklammerten
Aktenbündel, in der Hoffnung, die schlechten Nachrichten, die sie
im Gepäck hatten, so schnell wie möglich loszuwerden. Die unendlich
lange Wartezeit machte die Rangunterschiede zwischen Oberst,
General und Feldmarschall vergessen.
Bisweilen schoss ein Schreiber mit einem zottigen
Haarnest auf dem Kopf aus einer winzigen Tür wie aus einer
Kuckucksuhr und rief einen Namen auf.
»Von Bayern«, bellte er. »Hauptmann Gregor von
Bayern.«
Ein Ältester in einer schmucklosen, aber adretten
Uniform erhob sich, als er seinen Namen hörte, und wurde aus dem
Saal geleitet. Ewers’ neidischer Blick bohrte sich in von Bayerns
Rücken, als dieser forschen Schrittes hinter einer Flügeltür
verschwand, an der ein vergoldetes Basrelief des deutschen
Kaiseradlers prangte.
»Älteste werden immer und überall bevorzugt«, sagte
Ewers halblaut. »Diese jahrhundertealten Narren wissen zwar nicht,
welches Jahr wir haben, dafür verfügen sie über ein Offizierspatent
und die Möglichkeiten, einem tüchtigen Neugeborenen die Zukunft zu
verdunkeln.«
Ewers schien von Missgunst geradezu zerfressen. Poe
lernte immer wieder etwas Neues über seinen »Doppelgänger«.
In dem Eisenbahnwaggon erster Klasse hatte Poe,
ganz benommen von Ewers’ endlosen Reminiszenzen, seinen
Reisebegleiter nur ertragen, weil dessen Position ihm Patronage,
Aufstieg oder Degradierung garantierte. Ewers’ Geschichten über das
Leben im Dienste des Kaisers waren gespickt mit den verdienten
Niederlagen derer, die ihn enttäuscht oder betrogen hatten. Jedes
Juwel der Wahrheit, mit dem er seinen autobiografischen Monolog
verzierte, wurde erst auf Hochglanz poliert und dann in ein
Flechtwerk heilloser Fiktion gefasst.
Es war eine unangenehme Reise, und die zerfurchten
Mienen der Soldaten, die aus dem Urlaub zurückkehrten, lauerten vor
dem Abteil und in den Schatten zwischen den Waggons. Das Grau ihrer
Uniformen färbte auf ihre Gesichter ab, und nur das Rot rings um
die Augen verlieh ihnen einen Hauch von Frische.
Poe wurde nach wie vor von Geistern und Gespenstern
heimgesucht. Auf einer Chaiselongue ganz in der Nähe saß,
eingeklemmt zwischen einem aufgeblasenen Diplomaten und einem
General mit Backenbart, ein Mann von der Front, ein wandelndes,
wildäugiges Gerippe in einer übergroßen Uniform. Eine verschmutzte
Depesche klemmte unter seinem Arm, und bei jedem Stiefeltritt, der
über den marmornen Fußboden hallte, zuckte er vor Schreck zusammen.
Er war ein lebender Toter, ein Warmblüter, der weitaus lebloser
schien als die Vampire links und rechts von ihm. Sein zerbeulter
Helm war mit französischem Schlamm besudelt. Die Vorderseite seines
Rocks war von seinem Blut rosig verfärbt. Falls er jemals
irgendwelche Rangabzeichen getragen hatte, waren sie entweder bis
zur Unkenntlichkeit befleckt oder aber abgerissen. Sein müdes
Gesicht war eine Maske des Schmerzes.
Der General aß geräuschvoll lebende Mäuse aus einer
braunen
Papiertüte und tat, als nehme er den Zustand seines Kameraden gar
nicht wahr. Er rückte von ihm ab, um jegliche Berührung mit diesem
widerwärtigen Wrack zu vermeiden. Auch der Diplomat starrte
stumpfäugig ins Leere, damit er den Soldaten nicht ansehen musste.
Die Würdenträger, neugeborene Vampire höchsten Ranges, unterhielten
sich über den Kopf des Schlammfritzen hinweg über den Fortgang des
Krieges. Da der Deutsche der Welt bester Kämpfer sei, waren sie
sich einig, dass der Sieg unmittelbar bevorstehe. Nach der
Kapitulation der Russkis gab es keinen Grund, Paris nicht noch vor
der Schneeschmelze einzunehmen.
Der Soldat hielt sich den Bauch, als verdaue er
gerade eine Sterndistel, und warf Poe einen vernichtenden Blick zu.
Einen Augenblick lang glaubte er, der Mann habe ihn als den
Verfasser der Schlacht von St. Petersburg identifiziert, und
nun müsse er sich für sein Scheitern als Prophet der modernen
Kriegsführung rechtfertigen. Der Gedanke verflog, doch er kochte
vor Wut über den Diplomaten und den General. Sie und nicht Edgar
Poe trugen die Verantwortung dafür, dass der Krieg einen anderen
Verlauf genommen hatte als in seiner Vision.
»Poelzig«, verkündete der Schreiber. »Herr Oberst
Hjalmar Poelzig.«
Ein blässlicher Offizier erhob sich und schlenderte
gemächlich durch die Flügeltür. Poe vermutete, dass er Aktien einer
Munitionsfabrik besaß. Nur jemand, der viel Geld verdiente, konnte
derart blasiert und zufrieden wirken.
Ewers lief noch immer auf und ab; er schäumte vor
Zorn. Er hatte dem Fahrer des Automobils, das sie von der
Eisenbahn-Station zur Hofkanzlei befördert hatte, die Dringlichkeit
ihrer Mission erklärt. Der Name Mabuse war bekannt genug, um den
Mann zu einem waghalsigen Manöver anzuspornen. Ein heftiger Druck
auf die Hupe hatte ein Pferd scheu gemacht. Kichernd hatte
Ewers zugesehen, wie zwei Soldaten das Tier zu bändigen versucht
hatten, und der Wagen war mit flatternden Adlerwimpeln
vorbeigerast. In diesem riesenhaften Saal nun sah er sich auf sein
wahres Format zurechtgestutzt, als die falkenäugigen Schreiber
seine devoten Bitten entweder geflissentlich ignorierten oder
unwirsch beiseitewischten. Wäre er nicht so müde und durstig
gewesen, und hätte er sich seiner armseligen Kleidung nicht so sehr
geschämt, hätte Poe es zweifellos genossen, wie der Prahlhans von
Minute zu Minute kleiner wurde.
Ein junger Veteran, dessen zu einer Schnauze
ausgestülptes Gesicht mit wundroten Narben übersät war, während
sein verbrannter, zu einer Fledermausschwinge verkrümmter Arm
nutzlos herunterbaumelte, kam mit einem Wagen voller Zeitungen
herein, die er zum Verkauf anbot. Ein Oberst musste von der
Titelseite erfahren, dass die geheimen Informationen, die er dem
Oberkommando übermitteln sollte, inzwischen allgemein bekannt
waren. Poe spielte mit dem Gedanken, sich eine Zeitung zu kaufen,
als er bemerkte, dass er keinen Pfennig bei sich hatte.
Ewers versuchte einen Schreiber davon zu
überzeugen, dass seine Laufbahn eine fürchterliche Wende nehmen
werde, wenn Dr. Mabuse erführe, dass man ihn, den großen Hanns
Heinz Ewers, habe warten lassen. Er bedeutete dem Schreiber, auf
ein Wort von ihm werde er unverzüglich an die Westfront abbestellt.
Der Schreiber ließ ihn gewähren, doch es passierte nichts.
Ewers war merkwürdigerweise der Einzige im Saal,
der sich beschwerte. Der Feldmarschall wartete geduldig. Sehr
deutsch. Jeder fügte sich in seinen Rang und seine Stellung. Alles
überaus beruhigend, vorausgesetzt, man hatte einen Platz in der
Pyramide. Wessen Stand sich nicht auf den ersten Blick an einem
Schulterstück ablesen ließ, kam einem »unberührbaren« Inder gleich
und wurde aus dem Kastensystem ausgeschlossen.
Der Soldat unterdrückte ein Stöhnen und hielt sich
mit beiden
Händen den Bauch, als bahnte sich ein Granatsplitter einen Weg
durch seinen Leib. Poe hatte den Eindruck, dass ein schmales
Blutrinnsal durch den Rock des Soldaten sickerte. Sein roter Durst
erwachte, doch der abgelebte, schmutzige Soldat beleidigte sein
Zartgefühl. Poe hätte wirklich ausgedörrt sein müssen, um sich von
solch ärmlichem Fleisch zu nähren.
