V
SPQR
Aus der Londoner Times vom 15. August
1959:
Rom. In Verbindung mit dem Mord an Prinz
Dracula ist es zu einer Festnahme gekommen. Wie der für die
Ermittlungen zuständige Inspektor Silvestri mitteilte, wird ein
amerikanischer Staatsbürger des Mordes und des versuchten
Diebstahls beschuldigt. Auch Interpol hatte nach dem Verdächtigen
bereits in Zusammenhang mit dem spurlosen Verschwinden des
englischen Vampirs Richard Fountain gesucht.
Die sterblichen Überreste Prinz Draculas werden
nun in die Obhut seiner Testamentsvollstreckerin, Miss Penelope
Churchward, übergeben. Einzelheiten zu seiner Bestattung sind noch
nicht bekannt.
Hollywood. Der in Europa tätige Filmproduzent
Jeremy Prokosch hat angekündigt, eine dreiteilige Biografie des
Grafen Dracula ins Kino bringen zu wollen. Für das Drehbuch wurden
Gore Vidal, Clare Quilty und Christoper Fry gewonnen, gedreht
werden soll in Spanien und Jugoslawien. Prokosch beabsichtigt,
jeden der drei wichtigen Lebensabschnitte durch einen anderen
Regisseur umsetzen zu lassen. Riccardo Fredo soll Vlads
warmblütiges Leben und seine Wiedergeburt als Vampir behandeln,
Terence Fisher Draculas Aufstieg und Fall im viktorianischen
England und Michael Powell sein Exil und seinen Tod. Für die
Hauptrolle sind unter anderem Jack
Palance, Francis Lederer, Alexander d’Arcy und
David Niven im Gespräch.
London. In einem Interview mit der
Fernsehsendung Panorama (BBC) hat Premierminister Lord
Ruthven es als »völlig geschmacklos« bezeichnet, dass zurzeit eine
Flut von Dracula-Devotionalien auf den Mark kommt. Er führte aus,
dass ihm weder das Konterfei des Verstorbenen noch dessen Wappen
geeignet zur Verzierung von »Serviertabletts, Figurkrügen,
Malbüchern, Krawattennadeln, Schlüsselanhängern oder Strandtüchern«
erschienen. Die britische Post wird nichtsdestotrotz rechtzeitig
zum Weihnachtsgeschäft einen Satz Dracula-Gedenkmarken
anbieten.
Borgo Pass, Transsylvanien. Baron Meinster, ein
Ältester, der von sich behauptet, dass mit seiner Verwandlung durch
Dracula persönlich die Brut des Grafen ihren Anfang genommen habe,
rief sich während einer überwiegend von Vampiren besuchten
Kundgebung zum neuen Vampirkönig aus und fügte hinzu,
Transsylvanien solle ein unabhängiges Heimatland für die Untoten
werden. Die Versammlung wurde von Mitgliedern der rumänischen
Securitate aufgelöst. Staatspräsident Nicolae Ceauşescu hat
Meinster als »Ungeziefer« und »Verbrecher« gebrandmarkt und seine
Verhaftung angeordnet; er soll jedoch weiterhin auf freiem Fuße
sein. Meinster ist lediglich der Letzte einer ganzen Reihe von
Ältesten, die sich den Namen »Alucard« gegeben haben und behaupten,
Draculas Thronfolger zu sein.
34
Das Gericht der Tränen
Genau das brauchte Geneviève jetzt. Die
Konfrontation mit einem Monstrum und nicht mit sich selbst.
Bond erzählte ihr, dass Gregor Brastow tot war,
dass der scharlachrote Henker ihn gehäutet und ausgeweidet hatte.
Brastow hatte von der Mutter der Tränen gewusst, also sicher auch
dass es sich bei dem Henker um ihre Marionette handelte. Das ließ
für Geneviève nur den Schluss zu, dass der Kater den britischen
Spion und sie gegen den Feind, den er am meisten fürchtete, hatte
in Stellung bringen wollen. Nur waren sie von anderen
Angelegenheiten - Charles und Dracula - abgelenkt gewesen. Ein
heimlicher Krieg hatte stattgefunden und sich ihrer Kenntnis
entzogen. Am Ende musste Geneviève mit hineingezogen werden. Es war
unausweichlich.
Noch ein Ältester tot, nach Hunderten von Jahren.
Die meisten waren abscheulich, aber sie war es gewohnt, die Welt
mit ihnen zu teilen. Vor Dracula hatten die Ältesten Jahrhunderte
auf Reisen verbracht und waren einander, wenn sich ihre Wege einmal
kreuzten, sehr umsichtig und höflich begegnet. Gelegentlich hatten
sie sich sogar als Gemeinde zusammengefunden.
Seit Carmilla Karnstein hatte Geneviève nicht einen
Vampirältesten mehr zu ihren Freunden gezählt. Sie waren zum
Großteil blutrünstige Dreckschweine. Selbst Carmilla war
übergeschnappt.
Vor dem Gebäude blieben sie bei Bonds Austin Martin
stehen. Der Wagen wies einige neue Einschusslöcher auf.
»Es ist von hier aus zu sehen«, sagte Bond. »Wir
können zu Fuß gehen.«
Wenn man es recht bedachte, kam für das letzte
Gefecht nur
ein Ort in Rom infrage. Charles war aufgefallen, dass der Henker
sich für seine Bluttaten immer bekannte öffentliche Plätze
ausgewählt hatte.
Bond führte sie die Straße hinunter.
Das Kolosseum erhob sich vor der römischen Nacht,
zerschnitten wie eine Hochzeitstorte, in die jemand mit der Sense
gehackt hatte.
Das Amphitheatrum Flavium - Charles hatte in seiner
Penibilität den eigentlichen Namen vorgezogen - war 72 nach
Christus von Vespasian an der Stelle eines zum Gedenken Neros
künstlich angelegten Sees errichtet worden, im Rahmen eines
Stadterneuerungsvorhabens, das den mörderischen Kaiser aus dem
Gedächtnis tilgen sollte. Vespasian hatte es nicht mehr miterlebt,
dass der Sand der Arena vom Blut der ersten Gladiatorenkämpfe rot
gefärbt wurde. Diese fanden erst ein Ende, als Honorius 405 den
Kampf um Leben und Tod verbot. Wilde Tiere, schon immer ein
beliebtes Nebenprogramm, waren hier noch weitere anderthalb
Jahrhunderte aufeinandergehetzt worden. Geneviève wusste, dass
verschiedene von Gewissensbissen geplagte Kaiser versucht hatten,
nach griechischem Vorbild sportliche Wettkämpfe zu installieren,
bei denen niemand zu Tode kam, aber davon hatte das Publikum nichts
wissen wollen. Nur Blut allein vermochte das römische Volk
zufriedenzustellen. Sie war nicht gerade die Richtige, in diesem
Punkt eine allzu kritische Haltung an den Tag zu legen.
