57
Daheim bei unserer werten Königin
Netley ließ das Gespann die Peitsche spüren. Der imposante Wagen hatte die schmalen Sträßchen Whitechapels durchstreift wie ein Panther das Labyrinth von Hampton Court, anstatt wie sonst geschwind und elegant dahinzufliegen. Auf den breiteren Hauptstraßen der Stadt kam er rasch voran. Die tadellose Federung des Fuhrwerks wiegte Geneviève ohne das leiseste Knarren von Holz und Eisen in einen sanften Dämmer. Das vergoldete Wappenschild, das wie eine rotgoldene Narbe an dem polierten schwarzen Schlag prangte, zog feindselige Blicke auf sich. Trotz des verschwenderischen intérieurs fand Geneviève keine Ruhe. Mit ihren schwarzen Lederpolstern und dezenten Messinglampen gemahnte die königliche Kutsche sie allzu sehr an einen Leichenwagen.
Sie fuhren über die Fleet Street, vorbei an den ausgebrannten und mit Brettern vernagelten Geschäftsräumen der größten Periodika des Landes. Heute Nacht herrschte kein Nebel, gleichwohl blies ein scharfer Wind. Zwar gab es unverändert Zeitungen, doch hatte Ruthven sämtliche Redakteursposten mit willfährigen Vampiren besetzt. Selbst glühende Royalisten bekamen die schnöde Bekräftigung der neuesten Gesetze oder die endlosen Lobgesänge auf die königliche Familie allmählich über. Selten nur wurde ein Artikel abgedruckt, der, in Verbindung mit gewissen intimen Kenntnissen, tatsächlich das Zeug zu einer Nachricht hatte, wie beispielsweise eine kürzlich in der Times erschienene Notiz über Colonel Sebastian Moran und dessen Ausschluss aus dem Bagatelle-Club aufgrund seiner übernatürlichen, insbesondere die einigermaßen unorthodoxe Manipulation der Karten betreffenden Fähigkeiten am Whist-Spieltisch, welche durch den rätselhaften Verlust seiner beiden kleinen Finger nunmehr stark beeinträchtigt schienen.
Als sie an den Gerichtshöfen vorüberkamen, wehte eine Wolke von Flugblättern über die finsteren Trottoirs des Strand. Passanten - selbst jene, die anhand ihrer Kleidung unschwer als Angehörige der höheren Stände zu erkennen waren - hoben die Papiere eilends auf und stopften sie in ihre Manteltaschen. Ein Constable tat sein Bestes, so viele Zettel wie nur möglich aufzusammeln, doch sie regneten aus einer nächtlichen Mansarde herab wie Herbstlaub. Da sie von Hand in Kellerlöchern gefertigt wurden, waren sie unmöglich auszumerzen: Wie viele Häuser auch geräumt, wie viele Schmierer auch verhaftet wurden, der vielköpfige Geist des Widerstands blieb ungebrochen. Kate Reed, eine Verehrerin Charles Beauregards, war zu einer der glühendsten Leuchten der oppositionellen Presse aufgestiegen. Versteckt im Untergrund, hatte sie sich einen Ruf als »Engel der Rebellion« erworben.
In Pall Mall angekommen, brachte Netley - der Geneviève ein recht fahriger Bursche zu sein schien - den Wagen vor dem Diogenes-Club zum Stehen. Kurz darauf wurde der Schlag geöffnet, und Charles stieg zu ihr in die Kutsche. Nachdem er sie mit kalten Lippen auf die Wange geküsst hatte, nahm er ihr gegenüber Platz, als verbiete er sich weitere Vertraulichkeiten. Er trug einen makellosen Abendanzug mit einer blühenden weißen Rose im Knopfloch, und das scharlachrote Futter seines Umhangs floss über das schwarze Polster wie vergossenes Blut. Als der Schlag geschlossen wurde, blickte sie aus dem Fenster und sah die verstockte Miene des schnurrbärtigen Vampirs von Miller’s Court.
»Gute Nacht, Dravot«, wünschte Charles dem Bediensteten des Diogenes-Clubs.
»Gute Nacht, Sir.«
Dravot stand in Habtachtstellung am Bordstein und unterdrückte mühsam einen Ehrengruß. Die Kutsche musste einen Umweg nehmen, um zum Palast zu gelangen. Seit nahezu einer Woche blockierten Kreuzfahrer die Mall; die Reste der Barrikaden versperrten den Fahrweg, und große Teile der St.-James-Street waren aufgerissen, die Pflastersteine als Wurfgeschosse verwendet worden.
Charles’ Stimmung war gedämpft. Seit der Nacht des 9. November hatte Geneviève ihn mehrmals getroffen und war sogar in die geheiligte Sternkammer des Diogenes-Clubs vorgelassen worden, um bei einer geheimen Anhörung der herrschenden Clique ihre Aussage zu machen. Charles hatte man vorgeladen, damit er über den Tod von Dr. Seward, Lord Godalming und nicht zuletzt auch Mary Jane Kelly berichte. Das Tribunal tat sich schwer bei dem Beschluss, welche Wahrheiten der breiten Öffentlichkeit vorenthalten und welche ihr preisgegeben werden sollten. Der Vorsitzende, ein warmblütiger Diplomat, der allen Veränderungen trotzig die Stirn geboten hatte, hörte sie geduldig an, fällte aber kein Urteil, da jedes bisschen Erkenntnis entscheidenden Einfluss hatte auf die Taktik des Clubs, der oftmals mehr war als ein Club. Geneviève fragte sich, ob es sich bei diesen Räumlichkeiten um ein Refugium für die Pfeiler des ancien régime oder eine Brutstätte der Aufrührer handeln mochte. Neben Dravot fanden sich nur wenige Vampire unter den Mitgliedern des Diogenes-Clubs. Sie wusste, dass Charles für ihre Diskretion hatte bürgen müssen. Andernfalls hätte ihr der Sergeant vermutlich einen Besuch abgestattet, mit einer Garotte aus Silberdraht bewaffnet.
Sowie sich der Wagen in Bewegung setzte, beugte sich Charles nach vorn und ergriff ihre Hände. Er fixierte sie mit todernstem Blick. Er und sie waren vor zwei Nächten erst beisammen gewesen, privatim. Sein Kragen verbarg die Spuren ihres Stelldicheins.
»Gené, ich flehe dich an«, sagte er, »erlaube mir, die Kutsche vor dem Palast anzuhalten, damit du aussteigen kannst.« Seine Finger bohrten sich in ihre Handflächen.
»Das ist doch Unsinn, Liebling. Ich fürchte mich nicht vor Vlad Tepes.«
Er ließ von ihr ab und lehnte sich zurück; sein Kummer war ihm deutlich anzusehen. Früher oder später würde er sich ihr anvertrauen. Sie hatte lernen müssen, dass Charles’ Begierden vielfach im Widerspruch zu seinen Pflichten standen. Eben jetzt galt seine Begierde ihr. In welcher Richtung seine Pflichten lagen, vermochte sie noch nicht recht zu erkennen.
»Darum geht es nicht. Es …«
 
… die Unordnung, in der er Mycroft vorfand, erweckte in Beauregard den Eindruck, als habe der Schlussakt des Schauspiels nun begonnen. Bei ihrer diesmaligen Zusammenkunft bestand die Clique allein aus Mycroft.
Der Vorsitzende spielte mit dem Skalpell. »Das berühmte Silbermesser«, sagte er nachdenklich, während er mit dem Daumen über die Klinge fuhr. »So scharf.«
Er legte das Messer beiseite und stieß einen Seufzer aus, der seine wabbeligen Wangen erzittern ließ. Er hatte einiges von seinem erstaunlichen Gewicht verloren, und obgleich seine Haut allmählich erschlaffte, waren seine Augen scharf wie eh und je.
»Man hat Sie in den Palast geladen. Erweisen Sie unserem Freund im Dienst der Königin die Ehre. Sie brauchen sich nicht vor ihm zu fürchten. Er ist der freundlichste Bursche, den man sich nur vorstellen kann. Eine Spur zu freundlich, um ehrlich zu sein.«
»Ich habe allerhand Gutes über ihn gehört.«
»Prinzessin Alexandra selig war ihm seinerzeit sehr zugeneigt. Arme Alex.« Mycroft türmte seine fetten Finger übereinander und bettete sein Kinn darauf. »Wir verlangen einiges von unseren Leuten. Es gibt verteufelt wenig Lorbeeren zu ernten in dieser heillosen Angelegenheit, aber wir müssen sie zu einem Ende bringen.«
Beauregard blickte auf das schimmernde Messer.
»Wir dürfen kein Opfer scheuen«, setzte Mycroft hinzu.
Beauregard dachte an Mary Jane Kelly. Und all jene, die in diesem Fall ihr Leben hatten lassen müssen, die einen nichts als Namen in der Zeitung, die anderen erstarrte Gesichter: Seward, Jago, Godalming, Kostaki, Mackenzie, von Klatka.
»Wir alle würden tun, worum wir Sie bitten«, insistierte Mycroft.
Beauregard wusste, dass er die Wahrheit sprach.
»Leider gibt es nicht mehr viele von uns.«
Sir Mandeville Messervy wartete auf seine Hinrichtung wegen Hochverrats, ebenso andere Würdenträger, unter ihnen der Dramatiker Gilbert, der Finanzkoloss Wilcox, die Erzreformerin Beatrice Potter und der radikale Redakteur Henry Labouchère.
»Eines will mir dennoch nicht einleuchten, Herr Vorsitzender. Wie sind Sie auf mich verfallen? Was habe ich getan, was nicht auch Dravot hätte tun können? Sie haben mich durch das Labyrinth irren lassen, obgleich er sich immerzu in meiner Nähe aufhielt. Er hätte all das auf eigene Rechnung zuwege bringen können.«
Mycroft schüttelte den Kopf. »Dravot ist ein guter Mann, Beauregard. Wir haben es vorgezogen, Sie in Unkenntnis darüber zu belassen, welche Rolle er bei unseren Plänen spielt, es sei denn …«
Beauregard schluckte die bittere Pille ohne Murren.
»Aber Dravot ist eben nicht wie Sie. Er ist kein Gentleman. Was er auch tut, er würde niemals, niemals zur königlichen Audienz geladen werden.«
Endlich hatte Beauregard begriffen …
 