Plötzlich war die Stimmung im Saal wie
ausgewechselt, als habe jemand Rauch bemerkt. Die Bittsteller waren
wie eine äsende Rotwildherde, die auf die Schritte eines Jägers
lauscht. Säuselndes Geflüster wehte wie ein Windhauch durch den
Raum, und Poe hörte nur einen Namen, immer wieder.
»Dracula …«
Zwei Wärter hielten die Haupttür auf. Eine üble
Gesellschaft kam herein. Selbst Ewers blieb stehen und nahm Haltung
an.
»Dracula …«
Graf von Dracula war der älteste Vampir Europas,
ein meisterhafter Stratege und großer Visionär, Architekt des
Sieges und Verteidiger der Rasse. Allein seinen kolossalen Ränken
und Intrigen war es zu verdanken, dass sich die Seuche auf der
ganzen Welt hatte ausbreiten können. Als angeheirateter Onkel
Kaiser Wilhelms II. hatte er auf die Kriegsführung angeblich
größeren Einfluss als Hindenburg oder Ludendorff.
»Dracula …«
Soldaten kamen mit klappernden Stiefeln und
Brustharnischen in den Saal marschiert. Es waren Älteste, die der
Karpatischen Garde des Grafen angehörten und seit Jahrhunderten an
seiner Seite fochten. Sie brachten einen eisigen Gestank nach
geronnenem Blut und Schießpulver mit sich.
»Dracula …«
Ermutigt durch die Billigung der Schlacht von
St. Petersburg seitens des Grafen, die dieser zwar nie
zurückgezogen hatte, von der heutzutage jedoch auch niemand mehr
sprach, hatte Poe dem
Ältesten zu Beginn des Krieges mehrfach geschrieben. Eine Antwort
war ihm nicht vergönnt gewesen.
»Dracula …«
Die Wiederholung des Namens glich einem Schrei,
einem Gebet. Ein Adjutant wurde von einem Paar wütend knurrender
Wölfe in den Saal gezerrt. Beim Anblick der Tiere fuhr Ewers
erschrocken zusammen. Poe hatte gehört, bei den Wölfen handele es
sich um Stellvertreter Draculas aus dessen warmblütigen Tagen, die
er mittels seiner ungeheuren Kraft in treue Schutzgenossen
verwandelt hatte.
Ein hochgewachsener Vampir kam mit weiten Schritten
durch die Flügeltür. Über seiner schlichten Uniform trug er einen
grauen Mantel. Poe betrachtete das Lederholster an seinem Gürtel,
die schwarze Mütze mit matt schimmerndem Schirm, die spitzen Enden
seines Schnurrbarts. Während die meisten seiner Mitältesten ihrer
Zeit verhaftet blieben, wandelte sich Dracula von Krieg zu Krieg.
Während seine Generale die Strategie von Waterloo und Borodino
empfohlen, setzte der Graf Maschinengewehre gegen
Kavallerieattacken ein und befahl, Europa kreuz und quer mit
Schützengräben zu durchziehen. Er war ein wahrhaftes Chamäleon, ein
ausgezeichneter Pragmatiker.
Eine Witwe fiel vor dem Grafen auf die Knie und
küsste ihm die Hand, presste ihre Lippen auf seine schaufelförmigen
Nägel. Er ließ sich ihre Aufmerksamkeit gefallen, war jedoch in
größter Eile.
Obwohl er nicht eben dazu neigte, sich vor den
Großen und Vornehmen zu beugen und zu buckeln, nahm auch Poe
Haltung an. Ein Wort von Dracula würde genügen, um ihn von dem
schauderhaften Ewers zu befreien und ihm eine angemessene Stellung
zu verschaffen. Schon sein Großvater, General David Poe, war ein
Kriegsherr gewesen, im Unabhängigkeitskrieg.
Eine Menschentraube versperrte Dracula den Weg. Der
Graf konnte sich nicht unter die Leute wagen, ohne von Danksagern,
Bittstellern und Opportunisten umringt zu werden. Poe besann sich
auf seine Verdienste und drängte sich nach vorn hindurch. Das
Gespräch zwischen Poe und Dracula. Ein Meilenstein in der
Geschichte der Imagination. Je näher er der entourage des
Grafen kam, desto dicker wurde die Luft, schwer und gesättigt. Als
Poe den Kriegsherrn fast erreicht hatte, verlangsamten sich seine
Schritte wie im Traum. Die Hintergrundgeräusche erstarben, und Poe
hörte das Pochen eines ungeheuren Herzens, einen Trommelschlag des
Lebens, der alles andere zum Verstummen brachte.
Im Vorübergehen wandte der Graf den Kopf. Er ließ
den Blick über die Menge schweifen, erkannte Poe jedoch nicht
wieder. Poe kam schlitternd zum Stehen und gaffte den Ältesten
fassungslos an. Dracula eilte weiter. Zwei gefiederte Karpater,
eine von ihnen eine Kriegerin mit tätowiertem Gesicht, hielten ihm
den Rücken frei. Ihr feindseliger Blick nahm Poe den Mut. Der
Älteste schritt unbehelligt durch den Saal und ließ die Bittsteller
allein zurück. Die weinende Witwe suchte in den Armen eines
konsternierten Unterführers Trost.
Poe spürte, wie die außerordentlichen Bedingungen,
die in unmittelbarer Umgebung des Grafen herrschten, allmählich
nachließen. Die gewöhnlichen Geräusche und Gerüche kehrten zurück
und betörten seine Sinne.
Die Präsenz des Kriegsherrn war überwältigend und
von nachhaltiger Wirkung. Ewers war wie elektrisiert und vermochte
seine nervösen Energien kaum zu bändigen. Die Zeitungen voller
schlechter Neuigkeiten von der Front waren vergessen. Die Offiziere
steckten die Köpfe zusammen und besprachen neue Wege zum
ruhmreichen Sieg. Sie waren sich einig, dass der große Durchbruch
kurz bevorstand, ein vernichtender Schlag gegen Paris, ehe die
Amerikaner in großer Zahl ins Kriegsgeschehen eingriffen.
Poe konnte Draculas Augen nicht vergessen.
Die adlergeschmückte Flügeltür öffnete sich wie von
Geisterhand für die entourage des Grafen. Die Soldaten
marschierten in die Halle und erklommen eine breite Treppe. Selbst
durch die geschlossene Tür hörte Poe den Klang ihrer Stiefel auf
den Marmorstufen. Der Herzschlag pulsierte in seinem Hirn, gab den
Takt an für die Ausweitung des Reiches.
Über drei Viertel der anwesenden Vampire waren von
Draculas Geblüt. Poe kam sich fehl am Platze vor: Virginia hatte
den Namen ihres Fangvaters niemals erfahren, obgleich sie die
Vermutung hegte, es könne sich um einen Spanier handeln. Er nannte
sich Sebastian Newcastle. Der Vampir hatte den Dichter des
Unheimlichen aufsuchen wollen, jedoch nur Mrs. Poe zu Hause
angetroffen und sie daraufhin aus einer jähen Laune heraus
verwandelt. Da weder Poe noch Virginia ihre Gestalt zu wandeln
vermochten, stand fest, dass Newcastle nicht von Draculas Geblüt
war. Dann und wann befiel Poe das heftige Verlangen, den Vampir
aufzuspüren, der seine Virginia verwandelt hatte, doch seine
Nachforschungen verliefen jedes Mal im Sande.
Im Wartesaal kehrte wieder Ruhe ein. Selbst das
Herz des Grafen, das im Einklang mit Poes Puls geschlagen hatte,
war nicht mehr zu hören.
Sein Blick fiel auf den Frontsoldaten, der allein
auf seiner Chaiselongue saß. Anders als der General und der
Diplomat hatte er sich beim Eintreten des Grafen nicht erhoben.
Sein Schoß war rot gefleckt. Blut rann seine Kniehosen hinab in
seine Stiefel. Eine frische Wunde hatte sich geöffnet. Womöglich
würde er hier sterben.
Sein hohler Blick war den Karpatern gefolgt und
klebte nun an der adlergeschmückten Flügeltür. Mit saurer Miene
wandte der Soldat sich ab und spuckte auf den Boden. Als er sich
vorbeugte, um zu husten, zitterte er am ganzen Körper. Nachdem er
Kehle
und Nase entleert hatte, sank er langsam in die Chaiselongue
zurück.