Jahrhundertelang hatten die Römer aus dem Kolosseum
Steine für neue Gebäude gestohlen. Blutbesudelte Quader waren im
Palazzo Venezia verbaut worden, in der Cancelleria, im Petersdom
und in zahlreichen bescheideneren Gebäuden. Das Plündern hatte erst
Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein Ende gefunden, als Papst
Benedikt XIV. das Kolosseum unter Bezugnahme auf das fromme
Märchen, dort hätten viele Märtyrertode stattgefunden,
zu einer heiligen Stätte erklärte. Es stimmte gar nicht, dass man
dort Christen den Löwen zum Fraß vorgeworfen hatte. Das wäre nicht
unterhaltsam genug gewesen. Stattdessen waren die Anhänger des
Menschenfischers gepfählt und - als primitive Form der
Straßenbeleuchtung - angezündet worden, oder man hatte sie schlicht
als Störenfriede gekreuzigt. Die Arena war denjenigen vorbehalten
geblieben, die sich auch tatsächlich einen spannenden Kampf bis zum
Tod liefern konnten. Schon über tausend Jahre vor Dracula, Gilles
de Rais oder Elisabeth Báthory war der Appetit des Publikums auf
Blut enorm.
Im neunzehnten Jahrhundert, als Geneviève sich kurz
in Rom aufgehalten hatte, war das Kolosseum ein Urwald gewesen,
hatten alle möglichen Pflanzen die Steine überwuchert. Dass sich
das nicht zu unterdrückende Leben den toten Marmor zurückholte, war
für sie damals ein Zeichen der Hoffnung gewesen; nun aber war aller
Wildwuchs beseitigt und das ausgeblichene Skelett des Bauwerks
wieder freigelegt. Die beiden Bogenreihen, die das ursprüngliche
Außenrund bildeten, standen wieder, ebenso der halbe, schlampig
ausgeführte Anbau obenauf, der eine Ebene aus Holz ersetzte, die
217 - durchaus glaubhaft - von einem göttlichen Blitzstrahl
getroffen worden war. Die Ränge waren noch immer vorhanden und
warteten auf die Rückkehr der Zuschauermengen, aber der Boden der
Arena - wo die Schlächtereien stattgefunden hatten - fehlte und gab
den Blick auf das darunterliegende Labyrinth aus Tunneln und
Kammern frei.
»Ich bin ihm hierhergefolgt«, sagte Bond. »Er hat
mich an Ihrer Wohnung vorbeigeführt. Ich nahm das als
Zeichen.«
»Das Kolosseum ist eine Touristenattraktion«, sagte
sie. »Es wird um diese Zeit geschlossen sein.«
»Ich bezweifle, dass das unseren Gegner sonderlich
beeindruckt.«
»Da haben Sie wohl Recht.«
Beda Venerabilis hatte geschrieben: »Solange das
Kolosseum steht, solange besteht Rom, wenn das Kolosseum fällt,
fällt Rom, wenn Rom fällt, fällt auch die Welt.« Sie wusste nicht
recht, ob das eine beruhigende oder bedrohliche Prophezeiung war.
Eine Stadt, eine Welt sogar, die durch dieses grausige Gebäude
symbolisiert wurde, hatte es wahrscheinlich nicht verdient zu
überdauern.
Sie überquerten die Piazza di Colosseo. Geneviève
fragte sich, ob auch die Gladiatoren hier entlanggekommen waren.
Nein, sie hatten sicher unterhalb der Arena in Ketten gelegen und
erst herausgedurft, wenn das Publikum auf seinen Plätzen gewesen
war.
Ob Vampire in der Arena gestorben waren? Es hatte
im alten Rom nosferatu gegeben. Sie wären eine Sensation
gewesen. Geneviève stellte sich Caligula vor - der tot gewesen war,
bevor man diesen Ort geplant hatte -, wie er einen Werwolf gegen
einen vampirischen Gestaltwandler antreten ließ, die beide ihre
Krallen mit silbernen Messern verstärkt hatten, und dem Verlierer
den abwärtsgerichteten Daumen zeigte.
Vielleicht änderte sich die Welt ja doch.
Langsam.
Andererseits hatte Caligula noch nicht von der
Bombe geträumt.
Sie gingen durch den Haupteingang. Er war zu groß,
um abgesperrt werden zu können.
Sie roch an den Steinen. Es waren immer noch Spuren
von altem Blut daran.
»Sehen Sie«, sagte Bond.
Sie irrte sich. Das Blut war frisch. Es gehörte
einem Vampir. Es war absurd zu glauben, das Blut der Gladiatoren
steckte noch immer im Erdboden.
Die Spur führte durch den großen Bogen in die
Arena.
»Wenn wir den scharlachroten Henker finden,
Commander Bond, was dann?«
Er antwortete nicht. Er war nicht mehr da.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Bond war nicht alt
genug, um sich davonschleichen zu können, während sie kurz wegsah.
Sie hätte den Luftzug seines Verschwindens spüren müssen, die
winzigen Geräusche hören müssen, die er dabei unweigerlich
machte.
War er es gewesen? Oder jemand mit seinem
Gesicht?
Auf diese Weise konnte man sie nicht in die Irre
führen. Der Mann, der sie hierhergebracht hatte, war auch der Mann,
dem sie früher begegnet war. Mit einem Unterschied. Er schien ja
beständig zu schauspielern, eine Rolle darzustellen. Nur hatte sich
die Qualität seiner Darstellung geändert, sie war plumper geworden,
weniger überzeugend. Er hatte zu viel mit den Augenbrauen
ausgedrückt. Und von seinem schottischen Akzent war auch nicht mehr
viel übrig gewesen.
Geneviève befand sich in einem breiten Durchgang,
der von Säulen gesäumt war. Der Boden bestand aus rauem Stein. Blut
führte durch das Labyrinth. Eine zu offensichtliche Spur.
Ihre Nackenhaare sträubten sich, und das feine Haar
auf den Armen prickelte. Sie fuhr herum und sah einen roten Umriss
hinter eine Säule huschen. Ihre Fänge sprangen hervor.