… zwei karpatische Gardisten in vollem Ornat hatten Geneviève die gravierte Einladung in den Palast persönlich überbracht: Martin Cuda, der den Kopf gesenkt hielt und vorgab, sie nicht wiederzuerkennen, sowie Rupert von Hentzau, ein ruritanischer Lebemann, dessen gesucht sardonisches Lächeln sich fortwährend in ein grausiges Lachen zu verwandeln drohte. Obgleich sie als mehr oder minder dauerhaft amtierende Direktorin von Toynbee Hall nun alle Hände voll zu tun hatte, konnte sie die Einladung der Königin unmöglich ignorieren. Vermutlich wollte man sie für ihren Beitrag zur Beendigung der Laufbahn Jack the Rippers loben. Eine private Ehrung zwar, aber dennoch eine Ehrung.
Man hatte ihre Namen aus dem Spiel gelassen. Charles hatte darauf beharrt, dass die Polizei den Ruhm für sich in Anspruch nehmen solle. Die Öffentlichkeit lebte in dem Glauben, dass Constable Collins auf Seward und Godalming gestoßen sei, als diese das Zimmer verließen, wo sie Mary Jane Kelly gemeinschaftlich verstümmelt hatten. Eilends herbeigerufene Hilfstruppen hatten Miller’s Court abgeriegelt, und in dem Durcheinander waren die beiden Mörder ums Leben gekommen. Entweder hatten sie einander den Garaus gemacht, um dem Pfahl zu entgehen, oder aber die entsetzten, aufgebrachten Polizisten hatten sie auf der Stelle vernichtet. Da sie wussten, wie die Gesetze in London neuerdings gehandhabt wurden, gaben die meisten letzterer Erklärung den Vorzug, wenngleich Mme. Tussauds Schreckenskammer ihren Besuchern eine bis hin zu den Kleidern lebensechte Nachbildung der beiden Ripper offerierte, die einander ausweideten.
Sir Charles Warren hatte sein Amt bei Scotland Yard mit einem Posten in Übersee vertauscht, und Caleb Croft, ein Ältester und dem Ruf nach ein Leuteschinder, hatte seinen Platz eingenommen. Lestrade und Abberline wandten sich anderen Fällen zu. Die Stadt machte Jagd auf einen neuen Wahnsinnigen, einen warmblütigen Mörder von barbarischer Gemütsart und Erscheinung namens Edward Hyde. Er hatte zunächst ein kleines Kind zu Tode getreten und hernach ein ehrgeizigeres Ziel in Angriff genommen, indem er einen entzweigebrochenen Spazierstock ins Herz des neugeborenen Parlamentsabgeordneten Sir Danvers Carew stieß. Doch auch wenn Hyde gefasst wäre, ließe der nächste Mörder nicht lange auf sich warten, und der nächste, und der nächste …
Als sie den Trafalgar Square passierten, war das Innere des Wagens mit einem Mal von rot flirrendem Flammenschein erfüllt. Obgleich die Polizei alles tat, die Freudenfeuer zu löschen, gelang es den Aufrührern immer wieder, sie von neuem zu entzünden. Heimlich wurden Holzabfälle herbeigeschafft, und selbst Kleidungsstücke dienten als Brennstoff. Da die Neugeborenen unter einer geradezu abergläubischen Angst vor Feuer litten, schlugen sie einen weiten Bogen um die Brände. Die Aufständischen prügelten sich mit der Polizei, während die Löschmannschaften einen halbherzigen Versuch unternahmen, ihre Wasserschläuche auf die Flammen zu richten. Captain Eyre Massey Shaw, der beliebte Leiter der Londoner Feuerwehr, war kürzlich aus dem Amt entfernt worden, weil er sich angeblich geweigert hatte, etwas gegen die Feuersbrunst am Trafalgar Square zu unternehmen. Dr. Callistratus, ein finsterer Transsylvanier ohne bemerkenswerte Erfahrung und bar jeglichen Interesses, was die Brandbekämpfung anbetraf, wurde als sein Nachfolger benannt, war dem Vernehmen nach allerdings außerstande, seine Amtsstube zu betreten, da Berge von Rücktrittsgesuchen ihm den Zutritt versperrten. Geneviève blickte hinaus auf die Berge lodernder Holzscheite rings um die Bronzelöwen; die Flammen schlugen an der Nelson Column hinauf und schwärzten diese bis zu einem Drittel ihrer Höhe mit Ruß. Dereinst zum Gedenken an die Opfer des Blutsonntags entfacht, hatten die Feuer unterdessen eine andere Bedeutung. Aus Indien wurden Gerüchte laut, denen zufolge sich eine neuerliche Meuterei ereignet hatte. Sir Francis Varney war von Sepoys aus der Roten Festung von Delhi geschleift und vor die Mündung eines seiner Geschütze gebunden worden. Nachdem sie ihm eine Mixtur aus Alteisen und Silbersalzen durch die Brust geschossen hatten, verbrannten sie Varney auf dem Scheiterhaufen, bis nichts weiter von ihm übrigblieb als ein Häuflein Asche und Knochen. Zahlreiche britische Soldaten und Beamte hatten sich den einheimischen Rebellen angeschlossen. Wollte man den Flugblättern Glauben schenken, deren Quellen zweifellos in höchsten Positionen zu suchen waren, so erlebte Indien eine offene Revolte, und auch in Afrika und Asien machte sich Unruhe breit.
Es wurden Plakate geschwenkt und Parolen geschrien. Der Ripper schlitzt weiter, lautete eine Wandschmiererei. Auch jetzt noch erhielten Presse, Polizei und Prominenz mit roter Tinte verfasste Briefe, deren Unterzeichner sich »Jack the Ripper« nannte. Anders als zuvor riefen sie die Warmblüter auf, sich gegen ihre Vampirherren zu verbünden, oder bedrängten britische Neugeborene, sich fremdländischen Ältesten zu widersetzen. Wenn ein Vampir ermordet wurde, bekannte sich »Jack the Ripper« zu der Tat. Da Charles sich in Schweigen hüllte, hegte Geneviève den Verdacht, dass viele der Briefe aus dem Diogenes-Club stammten. In den heiligen Hallen der Schattenregierung spielte man ein gefährliches Spiel. Selbst wenn ein Wahnsinniger zum Helden aufstieg, hatte das seinen Zweck. Wem Jack the Ripper als Märtyrer galt, der verehrte Jack Seward, welcher mit dem Silbermesser gegen die übermächtigen Vampire zu Felde zog. Wem Jack the Ripper als Monstrum galt, der verschmähte Lord Godalming, jenen hochmütigen Untoten, welcher sich gemeiner Frauen entledigte, die er für Abschaum hielt. Mit jeder Wiederholung bekam die Geschichte eine neue Bedeutung und der Ripper ein anderes Gesicht. Was Geneviève betraf, so gehörte dieses Gesicht Danny Dravot, der, die Finger mit blutroter Tinte befleckt, tatenlos zusah, wie Mary Jane Kelly hingemetzelt wurde.
Die öffentliche Ordnung in der Stadt stand kurz vor dem Zusammenbruch. Und das nicht nur in Whitechapel und Limehouse, sondern auch in Whitehall und Mayfair. Je schwerer der Druck der Behörden auf den Leuten lastete, desto größer wurde ihr Widerstand. Einer neuen Mode folgend, schwärzten sich warmblütige Londoner aller Klassen nunmehr wie Bänkelsänger das Gesicht und nannten sich »Eingeborene«. Fünf Heeresoffiziere waren von einem Kriegsgericht zum gemeinschaftlichen Tode durch den Pfahl verurteilt worden, weil sie sich geweigert hatten, ihren Männern zu befehlen, das Feuer auf eine friedliche Versammlung falscher Mohren zu eröffnen.
Nach einigen Unterhandlungen und den lauten Pöbeleien einer schwarzgesichtigen Matrone durfte Netley den Wagen durch den Admiralty Arch chauffieren. Der Kutscher wünschte sich gewiss, er hätte das Emblem, welches den Schlag seines Gefährtes schmückte, übertünchen können.
Als Vampir vom reinen Geblüt Chandagnacs betrachtete Geneviève das Geschehen, wie immer, aus einer gewissen Distanz. Zwar war es ihr, nach Jahrhunderten der Heuchelei, zunächst eine Erleichterung gewesen, sich nicht mehr als Warmblüter ausgeben zu müssen, doch hatte der Prinzgemahl den meisten Untoten das Dasein ebenso erschwert wie jenen Lebenden, die er als Vieh zu titulieren pflegte. Auf jeden adeligen Murgatroyd, der in einem Palais residierte und über einen Harem willfähriger Blutsklavinnen verfügte, kamen zwanzig wie Mary Jane Kelly, Lily Mylett oder Cathy Eddowes, die wie zu allen Zeiten elendiglich vegetierten und denen ihre Vampirattribute Sucht und Siechtum eintrugen statt Macht und neue Möglichkeiten …
 