»Unverschämtheit«, sagte Ewers. »Diese Posse wird
nicht ohne Folgen bleiben. Das kann ich Ihnen …«
Da erschien der Schreiber und blickte sie an.
»Ach«, Ewers war erfreut, »endlich.«
»Baumer«, sagte der Schreiber, und seine
helle Stimme hallte von den Wänden wider. »Feldwebel Paul
Baumer.«
Ewers war außer sich, weil man ihn erneut
übergangen hatte. Er hielt nach dem bedauernswerten Feldwebel
Ausschau, um ihm ordentlich die Meinung zu geigen.
»Paul Baumer«, rief der Schreiber ein
zweites Mal.
Niemand trat vor. Poe blickte den Soldaten an und
sah das letzte Flattern seiner bleischweren Lider.
»Ich glaube, das ist Baumer«, sagte er und blickte
auf.
Mürrisch murmelnd wandte sich der Schreiber dem
Boten von der Front zu.
»Feldwebel Baumer«, sagte er. »Sie können jetzt
hineingehen.«
Baumer bewegte die Schultern, doch es gelang ihm
nicht, sich zu erheben. Die Depesche glitt aus seiner Achselhöhle
und plumpste auf den marmornen Fußboden.
»Unverschämtheit«, sagte Ewers, als verstelle
Baumer persönlich ihm den Weg in Dr. Mabuses Stube.
Am veränderten Geruch von Baumers Blut erkannte
Poe, dass der Mann tot war. Die Hände, mit denen er sich den Bauch
gehalten hatte, erschlafften und gaben den Blick auf seine feuchte
Magengrube frei. Ein Insekt landete auf seiner Hand und breitete
die Schwingen aus - ein Schmetterling. Der Schreiber wischte ihn
weg und fühlte dem toten Mann den Puls. Er rief die Wärter herbei
und trug ihnen auf, den Leichnam fortzuschaffen. In den
Vertiefungen, die Baumer in der Chaiselongue hinterlassen hatte,
sammelte sich Blut. Ohne den Toten eines Blickes zu würdigen,
fing der Diplomat den Schmetterling in seiner Hand, betrachtete
erst seine Flügelzeichnung und schob ihn sich dann in den
Mund.
Der Schreibtisch schien sich über die Breite eines
Tennisplatzes zu erstrecken. Dr. Mabuses Sessel stand erhöht, so
dass er über die riesige, polierte Holzfläche auf sein Gegenüber
hinabblicken konnte. Der Leiter des Kriegspresseamtes legte
augenscheinlich großen Wert darauf, dass andere zu ihm aufsahen.
Poe bemerkte, dass der Doktor von eher schmächtiger Statur
war.
Mabuse hatte wirres weißes Haar und die roten Augen
eines trunksüchtigen Neugeborenen. Er trug einen weißen
Chirurgenkittel und um den Hals ein Eisernes Kreuz an einem
schwarzen Band. Zu Ewers’ offenkundigem Verdruss zeigte sich der
Chef begeistert, Herrn Edgar Allan Poe kennenzulernen.
»Ich habe den Namen meines Stiefvaters längst
abgelegt, Herr Doktor. Als Edgar Poe bin ich zur Welt gekommen, und
als Edgar Poe werde ich sie verlassen. Das Andenken John Allans
braucht uns nimmermehr zu kümmern.«
Dr. Mabuses Augen leuchteten. »Sie haben mich
ungeheuer inspiriert, Herr Poe. Ihre Geschichten ›Die Tatsachen im
Falle Valdemar‹ und ›Mesmerische Offenbarung‹ haben meine
Faszination für die Kunst der Hypnose geweckt.«
Vor dem Krieg, vor seiner Verwandlung war Mabuse
eine Autorität auf dem Gebiet des Mesmerismus gewesen und hatte
sich zu öffentlichen Schaustellungen hinreißen lassen. Kein Wunder,
dass ein Mann von seinem Ansehen und Talent nun für die Propaganda
zuständig war.
»Jeder Krieg braucht seine Helden, Herr Poe. Ganz
besonders dieser Krieg. Da sie von Natur aus zurückhaltend sind,
muss man für die meisten Helden die Trommel rühren.«
Dr. Mabuse sprach, als hielte er eine Rede. Die
Lampen auf
dem Schreibtisch verschatteten sein Gesicht zu einer Maske und
brachten seine Augen zum Glühen. Zu Beginn des Krieges hatte Mabuse
Turnanstalten besucht und Schülern und Studenten Vorträge gehalten.
Die Zuhörer hatten sich nach seinen Vorlesungen nicht selten
massenhaft freiwillig gemeldet.
»Ich nehme an, Manfred von Richthofen ist Ihnen
bekannt.«
»Der Flieger?«
»Der Flieger. Unser wichtigster Krieger der
Lüfte. Zweiundsiebzig Siege.«
Auch Poe hatte den Menschheitstraum vom Fliegen
geträumt. In seinen warmblütigen Tagen hatte er den
Ballon-Jux verfasst, und in der Schlacht von St.
Petersburg hatte er den Kriegseinsatz von Luftschiffen und
Kampfflugzeugen vorhergesagt.
»Die Alliierten brüsten sich, sie seien uns im
Luftkampf an der Westfront überlegen«, sagte Dr. Mabuse und verzog
die Lippen zu einem schiefen Lächeln. »Das wird sich noch vor
Frühlingsanfang ändern.«
»Deutschland hat die besseren Flugzeuge«, brummte
Ewers.
»Deutschland hat die besseren Männer. Das
ist das Geheimnis unseres Sieges. Welche mechanischen Erfindungen
man auch gegen uns richtet, wir Deutschen werden allein dank
unseres Kampfgeistes die Oberhand gewinnen.«
Dr. Mabuse zog ein Dokument aus der Schublade und
schob es Poe über den Tisch. Der betrachtete es aufmerksam.
Es war die Kopie eines Buchumschlags. Der rote
Kampfflieger von Rittmeister Manfred Freiherr von Richthofen.
Die krude Illustration zeigte einen geflügelten roten Schatten über
einem abstürzenden feindlichen Flugzeug.
»Richthofen hat seine Autobiografie
verfasst?«
»Der Freiherr ist ein Krieger und kein Mann des
Wortes. Seine Geschichte bedarf der Bearbeitung durch einen Meister
der Erzählkunst. Durch Sie, Herr Poe.«
Allmählich begriff er, was man von ihm
erwartete.
»Sie wollen, dass ich ihm anonym die Feder
führe?«
»›Anonym‹? Genau. Sie werden Richthofens
Anonymus.«
Ewers kauerte im Schatten. Poe fragte sich, was er
in dieser Angelegenheit für eine Rolle spielen mochte. Wenn H. H.
Ewers tatsächlich ein so großer Schriftsteller war, weshalb
verlangte dann nicht er nach dieser Ehre?
»Da er der deutschen Sprache mächtig ist, wird
Ihnen Herr Ewers als Lektor zur Seite stehen.«
Ewers’ Miene verdüsterte sich zusehends. Seine
vorgespiegelte Berühmtheit schwand von Sekunde zu Sekunde weiter
dahin. Er glich weniger einem Doppelgänger als einem
Botenjungen.
»Sie werden unverzüglich zum Château du Malinbois
aufbrechen, wo Richthofen mit seinem ersten Jagdgeschwader
stationiert ist. Unser bescheidener Held hat sich zu einer
ausführlichen Unterredung bereiterklärt. Verwenden Sie, wenn
möglich, seine Worte, aber machen Sie mehr daraus als eine Sammlung
dröger Kriegsgeschichten. Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich Ihnen
sage, dass die meisten Helden langweilige Burschen sind. Fangen Sie
die Wahrheit ein, Herr Poe, aber polieren Sie sie ein wenig auf.
Hauchen Sie ihr den Geist Ihrer Erzählungen ein. Aufregende
Schlachten, außergewöhnliche Figuren, die ihrem Schicksal nur mit
knapper Not entrinnen. Ein Buch ist überflüssig, wenn es niemand
lesen möchte.«
Die Anonymität bereitete Poe keinerlei
Kopfzerbrechen. Angesichts seiner derzeitigen Zweifel war es
vermutlich sogar besser, wenn seine Urheberschaft geheim blieb. Er
wusste nicht recht, ob er für derlei niedrige Skribententätigkeiten
überhaupt geeignet war. Andererseits war er seit jeher nicht nur
Dichter, sondern auch Journalist. Vielleicht ließen sich die
kläglichen Überreste seiner verhärmten Muse zu diesem Zweck
wiederbeleben.