Sie schlich keiner Beute mehr nach. Sie wurde
selbst verfolgt.
Es hatte ja so kommen müssen.
Sie war wahrscheinlich die letzte Älteste in Rom.
Nun sollte sie das letzte Opfer des scharlachroten Henkers
werden.
Aber nicht kampflos.
Kate war immer noch erschüttert. Marcello
endgültig zu verlassen, war, als hätte sie sich einen Dorn aus dem
Herzen gezogen und weggeworfen. Sie konnte noch nicht sagen,
wogegen sie ihn eingetauscht hatte, aber in ihr brannte die sichere
Gewissheit, dass sie Seelenheil über Heuchelei gestellt hatte,
Liebe über Ego. Dennoch war es weder einfach noch leicht. Was, wenn
sie sich irrte?
Wenn sie sich Möglichkeiten verschrieb, die mit Charles und
Dracula gestorben waren, anstatt sich der noch ungeschaffenen Welt
hinzugeben, die sie mit dem warmblütigen Mann hätte teilen
können?
Sie wusste nicht, wie man vom Haus mit den
weinenden Fenstern zum Parco de Traiano kam. Aber dort gehörte sie
hin, dorthin, wo Charles gelebt hatte, wo es Antworten gab und ein
Ende.
Auf der Straße war Vampirblut. Gegenüber dem Haus
stand ein Sportwagen geparkt, dessen Heck mit Einschusslöchern
übersät war. Es waren nur wenig Leute unterwegs, was seltsam war.
Sonst wimmelte Rom von Menschen. Jedes Mal, wenn keine Statisten
mehr zu sehen waren, geschah etwas Schlimmes.
Eine Frau kam aus Charles’ Wohnhaus. Geneviève?
Nein, die Frau war dunkelhaarig. Penelope. Sie trug Schwarz. Einen
mittellangen Mantel von Gherardi mit passenden Strumpfhosen und
Pumps. Ihre Haare waren nach oben unter einen adretten schwarzen
Hut gesteckt.
»Katie«, erwiderte Penelope ihren Gruß. »Ich habe
Neuigkeiten.«
»Ich auch, Penny.«
Penelope schnupperte anmutig und sah zu
Boden.
»Das ist Blut«, stellte sie fest.
Panik brandete über Kate hinweg.
»Penny«, sagte sie, »wir sind einmal Freundinnen
gewesen. Du musst mir helfen. Der scharlachrote Henker ist hinter
Geneviève her.«
Penelope war verblüfft. »Wovon sprichst du?«
»Von dem Vampirmörder.«
»Du weißt es noch nicht«, sagte Penny sanft, als
wäre alles in Ordnung, alles schick und schön und abgehakt.
»Draculas Mörder ist verhaftet. Du darfst die Stadt wieder
verlassen.«
Kate musste zu ihr durchdringen.
»Es gibt noch einen anderen Mörder. Vielleicht eine
Armee von Mördern. Unter dem Befehl einer Frau, die älter als jeder
Älteste ist. Einer wirklich monströsen, wirklich grausigen Frau.
Glaub mir, ich bin ihr begegnet. Sie würde dir nicht
gefallen.«
Penelope betrachtete die Blutspur. Ihre Augen
röteten sich leicht. »Ist das nicht ein bisschen … sehr
praktisch?«
Kate verstand nicht.
»Ebenso gut hätte man Pfeile auf das Pflaster
pinseln können. Wir werden bei der Nase geführt, zum
Kolosseum.«
»Geneviève ist in Gefahr.«
»Die Französin?«
Kate fiel wieder ein, dass Penelope Geneviève nicht
hatte leiden können, nur hatte sie gedacht, dass die Feindschaft
durch die gemeinsame Trauer über Charles’ Tod weggespült worden
sei. Während Kate sich mit Marcello vergnügt hatte, waren Geneviève
und Penelope doch miteinander ins Reine gekommen, oder nicht?
Penelope traf eine Entscheidung. »Na gut, Katie,
ich komme mit. Aber etwas stimmt an dieser Sache ganz und gar
nicht. Merkst du das? Jemand hat auf diesen Aston Martin
geschossen. Riechst du es? Nicht das Blut, das Cordit.«
Charles hätte einen Blick auf die Straße geworfen
und anhand der verschmierten Fußabdrücke gewusst, ob Geneviève
allein gewesen war, ob sie verfolgt worden war oder jemanden
verfolgt hatte und mit welcher Geschwindigkeit. Solche Kunststücke
hatte er von den Besten gelernt.
Penelope hatte Recht. Die Spur war zu auffällig.
Aber ihnen blieb keine andere Wahl.
»Komm schon, du Transuse«, sagte Penelope und
stiefelte los.
Die uralten Tribünen des Kolosseums waren nicht
leer. Obwohl Geneviève sich darauf konzentrierte, beständig
Steinsäulen zwischen sich und dem Muskelmann in Rot zu haben, war
sie sich
der Schattengestalten bewusst, die durch die Reihen hereinströmten
und ihre Plätze aufsuchten, um sich das Spektakel anzusehen. Sie
fragte sich, wie viel die Karten wohl kosteten, dann fiel ihr ein,
dass solche Veranstaltungen grundsätzlich zu Lasten des Kaisers
stattgefunden hatten, als Geschenk an das römische Volk. Brot und
Spiele. Damit es stillhielt.
Bond war hier unten im Labyrinth, aber auf ihn
konnte sie nicht zählen. Er war zum Feind übergewechselt. Nicht auf
Brastows Seite, sondern zu jemand Altem und Mächtigem, zur Mutter
der Tränen.
Sie zog die Schuhe aus und ging auf Zehenspitzen
weiter, huschte flink zwischen den Säulen hindurch, als wären es
Bäume in einem Wald. Ihre Fangzähne und Krallen waren ausgefahren,
obwohl sie fürchtete, dass sie gegen silberne Schwerter und Speere
aus Hartholz auch nichts ausrichten konnten.
Es war verstörend, dass sie den scharlachroten
Henker nur zweimal ganz kurz hatte sehen können, als rotes
Aufblitzen. Er war warmblütig. Sie hätte ihn riechen können müssen,
jederzeit wissen müssen, wo er war und wie nahe. Sie war die
Jägerin der Nacht, die Vampirälteste, diejenige, die Jahrhunderte
überlebt hatte. Sie hätte die Favoritin sein müssen.
Und doch hatte der Henker Älteste getötet.
