4
Commercial Street Blues
Auf der Polizeiwache Commercial Street
machte Lestrade sie mit Frederick Abberline bekannt. Zum Leidwesen
des stellvertretenden Commissioners Dr. Robert Anderson und
Chefinspektors Donald Swanson bearbeitete Inspektor Abberline den
vorliegenden Mord.
Da er bereits in Sachen Annie Chapman und Polly
Nichols - mit der ihm eigenen Beharrlichkeit, jedoch ohne ein
bemerkenswertes Resultat - ermittelt hatte, war der warmblütige
Beamte
nun auch mit dem Mordfall Lulu Schön und allen, die noch folgen
mochten, betraut worden.
»Wenn ich Ihnen behilflich sein kann …«, erbot sich
Geneviève.
»Sagen Sie nicht Nein, Fred«, meinte Lestrade, »sie
weiß, wovon sie spricht.«
Abberline war offensichtlich unbeeindruckt, dennoch
wusste er, dass Höflichkeit nie fehl am Platze war. Ebenso wie
Geneviève begriff er jedoch nicht, weshalb Lestrade derart darauf
erpicht war, dass sie sich mit dem Fall befasste.
»Betrachten Sie Mademoiselle als Sachverständige«,
sagte Lestrade. »Sie kennt sich mit Vampiren aus. Und in diesem
Fall geht es um Vampire.«
Der Inspektor winkte ab, doch einer der anwesenden
Sergeanten - William Thick, den alle nur »Johnny Upright« nannten -
nickte zustimmend. Er hatte Geneviève nach dem ersten Mord
vernommen und schien seinem Ruf entsprechend ehrlich und gescheit,
wenngleich er in seinem Geschmack, was Kleidung anbetraf, zu
jämmerlichen Karomustern neigte.
»Silver Knife ist ohne den geringsten Zweifel ein
Vampirmörder«, gab Thick zu bedenken. »Und keineswegs ein
verkommener Straßenräuber, der nur tötet, um einen Diebstahl zu
vertuschen.«
»Das wissen wir nicht«, fuhr Abberline ihn an, »und
ich will es auch nicht in der Police Gazette lesen.«
Obschon er überzeugt war, dass er Recht hatte,
schwieg Thick. Während der Vernehmung hatte der Sergeant kein Hehl
aus seiner Überzeugung gemacht, dass Silver Knife dem Irrglauben
erliege, Vlad Tepes’ Brut habe ihm übel mitgespielt - oder,
wahrscheinlicher noch, die Vampire hatten ihm tatsächlich übel
mitgespielt. Geneviève wusste nur allzu gut, was ihresgleichen
einem Menschen anzutun vermochte, und pflichtete ihm bei. Sie war
sich jedoch
ebenso bewusst, dass es sinnlos wäre, ausgehend von dieser Theorie
eine Liste von Verdächtigen zu erstellen, da die Beschreibung auf
unzählige Bewohner Londons zutraf.
»Ich glaube, Sergeant Thick hat Recht«, erklärte
sie den Polizisten.
Lestrade bekundete seine Zustimmung, doch Abberline
wandte sich ab, um seinem protegé, Sergeant George Godley,
einen Befehl zu erteilen. Geneviève bedachte Thick mit einem
Lächeln und sah, dass ein Schauder ihn durchlief. Wie die meisten
Warmblüter wusste er noch weniger über Abstammung, Rangordnung und
die unendliche Vielfalt der Vampire als die dunklen Scharen von
Neugeborenen des Prinzgemahls. Thick blickte sie an und sah einen
Vampir … vom gleichen Schlage wie der Blutsauger, der seine Tochter
verwandelt, seine Frau geschändet, seine Beförderung vereitelt,
seinen Freund getötet hatte. Zwar war ihr seine Vergangenheit
gänzlich unbekannt, doch nahm sie an, dass seine Theorie auf
persönlichen Erfahrungen beruhte, dass er dem Mörder dieses Motiv
nur unterstellte, weil er es nachempfinden konnte.