… er hatte den Churchwards mit Geneviève einen Besuch abgestattet. Penelope war nicht mehr bettlägerig. Sie saß im verdunkelten Salon in einem Rollstuhl, eine bunt karierte Wolldecke über die Knie ausgebreitet. Wo sich zuvor der Bauerntisch befunden hatte, stand nun, auf Rüstböcke gelagert, ein neuer, mit weißem Atlas ausgeschlagener Sarg.
Penelope wurde von Tag zu Tag kräftiger. Ihr Blick war ungetrübt. Sie sprach kaum ein Wort.
Auf dem Kaminsims bemerkte Beauregard eine Fotografie Godalmings, der neben einer Topfpflanze vor Atelierkulissen steif posierte, umrahmt von schwarzem Crêpe.
»Er war in gewisser Weise mein Vater«, erklärte Penelope.
Geneviève verstand, wie Beauregard nie würde verstehen können.
»War er wirklich solch ein Monstrum?«, fragte Penelope.
Beauregard sagte ihr die Wahrheit. »Ich fürchte, ja.«
Penelope lächelte beinahe. »Gut. Das freut mich. Dann werde auch ich zum Monstrum werden.«
Sie saßen beisammen, ohne ihre Tassen auf dem kleinen Tischchen auch nur anzurühren, während allmählich die Dunkelheit hereinbrach …
 
… das Fuhrwerk rollte flugs den Bird Cage Walk hinunter zum Buckingham-Palast. Entlang der Straße hingen Aufständische an kreuzförmige Käfige gekettet; die meisten von ihnen waren tot. Während der letzten drei Nächte hatte im St.-James-Park ein offener Kampf zwischen Warmblütern und Untoten getobt.
»Schau«, sagte Charles betreten, »dort ist Van Helsings Kopf.«
Geneviève reckte den Hals und erblickte den kümmerlichen Klumpen auf der Spitze einer Pike. Hier und da wurde gemunkelt, Abraham Van Helsing sei am Leben, befände sich in der Gewalt des Prinzgemahls, hoch über der Stadt, wo er die Herrschaft Draculas über London mit ansehen müsse. Das war eine Lüge; von Van Helsing war nichts übriggeblieben als ein mit Fliegendreck beschmutzter Schädel.
Das Haupttor ragte drohend in die Finsternis empor, die Eisenstäbe waren mit neumodischem Stacheldraht umwickelt. Karpater in nachtschwarzen, rot geschlitzten Uniformen zogen die riesigen Gatter auf wie einen leichten Seidenvorhang, und die Kutsche schlüpfte hindurch. Geneviève fühlte mit Netley, der zweifellos schwitzte wie ein verschrecktes Schwein auf einem Ball der Indien-Beamten. Der Palast sandte, von Wachtfeuern und elektrischen Glühlampen erhellt, schwarze Rauchschwaden gen Himmel, seine Fassade wie ein Ebenbild von Moloch dem Verschlinger.
Charles’ Miene verriet nicht die leiseste Regung, doch in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Du kannst im Wagen bleiben«, beschwor er sie. »Hier bist du sicher. Ich komme gut allein zurecht. Es wird bestimmt nicht lange dauern.«
Geneviève schüttelte den Kopf. Nachdem sie Vlad Tepes über Jahrhunderte gemieden hatte, wollte sie sich nun dem stellen, was sich hinter den Palastmauern verbarg.
»Gené, ich bitte dich.« Ihm brach beinahe die Stimme.
Zwei Nächte zuvor war sie mit Charles zusammen gewesen, hatte mit sanfter Zunge Blut aus den Wunden an seiner Brust geleckt. Unterdessen kannte und verstand sie seinen Körper. Sie hatten sich geliebt. Sie kannte und verstand ihn.
»Worüber machst du dir solche Sorgen, Charles? Wir sind Helden, wir haben von Fürst Dracula nichts zu befürchten. Ich bin älter als er.«
Der Wagen hielt vor dem maulähnlichen Portikus, und ein Lakai mit Perücke öffnete den Schlag. Geneviève stieg zuerst aus; das leise Knirschen der glatten Kieselsteine unter ihren Schuhen gab ihr ein behagliches Gefühl. Charles folgte; nervös und angespannt wie eine Bogensehne, raffte er sich den Umhang um die Schultern. Sie ergriff seinen Arm und schmiegte sich an ihn, doch er fand keine Ruhe. Voller Ungeduld harrte er der Dinge, die er im Palast vorfinden würde, doch hinter seiner Ungeduld verbarg sich abgrundtiefes Grauen.
Jenseits des Palastzauns hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Schaulustige spähten in Erwartung der Wachablösung verdrossen durch die Gitterstäbe. Unweit des Tors erblickte Geneviève ein bekanntes Gesicht, die Chinesin aus dem Alten Jago. Sie stand neben einem großen, betagten Asiaten, der etwas Heimtückisches an sich hatte. Hinter ihnen, im Schatten, stand eine noch größere, noch betagtere asiatische Gestalt, und unvermittelt spürte Geneviève, wie die Schrecken der Vergangenheit erneut von ihr Besitz ergriffen. Als sie abermals hinsah, waren die Chinesen verschwunden, doch das Herz schlug ihr bis zum Hals. Charles hatte ihr noch immer nicht erzählt, was hinter seinem Handel mit dem mörderischen Ältesten steckte.
Der Lakai, ein Vampirjüngling mit goldfarbenem Gesicht, geleitete sie die breite Treppe hinauf und stieß mit seinem langen Stab an die Flügeltüren. Sie öffneten sich wie von einem stummen Mechanismus angetrieben und gaben den Blick frei auf das Marmorgewölbe einer weitläufigen Empfangshalle.
Da das einzige gute Gewand, das sie besaß, zuschanden war, hatte sie ein neues schneidern lassen müssen. Heute trug sie es zum ersten Mal, ein schlichtes Ballkleid ohne Tournüren, Flitter oder Falbeln. Obschon sie bezweifelte, dass Vlad Tepes allzu sehr auf äußeren Schein bedacht war, glaubte sie, bei der Königin Eindruck machen zu müssen. Sie kannte die Familie noch aus deren Zeit als Kurfürsten von Hannover. Aus ihren warmblütigen Tagen war ihr nur ein kleines goldenes Kruzifix geblieben, das sie, anders als sonst, an der letzten einer langen Reihe immer neuer Ketten um den Hals trug. Ihr leiblicher Vater hatte es ihr zum Geschenk gemacht, da es, wie er meinte, von der Pucelle gesegnet worden sei. Obgleich sie dies bezweifelte, hatte sie es über die Zeit gerettet. Oftmals schon hatte sie ein ganzes Leben - Haus, Hof, Garderobe, Grundbesitz, Vermögen - hinter sich gelassen und nur das Kreuz behalten, welches die Jungfrau von Orleans vermutlich nie zu Gesicht bekommen hatte.
Ein Windstoß teilte einen dreißig Fuß hohen, durchscheinenden Seidenvorhang, und sie trat mit Charles durch die Öffnung. Ihr war, als entfalte sich ein riesenhaftes Spinnennetz, die ahnungslose Fliege anzulocken. Diener erschienen im Gefolge einer Vampirhofdame, und Charles und Geneviève wurden ihrer Umhänge entledigt. Ein Karpater, dessen maskenhaftes Gesicht mit rauen Haarborsten bewachsen war, wachte darüber, dass Charles seinen Stock aushändigte. Silber war bei Hof nicht geduldet. Sie trug keine Waffe bei sich, die sie hätte herausgeben können …
 