Anton Voytek und Anibas Vajda waren gefährlicher
gewesen als sie, und es hatte ihnen nichts genutzt. Manche der
Ältesten, die der Henker erschlagen hatte, waren Gestaltwandler
gewesen, die zu monströsen Fledermäusen oder lebendigem weißem
Nebel werden konnten. Gegen solche Fähigkeiten nahmen sich ihre
Krällchen und Zähnchen reichlich schwach aus.
Die Tribünen waren dünn besetzt. Von Menschen oder
nur von Schatten? Sie roch warmes Blut dort draußen, aber auch
andere Präsenzen. Alte Wesen.
Es gab einen Schlag. Zentimeter neben ihrem Gesicht
schlug
eine Silberkugel in den Stein. Splitter flogen ihr entgegen. Sie
durfte Hamish Bond nicht vergessen. Er war auch mit im Spiel.
Ein riesiger Schalter wurde umgelegt, und Licht
gleißte herab.
Geneviève sah nach oben, blinzelte Tränen der
Reizung weg. Entlang der dritten Reihe hatte man Bogenlampen
angebracht, wie sie sie im Studio in Cinecittà gesehen hatte. Eine
Reihe nach der anderen gingen sie an und leuchteten das Stadion
taghell aus, verwandelten die Arena in ein Gewirr aus schroffen
schwarzen Schatten und blendenden weißen Flächen.
Sie glitt in einen Schatten. Ein Punktstrahler fing
sie ein.
Vor ihren Augen trieben Flecken, so geblendet war
sie. Tageslicht war sie gewöhnt, bildete sich sogar ein, immun
dagegen zu sein, aber das hier tat weh. Die Lichtbalken waren
dunstig von Staub und Rauch. Insekten taumelten hindurch.
Die Arena war erleuchtet, aber die Ränge lagen im
Dunklen. Dort oben waren Augen, nur Gesichter sah Geneviève nicht.
Fauchend wirbelte sie herum, sah zur kaiserlichen Loge hinauf.
Zwischen Flammensäulen stand die Herrin dieser Spiele, ein blondes
Mädchen, über dessen eines Auge die Haare fielen. Es handelte sich
um die Erscheinung, die außer Kate niemand gesehen hatte - doch,
Bond.
Geneviève ballte die Faust und reckte sie zum
Gruß.
Was hatten die Gladiatoren ihrem Kaiser gegenüber
empfunden?
Sie stand im Licht und wartete auf ihre Mörder. Es
war sinnlos davonzulaufen.
Der Lichtkreis wurde größer um sie herum. An seiner
Kante stand ein rotes Stiefelpaar. Während der Kreis wuchs, holte
er rote Strumpfhosen aus der Dunkelheit, kurze Hosen und Gürtel,
einen bis auf die Bemalung nackten Oberkörper, die Kapuze und die
Dominomaske, die gebleckten Zähne und die irren Augen.
Der scharlachrote Henker kam mit großen,
gemächlichen Schritten auf sie zu. Seine Hände öffneten und
schlossen sich. Ein durchdringender Geruch stach ihr in die Nase,
und sie begriff, dass das rote Zeug auf seiner Brust und seinem
Gesicht keine Farbe war. Das ranzige Blut drehte ihr fast den Magen
um.
Sie tanzte dicht an ihn heran und drehte sich, in
der Taille abgeknickt, um die eigene Achse, machte Spagate in der
Luft, die eine Fußspitze auf dem Boden, die andere hoch über ihrem
Kopf. Sie zielte mit dem Fuß auf den Adamsapfel des Henkers. Ihre
aneinandergepressten Krallenzehen waren ein Dolch aus Haut und
Knochen.
Der Tritt hätte ihm den Kopf abreißen sollen.
Stattdessen ruckte sein Kopf zur Seite. Ihre
Zehenklauen gruben eine Rinne in seine Schulter. Seine Hände
schlossen sich um ihren Knöchel, und sie wurde aus dem
Gleichgewicht und hoch in die Luft gerissen. Der scharlachrote
Henker schwang sie im Kreis wie eine Katze.
Ihr offenes Haar streifte eine Steinsäule. Bei der
nächsten Runde würde ihr Kopf gegen etwas schlagen, das hier seit
zwanzig Jahrhunderten stand. Es würde sie nicht umbringen, aber es
würde ihr den Schädel in ein Dutzend Stücke brechen. Sie würde die
nächsten hundert Jahre mit einem Kopf leben müssen, der aussah wie
ein schiefer Halloweenkürbis. Vorausgesetzt, sie überlebte die
nächsten hundert Sekunden.
Die Menge brüllte und pfiff.
Sie riss die Arme hoch, streckte sie auf Höhe des
Gesichts, Handkanten nach vorn, um die Wucht des Aufpralls
abzufangen.
Dann war die Säule da.
Sie spürte den Schlag in den Handgelenken und
Ellbogen. Ihre Arme knickten ein, und ihr Gesicht knallte gegen den
Stein, immer noch so fest, dass ihre Nase zu bluten begann.
Der Henker ließ los.
Sie klammerte sich an die Säule und rutschte
hinunter. Das Blut, das sie schmeckte, war ihr eigenes.
Ihr roter Zorn entflammte erneut. Sie kämpfte ihn
nieder. Dies war kein Gegner, den man dadurch schlagen konnte, dass
man sich dem Tier hingab und ihn allein schon durch den Anblick
einer wütenden Vampirin so erschreckte, dass er weiche Knie
bekam.
Sie presste sich an die Säule.
Der scharlachrote Henker bückte sich und packte sie
bei den Haaren, riss sie in den Stand. Seine leuchtenden, leeren
Augen waren Signalfeuer vor ihrem Gesicht.
Drüben auf den Tribünen wurden tausend Daumen nach
unten gedreht. Das war keine gute Vorstellung gewesen.
Der Henker drückte einen Daumen gegen ihren Hals,
klemmte die Drosselvene ab. Gestohlenes Blut pulste dagegen, kam
aber nicht weiter. Ihr Herz schwoll an, ihr Gehirn wurde nicht mehr
versorgt. Er konnte ihr den Kopf vom Hals ploppen lassen wie den
Porzellanverschluss von einer Bierflasche. Schweinehund.
Sie krallte nach seinen Seiten, machte sich die
Nägel stumpf an blutverschmierter Haut und festen
Muskelpaketen.
Er lachte. Die Zuschauer stimmten mit ein.