»Sie müssen rasch arbeiten. Die Ereignisse
überstürzen sich,
wie Sie schnell feststellen werden, wenn Sie erst einmal an der
Front sind …«
Die Front! Das Château du Malinbois lag im
Brennpunkt des Krieges. Er würde ruhmreiche Schlachten schlagen.
Nicht als Soldat, sondern als Dichter würde er in den Krieg ziehen.
Er bekam die einmalige Gelegenheit, das Unrecht der Schlacht von
St. Petersburg wiedergutzumachen. Wenn die Welt ihn
enttäuschte, so musste er die Welt nach seinem Gusto
umgestalten.
»Sie dürfen über Richthofens Vergangenheit jedoch
keinesfalls die Gegenwart vergessen. Wenn Deutschland die
Luftherrschaft zurückerobert, werden Sie zugegen sein, um die Siege
für die Nachwelt festzuhalten.«
Die Stimme des Direktors klang besänftigend und
überzeugend. Poe schwoll die Brust. Eine Pforte öffnete sich in
seinem Geist: Bald würden die Worte wieder fließen. Er nahm Haltung
an und salutierte.
»Dr. Mabuse, ich werde die mir auferlegte Pflicht
nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen, zum Ruhme des Kaisers und
um die Sache der Mittelmächte zu befördern.«
»Herr Poe, mehr können wir von Ihnen nicht
verlangen.«
11
Quo vadis, Kate?
Obgleich sie den warmblütigen Männern
keinen Anlass gab, sie zu beachten, vibrierten ihre
nosferatu-Sinne. Der Luftangriff nahm ihre Aufmerksamkeit so
sehr gefangen, dass Charles und sein Gefährte Edwin Winthrop sie
schwerlich ertappen würden. Der hochgewachsene Vampir mit dem
mächtigen Schnurrbart
jedoch, der über die beiden wachte, bereitete ihr Unbehagen. Es
war nicht leicht, ihrer Spur zu folgen, ohne Dravot ins Gehege zu
geraten. Der Sergeant hielt sich seit jeher oftmals in Charles’
Nähe auf. Nun galt sein Interesse dem jüngeren Offizier. Allein
dies gab Anlass zu allerlei Vermutungen.
Kate hatte Charles den ganzen Abend schon
beschattet. Er zählte zu den aufmerksamsten Vertretern seines rauen
Gewerbes, doch ihre Nachtsinne wurden von Jahr zu Jahr feiner und
schärfer. Das rege Treiben von Paris erlaubte es, bequem in der
Menge unterzutauchen. Ihre geringe Körpergröße tat ein Übriges.
Wenn sie sich unter größere Menschen mischte, war sie wie eine
Maus: Ein Schal verhüllte die untere Hälfte ihres Gesichts, ihre
Hände steckten in ihren Mantelärmeln, und eine Strickmütze verbarg
die Spitzen ihrer Ohren.
Alle anderen blickten auf, doch sie betrachtete das
Pflaster, tastete sich eher hörend denn sehend voran, ganz auf
Charles’ Stimme konzentriert. Im Lärm des Luftangriffs gingen die
meisten Worte unter, doch Charles’ Timbre war leicht zu erkennen.
Die Angehörigen ihres Geblüts besaßen ein ausgezeichnetes Gehör,
was ihr als Reporterin nur zustatten kam.
Die Zeppeline befanden sich auf der anderen Seite
des Flusses. Da sie über den Wolken schwebten, waren sie zwar nicht
zu sehen, doch das fortwährende Dröhnen der Motoren war deutlich zu
hören. Bombenexplosionen in der Ferne wurden von Schmährufen und
Flüchen übertönt. Ziellose Schüsse verpufften am Himmel. Bei jeder
Detonation bebte die Erde. Brände breiteten sich ungehindert
aus.
Im Vorübergehen schlug ihr jemand die Brille von
der Nase und entschuldigte sich flüchtig auf Französisch.
Blitzschnell fischte sie die Augengläser aus der Luft und setzte
sie sich blinzelnd wieder auf. Mit flatterndem, rot gesäumtem
Umhang verschwand das Raubein im Gedränge. Einen Moment lang
glaubte
sie ihre Jagdbeute verloren, doch da hörte sie Charles’ Stimme,
Gesprächsfetzen trieben durch den Lärm zu ihr heran.
Die Zeppeline näherten sich dem quartier,
und unter den Passanten machte sich Panik breit. Pfeifend und
donnernd fielen Bomben ohne Unterlass. Heute Nacht legten die
Deutschen mit Brandbomben ganze Straßenzüge in Schutt und Asche.
Sonst gossen Draculas Luftschiffe brennende Flüssigkeit aus, die an
nacktem Fleisch haftete wie Pech. Das Zeug, das mit Wasser nicht zu
löschen war, fraß sich durch bis auf die Knochen. Vampire mochten
robuste Naturen sein, doch Feuer und Silber brachten auch ihnen den
Tod. Da es in Europa von Untoten nur so wimmelte, hatte der Krieg
zur Entwicklung grausiger Höllenmaschinen geführt, die dem seligen
Van Helsing diebisches Vergnügen bereitet hätten. Fabrikanten, die
Anteile an Silberminen besaßen, wurden über Nacht zu
Rüstungsmillionären. Lady Jennifer Buckingham von der Brigade
Freiwilliger Sanitäterinnen führte eine Silbersammlung durch und
überredete die Reichen, Kaffeekannen und Kerzenleuchter gegen
Bomben und Bajonette einzutauschen.
Während Charles im Théâtre Raoul Privache gewesen
war, hatte sie draußen gewartet und das Kommen und Gehen der
Besucher aufmerksam verfolgt. Edwin war ihr sofort aufgefallen; er
gemahnte sie an Charles in Whitechapel während der Zeit des
Schreckens, verwirrt und doch verschwiegen. Dravot folgte Edwin auf
dem Fuße, ein sicheres Zeichen. Da sie um die Besonderheit des
Raoul Privache wusste, war sie nicht allzu erstaunt, als der
Engländer das Theater bereits vor Ende dessen, was man als den
ersten Akt hätte bezeichnen können, wieder verließ. Selbst nach
dreißig Jahren des Daseins als vermeintliches Geschöpf schauriger
Finsternis flößten Kate die Ältesten Entsetzen ein. Isolde, eine
der ältesten der Alten, war schwerlich eine gute Reklame für das
ewige Leben.
Eine kleine Schar von Amerikanern drängte sich
stolpernd und
strauchelnd zwischen sie und ihre Beute. Einer von ihnen war
verletzt, vermutlich hatte er nach übermäßigem Champagnergenuss
oder infolge des Luftangriffs den Halt verloren. Aus seiner
klaffenden Kopfwunde ergoss sich reichlich frisches Blut,
überströmte sein knabenhaftes Antlitz und befleckte seine Uniform.
Das Blut war ein unendlich faszinierendes Gemisch aus Scharlachrot
und Gold. Sie wand sich vor Verlangen. Unter wohligen Schmerzen
glitten die Fangzähne aus ihren Kieferscheiden. Sie hatte sich seit
Nächten nicht genährt. Bald schon würde sie dieses unschöne
Geschäft in Angriff nehmen müssen. Spitze Nägel staken in ihren
Fäustlingen.
Die Soldaten machten große Augen. Sie musste
aussehen wie eine Vogelscheuche. Ihr Schal löste sich und entblößte
ihren Mund. Der Geruch von Blut lag in der Luft. Der verletzte
Infanterist war zu Tode erschrocken. Milchbärte wie ihn gab es wie
Sand am Meer: Bauernburschen, die niemals einen echten Vampir zu
Gesicht bekommen hatten, den Kopf voller Gruselgeschichten. Mühsam
schloss sie die Lippen über spitzen Augenzähnen. Sie versuchte ein
Lächeln, und ein fürchterlicher Schmerz durchzuckte ihr Gesicht.
Vielleicht verwandelte sie sich allmählich doch in ein abstoßendes
Monstrum.
Nachdem sie ein letztes Mal die Köpfe
zusammengesteckt hatten, gingen Charles und Edwin auseinander.
Charles kehrte auf direktem Wege in seine Suite im Hotel
Transsylvanie zurück. Dravot auf der anderen Straßenseite
hingegen schlenderte Lieutenant Winthrop hinterdrein, als
unternehme er einen nächtlichen Spaziergang. Kein Zweifel, er war
das Werkzeug, das der herrschenden Clique die Kastanien aus dem
Feuer holte. Kate war sich nicht sicher, ob der Sergeant sie
bemerkt hatte.