Abberline hatte zunächst jene Constables befragt,
die als Erste am Schauplatz des Verbrechens eingetroffen waren,
bevor er selbst den Tatort inspizierte. Auch auf den zweiten Blick
hatte er nichts von Belang zu entdecken vermocht und zögerte sogar,
sich zu der Aussage hinreißen zu lassen, Lulu Schön sei wahrhaftig
ein weiteres Opfer des sogenannten Whitechapel-Mörders. Auf ihrem
kurzen Gang von Toynbee Hall waren sie zahllosen Zeitungsjungen
begegnet, die aus vollem Hals die neuesten Erkenntnisse in Sachen
Silver Knife verkündet hatten; den amtlichen Verlautbarungen
zufolge waren jedoch nur die Chapman und die Nichols nachweislich
durch dieselbe Hand ums Leben gekommen. Bei einigen anderen
ungelösten Fällen - darunter die Tabram, die Smith und nun auch
noch die Sache Lulu Schön -, zwischen denen
die Presse einen Zusammenhang herstellte, konnte es sich ebenso
gut um gänzlich andere Verbrechen handeln. Silver Knife verfügte
schwerlich über das Patent auf Mord, schon gar nicht in dieser
Gegend.
Lestrade und Abberline gingen davon, sich zu
beraten. Wann immer er in die Verlegenheit geriet, einem Vampir die
Hand schütteln zu müssen, begann Abberline - wahrscheinlich
unbewusst - ausladend mit den Armen zu fuchteln. Er steckte sich
eine Pfeife an und lauschte, während Lestrade einen Streitpunkt
nach dem anderen an den Fingern abzählte. Es stand durchaus zu
erwarten, dass es zwischen Abberline, dem Leiter der Abteilung H
des CID, und Lestrade früher oder später zu einem Machtkampf kommen
würde. Man munkelte, Swanson habe den Mann von Scotland Yard
eingeschleust, um im Auftrag Dr. Andersons die Schutzpolizei
auszuspionieren, mit der Weisung, einzuschreiten, sowie es
Lorbeeren zu ernten gab, jedoch in der Anonymität zu verbleiben,
wenn es an Resultaten mangelte. Anderson, Swanson und Lestrade
waren der Irländer, der Schotte und der Engländer aus den
Varieté-Geschichten, wie Weedon Grossmith sie in ›Punch‹ gezeichnet
hatte, die zum Missvergnügen eines Constables, der Fred Abberline
recht ähnlich sah, am Tatort umherschlenderten und Spuren
verwischten. Geneviève überlegte, wie sie - schwerlich ein
Inbegriff des französischen Mädchens aus diesen Geschichten - ins
Bild passte. Hegte Lestrade vielleicht die Absicht, sie als
Druckmittel zu missbrauchen?
Sie blickte sich in dem geschäftigen Empfangsraum
um. Fortwährend wurden Türen aufgestoßen, Nebelschwaden strömten
herein, und die Türen fielen wieder zu. Draußen standen mehrere
Abordnungen interessierter Parteien. Ein mit flatterndem
St.-Georgs-Kreuz bewehrtes Heilsarmee-Korps leistete einem Prediger
der Kreuzfahrer Christi Beistand, der Gott anrief, wider die
Vampire dieser Welt Gerechtigkeit zu üben, und Silver Knife als
das wahre Werkzeug Jesu pries. Ein paar berufsmäßige Aufwiegler,
Langhaarige in zerrissenen Hosen von dieser oder jener
sozialistischen oder republikanischen Parteifarbe, hänselten den
Hyde-Park-Torquemada, und ein Pulk grell geschminkter Vampirfrauen,
die teure Küsse und eine schnelle Verwandlung feilboten,
verspottete ihn. Viele Neugeborene bezahlten, um zum Spross einer
dahergelaufenen Straßenschlunze zu werden, erkauften sich um die
Kleinigkeit von einem Shilling ewiges Leben.