Ihre Fangzähne wurden länger, so dass sie den Mund
öffnen musste, zerschnitten ihr die Unterlippe. Aber sie konnte den
Kopf nicht bewegen. Sie konnte nur die Nachtluft beißen.
Sie packte sein Handgelenk, das den Umfang eines
normalen Männerschenkels besaß, und grub die gekrümmten Daumenhaken
und alle acht Nagelklingen hinein. Sie zerrte und kratzte an den
Löchern, hoffte, eine Vene oder einen Nerv zu durchtrennen.
Der Henker spürte keinen Schmerz.
Er war nicht einmal ihr wahrer Mörder. Nur die
Marionette des
kleinen Mädchens oben auf dem Kaiserpodest. Grausiges, hohles
Gelächter drang aus seinem Grinsegesicht.
Rote Lichter explodierten in ihrem Kopf.
»Wer sind diese ganzen Leute?«, wollte
Penelope wissen.
»Zuschauer«, vermutete Kate. »Der Senat und die
Bürger von Rom?«
»Ach, die«, fauchte Penny.
Kate sah, dass die Menge auf den Tribünen gemischt
war. Zombies ganz hinten, die Gesichter halb von den Knochen
gelöst. Auf den guten Plätzen die Bourgeoisie, vereinzelt und
steif. Der Pöbel drängte sich dicht an die Arena, verrenkte sich
den Hals, um Blut zu riechen. Es mussten auch Leute hier sein, die
sie kannte, aber sie erspähte niemanden.
Nur das kleine Mädchen auf Neros Platz.
Kate sah, wer dort im Scheinwerferlicht kämpfte.
Genau das hatte sie befürchtet. Penny war von dem Spektakel
abgestoßen und fasziniert zugleich.
»Ist das so etwas wie die Wiederkehr der
Heiden?«
»Ich glaube, es ist mehr als das«, sagte Kate.
»Diese Kreatur ist die heimliche Herrscherin von Rom. Sie hat die
Pflichten der Kaiser auf sich genommen. Vielleicht waren es schon
immer ihre eigenen Pflichten, und sie hat sie den Kaisern nur ein
paar Jahrhunderte lang überlassen. Das hier sind ihre Spiele,
Geschenk und Machtdemonstration zugleich.«
Penelope begriff allmählich, aber Kate konnte nicht
darauf hoffen, ihr in der wenigen Zeit, die ihnen blieb, alles zu
erklären. Der Kampf, in den sie hineingeplatzt waren, war fast
vorbei. Der scharlachrote Henker hielt Geneviève hoch, als einen
Tribut an die Mater lachrymarum, und wartete auf das
kaiserliche Urteil.
Kate schob sich weiter, bahnte sich einen Weg den
Gang hinab,
zur eigentlichen Arena hinunter. Penelope folgte ihr, ermahnte die
verärgerten Zuschauer, die von Kate beiseitegestoßen worden waren,
mit einem Aufblitzen ihrer Fänge und einem vernichtenden englischen
Starrblick zur Ruhe.
»Verflixte Südländer, hm?«, schimpfte sie. »Mit
ihren barbarischen Stierkämpfen.«
Kate hatte nicht vor, Fuchs- und Wildschweinjagden
dagegenzuhalten.
Das Jubeln und Rufen verebbte. Selbst das hohle
Lachen des Henkers verklang. Das monströse Kind erwog sein
Urteil.
Kate flankte über ein Geländer und landete in der
Arena. Überall um sie herum waren geborstene Säulen. Penelope ließ
sich langsam hinuntersinken und klopfte sich Staub von ihrem guten
Mantel.
»Du«, befahl Penny. »Lass diese Frau
herunter.«
Der Kopf des scharlachroten Henkers fuhr herum wie
ein Mechanismus.
Er lachte, ein Ton, der Kate grässlich vertraut
war.
Sie spürte den Zug von Schnüren an ihrem Geist.
Wenn die Mutter der Tränen eine Marionette aus ihr gemacht hatte,
um Dracula zu vernichten, dann konnte sie auch jetzt ihren Verstand
übernehmen. Da war sie hierhergeeilt, um Geneviève zu helfen, und
nun wurde sie vielleicht gezwungen, Penelope festzuhalten, während
der scharlachrote Henker ihre Freundin erledigte …
Nein. Sie war keine Marionette.
Der britische Vampir, von dem sie wusste, dass er
ein Spion war, trat hinter einer Säule hervor und richtete eine
Waffe auf Kate und Penny.
»Commander Bond?«, sagte Penelope.
Er war hier die Marionette. Er war schon immer ein
kümmerlicher Charakter gewesen, der sich allzu leicht in ein
Klischee fügte. Das machte ihn angreifbar. Er war die Sorte Mann,
die immer
eine Mutter brauchte, an der man sich festhalten konnte und die
hinter einem aufräumte.
Zum ersten Mal fragte sich Kate, wer dieser Henker
in Wirklichkeit war. Ein Zirkusathlet? Ein Filmschauspieler?
Bond richtete seine Waffe abwechselnd auf Kate und
Penelope.
Penny bewegte sich unglaublich schnell, flinker,
als Kate sich je hätte träumen lassen, und entwaffnete den
Neugeborenen. Sie zerdrückte die Pistole in ihrer Hand, ließ sie in
klumpige Metallteile zerspringen.
Ohne seine Waffe war Bond ein Junge, dem man sein
Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. Ein lautloser Befehl des
kleinen Mädchens erreichte sein Gehirn, und er versuchte seine
Finger um Pennys Hals zu legen. Sie nahm ihn bei den Handgelenken
und warf ihn beiseite, schleuderte den um sich Schlagenden fünfzehn
Meter oder noch höher in die Luft. Er beschrieb einen uneleganten
Bogen und landete unsauber. Verletzt krabbelte er umher. Wäre er
sein eigener Herr gewesen, hätte er sich wieder in Ordnung
gebracht, aber als Marionette war es ihm nicht erlaubt, sich um
seine gebrochenen Knochen zu kümmern.
Ein Teil der Menge jubelte.
Penelope winkte ihnen fröhlich, wie ein Mitglied
der königlichen Familie, das in einem Land des Commonwealth aus dem
Flugzeug stieg.
Kate stellte sich dem Henker.
Geneviève hatte blutige Augen. Sie flehte Kate
lautlos an, sich nicht für sie zu opfern.
Die Mutter der Tränen konnte nicht besiegt werden.