Einer plötzlichen Regung folgend, ließ sie Charles
in seine verdiente Herberge zurückkehren und heftete sich an
Dravots Fersen. Während der Sergeant Edwin beschattete, beschattete
sie
ihn. Ihre Fähigkeiten wurden von neuem auf die Probe gestellt. Auf
sprichwörtlichen Samtpfoten flitzte sie von einem finsteren
Hauseingang zum nächsten. Sie lauschte den zahllosen Geräuschen der
Nacht und konzentrierte sich auf die schweren, unverwechselbaren
Schritte des Sergeants.
Als er aus dem Theater kam, wirkte Edwin
fassungslos und aufgebracht, als habe ihn das Gesehene zutiefst
verstört. Es hieß, Isolde habe einst ihren ganzen Leib regeneriert,
wie ein Salamander, dem der Schwanz nachwächst. Über die Zähigkeit
der Abkömmlinge von Draculas Geblüt erzählte man sich ähnliche
Geschichten. Angesichts Isoldes bedauernswerter Lage schien es
Kate, als sei die völlige Unzerstörbarkeit des Körpers keineswegs
ein Garant für ewige Glückseligkeit. Charles hatte ihm Isolde aus
guten Gründen vorgeführt. Doch was hatte dieses sich häutende
Monstrum mit Mata Hari zu schaffen? Und, Corporal Lantiers
Schilderung ihres Geständnisses in Ehren, mit dem Château du
Malinbois?
Da sie gescheiterte Gestaltwandler gesehen hatte,
hegte Kate in dieser Richtung keine Ambitionen. Zwar kamen Zähne
und Klauen ihr mitunter recht zupass, doch verspürte sie nicht den
geringsten Ehrgeiz, ihr Repertoire zu erweitern. Als sie ein
warmblütiges Kind gewesen war, hatte ihre Mama sie oft ermahnt,
keine Grimassen zu ziehen, denn »wenn der Wind dreht, wirst du auf
alle Zeit damit geschlagen bleiben«; nun streunten gar zu viele
Pseudo-Werwölfe umher, die »auf alle Zeit damit geschlagen«
waren.
Edwin und Dravot steuerten auf einen von
Brandbomben verwüsteten Platz zu. Eine Markthalle stand in Flammen,
umringt von eimerschwingenden Löschmannschaften und wenig
hilfsbereiten Gaffern. Das gusseiserne Skelett hob sich schwarz
gegen die emporschlagenden Lohen ab, ächzte und quietschte in der
Hitze. Der beißende Geruch von zerkochtem Gemüse stieg ihr in die
Nase und verätzte ihr empfindliches Organ. Nicht weit von ihr
wieherte in panischem Schmerz ein Pferd. Kate sah das Tier mit der
Gabel eines Spritzenwagens ringen. Ein Mann mit einer abgetragenen
Mütze auf dem Kopf versuchte die hartnäckig das Fell
entlangzüngelnden Flammen mit bloßen Händen zu ersticken.
Dravot blieb stehen und hob den Blick. Kate tat es
ihm nach. Die Zeppeline schwebten über ihnen und vergossen
ungerührt den Feuertod. Kate hörte Motoren brummen. Französische
Flieger waren gestartet, um die Hauptstadt zu verteidigen. Ein
Luftschiff konnte höher steigen als alle Flugmaschinen der
Alliierten. Geflügelte Schatten kreisten am Himmel. Die Alliierten
hielten große Stücke auf ihre vielgerühmte »Luftherrschaft« über
die Mittelmächte, doch Dracula und der Kaiser gaben keine Ruhe. Der
wahnsinnige Robur kämpfte unbeirrt für den Einsatz seiner
»Schlachtschiffe der Lüfte«.
Die Nägel ihrer rechten Hand wurden erneut zu
Klauen und durchstachen ihren wollenen Fäustling. Manchmal spürte
ihr Körper die Gefahr bereits, bevor sie etwas davon ahnte. Dravot
war verschwunden. Es war an der Zeit, den Rückzug anzutreten. Sie
hatte andere Methoden, ihre Geschichte zu verfolgen. Trotz seiner
unerschütterlichen Loyalität seinen Dienstherren gegenüber war
Dravot ebenso ein Mörder wie die Männer in den Zeppelinen.
Frank Harris hatte sie gelehrt, dass ein Journalist
zuerst und vor allem der Wahrheit verpflichtet sei und nicht dem
Patriotismus oder der Propaganda. Leider fand diese Haltung in
Kriegszeiten nicht allzu viele Anhänger.
Eine Mauer stürzte ein, und glühende Ziegel
purzelten über das Pflaster und drängten die Gaffer in die Gassen
und Nebenstraßen zurück. Ein Schwall heißer Luft fegte über sie
hinweg.
Kate erspähte Dravot hinter einem Flammenvorhang.
Zum Glück waren sie durch eine Feuerschranke getrennt.
»Sie da, Miss Maus, kommen Sie her …«
Die Stimme gehörte einem Engländer, sein Tonfall
war gebieterisch. Es war Lieutenant Winthrop. Sie tat wie
geheißen.
Ein dicker Brei aus brennendem Gemüse kroch auf
ihre Schuhe zu wie geschmolzene Lava. Mit festem Griff umklammerte
ein Warmblüter ihren Arm und zerrte sie in eine schmale
Seitenstraße. Hätte sie sich zur Wehr gesetzt, sie hätte Edwin ohne
weiteres in Stücke reißen können. Doch dann würde sie Dravot die
Stirn bieten müssen, der ihr zweifellos denselben Dienst erweisen
würde.
»Mir immer hübsch dicht auf den Fersen, was? Wie es
scheint, habe ich mir eine kleine Spionin geangelt. Eine
Westentaschen-Mata-Hari.«
Während sie ihre Aufmerksamkeit auf Dravot
gerichtet hatte, war Edwin ein Stück zurückgeblieben, um ihr
hinterrücks aufzulauern. Sie war blindlings in die Falle getappt.
Es war zwecklos, sich zur Wehr zu setzen. Schließlich standen sie
auf derselben Seite.
»Ich habe nicht die leisssessste Ahnung, wovon
Sssie sprechen, Sssir«, fauchte sie zaghaft durch scharf gezackte
Zähne.
Dies war nicht der Zeitpunkt, ihren erregten Sinnen
nachzugeben. Sie hörte den schwachen Puls an seinem Hals, in seinem
Herzen. Er bedachte sie mit einem Lächeln, und die blaue Vene an
seiner Schläfe tickte leise.
Plötzlich lachte Edwin. »Verzeihen Sie, aber Sie
hören sich schrecklich albern an.«
Sie zwang ihre Fangzähne in die Kieferscheiden
zurück. Die Nägel in ihren fest geballten Fäusten
schrumpften.
»Mein Name ist Kate Reed, und ich habe mich
freiwillig als Fahrerin zum Sanitätsdienst gemeldet. Sie können
sich bei Lady Buckingham oder Mrs. Harker nach meinen Referenzen
erkundigen.«
Er schien nicht sonderlich beeindruckt.
»Ich nehme an, Sie sind mir nur gefolgt, weil Sie
die Eingebung hatten, dass mir gar Schreckliches zustoßen werde und
ich Ihrer engelsgleichen Zuwendung bedarf?«
Um noch dümmer zu erscheinen, als sie es ohnehin
schon tat, stellte sie sich fromm wie das sprichwörtliche Lamm. Er
ließ von ihr ab und musterte sie von oben bis unten. Sie wusste,
wie seltsam sie in ihrer Verkleidung auf ihn wirken musste.
»Ich wollte nur ein wenig bummeln«, behauptete sie
und schlang mit erhabener Miene den Schal um ihre Schultern.
»Während eines Luftangriffs?«
Die Markthalle war ausgebrannt. Dravot war um das
Feuer herumgeschlichen. Er stand am Ende der Straße, ein gutes
Stück entfernt. Sie versuchte krampfhaft, ihre Krallen einzuziehen.
Der Sergeant durfte keinesfalls annehmen, dass sie seinen
Schützling bedrohte.
»Ihr Gesicht ist völlig rußverschmiert«, sagte
Edwin wenig charmant.
Sie rieb sich mit den Fäustlingen die Wangen. Er
tippte sich auf die Stirn, und sie konzentrierte ihre Bemühungen
auf diese Stelle.
»Sie machen alles nur noch schlimmer. Mit dieser
Brille sehen Sie aus wie ein Maulwurf.«
Als Kind hatte man sie »Maulwürfchen« gerufen.