… er hatte alles versucht, sie davon abzubringen, ihn zu begleiten, ohne ihr jedoch zu verraten, welche Pflicht er zu erfüllen hatte. Beauregard wusste, dass er sterben würde. Sein Tod diente einem hohen Zweck, und er verspürte keine Furcht. Doch es zerriss ihm fast das Herz, wenn er darüber nachsann, was aus Geneviève werden mochte. Dies war schließlich nicht ihr Kreuzzug. Wenn sich eine Gelegenheit ergäbe, wollte er ihr zur Flucht verhelfen, und wenn es ihn das Leben kostete. Doch seine Pflicht wog mehr als ihrer beider Schicksal.
Als sie, von der Wollust ihrer Vereinigung erhitzt, beisammenlagen, sagte er ihr, was er seit Pamela keiner Frau mehr gesagt hatte.
»Gené, ich liebe dich.«
»Und ich dich, Charles.«
»Ich dich, was hat das zu bedeuten?«
»Liebe, Charles. Ich liebe dich.«
Und wieder spürte er ihre Lippen, und sie wälzten sich in wohligem Behagen …
 
… ein Armadill, dessen Hinterteil mit seinem eigenen Dreck verkrustet war, watschelte um ihre Füße. Vlad Tepes hatte den Regent’s Park Zoo geplündert und ließ exotische Spezies ungehindert den Palast durchstreifen. Dieses arme, zahnlose Geschöpf zählte zweifellos zu seinen ungefährlicheren Schoßtieren.
Die Hofdame, die sie durch die weite, kathedralenhafte Empfangshalle geleitete, trug eine schwarze Samtlivree mit dem königlichen Wappen über der Brust. In ihren eng anliegenden karierten Beinkleidern und den kniehohen, mit Goldschnallen versehenen Stiefeln sah sie aus, als spiele sie die Hosenrolle in einem weihnachtlichen Feenstück. Obgleich niedlich anzuschauen, hatte ihr Gesicht jede Spur weiblicher Sanftheit verloren, die es zu ihren Lebzeiten besessen haben mochte.
»Sie haben mich offenbar vergessen, Mr. Beauregard«, sagte sie.
Charles erwachte verwirrt aus seinen Gedanken. Er betrachtete die Hofdame genauer.
»Wir sind uns vor einigen Jahren bei den Stokers begegnet«, erklärte sie. »Vor der Wende.«
»Miss Murray?«
»Die Witwe Harker. Wilhelmina. Mina.«
Geneviève wusste, wer diese Frau war: ein Spross des Fürsten. Nach Jack Sewards Lucy die zweite britische Eroberung des Prinzgemahls. Wie auch Jack und Godalming hatte sie zu Van Helsings Gruppe gehört.
»Der grauenvolle Mörder war also niemand anders als Dr. Seward«, sagte Mina Harker nachdenklich. »Wie auch Lord Godalming wurde er verschont, nur um zu leiden und andere leiden zu lassen. Wie wäre Lucy von ihren Bewerbern doch enttäuscht gewesen.«
Geneviève blickte hinein in Mina Harker und erkannte, dass die Frau dazu verurteilt war - sich selbst dazu verurteilt hatte -, mit den Folgen ihres Unvermögens zu leben. Ihr Unvermögen, Vlad Tepes zu widerstehen, das Unvermögen ihres Zirkels, den Eindringling in eine Falle zu locken und zu vernichten.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, Sie hier anzutreffen«, platzte Charles heraus.
»Als Bedienstete in der Hölle?«
Sie waren am Ende der Halle angekommen. Vor ihnen befanden sich weitere Türen. Mina Harker sah die beiden an, ihre Augen waren wie glühendes Eis. Sie klopfte gegen ein Paneel, und das Pochen ihrer Fingerknöchel hallte laut wie ein Revolverschuss durch den riesigen Saal …
 
… Beauregard entsann sich der warmblütigen Mina Harker, die an der Seite von Florence, Penelope oder Lucy so offenherzig und natürlich wirkte und wie Kate Reed dem Glauben anhing, dass eine Frau einen Beruf ergreifen solle, mehr sein müsse als die bloße Zierde ihres Mannes. Doch jene Frau lebte nicht mehr, und diese blassgesichtige Hofschranze war nichts weiter als ein fahler Schatten ihrer selbst. Ebenso ein Schatten wie Seward und nicht zuletzt auch Lord Godalming. Sie beide, der Prinzgemahl und jener Totenschädel auf der Pike, hatten eine Vielzahl zerstörter Existenzen auf dem Gewissen.
Die Flügeltüren öffneten sich mit lautem Knarren, und ein furchteinflößender Bedienter gewährte ihnen Einlass in ein hell erleuchtetes Vorzimmer. Der bunte Aufzug des Lakaien hob die zahlreichen grotesken Missbildungen seines Körpers nachdrücklich hervor. Doch war er keineswegs das neugeborene Opfer eines tragischen Versuchs, die Gestalt zu wandeln, sondern ein warmblütiger Mann, der seit seiner Geburt unter abscheulichen Gebrechen litt. Seine Wirbelsäule war immens verkrümmt, und seinem Rücken entsprossen Auswüchse von der Größe eines Brotlaibes. Bis auf den linken Arm waren seine Glieder gedunsen und verdreht. Sein aufgeschwollener Schädel war mit knöchernen Knollen bedeckt, aus denen Haarbüschel hervorsprossen, und sein Gesicht lag fast gänzlich hinter warzigen Wucherungen versteckt. Obgleich Mycroft ihn darauf vorbereitet hatte, gab sein jammervoller Anblick Beauregard einen Stich ins Herz.
»Guten Abend«, sagte er. »Merrick, nicht wahr?«
Irgendwo in den verborgenen Tiefen von Merricks teigigem Gesicht bildete sich ein Lächeln. Er erwiderte den Gruß, was dank der Fleischwülste rings um seinen Mund jedoch kaum zu verstehen war.
»Wie geht es Ihrer Majestät heute Abend?«
Obgleich Merrick keine Antwort gab, vermeinte Beauregard in den unergründlichen Massen seines Gesichts eine Regung zu erkennen. Eine Spur von Traurigkeit lag in seinem einäugigen Blick, und ein grimmiger Zug spielte um seine verwachsenen Lippen.
Beauregard reichte Merrick eine Karte und sagte: »Mit den besten Empfehlungen des Diogenes-Clubs.« Der Mann hatte verstanden und neigte zustimmend den massigen Schädel. Auch er diente der herrschenden Clique.
Merrick geleitete sie über den Korridor. Krummbucklig wie ein Gorilla trieb er seinen Körper mit kraftvollen Bewegungen seines überlangen, in einer klumpigen Faust endenden Arms voran. Dem Prinzgemahl bereitete es offenbar Vergnügen, diese armselige Kreatur bei Hof zu halten. Beauregard empfand wachsenden Abscheu vor dem Vampir. Merrick klopfte an eine Tür, die ihn doppelt und dreifach überragte …
 
… lächerlich spät erst erkannte sie, dass Charles nicht im Geringsten fürchtete, was auch immer er im Palast vorfinden mochte. Er fürchtete um sie, fürchtete um die Folgen dessen, was binnen kurzem geschehen würde. Er drückte ihre Hand.
»Gené«, sagte er, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, »wenn dir meinetwegen etwas zustößt, so tut es mir aufrichtig leid.«
Sie verstand nicht, was er damit meinte. Während sie sich noch bemühte, ihm zu folgen, beugte er sich zu ihr herab und küsste sie auf den Mund, wie es sonst nur Warmblüter taten. Sie spürte seinen Geschmack auf ihrer Zunge, und die Erinnerung kehrte zurück …
 
… in der Dunkelheit klang ihre Stimme kühl. »Dies könnte ewig währen, Charles. Ewig.« Er musste an seine Zusammenkunft mit Mycroft denken. »Nichts währt ewig, mein Liebling …«
 