»Wer ist denn dieser komische Heilige?«, erkundigte
sich Geneviève.
Thick warf einen Blick zu dem Pöbel hinaus und
stöhnte. »Ein fürchterlicher Quälgeist, Miss. John Jago mit Namen,
so nennt er sich jedenfalls.«
Das Jago war ein berüchtigtes Elendsviertel am
oberen Ende der Brick Lane, ein verbrecherischer Dschungel von
winzigen Gässchen und übervölkerten Zimmern. Ohne Zweifel das
übelste Massenquartier im gesamten East End.
»Da kommt er wenigstens her. Er redet wie der
Teufel, bis es den Leuten nur allzu recht und billig scheint, die
nächstbeste Schlampe mit einem Pflock zu spießen. Er ist das ganze
Jahr lang bei uns ein und aus gegangen wegen seiner Hetztiraden,
Trunkenheit, Störung der öffentlichen Ordnung und der einen oder
anderen Handgreiflichkeit.«
Jago war ein wildäugiger Eiferer, und doch lauschte
ein Gutteil der Menge gebannt seinen Worten. Vor wenigen Jahren
noch wäre er wahrscheinlich gegen die Juden, die Fenier oder die
Gelben Heiden zu Felde gezogen. Nun waren es die Vampire.
»Feuer und Pfahl«, kreischte Jago. »Sündhafte
Blutsauger, Ausgestoßene der Hölle, blutgeblähter Unflat. Sie alle
müssen umkommen durch das Feuer und den Pfahl. Sie alle müssen
geläutert werden.«
Der Prediger ließ einige Männer mit Mützen
herumgehen und
Spenden sammeln. Ihr gemeingefährlicher Anblick genügte, den
geringen Unterschied zwischen Erpressung und Kollekte vergessen zu
machen.
»Es fehlt ihm nicht an ein paar Pennies«, bemerkte
Thick.
»Genug, sein Brotmesser versilbern zu
lassen?«
Daran hatte Thick auch schon gedacht. »Fünf
Kreuzfahrer Christi behaupten, er habe sich die Seele aus dem Leib
gepredigt, just als Polly Nichols ausgeweidet wurde. Dasselbe gilt
für Annie Chapman. Und für die von letzter Nacht, darauf wette ich
jede Summe.«
»Sonderbare Tageszeit für eine Predigt, meinen Sie
nicht?«
»Zwischen zwei und drei Uhr morgens beim ersten und
zwischen fünf und sechs beim zweiten Mord«, pflichtete Thick bei.
»Beinahe ein wenig zu perfekt und unangreifbar, nicht wahr? Aber
heutzutage wird man ja unweigerlich zum Nachtvogel.«
»Sie sind wahrscheinlich des Öfteren die ganze
Nacht lang auf den Beinen. Würden Sie sich um fünf Uhr morgens Gott
und Gloria anhören wollen?«
»Heißt es nicht, so kurz vor Sonnenaufgang sei die
Nacht am finstersten?« Schnaubend setzte Thick hinzu: »Im Übrigen
würde ich mir John Jago zu keiner Tages- oder Nachtzeit anhören
wollen. Schon gar nicht sonntags.«
Thick trat hinaus und mischte sich unter die Menge,
um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Ungewiss, was
nun zu tun sei, fragte sich Geneviève, ob sie nach Toynbee Hall
zurückkehren sollte. Der diensthabende Sergeant sah auf seine Uhr
und gab Befehl, die Stammgäste der Wache hinauszuwerfen. Ein paar
zerlumpte Männer und Frauen wurden aus ihren Zellen geholt, kaum
nüchterner als zu dem Zeitpunkt, da man sie verhaftet hatte. Sie
stellten sich in einer Reihe auf, um von Amts wegen auf freien Fuß
gesetzt zu werden. Die meisten waren Geneviève bekannt: Für viele
unter ihnen - Warmblüter wie
Vampire - war die Nacht ein einziges Hin und Her zwischen der
Ausnüchterungszelle, dem Krankenasyl des Armenhauses und Toynbee
Hall, eine fortwährende Suche nach einem Bett und einer freien
Mahlzeit.