Penelope Churchward, das Prinzesschen ihres kleinen Kreises, hatte
diesen Spitznamen sehr amüsant gefunden. Penny hatte lange nichts
mehr von sich hören lassen.
»Sie sind überaus galant, Herr
Stabsoffizier.«
»Lieutenant Winthrop, zu Ihren Diensten.«
Er hielt ihr die Hand hin wie eine Visitenkarte.
Sie nahm seine Finger und drückte sie sanft, aber bestimmt. Er biss
trotzig die Zähne zusammen und überspielte den Schmerz mit einem
Lächeln.
»Sehr erfreut.« Sie machte einen Knicks und ließ
ihn los.
Er krümmte die Finger, um sich zu vergewissern,
dass sie noch zu gebrauchen waren.
»Sie sind die Katherine Reed, die so geistreiche
Artikel für das Cambridge Magazine verfasst, nicht wahr? Die
unerschrockene Journalistin, die verlangte, Field Marshal Haig
wegen fahrlässigen Verhaltens vor Gericht zu stellen?«
Kate rutschte das Herz in die Hose. Wenn Edwin
wusste, wer sie war, würde er vermutlich darauf dringen, ihr
dieselbe Behandlung angedeihen zu lassen wie Mata Hari. Sie malte
sich aus, wie Dravot ihr mit stiller Befriedigung den Kopf von den
Schultern riss.
»Ich hatte die Ehre, für diese Zeitschrift
schreiben zu dürfen«, erwiderte sie unverbindlich.
»Wie ich höre, verehren Sie die Frontsoldaten,
denen es gelungen ist, das Cambridge an der Zensur
vorbeizuschmuggeln, wie eine Heldin.«
Seine Worte klangen wie ein Kompliment.
»Und wurden Sie nach dem Osteraufstand nicht
verhaftet? Ich scheine Sie mit den Gore-Booths und den Spring-Rices
dieser Welt in einen Topf geworfen zu haben. Fabianerin und
Fenierin.«
»Ich schreibe nur, was ich sehe.«
»Ich bin erstaunt, dass Sie durch diese Brille
überhaupt etwas sehen.«
Diesmal klangen seine Worte wie ein
Scherz.
»Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, dass es als
unhöflich empfunden werden könnte, andere Menschen in einem fort
auf ihre Schwächen hinzuweisen?«
Edwin grinste, doch so leicht war er nicht hinters
Licht zu führen. Er hatte Mumm in den Knochen. Er war kein
dahergelaufener, törichter Stabsoffizier. Aber das hatte sie
bereits geahnt.
Der Lieutenant vertändelte seine Zeit nicht mit dem Zählen von
Rinderpökelfleischkonserven. Er bewegte sich im Dunstkreis des
Diogenes-Clubs.
Sie beschloss, die Reporterin zu spielen.
»Wie beurteilen Sie den derzeitigen Verlauf des
Krieges? Ist die alliierte Luftherrschaft bedroht?«
Die Art, wie er die Achseln zuckte, war nicht
zitierfähig.
»Da Sie zu diesem Thema nichts zu sagen haben, wird
es Sie gewiss nicht stören, wenn ich Ihnen eine gute Nacht wünsche
und meiner Wege gehe? Ich habe dringende Geschäfte zu
erledigen.«
Er trat zurück und breitete die Arme aus.
»Ganz und gar nicht. Gute Nacht, Katherine.«
»Das ist nur mein nom de plume. Man nennt
mich Kate.«
»Na denn. Gute Nacht, Kate.«
Sie nickte artig. »Danke, gleichfalls,
Edwin.«
Er ging ihr nicht auf den Leim. »Ich habe Ihnen
meinen Namen nicht verraten.«
Sie berührte ihre Nasenspitze. »Ich habe meine
Quellen, Lieutenant.«
Bevor er weiter in sie dringen konnte, machte sie
sich aus dem Staub. Als sie davonging, hörte sie, wie Dravot neben
Winthrop trat, um sich mit ihm zu beraten. Zu ihrer Erleichterung
setzte sich der Sergeant nicht auf ihre Fährte. Mit jedem Schritt
wurde ihr wohler ums Herz.
Die Zeppeline hatten sich offenbar nach Deutschland
fortgestohlen. Die Leute an der Wasserspritze bekamen die Brände
nach und nach unter Kontrolle. Es hatte wieder zu schneien
angefangen, und matschiger Schlamm schwappte im Rinnstein. Binnen
Stunden würde alles Löschwasser gefrieren und das quartier
in eine Schlittschuhbahn verwandeln.
Sie dachte nach. Nie wieder würde sie unbemerkt auf
hundert Yards an Edwin Winthrop herankommen. Und er würde Charles
Bericht erstatten, worauf ihr Name erneut die Liste
unerwünschter Kriegsberichterstatter zieren würde. Sie musste die
Affäre Malinbois ganz anders angehen. Mehr denn je war sie
überzeugt, dass an der Sache etwas faul war.
12
Blutgeschlechter
Die Welt hat ihr Urteil über mich gefällt,
und ich will mich nicht rechtfertigen. Ich bin dem Rat meines
Herzens gefolgt, selbst wenn die Richtung, die ich einschlug,
oftmals die falsche war. Obgleich man mich wegen Spionage
hinrichten wird, bin ich in Wahrheit eine recht armselige Spionin.
Wer wüsste das besser als Sie, mein lieber Charles? Ich bin nur
eine Kurtisane. Man nennt mich nicht zu Unrecht die Letzte der
grandes horizontales. In diesem schrecklichen Jahrhundert
muss ich wohl für eine Prostituierte angesehen werden, nichts
weiter …«
Bei dem Manuskript handelte es sich um das quasi
mit eigener Hand verfasste Geständnis der Geertruida Zelle, die man
aus der Tagespresse nur unter ihrem Künstlernamen Mata Hari kannte.
Winthrop hatte die Lektüre eigentlich verschieben wollen, doch nun
saß er im Zug nach Amiens, in einem Coupé zusammengepfercht mit
einem gewissen Captain Drummond, dessen Durchhalteparolen ihm die
Galle schwellen ließen. Der feiste, rotgesichtige Vampir hätte eine
erstklassige Bulldogge abgegeben, mit anderen Worten, er war ein
hundsgemeiner Irrer. Als eifriger Verfechter der »Großoffensive«
war Drummond der festen Überzeugung, der einzig sichere Weg zum
Sieg führe über einen gemeinsamen Angriff aller alliierten
Heere.
»Da werden die Wurstfresser die Beine in die Hand
nehmen und das Weite suchen«, sagte Drummond. Sein breites Grinsen
entblößte zwei Reihen ineinandergreifender Fangzähne. »Zu einer
ordentlichen Klopperei fehlt dem verfluchten Hunnen doch der
Schneid.«
Angesichts vier Jahre mörderischer, verlustreicher
Kämpfe um ein paar Meilen morastigen Geländes hielt er Drummond für
verrückt. Zwei kaum der Akademie entwachsene Lieutenants teilten
die Ansichten des Captains. Winthrop bezweifelte, dass sie an der
Front auch nur eine Woche überleben würden. Der Hunne mochte dem
Tommy nicht den Schneid abkaufen können, doch verfügte er
zweifellos über befestigte MG-Stellungen.
»Das ist verdammt noch mal unsere einzige Chance«,
meinte Drummond, ebenso dickköpfig wie ein Politiker im Wahlkampf.
»Durch eine Großoffensive zum Sieg.«
Die beiden Lieutenants pflichteten ihm begeistert
bei und schworen Stein und Bein, in vorderster Front kämpfen zu
wollen. Drummond hatte sie und alle ihnen unterstellten Männer
soeben über die Klinge springen lassen.
»Wenn diese dämlichen Politiker uns aus den
Schützengräben kommen ließen, würden wir den sächsischen Schweinen
und preußischen Pantoffelhelden die Tracht Prügel verabreichen, die
sie redlich verdienen. Ist der Kaiser erst einmal auf einen starken
Pfahl gehievt, werden wir nach Russland vorstoßen und die
verflixten bolsheviki das Fürchten lehren.«
Winthrop malte sich aus, wie die Wogen des Krieges
um den Erdball brausten, ganze Kontinente heimsuchten wie ein
strenger Winter.