… er ließ den Kuss enden und trat einen Schritt zurück; Geneviève war verwirrt. Dann ging die Tür auf, und sie wurden zur königlichen Audienz vorgelassen.
Von zerbeulten Leuchtern und Lüstern spärlich erhellt, hatte sich der Thronsaal in einen wahrhaften Schweinestall verwandelt, wo es von Menschen und Tieren nur so wimmelte. Die ehemals eleganten Wandbehänge waren fleckig und zerrissen. Beschmutzte und geschändete Gemälde hingen merkwürdig schief oder lagen achtlos hinter Möbelstücken aufgestapelt. Lachende, schluchzende, grunzende, wimmernde und kreischende Kreaturen saßen über Diwans und Teppiche verstreut. Ein nahezu unbekleideter Karpater rang mit einem riesenhaften Affen; ihre Füße scharrten und schlitterten über die kotverschmierten Marmorfliesen. Der Gestank nach geronnenem Blut und Exkrementen war ebenso streng wie in Miller’s Court Nummer 13.
Merrick meldete sie der Gesellschaft; es bereitete ihm sichtlich Mühe, ihre Namen herauszubringen. Jemand ließ auf Deutsch eine schändliche Bemerkung über sein Leiden fallen. Grausige Lachsalven übertönten den Lärm, der auf den Wink einer tellergroßen Hand jäh verstummte. Die Geste gebot der Versammlung Einhalt; der Karpater stieß das Gesicht des Affen zu Boden und machte dem Muskelwettstreit ein frühzeitiges Ende, indem er dem Tier kurzweg das Rückgrat brach.
An der erhobenen Hand steckte ein gewaltiger Diamantring, der den glühenden Schimmer von sieben Feuern in sich barg. Geneviève hatte den Kohinoor sofort erkannt, den »Berg des Lichts«, den größten Edelstein auf Erden und zugleich das Herzstück jener Sammlung, welche als die Kronjuwelen bekannt war. Ihr Blick war wie gebannt von seinem hellen Schein und dem Vampir, dessen Finger er schmückte. Fürst Dracula saß, wuchtig wie ein aus Stein gehauenes Standbild, auf dem Thron, und sein monströs gedunsenes Gesicht war eine tiefrote, mit welkem Grau bekrönte Maske. Die blutverklebten Schnurrbartspitzen reichten ihm bis auf die Brust, das dichte Haar wallte ihm über die Schultern, und von seinem mit schwarzen Bartstoppeln besäten Kinn troff der Lebenssaft seines letzten Opfers. Er wog den Reichsapfel in der linken Hand, als sei dieser nicht größer als ein Tennisball.
Charles geriet beim Anblick seines Widersachers ins Wanken, der Gestank traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen. Geneviève stützte ihn und sah sich um.
»Nie hätte ich mir träumen lassen …«, murmelte er, »niemals …«
Ein abgerissener, hermelinbesetzter schwarzer Samtumhang spannte sich um Draculas Schultern wie die Schwingen einer riesenhaften Fledermaus. Darunter kam sein nackter, über und über mit verfilzten Haaren bewachsener Leib zum Vorschein; eine dicke Kruste aus Schmutz und Blut bedeckte seine Brust und seine Glieder. Sein weißes Geschlecht mit einer Spitze rot wie eine Natternzunge lag schlaff in seinem Schoß. Sein Leib war blutgebläht, und die pulsierenden seildicken Adern am Hals und an den Armen traten deutlich hervor. Zu Lebzeiten war Vlad Tepes allenfalls von mittlerer Größe gewesen; nun jedoch war er ein Riese.
Ein rotgesichtiger Karpater in zerlumpter Uniform jagte ein warmblütiges Mädchen quer durch den Saal. Es war Rupert von Hentzau. Während er ihr ungelenk folgte, verschoben sich seine Schädelbeine und verzerrten sein Gesicht zu einer furchterregenden Fratze. Er brachte das Mädchen mit einem weit ausholenden Klauenhieb zu Fall und riss ihr Hemd und Haut vom Leib. Dann schlug er ihr seine dreigelenkigen Kiefer in Rücken und Flanken, fraß von ihrem Fleisch und trank von ihrem Blut. Noch während er sich an ihr labte, wurde er zur wölfischen Bestie, streifte er Hosen und Stiefel ab, wurde sein Gelächter zu Geheul. Das Mädchen war sofort tot.
Draculas Lächeln entblößte gelbe Zähne, lang und dick wie zugespitzte Daumen. Geneviève blickte dem König der Vampire geradewegs ins Gesicht.
Die Königin kniete neben dem Thron; um ihren Hals lag ein nagelbesetztes Eisen, das durch eine massive Kette mit einem weiten Armband um Draculas Handgelenk verbunden war. Sie trug nichts als Hemd und Strümpfe; das braune Haar fiel ihr offen auf die Schultern, ihr Gesicht war blutverschmiert. Es war unmöglich, in dieser missbrauchten, erbarmungswürdigen Gestalt die rundliche alte Frau wiederzuerkennen, die sie einst gewesen war. Geneviève hoffte inständig, dass die Königin den Verstand verloren hatte, befürchtete jedoch, dass sie wohl wusste, was rings um sie vorging. Viktoria wandte den Blick vom Opfer des Karpaters.
»Königliche Hoheiten«, sagte Charles, indem er sich verbeugte.
Ein enormer Furz räudigen Gelächters brach aus Draculas mit scharf gezackten Fangzähnen bewehrtem Maul. Der Pesthauch seines Atems erfüllte den Saal. Er roch nach Tod und Verwesung.
»Ich bin Dracula«, sagte er in erstaunlich akzentfreiem, flüssigem Englisch. »Und wer sind unsere hochwillkommenen Gäste, wenn ich fragen darf?«
 
… er befand sich im Auge eines Alptraumorkans. Doch sein Wille war eisern. Dieser Anblick machte ihn zu einem iustum et tenacem propositi virum, zu einem rechten Mann, der fest am Entschlusse hält. Später, wenn er dann noch lebte, würde er seiner Übelkeit vielleicht nachgeben. Nun aber, in diesem entscheidenden Moment, musste er sich völlig in der Gewalt haben.
Obgleich er nie ein richtiger Soldat gewesen war, hatte er auf der Militärakademie wie auch im Felde die Kunst der Strategie erlernt. Ein Blick verriet ihm, wo im Thronsaal sich wer befand. Die meisten brauchten ihn nicht zu kümmern, doch Geneviève, Merrick und, aus unerfindlichen Gründen, Mina Harker bereiteten ihm Sorge. Sie alle standen hinter ihm.
Der Mann und die Frau auf der Estrade nahmen seine ganze Aufmerksamkeit gefangen: die Königin, deren unübersehbare Qualen ihm das Herz zerreißen wollten, und der Fürst, der wohlgefällig auf dem Thron saß und sich an dem wüsten Chaos rings um ihn herum ergötzte. Draculas Gesicht schien wie auf Wasser gemalt; bisweilen gefror es zu spiegelblankem Eis, zumeist aber war es im Fluss, in unablässiger Bewegung. Beauregard erblickte immer neue Gesichter unter der Oberfläche. Die roten Augen und die Wolfszähne blieben unverändert, während rings um die schroffen Wangen alles unaufhörlich die Gestalt veränderte und sich mal in eine haarige, nasse Schnauze, mal in einen knochigen, kahlen Totenschädel verwandelte.
Ein edel gekleideter Vampirjüngling, aus dessen Kragen ein wahrhafter Strauß von Spitze hervorbrach, erklomm die Estrade.
»Dies sind die Helden von Whitechapel«, erklärte er, wobei er sich mit einem Schnupftuch Luft zufächelte. Beauregard hatte den Premierminister sogleich erkannt.
»Ihnen allein haben wir die Vernichtung jener rücksichtslosen Mörder zu verdanken, welche als Jack the Ripper bekannt sind«, fuhr Lord Ruthven fort. »Dr. John Seward von schändlichem Angedenken und, äh, Arthur Holmwood, der furchtbare Verräter …«
Der Fürst verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln, seine Schnurrbartspitzen knarrten wie Lederriemen. Ruthven, Godalmings Fangvater, war sichtlich verstimmt wegen der Erinnerung an jene Schreckenstaten, deren sich sein Zögling in den Augen des Volkes mitschuldig gemacht hatte.
»Ihr habt uns brav und treu gedient, meine lieben Untertanen«, sagte Dracula, doch das Lob klang ganz wie eine Drohung …
 