Sie war so ewig wie die Stadt. Sie war der endgültige Tod, der sich
mit der Zeit alles holte, was lebte. Sie war die Herrin über eine
Million Marionetten. Sie war, Kate konnte es jetzt zugeben, ein
übernatürliches Wesen.
Der scharlachrote Henker streckte den Arm aus, so
dass Geneviève daran baumelte. Er drückte zu, und Geneviève ließ
sein Handgelenk los. Ihre blutigen Hände flatterten an ihren
Seiten. Er beschrieb eine vollständige Umdrehung, wie ein
Balletttänzer, langsam genug, dass die Zuschauer in allen Winkeln
des Kolosseums die besiegte Älteste sehen konnten. Er sah zu der
kindlichen Kaiserin nach oben.
Das kleine Mädchen streckte den Arm aus, den Daumen
zur Seite gereckt.
Die Menge rief nach dem Tod.
Die Hand zitterte. Der Daumen wanderte nach
unten.
Die Menge brüllte wie ein Sturm.
Kate sah, wie sich die Muskeln im Oberarm des
scharlachroten Henkers wölbten, als langsam, wie ein Zündfunken,
eine Botschaft seine Nerven entlangwanderte, der Befehl, Geneviève
den Kopf abzureißen.
Mater lachrymarum war unbesiegbar, überstieg
jedes menschliche Verständnis. Aber der scharlachrote Henker war
ein Mann in ihrem Bann.
Als ihre Marionette war Bond nicht in der Lage
gewesen, sich um seine Verletzungen zu kümmern, obwohl er seiner
Herrin ohne gebrochene Knochen nützlicher gewesen wäre.
Dort lag der Schwachpunkt.
Der Trick beim Kampf gegen eine Marionette war es,
die Fäden zu zerschneiden.
Penelope machte einen Satz und schlug ihre Zähne in
den Unterarm des Henkers, riss Muskelstränge heraus, kaute sie
auseinander. Er hörte nicht auf zu grinsen, und auch sein Griff um
Genevièves Kehle ließ nicht nach. Penny stieß ihm einen Daumen ins
Auge, pulte scharlachrotes Fleisch heraus.
Die Menge ächzte unisono auf vor Mitgefühl.
Aufgeschlitzte Bäuche und Enthauptungen vertrugen sie in rauen
Mengen, aber
zeigte man ihnen auch nur einen einzigen zerdrückten Augapfel,
schon kam ihnen das Essen hoch.
Kate sprang ihn geduckt an, rammte ihm eine
Schulter in den Bauch und schlang die Arme um seine Beine. Mit drei
Vampirfrauen, die an ihm hingen, verlor er das Gleichgewicht und
ging zu Boden wie ein taumelnder Titan. Die Erde bebte unter dem
Aufprall. Eine Säule in der Nähe fiel um.
Penelope zerrte immer noch an seinem Arm, seinem
Hals, seinem Gesicht. Der Henker wollte Genevièves Hals nicht
loslassen.
Kate kroch über den Gestürzten hinweg, schob
Penelope beiseite. Sie sah ihm tief in das verbliebene Auge, drang
in seinen roten Wahnsinn ein, versuchte zu dem Mann vorzudringen,
der er einmal gewesen war.
Es gab nur eine Möglichkeit.
Penelope bearbeitete jetzt seine Hand, fetzte ihm
das Fleisch von den Fingern, bekam Geneviève aber immer noch nicht
frei. Ihre Hände und ihre untere Gesichtshälfte waren
blutverschmiert.
Kate krabbelte hektisch herum, zerkratzte sich auf
dem Schutt die Knie, dann kniete sie, beugte sich hinunter und sah
auf in sein kopfstehendes Gesicht - kopfstehend, wie gespiegelt
in der Fontana di Trevi. Ihr Blick wanderte zu seinem Hals, zu
dem, was Penelope mit seinem Hals angerichtet hatte. Blut sickerte
aus der Wunde, langsamer, als es hätte sein dürfen. Er starb
wahrscheinlich gerade, aber seine Herrin wollte ihn nicht
loslassen, bevor nicht die letzte Älteste in Rom tot war.
Sie richtete sich auf, lockerte ihren Kragen und
stieß sich einen Daumennagel in den Hals, öffnete einen Riss, aus
dem Blut ins Gesicht des Henkers troff. Sie verrenkte sich die
Wirbelsäule und presste ihre Wunde auf den Mund des Henkers,
während sie gleichzeitig ihre Fänge in seinen zerrissenen Hals
senkte.
Dann saugte sie sein Blut in ihren Mund und ließ
ihr Blut in ihn hineinlaufen.
Es gab eine elektrisierende Verbindung.
Sie bekam einen Eindruck, wer er gewesen war. Ein
Schauspieler. Sie hatte es sich gedacht.
Sein Geist war immer noch vorhanden, und ihr Blut
erreichte ihn. Wenn er sich verwandelte, würde er ihr Fangsohn
sein, eine Verantwortung für Jahrhunderte. Sie nahm ihn seiner
Herrin weg. Sie spürte, wie sich seine Lippen um ihre Kehle
schlossen. Er nuckelte ihr Blut.
Die Fäden waren durchtrennt. Neue Fäden bildeten
sich, Bande des Blutes zwischen Kate und dem Mann.
»Er hat losgelassen, Kate«, sagte Penelope.
Sie hörte Geneviève husten.
Das süße, kräftige Blut war in ihrer Kehle. Sie
schluckte einiges und wollte mehr. Sie spürte, wie sie sich
verströmte, sich in ihre Eroberung ergoss.
Sie war der Liebe wegen nach Rom gekommen. Und
hatte sie gefunden.
»Er wird sich verwandeln«, warnte Penny.
Das spielte keine Rolle. Mit einer Brut wie dem
scharlachroten Henker war sie der Mutter der Tränen gewachsen,
konnte sie sich selbst als Königin und Kaiserin der Nacht
aufstellen.
Sie dachte an Charles.
Und unterbrach die Verbindung.
Sie stand auf und presste ihre Halswunde zu. Ihre
Bluse war steif von Blut. Ruiniert.
Penelope half Geneviève, hielt sie aufrecht,
während ihr zerquetschter Hals sich füllte und heilte.
»Heil der vampira!«, rief jemand. Andere
nahmen den Ruf auf. Blumen regneten herab.
Der scharlachrote Henker - wer immer er gewesen war
- lag in seinen Todeszuckungen. Kates Blut war in seinem Mund, doch
er schluckte nicht. Er würgte, und Vampirblut rann aus ihm. Die
Mutter der Tränen hatte ihr Spielzeug verloren, aber sie ließ es
nicht zu, dass jemand anders es bekam.