»Lassen Sie es sich gesagt sein, der wahre Feind
ist jene mordgierige Bande ausländischer Juden, die schon die
dünnblütigen Romanows zugrunde gerichtet hat.«
Drummond beendete seine Suada und erzählte
blutrünstige
Geschichten von Deutschen, die er mit bloßen Zähnen und Klauen
erledigt hatte. Winthrop schob dringende Geschäfte vor und las
weiter.
»Ich bin ein direkter Abkömmling Draculas. Als der
Graf sich am kaiserlichen Hofe niederließ, verwandelte er die eine
oder andere von uns. Zu Lebzeiten war er ein orientalischer
Potentat und unterhält seit jeher einen Harem. Obgleich er es
hartnäckig leugnen würde, sind seine Gewohnheiten durch und durch
osmanisch. Zum Glück war ich für ihn nur eine flüchtige
Zerstreuung. Da wir uns nicht widerspruchslos seinem Willen beugen,
sind ihm die Frauen dieses Jahrhunderts unheimlich. Er bevorzugt
die fügsamen, abergläubischen Närrinnen seiner Epoche. Seine
Liebsten, die er Ehefrauen nennt, sind ihm seit Jahrhunderten
ergeben. Sie haben das Gemüt von Kindern und den Appetit
raubgieriger Bestien, kreischen immerfort ›ich will‹, ›sofort‹ und
›her damit‹. Ich selbst bin von ganz anderem Schlag, und doch
befürchte ich, dass eine Entartung unvermeidlich ist. Nun werde ich
nie erfahren, ob auch mein Geblüt dieses Übel in sich trägt.
Nachdem er mich verwandelt hatte, war ich sein
Eigentum. Seine Sklavin, mit der er nach Belieben umspringen
konnte. Auch jetzt noch gehöre ich ganz Dracula. Die Dämmerung wird
mich von ihm erlösen. Nach ein paar endlosen Monaten im Sommer 1910
lockerte der Graf die Schlinge. Zunächst trat er seine
ausschließlichen Rechte ab. Fortan war ich verpflichtet, die
Gelüste seiner karpatischen Kumpane zu befriedigen. Viele Älteste
trinken nichts als Neugeborenenblut. Sie betrachten die Warmblüter
mit Abscheu. Ich war die Gefährtin Armand Teslas. Vor seinem Tod
war Dr. Tesla der Chef von Draculas Geheimpolizei. Er war für seine
Grausamkeit berühmt und fand besonderes Vergnügen daran, das
Fleisch von Neugeborenen mit Weihwasser zu beträufeln, was bei den
Angehörigen mancher Blutgeschlechter
schreckliche Entstellungen hervorruft, auch wenn es dafür keine
wissenschaftliche Erklärung gibt. Es ist zwar unmodern, dies
zuzugeben, doch wir sind keine Geschöpfe der Natur. Vampire sind
Ausgeburten der Hölle. Wenn er in Wut geriet, drohte Tesla,
mein Gesicht zu verstümmeln. Selbst wenn ich dies überlebt hätte,
wäre mein Kurtisanendasein beendet gewesen. Aber ich errang die
Wertschätzung des Doktors, und so wurde ich verschont.
Tesla bildete mich zur Spionin aus und verschaffte
mir Zugang zu den diplomatischen Kreisen von London, Paris und
Berlin. Nur der Graf war mächtiger und einflussreicher als er, und
deshalb brachte Dracula ihn um. Sie wussten das bereits, nicht
wahr? Das sehe ich Ihnen deutlich an. Eine Frau braucht keine
Gedanken lesen zu können, auch wenn manche Vampire dazu durchaus in
der Lage sind.
Das ist seine größte Schwäche, Charles. Wer sich
als zu tüchtig erweist, erregt sein Misstrauen. Und wird von ihm
vernichtet. Er ist ein stolzer Sprössling Attilas, doch ein Volk
lässt sich nicht mehr regieren wie ein Barbarenstamm. Deutschland
und Österreich-Ungarn brauchen die tüchtigen Männer, die
Dracula ermordet hat. Nur Narren und die tückischsten Verräter
überleben. Kein Mann allein, nicht einmal Dracula, kann dieses
Reich zusammenhalten. Er ist in Großbritannien gescheitert, und er
wird in Deutschland scheitern. Sie tragen die Verantwortung dafür,
dass von Europa nach seinem Sturz noch genug übrig ist, um einen
Neuanfang zu wagen.«
Captain Drummond kicherte noch immer über seine
persönlichen Pläne für »Lenin, Trotzki und ihr ungewaschenes Pack«.
Winthrop schauderte. Dracula war bei weitem nicht das letzte
Monstrum in Europa.
»Nach Teslas Tod ernannte man mich zur persona
non grata, und ich wurde nach Paris beordert. Man besorgte mir
eine Wohnung, und ich arbeitete wieder als Tänzerin wie früher.
Mabuse, Teslas Nachfolger, befahl mir, so viele Würdenträger zu
umgarnen, wie ich nur konnte.«
Der Frau wurde zur Last gelegt, General Mireau,
einem weiteren Verfechter der Drummond’schen Methode zum
Massenselbstmord, die Pläne für eine Offensive der Franzosen
entlockt zu haben. Aufgrund dieser Anklage sollte sie hingerichtet
werden.
»In Wahrheit wurde ich aufgehalten, so dass ich
die Nachricht erst wenige Minuten vor dem Angriff weitergeben
konnte. Falls mein Bericht das deutsche Oberkommando überhaupt
erreicht hat, haben diese Narren vor lauter Freude über die
Verluste der Franzosen wahrscheinlich nichts davon bemerkt. Mireaus
kolossaler Plan bestand darin, bei Morgengrauen zu attackieren. Das
war alles. Er befahl ein zwanzigminütiges Bombardement, um den
Stacheldraht zu beseitigen und die deutschen Kanoniere aus dem
Schlaf zu reißen, bevor er sich mit einer Flasche Cognac im
sicheren Stabsquartier zum Frühstück niedersetzte, während
hunderttausend tapfere poilus aus den Schützengräben
kletterten, um von geballtem Mörser- und MG-Feuer in Stücke
gerissen zu werden.
Ich bin nur eine Hure, die in der Kriegskunst
ebenso bewandert ist wie eine Gans, aber selbst mir blieb nicht
verborgen, dass dieser Plan leicht zu durchschauen war. Bei
Morgengrauen attackieren, ich bitte Sie! Warum nicht ein markierter
Scheinangriff, um den Feind aus der Reserve zu locken und seine
Batterien auszukundschaften, dann gezieltes Bombardement, um die
Abwehrstellungen auszuradieren, und dann der große
Vernichtungsschlag? Ist es nicht sonderbar, dass selbst ich
einen vernünftigeren
Plan aushecken kann als der sagenhafte General Mireau? Wen
wundert’s, dass der Esel stur auf meiner Hinrichtung beharrt (bei
Morgengrauen, versteht sich), aus Angst, Hindenburg könne meine
Dienste als Strategin in Anspruch nehmen. Andererseits habe ich
nicht den geringsten Zweifel, dass Deutschland über ein Heer von
Abc-Schützen verfügt, die Schlachtpläne entwerfen könnten, durch
die der gute General mit Leichtigkeit zu täuschen und zu
übertölpeln wäre.«
Demselben Gedanken hatte Kate Reed bereits in
ihren Artikeln über die affaire Mireau Ausdruck
verliehen.
»Immer feste drauf«, rief Drummond, »bei
Morgengrauen! Lasst uns die Kerls mit kaltem Silber munter
machen!«
Dieser Krieg wurde von wild gewordenen Idioten
geführt.
»Charles, Sie haben mich nach dem Château du
Malinbois gefragt. Nun gut. Es ist das derzeitige Hauptquartier des
ersten Jagdgeschwaders, das vom Baron von Richthofen befehligt
wird. Die Zeitungen sind voll von seinen Heldentaten. Wegen ihrer
ungeheuren Wendigkeit wird die Einheit auch ›Fliegender Zirkus‹
genannt. Die Burschen haben den Kniff raus, alles im Nu auf einen
Zug zu laden und zu einer neuen Stellung zu verbringen. Bei
Kriegsbeginn widersetzte sich der Baron dem Befehl, sein Flugzeug
en Camouflage zu streichen, und bestand darauf, dass die
Maschine grellrot anzumalen sei. Wie Ihnen jedermann, der schon
einmal versucht hat, einen roten Ball auf einer grünen Wiese
ausfindig zu machen, bestätigen wird, passt sich die Farbe Rot
erstaunlich gut in die Landschaft ein. Und nachts ist rot - sogar
für Vampiraugen - schwarz. Sie werden überrascht sein, doch
Deutschlands himmlische Helden sind bei ihren im Schlamm
kriechenden Kameraden nicht allzu beliebt. Die Presse wird nicht
müde, die fliegerischen Kraftakte von Richthofens Zirkus in die
Welt hinauszuplärren, während das Geschwader bei den Bodentruppen
und selbst bei den Piloten anderer Staffeln nur als ›das fliegende
Monstrositätenkabinett‹ bekannt ist. Eine durchaus passende
Bezeichnung, wie ich finde. Malinbois ist überdies ein
Forschungszentrum, unter dem Direktorat von Professor ten Brincken.