… indem Ruthven neben Fürst Dracula hintrat, machte er das Herrschertriumvirat komplett: die beiden Vampirältesten und die neugeborene Königin. Vlad Tepes ließ nicht den geringsten Zweifel daran, wer an der Spitze dieser Dreieinigkeit der Macht stand.
Geneviève war Ruthven ein knappes Jahrhundert zuvor auf einer Reise durch Griechenland begegnet. Damals war er ihr wie ein Dilettant erschienen, der sich mit romantischen Tändeleien verzweifelt bei Laune zu halten suchte, weil die Ödnis eines langen Lebens ihn so sehr bedrückte. Als Premierminister nun hatte er seinen ennui gegen die Ungewissheit eingetauscht, da er wohl wusste, dass mit jeder neuen Beförderung auch die Wahrscheinlichkeit wuchs, dereinst in ungeahnte Tiefen hinabgestürzt zu werden. Sie fragte sich, ob denn niemand außer ihr die Furcht zu sehen imstande war, die sich wie eine Ratte an Lord Ruthvens Busen nährte.
Dracula musterte Charles eindringlich, wohlwollend beinahe. Geneviève spürte, wie das Blut ihres Geliebten in Wallung geriet, und bemerkte, dass sie die Zähne gefletscht und die Finger zu Klauen verkrümmt hatte. Sie zwang sich, vor dem Thron eine demütige Haltung anzunehmen.
Der Fürst wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu und hob eine buschige Augenbraue. Eine Fülle verkrusteter Narben verzerrte seine sanften Züge.
»Geneviève Dieudonné«, sagte er und ließ sich den Namen auf der Zunge zerfließen, als wolle er den Silben dadurch neuen Sinn abringen. »Ich habe früher schon von Euch vernommen.«
Sie streckte ihre leeren Hände aus.
»Als ich diesen Ehrenplatz einnahm«, fuhr er, von ausladenden Gebärden begleitet, fort, »war Euer Name vielgerühmt. Es bedeutet Mühsal, mit den Wanderungen von unsereins Schritt zu halten. Hier und da empfing ich Nachricht über Euch.«
Der Fürst schien mit jedem seiner Worte weiter aufzuschwellen. Vermutlich blieb er nicht nur unbekleidet, weil er es so wollte, sondern weil Kleider seinem fortwährenden Wandel der Gestalt nicht standzuhalten vermochten.
»Wenn mich nicht alles täuscht, so zähltet Ihr eine entfernte Verwandte meiner Familie zu Euren Freundinnen.«
»Carmilla? In der Tat«, entgegnete Geneviève.
»Eine zarte Blume, die wir schmerzlich vermissen.«
Geneviève nickte zustimmend. Die zuckersüße Besorgtheit dieses Monstrums verursachte ihr Übelkeit, schnürte ihr die Kehle zu. Ebenso zärtlich und gedankenlos wie ein Herr seinen alten Jagdhund tätschelt, streckte der Fürst die Hand aus und strich über das wirre Haar der Königin. Furcht loderte in ihrem Blick. Am Fuß der Thronestrade kauerte ein Häuflein mit Leichentüchern angetaner nosferatu-Weiber, die von Dracula verschmähten Ehefrauen. Allesamt Schönheiten, zerfetzten sie schamlos ihre Gewänder, so dass Glieder, Brüste und Lenden zum Vorschein kamen. Sie fauchten und gierten wie Katzen. Die Königin hatte offensichtlich schreckliche Angst vor ihnen. Dracula schloss seine gewaltigen Finger um Viktorias zerbrechlichen Schädel und drückte behutsam zu.
»Mylady«, fuhr er fort, »warum seid Ihr nicht schon früher an meinen Hof gekommen? Wir hätten Euch mit Freuden auf unserem schmerzlich vermissten Schloss Dracula in Transsylvanien oder diesem etwas moderneren Anwesen empfangen. Alle Ältesten sind uns willkommen.«
Draculas Lächeln war durchaus überzeugend, vermochte seine spitzen Zähne jedoch nicht zu verbergen.
»Bin ich Euch so zuwider, Mylady? Über Jahrhunderte seid Ihr von einem Ort zum anderen gezogen, in ewiger Furcht vor Euren warmblütigen Neidern. Wie alle Untoten wandeltet Ihr als Ausgestoßene auf dem Antlitz dieser Erde. Nennt Ihr das Recht? Geplagt von niederen Kreaturen, verweigerte man uns den Beistand der Kirche und den Schutz des Gesetzes. Ihr habt ebenso wie ich ein Mädchen, das Ihr liebtet, an Bauern mit gespitzten Pfählen und silbernen Sicheln verloren. Wahrhaftig, Tepes werde ich geheißen, und doch war es nicht Dracula, der das Herz der Carmilla Karnstein oder das der Lucy Westenra durchbohrte. Mit meinem dunklen Kuss schenke ich ewiges, süßes Leben; die Silbermesser aber sind es, die den leeren, kalten Tod uns bringen, auf alle Zeit und immerdar. Doch die finsteren Nächte liegen hinter uns, und wir sind in die uns gebührende Stellung erhoben. Ich habe dies zum Wohle aller nosferatu getan. Vorbei die Zeit, da wir den Warmblütern unsere Natur verhehlten, vorbei die Zeit, da uns der rote Durst das Hirn versengte. Fangtochter des Chandagnac, auch Ihr zieht daraus Euren Nutzen; und doch empfindet Ihr keine Liebe für Dracula. Ist das nicht überaus betrüblich? Verrät das nicht die Haltung einer überaus einfältigen und undankbaren Frau?«
Draculas Hand lag um Viktorias Hals, und mit dem Daumen streichelte er ihre Kehle. Die Königin blickte zu Boden.
»Wart Ihr nicht einsam, Geneviève Dieudonné? Und seid Ihr nun nicht unter Freunden? Unter Euresgleichen?«
Sie war fünfzig Jahre länger untot als Vlad Tepes. Als sie sich verwandelt hatte, war der Fürst ein Wickelkind gewesen, das bald darauf in ein Leben der Gefangenschaft entlassen werden sollte.
»Pfähler«, verkündete sie, »ich kenne nicht meinesgleichen.«
… während der Fürst noch funkelnden Auges auf Geneviève herabsah, trat Beauregard vor.
»Ich habe Euch ein Geschenk mitgebracht«, sagte er und griff in die Brust seines Fracks, »ein Andenken an unsere Tätigkeit im East End.«
Draculas Blick verriet die philiströse Besitzgier eines wahrhaften Barbaren. Trotz seiner hochtrabenden Titel war er kaum eine Generation von jenen tyrannischen Bergtölpeln entfernt, die er seine Vorfahren schimpfte. Nichts erfreute sein Fürstenherz so sehr wie hübsche Dinge. Grell schimmerndes Spielzeug. Beauregard zog ein Stoffbündel aus seiner Innentasche und schlug das Tuch zurück.
Silber flammte auf.
Eben noch hatten sich Vampire in düsteren Winkeln laut schmatzend am Fleisch von Knaben und Mädchen gütlich getan, nun aber war alles ruhig. Es war gewiss eine Illusion, doch die winzige Klinge strahlte, erhellte wie Excalibur en miniature den ganzen Saal. Wutentbrannt legte Dracula die Stirn in Falten, doch dann verwandelten Hohn und Belustigung sein Gesicht in eine breit grinsende Maske. Beauregard hielt Jack Sewards Silberskalpell in die Höhe.
»Bildet Ihr Euch etwa ein, mich mit diesem Nädelchen bezwingen zu können, Engländer?«
»Es ist ein Geschenk«, erwiderte Beauregard. »Doch es ist nicht für Euch bestimmt.«
Geneviève trat verwundert beiseite. Merrick und Mina Harker standen zu weit entfernt, um ihm gefährlich werden zu können. Die Karpater ließen von ihren Vergnügungen ab und bildeten einen Halbkreis um den Thron. Einige der Haremsfrauen erhoben sich, ihre lechzenden Mäuler troffen vor feucht glänzendem Blut. Zwar befand sich niemand zwischen Beauregard und der Estrade, doch wenn er auch nur einen Schritt zu Dracula hin täte, würde er auf eine massive Mauer aus Knochen und Vampirfleisch stoßen.
»Sondern für meine Königin«, sagte Beauregard und warf ihr das Messer zu.
Die dahinschwirrende Silberklinge spiegelte sich in Draculas Augen, und in seinen Pupillen explodierte finsterer Zorn. Viktoria fischte das Skalpell aus der Luft …
 
… alles hatte nur dem einen Zweck gedient, Charles Zutritt zum Palast zu verschaffen, um hier und jetzt seine Pflicht erfüllen zu können. Geneviève spürte seinen Geschmack auf ihrer Zunge und verstand …
 
… die Königin stieß sich die Klinge in die Brust, heftete sich das Hemd an die Rippen und durchstach ihr Herz. Es war rasch vorbei. Aus ihrer tödlichen Wunde schoss Blut. Mit einem Seufzer der Erleichterung stürzte sie von der Estrade und rollte, ihre rasselnde Kette hinter sich herziehend, die Stufen hinab. Sic transit Victoria Regina.
Der Premierminister bahnte sich einen Weg zwischen den Haremsfrauen hindurch, indem er die Harpyien grob beiseitestieß, und umklammerte den Leib der Königin. Ihr Kopf sank nach hinten, als er das Skalpell mit einem heftigen Ruck herauszog. Ruthven presste eine Hand auf ihre Wunde, als könne er sie allein kraft seines Willens ins Leben zurückbefördern. Es war zwecklos. Mit dem Silbermesser in der Hand erhob er sich. Als seine Finger zu qualmen begannen, schrie er auf vor Schmerz und schleuderte das Skalpell weit von sich. Umringt von Draculas Ehefrauen, deren Gesichter sich in rachgierige Fratzen verwandelt hatten, fing der wie ein Murgatroyd herausgeputzte Premierminister mit einem Mal zu schlottern an.
Beauregard wartete auf die Sündflut.
Der Prinz, der nun kein Gemahl mehr war, sprang auf; sein Umhang bauschte sich wie eine Gewitterwolke. Riesige Hauer brachen aus seinem Mund, und seine Hände wurden zu Bündeln scharf geschliffener Speere. Seine Macht hatte einen Schlag erlitten, von der sie sich nie wieder erholen würde. Albert Edward, Prinz von Wales, war jetzt König; und sein Stiefvater, der ihn nach Paris in ein zwar angenehmes, doch gänzlich unsinniges Exil hatte verbringen lassen, hatte auf ihn keinen allzu großen Einfluss. Das Empire, das Dracula an sich gerissen hatte, würde sich gegen ihn erheben.
Wenn Beauregard jetzt starb, hatte er genug getan.
Dracula hob eine Hand, die nutzlose Kette baumelte von seinem Handgelenk, und deutete auf Beauregard. Unfähig zu sprechen, versprühte er Gift und Galle.
Mit der Königin war auch die Großmutter Europas gestorben. Sieben ihrer Kinder waren noch am Leben, vier von ihnen Warmblüter. Dank Heirat und Sukzession verbanden sie die übrigen Königshäuser Europas. Selbst wenn man Bertie beseitigen ließe, gab es hinreichend Anwärter auf den Thron. Welch feine Ironie des Schicksals, dass der König der Vampire von einem schnatternden Haufen gekrönter Bluter gestürzt werden konnte.
Beauregard trat den Rückzug an. Plötzlich stocknüchtern, versammelten sich die Vampire. Die Haremsfrauen und Gardeoffiziere. Die Frauen fielen als Erste über ihn her, rissen ihn zu Boden und schlugen ihm die Krallen in den Leib …
 