Ein Mensch starb. Er hatte einmal einen Namen
gehabt. Ein Leben.
Während er starb, gingen die Zuschauer. Kate sackte
erschöpft neben ihm zusammen, hielt seine erkaltende Hand.
Geneviève konnte noch nicht wieder sprechen, krächzte aber ihre
Dankbarkeit heraus. Penelope, elegant trotz ihres blutverschmierten
Gesichts, war immer noch von dem Drama verwirrt, in dem sie, von
Kate gedrängt, unversehens eine Rolle übernommen hatte.
Das Volk von Rom kehrte zu seinen Träumen zurück.
Kate sah Inspektor Silvestri und Diabolik, Cabiria und Marcello,
Pier Paolo Pasolini und Palmiro Togliatti, den Kellner aus dem
Hassler und Elsa Martinelli. Und Hunderte andere, Menschen
aus dem ganzen Spektrum des Lebens, des Todes. Alle, denen sie seit
ihrer Ankunft in der Stadt begegnet war, und diejenigen, die
unbemerkt geblieben waren. Eine Zirkusparade und ein Totentanz, ein
Aufruhr und eine Orgie, eine Vereinigung und eine Gemeinde.
Waren sie überhaupt körperlich hier, oder hatte das
Hexenmädchen ihre Trugbilder herbeigerufen, sie hier in ihre
privaten Spiele eingebunden? Dieses Spektakel war vom Alltagsleben
der Stadt abgetrennt, konnte aber nicht aus ihm herausgelöst
werden. Die Stadt war ein großes, pulsierendes Herz, und alle
Herzen brauchten Blut, ebenso wie jeder Vampir. Mater
lachrymarum gab den Nachtgesichtern der Bevölkerung die Spiele,
und die Erinnerung daran würde die Morgendämmerung nicht
überstehen. Aber das vergossene Blut erhielt Rom am Leben.
Wie oft war dies schon passiert?
Kate spürte Tod, als das Blut in ihrem Mund ranzig
wurde. Sie spuckte aus und wischte sich den Mund an der Hand ab.
Der scharlachrote Henker war tot.
Penelope schob Geneviève zu Kate weiter. Sie
umarmten, umklammerten sich.
Wieder weinten alle drei Vampirinnen.
»Danke«, krächzte Geneviève.
»Ist schon gut, Schatz«, sagte Kate. »Das mindeste,
was wir tun konnten.«
Sie lösten sich voneinander.
Die Mutter der Tränen war bei ihnen. Nun war sie
Viridiana, die engelhafte junge Frau mit dem glühenden Gesicht.
Ihre Reinheit war hart, mitleidslos. Vater Merrin zufolge sagte sie
stets die Wahrheit. In gewisser Weise wäre es Kate lieber gewesen,
mit Mamma Roma zu tun zu haben, die immer nur log.
»Vampirälteste«, sagte sie zu Geneviève. »Du musst
noch immer sterben.«
Diese Bohnenstange von einem Mädchen konnte Feuer
spucken.
Zum ersten Mal hatte Kate wirklich grässliche
Angst.
Viridianas Augen wuchsen, ihre Pupillen wurden
wirbelnde Spiralen. Geneviève durchfuhr ein Ruck, eine unsichtbare
Kraft packte sie. Kate spannte sich an, spürte den Impuls, sich
zwischen die beiden zu werfen. War das mutig oder dumm? Sie wusste
es nicht.
Plötzlich fragte Penelope: »Und wer sind Sie,
Fräulein, dass Sie das zu entscheiden haben?«
Penny wusste nicht, mit wem sie es zu tun hatte.
Das machte sie mutig und dumm. Sie ging auf Viridiana zu, bereit,
diese impertinente halbe Portion von einem Monstrum ordentlich
zusammenzustauchen, als handle es sich um irgendein nachlässiges
Ladenmädchen und nicht um die heimliche Herrscherin einer ewigen
Stadt. Penny würde vernichtet werden. Kate konnte sie nicht
in die Schussbahn laufen lassen, ohne dass sie wusste, was sie tat.
Sie dachte nicht weiter nach, sondern stellte sich vor Penelope und
Geneviève. Dabei wurde sie ganz ruhig.
»Wenn du an meine Freundinnen herankommen willst,
musst du erst mit mir fertig werden«, sagte sie.
Viridiana dachte darüber nach.
»Miss Reed«, sagte sie, »die Liebe Ihres Lebens hat
Ihnen diese Älteste vorgezogen, und doch sind Sie bereit, für sie
zu sterben. Miss Churchward, Sie mögen diese Älteste nicht einmal,
und doch sind Sie bereit, für sie zu töten.«
Die Heilige war wirklich verblüfft, aber immer noch
schlau. Ihr Schuss traf Kate mitten ins Herz.
»Wir haben viel zusammen durchgemacht«, sagte Kate.
Es klang lasch, wenn man es so ausdrückte.
Viridiana trat in die Dunkelheit zurück und kam als
Santona wieder zum Vorschein. Ihre ’ndrangheta-Diener
taumelten aus den Schatten der Säulen hervor.
»Solche Gefühle vergehen, Katharine Reed«, sagte
die Wahrsagerin voraus. »Vampirälteste können nicht fühlen. Sie
sind herzlos, wie diese wandelnden Leichen hirnlos sind. Ihre
Seelen sind entflogen. Wie auch die von euch jungen Damen. Ihr
fühlt nur aus Gewohnheit noch. Das geht vorbei.«
Die ’ndrangheta hoben Speere mit silbernen
Spitzen.
Die Mutter der Tränen hatte für den Fall, dass ihre
Obermarionette versagte, offensichtlich noch eine Jagdtruppe in
Reserve.
Geneviève legte ihre Hände auf Kates und Penelopes
Schultern. Sie schob sie sanft beiseite wie Türflügel und trat
vor.
»Ich werde bleiben«, sagte sie krächzend. »Aber
meine Freundinnen werden gehen. Ungehindert.«
Santonas verhutzeltes Gesicht rang mit einem
Rätsel.
Wenn Geneviève bereit war, für ihre Freundinnen zu
sterben, dann konnte sie lieben und hassen und fühlen. Und Mater
lachrymarum war über Vampirälteste im Irrtum.
Santona dachte über Geneviève nach.