»Miss Dee«, sagte eine Frau. »Miss Dee …«
Da manch einer seine Mühe hatte, »Dieudonné«
richtig auszusprechen, beließ sie es nicht selten bei ihrem
Initial. Wie so viele Bewohner Whitechapels hatte sie mehr Namen
als gemeinhin üblich.
»Cathy«, erwiderte sie den Gruß der Neugeborenen,
»wirst du gut behandelt?«
»Bestens, Miss, bestens«, sagte sie und bedachte
den Diensthabenden mit einem törichten Grinsen, »is wie’n zweites
Zuhause hier.«
Cathy Eddowes sah als Vampir wenig besser aus als
zu Lebzeiten. Der Gin und die Nächte auf der Straße waren ihr
deutlich anzusehen; der rötliche Glanz ihrer Augen, ihres Haars
vermochte die fleckige Haut unter der dicken Puderschicht nicht
wettzumachen. Wie so viele ihres Gewerbes bot Cathy ihren Körper
feil, um den roten Durst zu stillen. Das Blut ihrer Kunden enthielt
wahrscheinlich ebenso viel Alkohol wie der Gin, der sie zu
Lebzeiten in den Ruin getrieben hatte. Die Neugeborene richtete ihr
Haar, zupfte ein purpurrotes Band zurecht, das ihre dichten Locken
im Nacken zusammenhielt. An ihrem Handrücken befand sich eine
nässende Wunde.
»Lass mich das anschauen, Cathy.«
Geneviève erblickte derlei nicht zum ersten Mal.
Neugeborene mussten überaus vorsichtig sein. Zwar waren sie
kräftiger als Warmblüter, doch zu viel dessen, wovon sie sich
nährten, war verdorben. Es bestand zu jeder Zeit die Gefahr einer
Krankheit; der dunkle Kuss des Prinzgemahls hatte, auch nach vielen
Generationen noch, eine seltsame Wirkung auf Krankheiten, die ein
Mensch aus seinem warmblütigen Leben in sein Dasein als Untoter
hinüberschleppte.
»Hast du noch mehr solcher Wunden?«
Cathy schüttelte den Kopf, doch Geneviève wusste,
dass sie log. Eine klare Flüssigkeit tränte aus der offenen roten
Stelle an ihrem Handrücken. Feuchte Flecke auf ihrem Mieder ließen
weitere Schwären erahnen. Sie hatte sich den Schal so umgelegt,
dass er Hals und décolletage bedeckte. Als Geneviève den
Wollfetzen beiseiteschob, kamen mehrere nass glänzende Wunden zum
Vorschein, aus denen übelriechender Eiter quoll. Cathy Eddowes
fehlte etwas, doch wollte sie aus lauter Furcht und Aberglaube gar
nicht wissen, was es war.
»Melde dich heut Abend in der Hall. Frag nach Dr.
Seward. Er weiß besser Bescheid als die Ärzte im Asyl. Er kann dir
helfen. Das verspreche ich dir.«
»Ach, ich werd schon wieder, Liebchen.«
»Nicht ohne ärztliche Hilfe, Cathy.«
Mit einem gekünstelten Lachen wankte Cathy auf die
Straße hinaus. Da ihr ein Stiefelabsatz fehlte, waren ihre Schritte
nur mehr ein burleskes Humpeln. Hocherhobenen Hauptes warf sie sich
den Schal um, als sei er die Pelzstola einer Herzogin, und wackelte
herausfordernd an Jagos Kreuzfahrern Christi vorüber, bis sie im
Nebel verschwand.
»Die hat höchstens noch ein Jahr zu leben«,
bemerkte der Diensthabende, ein Neugeborener, dessen Gesicht ein
rüsselartiger Auswuchs zierte.
»Das werden wir ja sehen«, sagte Geneviève.