… obschon Charles bemüht gewesen war, Schaden von ihr abzuwenden, indem er ihr die Pläne des Diogenes-Clubs verheimlichte, hatte sie trotzköpfig darauf beharrt, Dracula in seinem Drachennest aufzusuchen. Nun würden sie wahrscheinlich beide sterben müssen.
Draculas Frauen stießen sie beiseite. Mit blutverschmierten Klauen und Mäulern machten sie sich an Charles zu schaffen. Sie konnte die messerscharfen Küsse, mit denen die Frauen ihm Hände und Gesicht zerfetzten, förmlich spüren. Sie zerrte eine von ihnen - eine steirische Schlampe namens Gräfin Barbara de Cilly zu Graz, wenn Geneviève nicht alles täuschte - aus dem Getümmel hervor und schleuderte die kreischende Kreatur quer durch den Saal. Geneviève fletschte die Zähne und fauchte das gefallene Mädchen wütend an.
Ihr Zorn verlieh ihr neue Kraft.
Sie schritt zu dem tobenden Haufen hin, unter dem Charles begraben lag, und kämpfte ihn frei, indem sie wild auf die Weiber einhieb und ihre Nägel in sie bohrte. In ihrem Nest waren die Höflinge schwach und bis zum Rande voll mit Blut. Es bereitete ihr keine allzu große Mühe, Draculas Frauen beizukommen. Wie die anderen Furien schrie und spuckte Geneviève, riss büschelweise Haare aus und hackte nach roten Augen. Charles war blutüberströmt, aber er lebte. Sie kämpfte um ihn wie eine Wolfsmutter um ihr Junges.
Die Höllenhexen taumelten rückwärts, fort von Geneviève, was ihr ein wenig Luft verschaffte. Charles befand sich, nach wie vor benommen, an ihrer Seite. Hentzau, der Hauptkämpe Draculas, ging vor ihnen in Stellung. Obgleich die untere Hälfte seines Körpers menschlich war, hatte er die Zähne und Klauen eines Tieres. Er ballte eine Hand zur Faust, und ein Knochenende glitt aus seinem Fingerknöchel hervor. Es wurde lang, starr und spitz.
Sie tat einen Schritt nach hinten, begab sich außer Reichweite des knöchernen Rapiers. Die Höflinge wichen zurück und bildeten, wie die Zuschauer bei einem Boxkampf, einen Kreis. An seine tote Königin gefesselt, verfolgte Dracula das ungleiche Duell. Hentzau wirbelte herum und ließ seinen Degen, beinahe zu schnell fürs bloße Auge, durch die Luft sirren. Sie vernahm das Flüstern der Klinge und bemerkte kurz darauf, dass in ihrer Schulter eine Wunde klaffte und ein rotes Rinnsal ihre décolletage befleckte. Sie ergriff einen Fußschemel, hob ihn sich zum Schutz vor das Gesicht und parierte damit den nächsten Ausfall. Hentzau durchschnitt Bezug und Polsterung und trieb die Spitze seines Degens in das Holz. Als er sie wieder herauszog, quoll Rosshaar aus dem Riss hervor.
»Duell mit möblierter Dame, hä?«, spöttelte Hentzau.
Er hieb nach Genevièves Gesicht, und etliche ihrer Locken schwebten zu Boden. Von der Tür her kam ein Aufschrei, und irgendetwas landete vor Charles’ Füßen auf den Marmorfliesen …
 
… die erstickte Stimme gehörte John Merrick. Der Stockdegen lag zum Greifen nahe. Die arme Kreatur hatte ihn einem Lakai entrissen. Beauregard konnte es kaum fassen, dass er seine Königin tatsächlich überdauert hatte. Ihm war, als lebte er ein Leben nach dem Tode.
Der Gardist, aus dessen Gerippe ein Rapier hervorgesprossen war, rückte Geneviève zu Leibe. Hentzau schien als warmblütiger Mann keinen Schuss Pulver wert. Er war flink auf den Beinen, hatte Muskeln wie ein Springpferd und verfügte über einen Armdegen, mit dem er seiner Widersacherin mühelos den Kopf hätte abtrennen können.
Beauregard nahm seinen Stock, zog die versilberte Klinge aus dem Schaft und wog die Waffe in der Hand. Plötzlich begriff er, wie dem Ruritanier zumute war.
Mit einem gelinden Schlag fegte Hentzau der Vampirfrau den Schemel aus der Hand. Grinsend tat er einen Schritt zurück, um ihr mit einem letzten Hieb das Herz zu durchbohren. Beauregard ließ seinen Degen auf Hentzaus Arm herniedersausen, schob die Spitze seiner Klinge unter den Kiefer des Gardisten, stach sie durch dessen rauen Pelz und ritzte die Haut unter dem Kinn bis auf den nackten Knochen.
Der Ruritanier heulte auf in seiner Silberqual und wendete sich gegen Beauregard. Er holte zum Angriff aus; seine Degenspitze stieß herab wie eine Wasserjungfer. Obschon er fürchterliche Schmerzen leiden musste, ging er überaus behände zu Werke. Beauregard parierte eine rasche Folge von Attacken. Er sah den Hieb kommen. Plötzlich war ihm, als ob ein Angelhaken zwischen seinen Rippen steckte. Wie er - Bruchteile von Sekunden, ehe die messerscharfe Klinge ihm den Garaus machen konnte - zurückzuweichen suchte, rutschte er auf dem glatten Marmorboden aus. Er schlug der Länge nach hin, in der Gewissheit, dass Hentzau sich auf ihn stürzen und ihm die Schlagader durchtrennen würde, damit die Haremsfrauen aus seinen sprudelnden Wunden trinken konnten.
Hentzau hob seinen Armdegen wie eine Sichel; die Klinge sauste schwirrend herab. Beauregard wusste, dass sie ihm den Hals durchschneiden würde. Er dachte an Geneviève. Und Pamela. Mit letzter Kraft gelang es ihm, den Arm zu heben, um den tödlichen Hieb abzuwehren. Seine schweißnasse Hand umklammerte das schlüpfrige Heft seines Degens.
Ein schwerer Stoß ließ ihn am ganzen Leib erzittern. Hentzaus Arm traf auf Beauregards Silber. Der Gardist taumelte rückwärts. Sein Armdegen fiel als lebloser Klumpen zu Boden, säuberlich unterhalb des Ellbogens abgetrennt. Eine Blutfontäne schoss hervor, und Beauregard wälzte sich zur Seite.
Er sprang auf die Beine. Der Gardist packte seinen Armstumpf und geriet ins Straucheln. Sein Gesicht nahm menschliche Züge an, verlor von einem Augenblick zum anderen alle Haare. Sowie Hentzaus Geheul sich in ein ersticktes Schluchzen verwandelt hatte, hallte ein lautes Klirren durch den Saal. Beauregard und Geneviève wandten sich in die Richtung, aus der es gekommen war.
Prinz Dracula stand auf der Estrade. Er hatte sich die Kette der Königin vom Arm gerissen und sie zu Boden geworfen …
… als er von seinem Podest herabstieg, trat Dampf aus seinen Nasenlöchern. Über Jahrhunderte hinweg hatte er sich als höheres, der Menschheit überlegenes Wesen begriffen; nicht wie er von selbstsüchtigen Fantasien geblendet, wusste Geneviève, dass sie nichts weiter war als eine Zecke im Pelz der Warmblüter. In seinem aufgeblähten Zustand schien der Prinz beinahe lethargisch.
Geneviève drückte Charles an sich und wandte sich zur Tür. Vor ihnen stand der Premierminister. In dieser Gesellschaft wirkte er zivilisiert, ja blutleer.
»Aus dem Weg, Ruthven«, fauchte sie.
Ruthven überlegte, was er tun sollte. Da die Königin nun wirklich tot war, würde manches anders werden. In ihrer Verzweiflung ergriff Geneviève ihr Kruzifix. Sichtlich erstaunt, suchte Ruthven ein Lachen zu unterdrücken. Er hätte sie am Verlassen des Palastes hindern können, doch - ganz der Staatsmann - zögerte er einen Augenblick, ehe er schließlich beiseitetrat.
»Sehr klug, Mylord«, raunte sie ihm zu.
Ruthven zuckte mit den Achseln. Er wusste, dass das Empire am Boden lag. Vermutlich würde er sich fortan auf sein Überleben konzentrieren. Die Ältesten waren in der Überlebenskunst bewandert.
Merrick hielt ihnen die Tür auf. Im Vorzimmer trafen sie auf eine bestürzte Mina Harker, starr vor Schreck. Alles war eifrig bemüht, mit den raschen Veränderungen Schritt zu halten. Einige Höflinge hatten es aufgegeben und wandten sich wieder ihren Vergnügungen zu.
Draculas Schatten wuchs, sein Zorn umfing sie wie ein Nebel.
Geneviève half Charles aus dem Thronsaal. Sie leckte ihm das Blut vom Gesicht und tastete nach seinem Herzschlag. Gemeinsam würden sie mächtig einherreiten auf diesem Sturm.
»Ich konnte es dir nicht sagen«, versuchte er ihr zu erklären.
Sie brachte ihn zum Schweigen.
Merrick verriegelte die Tür und stemmte seinen gewaltigen Rücken dagegen. Er stieß ein langgezogenes Heulen aus, das sie als »Fort hier!« deutete. Von innen donnerte etwas gegen die Tür, und eine klauenbewehrte Hand schlug oberhalb von Merricks Kopf, zwölf Fuß hoch über dem Boden, ein Loch in das Paneel. Die Hand ballte sich zur Faust und vergrößerte die Öffnung. Die Tür erbebte, als werfe ein Nashorn sich dagegen. Eine der Angeln platzte krachend aus dem Holz.
Sie grüßte Merrick zum Abschied und humpelte mit Charles davon …
 