Aus meinen Nächten als Braut Draculas entsinne ich mich dieses
Mannes nur als eines demütigen Bittstellers bei Hofe. Der Palast
wimmelte von Spinnern jeglicher Couleur. Der Graf ist ein
fanatischer Bewunderer des Modernen und von Zügen und Flugmaschinen
geblendet wie ein kleiner Junge, und so lud er den Professor, eines
von unzähligen Genies, zur Privataudienz. Dort sah ich ihn, einen
heldenhaften, warmblütigen Rohling, mit finsterem Blick vor
Draculas Amtsstube auf und ab stolzieren. Soviel ich wusste, war er
kein Erfinder, sondern Naturforscher. Er war mir auf den ersten
Blick zuwider. Gewitterwolken verdüsterten seine Stirn, und er
hatte etwas Schauriges an sich. Damals war es unter Lebenden der
letzte Modeschrei, sich extrem verdünnte Dosen Silbersalz zu
injizieren. Nachdem sie auf diese Art ihr Blut besudelt hatten,
wähnten sie sich vor den durstigen Untoten sicher. Selbst wenn ten
Brincken keine derartigen Vorkehrungen getroffen hätte, bezweifle
ich, dass ich von seinem öligen Blut auch nur einen Tropfen hätte
kosten mögen.
Als ich nach Malinbois beordert wurde, nahm ich an,
ich solle lediglich als Zierde dienen. Flieger sind für ihre
ausschweifenden Gesellschaften berühmt. Deutschland labte sich an
seinen Helden, und welche Labsal könnte größer sein als Mata
Hari?
Ich traf am frühen Abend ein und wurde von ten
Brincken in Empfang genommen, der mich in sein Operationszimmer
führte und mir befahl, mich zu entkleiden. Er unterzog mich einer
gründlichen Untersuchung, wie einen Gaul, der zur Versteigerung
steht. Ja, er schaute mir sogar ins Maul. Mit allerlei Greifzirkeln
und Sonden vermerkte er noch die geringsten Messungen.
Eigentlich habe ich keine Skrupel, nackt in der Öffentlichkeit
aufzutreten, doch die neugierigen Finger des Professors
verursachten mir Unbehagen. Er entnahm mir eine Blutprobe und
stellte die Phiole in einen Kühlschrank voll mit anderen
etikettierten Fläschchen. Er bat mich, meine Gestalt in einen Wolf
oder eine Fledermaus zu verwandeln. Ich weigerte mich. Ich führe
keine Zauberkunststücke vor. Er insistierte. Bei uns im
Untersuchungszimmer befand sich ein Offizier in Uniform, ein
gewisser General Karnstein. Er bedeutete mir freundlich, aber
bestimmt, ten Brinckens Bitte nachzukommen.«
Das aus der Steiermark stammende Geschlecht der
Karnsteins zählte zu den vornehmsten Europas. Der General, einer
von Draculas treu ergebenen Verbündeten in Österreich-Ungarn, war
das hoch geachtete Haupt seiner Fangfamilie. Seine Beteiligung wies
darauf hin, dass die Mittelmächte Malinbois für eine große Sache
hielten.
»Ich verwandelte mich, ganz und gar. Ich kann
Ihnen das nicht erklären. Ich denke einfach an eine
meiner zahlreichen Gestalten, und mein Körper wird dehnbar und
geschmeidig. Ich zerfließe und nehme neue Form an. Wie die meisten
von Draculas Nachkommen werde ich zu einem Riesenwolf, dem
prähistorischen Schrecken Europas. Auf Java erlernte ich den
Schlangentanz. Ich war die Geliebte eines malaiischen Ältesten,
eines pontianak. Sein Blut fließt in meinen Adern. Das
unterscheidet mich vom gemeinen nosferatu. Für ten Brincken
und den General nahm ich erst Schlangengestalt an und warf die neue
Haut dann ab. Ten Brincken liebkoste und streichelte den Balg, als
bereite es ihm sinnliches Vergnügen, hielt ihn ans Licht und
bewunderte die Schuppen, die in allen Regenbogenfarben schillerten.
Man sagt, die Männer seien Wachs in meinen diamantgeschmückten
Händen, Charles.«
Winthrop versuchte, sich Mata Hari als Schlange vorzustellen. Er
hatte ihren berühmten javanischen Schlangentanz zwar nie gesehen,
aber liebestrunkene Verehrer hatten ihm davon berichtet.
»Karnstein sagte, ich erinnere ihn an eine
verlorene Fangtochter, die sich in eine große, schwarze Katze
verwandeln konnte. Der Bursche hat eine Vorliebe für neugeborene
Mädchen. Ich wusste, dass ich bloß meine ganze Aufmerksamkeit auf
den General zu richten brauchte, um ihn zu meinem Sklaven zu
machen. Die meisten Ältesten sind leicht gewonnen. Sie mögen Kraft
und Macht besitzen, doch Spitzfindigkeit und Scharfsinn zählen
nicht zu ihren Stärken. Ten Brincken füllte seine Tabellen aus, und
ich wurde entlassen.
Ein Flügel des Schlosses war zur Gänze mir und
meinesgleichen vorbehalten - Kurtisanen. In den Zimmern gab es
Salben und Schminkfarben en masse. Überall standen Koffer
und Truhen voller Trachten und Kostüme. Ein Gutteil der
prachtvollen Gewänder war brüchig und vermodert. Ich wusste sofort,
dass diese Orgie von Männern geplant worden war, die wenig Ahnung
von, geschweige denn Interesse an Schwelgerei und Ausschweifung
hatten.
Ich war nicht der einzige Glanzpunkt des Banketts.
Mehrere Frauen und ein Jüngling, allesamt Vampire, waren zugegen.
Im Ankleidezimmer traf ich auf Lady Marikowa, eine der monströsen
Ehefrauen, die Dracula in seinem transsylvanischen Exil zu Diensten
standen. Sie wurde von Lola-Lola - einer durchtriebenen
neugeborenen Vettel - bewacht, damit sie nicht im blinden Rausch
der Sinne einen Verehrer niedermachte. Alte Vampirschlampen wie sie
sind leidenschaftlich, aber grausam. Des Weiteren standen auf der
Gästeliste: Sadie Thompson, eine amerikanische Abenteurerin mit
toten schwarzen Augen; der Baron
Meinster, ein goldhaariger, mädchenhafter Lebemann; Faustina, die
größte Zierde eines venezianischen Bordells; sowie eine elegante
Älteste namens Lemora. Wir waren recht gewandte und erfahrene
Huren, aber wir hatten noch etwas gemein. Wir alle waren
Abkömmlinge Draculas.«
Draußen brach die Dämmerung herein. Bäume säumten
die Eisenbahngeleise, viele von ihnen verkrüppelt und zerschossen.
Die Felder waren grau, eine dünne Schneeschicht überlagerte den
Schlamm. Der Zug näherte sich Amiens. Winthrop hörte das
ununterbrochene Stottern der Geschütze. Im Zwielicht zuckte
Drummond kaum merklich zusammen und zog das Rouleau herunter.
Jedes Schulkind wusste, dass die Verbreitung des
Vampirismus in der zivilisierten Welt fast ausschließlich auf
Dracula zurückging. Bis in die achtziger Jahre hinein hatten nur
ein paar versprengte, abergläubische Seelen tatsächlich an die
Existenz der Untoten geglaubt. Dracula hatte die Karten neu
gemischt. Obgleich er der Urvater des Vampirismus war, hatte er
weitaus weniger direkte Nachkommen, als die meisten Leute annahmen.
Während seiner Zeit in England hatte er lediglich drei Frauen
verwandelt: Lucy Westenra, Wilhelmina Harker und Königin Viktoria.
Die inzwischen rehabilitierte, reuige Mrs. Harker hatte er zu
seinem verlängerten Zahn gemacht, um seinen Stammbaum en
gros zu erweitern.