… er zwang sich, nicht zurückzublicken.
Im Laufen hörte Beauregard, wie die Türe hinter ihnen barst und Merrick von herabstürzendem Holz und stampfenden Fußtritten zermalmt wurde. Einer unter vielen malträtierten Helden, deren schnelles Schicksal keine Zeit zur Trauer ließ.
Sie schleppten sich vorbei an Mina Harker und gelangten in den Empfangssaal, der von Vampiren in Livree bevölkert war. Ein Dutzend verschiedener Gerüchte machte hier die Runde.
Geneviève zog ihn mit sich fort.
Er hörte die donnernden Schritte ihres Verfolgers. Trotz des Stiefelgeklappers vernahm er deutlich einen Flügelschlag. Eine Bö von riesenhaften Schwingen streifte ihn.
Verwirrte Wachen ließen sie durch das Palastportal …
 
… ihr Herz raste. Die Kutsche war selbstredend verschwunden. Sie würden sich zu Fuß durchschlagen und in der Menge untertauchen müssen. In der bevölkerungsreichsten Stadt der Welt konnte es nicht allzu schwierig sein, sich zu verstecken.
Während sie noch die breite Treppe hinunterstolperten, näherte sich im Eilschritt ein Kader von Karpatern; ihre Säbel klirrten. Ihr Anführer war der General, hinter dessen Rücken man sich nichts als Witze über ihn erzählte: Iorga.
»Schnell«, rief Geneviève, »der Prinzgemahl, die Königin! Sonst ist alles verloren!«
Iorga schien gar nicht erfreut über die Nachricht, dass ein Unbekannter seinem Generalissimus ans Leder wollte, und suchte eine entschlossene Miene aufzusetzen. Der Kader stürmte im Laufschritt durch das Portal, als Draculas Gefolgschaft hinaus ins Freie drängte. Bis die Karpater wussten, wie ihnen geschah, wären sie längst durch das Tor.
Charles, dessen Kraft allmählich schwand, wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht. Sie nahm seinen Arm, und hinkend rannten sie fort von dem lärmenden Gewimmel.
»Gené, Gené, Gené«, murmelte er, den Mund voller Blut.
»Schsch«, machte sie und zerrte ihn vorwärts. »Wir müssen uns beeilen.«
 
… Warmblüter wie Untote strömten aus allen Himmelsrichtungen herbei. Der Palast wurde gleichzeitig verteidigt und gestürmt. Im Park sang ein Chor von Protestierern Hymnen und versperrte einer Feuerspritze den Weg. Überall in den Anlagen liefen Pferde frei umher und wirbelten Kieselwolken auf.
Er musste Atem schöpfen. Seinen Arm fest umklammernd, ließ Geneviève ihn innehalten. Als er stehen blieb, spürte er, welch eine derbe Tracht Prügel er bezogen hatte. Er stützte sich auf seinen bloßen Degen und sog gierig kalte Luft in seine Lungen. Er litt an Geist und Körper. Ihm war, als sei er im Thronsaal gestorben und nun als ektoplasmische Form zurückgekehrt, befreit von der Last irdischen Fleisches.
Vor ihnen erklommen Menschen die Tore des Palastes. Unter dem Gewicht der Massen schwangen sie auf und schlugen zwei Gardisten zu Boden. Dieser Aufruhr konnte kaum gelegener kommen. Der Diogenes-Club trug Sorge für die Seinen. Oder der Limehouse-Ring hatte sich für Beauregard ins Zeug gelegt. Oder aber er wurde getragen von den Fluten der Geschichte, und dies war nichts weiter als ein glücklicher Zufall.
Fackeln und hölzerne Kruzifixe schwenkend, drängte eine Schar raubeiniger Gesellen in den Hof, die Gesichter mit verkohltem Kork bemalt. An ihrer Spitze marschierte eine Nonne von winziger, biegsamer Gestalt, unter deren Schleier ein Antlitz wie eine chinesische Kamee zum Vorschein kam. Sie rief ihre Anhänger herbei und deutete gen Himmel.
Eine Dunkelheit, finsterer als die schwärzeste Nacht, senkte sich über die Menge. Auf allem lastete ein gigantischer Schatten. Ein rotes Mondenpaar schien aus der Düsternis herab. Schleppende Flügelschläge ließen die Luft erzittern und zwangen die Menschen zu Boden. Die Fledermausgestalt füllte den Himmel über dem Palast.
Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille. Dann erhob jemand die Stimme gegen die Gestalt. Andere stimmten ein. Fackeln und Kieselsteine wurden in die Höhe geschleudert, doch ohne Erfolg. Schüsse wurden abgegeben. Der riesige Schatten schwang sich auf.
Iorgas Männer, die sich nach ihrem würdelosen Sturz neu formiert hatten, fielen nun über die Menge her und hauten wild mit ihren Säbeln um sich. Sie schlugen den Pöbel ohne Mühe zurück. Beauregard und Geneviève wurden mit dem Strom durch das Haupttor gerissen. Trotz des großen Krawalls war der Schaden gering. Die chinesische Nonne verschwand als Erste in der Nacht, dann zerstreuten sich auch ihre Anhänger.
Als sie das Tor passiert hatten, gestattete Beauregard sich einen Blick zurück. Der Schatten hatte sich auf dem Dach des Buckingham-Palastes niedergelassen. Eine dämonische Gestalt blickte vom First herab und raffte ihre Schwingen um sich wie einen Mantel. Beauregard fragte sich, wie lange der Prinz sich wohl noch auf seiner Stange halten mochte.
Große Feuer loderten in den Nachthimmel empor. Die Nachricht würde sich rasch verbreiten, sie war der Funke, der das Pulverfass zur Explosion zu bringen vermochte. In Chelsea, Whitechapel und Kingstead; in Exeter, Purfleet und Whitby; in Paris, Moskau und New York: In ihrer Folge würde sich die Welt verändern. Aus dem Park drang lautes Geschrei herüber. Düstere Gestalten tanzten und rangen miteinander …
 
… sie verspürte einen Anflug von Bedauern: Ihre Stellung war verloren. Da sie nicht nach Toynbee Hall zurückkehren konnte, würden andere ihre Arbeit fortführen müssen. Ob mit oder ohne Charles, ob hier oder im Ausland, ob vor aller Augen oder im Verborgenen, sie wollte noch einmal von vorn anfangen, sich ein neues Leben aufbauen. Nichts mit sich nehmen außer dem Kruzifix ihres Vaters. Und einem guten, wenn auch leicht beschmutzten Kleid.
Sie war überzeugt, dass die Kreatur auf dem Palastdach sie und Charles trotz ihrer Nachtaugen und ihres erhabenen Ausgucks nicht sehen konnte. Je weiter sie sich von ihr entfernten, desto kleiner wurde sie. Sowie sie den aufgespießten Kopf Abraham Van Helsings hinter sich gelassen hatten, blickte Geneviève zurück und sah nichts als Finsternis.
Die Vampire
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