Kate begriff, dass sie gerettet waren. Nicht nur
für heute Nacht,
sondern für alle Zeit. Wenn Geneviève nicht nur so tat als ob,
dann war es möglich, eine Älteste zu werden und trotzdem eine
richtige, echte Frau zu bleiben. Kate brauchte sich nicht diesem
langsamen Rückzug von der Welt zu ergeben, den sie für ihre Art als
unausweichlich erachtet hatte.
Der Morgen brach an. Rosa Licht wuchs am
Himmel.
Geneviève war zwar mitgenommen, aber nicht
gebrochen. Ihre Haare glänzten im Morgenlicht. Ihr Gesicht formte
sich wieder zur Vollkommenheit. Ihre Fänge glitten zurück. Ihre
Hände lagen auf Kates und Pennys Schultern wie die einer richtigen
Mutter, deren fester Griff einem sagte, dass man sicher war, dass
einem nichts geschehen würde.
Jetzt war Mamma Roma bei ihnen, müde und erschöpft,
nachdem sie die ganze Nacht über die lüsternen Männer der Stadt
bedient hatte. Sie war voller Ekel über das, was sie gerade lernen
musste.
»Du simulierst, Älteste«, sagte sie. »Du täuschst
Gefühle vor, die du gar nicht hast. Du kannst nicht lieben.«
Es war Verachtung in dem Vorwurf der Hure, aber sie
ließ Kates Herz übergehen vor Freude. »Du lügst«, sagte sie
triumphierend. »Weil du nämlich immer lügst.«
Zuletzt war nur das kleine Mädchen da, namenlos,
still, grausam, verloren. Zum ersten Mal in Jahrtausenden war die
Mutter der Tränen gezwungen gewesen, ihre Meinung zu ändern. Sie
war nicht glücklich darüber, hinderte die drei aber nicht daran,
das Kolosseum zu verlassen. Das Ganze war nicht endgültig. Das
kleine Mädchen war halbblind, wie ein Einäugiger, und sah nie beide
Seiten eines Streitpunkts zugleich. In einer anderen Nacht würde
Mater lachrymarum vielleicht zu einem anderen Entschluss
kommen und sie alle mit Silbermessern niedermetzeln lassen.
Kate und Penelope nahmen Geneviève in die Mitte und
stützten sie. Sie ließen die Arena hinter sich.
35
Feierlich aufgebahrt
Glocken läuteten, Krähen kreisten in der
Nacht. Der Trauerzug hielt sich dicht an den Klippen von Fregene,
tastete sich einen schmalen Pfad hinab, der vom Palazzo Otranto zum
Strand hinunterführte. Der Sarg kam zuerst, getragen von dem treuen
Klove und einer Gestalt mit Zylinderhut und langen Fingernägeln: Zé
do Caixão, Bestattungsunternehmer für die Reichen und
Berüchtigten.
Geneviève schloss sich der Prozession an. Kate und
Penelope waren ein Stück weiter vorn. Anschließend würde sie
Italien verlassen, beschloss sie. Die Warnung, die sie im Kolosseum
erhalten hatte, ernst nehmen und nie wieder nach Rom zurückkehren.
Sie begriff immer noch nicht ganz, welche Persönlichkeit sie fast
getötet und dann doch verschont hatte. Ihr Hals war noch nicht ganz
verheilt, und sie klang so kehlig wie ein Frosch.
Diener beleuchteten den Weg mit Fackeln.
Wäre der scharlachrote Henker nicht gewesen, hätte
die gesamte Vampirwelt teilgenommen. Soweit die Öffentlichkeit
wusste, war er immer noch aktiv und entschlossen, alle Ältesten zu
töten, die seine Stadt betraten. Man hatte einen Schauspieler
namens Travis Anderson, der vor einigen Jahren auf geheimnisvolle
Weise verschwunden war, tot im Kolosseum aufgefunden, aber keine
offizielle Verbindung zu dem Henker gezogen.
Am Strand wartete eine Bahre aus Treibholz. Der
Sarg wurde daraufgestellt, und Klove nahm den Deckel ab. Geneviève
betrachtete den Leichnam. Es war wirklich Dracula. Sein Kopf lag
oberhalb seines Körpers auf einem Kissen. Er widerstand noch immer
dem Zerfall.
Prinzessin Asa beklagte ihren Verlust. Penelope
tröstete die Älteste.
Sie würden bis zum Morgengrauen warten und die Bahre dann
anzünden. Eine Feuerbestattung hatte den Vorteil zu beweisen, dass
Dracula wirklich und endgültig tot war.
Die Totenwache sollte nicht länger als zwei Stunden
dauern.
Geneviève besah sich die Gesichter der wenigen
Trauergäste. Bei den meisten handelte es sich um Mitglieder des
demnächst aufgelösten Haushalts. Kates italienischer Reporter war
auch darunter; sie wechselte ostentativ kein Wort mit ihm.
»Es muss Commander Bonds Hand gewesen sein«, sagte
Geneviève. »Gelenkt von der Mutter der Tränen. Er hat Dracula
getötet.«
Kate nickte. »Und wenn schon. Hauptsache, ich war
es nicht.«
Bond hatte die Nacht der Spiele überlebt, aber
Geneviève bezweifelte, dass er je wieder der Alte sein würde. Er
war auf dem Weg zurück zum Diogenes-Club.
Die Prinzessin kniete am Fuß der Bahre und heulte
die sterbende Nacht an. Sie war völlig außer sich.
»Prinzessin Asa ist eine Älteste«, sagte
Kate.
Geneviève verstand nicht, worauf sie
hinauswollte.
»Die Mutter der Tränen hat gesagt, es wäre nur noch
eine Älteste in Rom«, erklärte Kate. »Du, Gené. Warum hat die
Prinzessin nicht gezählt?«
Geneviève sah aufs Meer hinaus. »Fregene liegt
außerhalb der eigentlichen Stadt. Vielleicht nicht mehr im Reich
der Tränen?«
»Warum hätte sie dann Dracula töten sollen? Er hat
seinen Palazzo nie verlassen, war kein einziges Mal in ihrer
Stadt.«
Geneviève wusste es nicht.
»Sie ist aber hier gewesen. Ich habe sie
gesehen.«
Kate durchdachte irgendetwas. Sie war wie Charles,
sprang rasch von der einen Sache zur anderen, sammelte
Beweismaterial, füllte Lücken mit Schlussfolgerungen.
Plötzlich stieg sie auf die Bahre, was Asa erneut
aufheulen ließ,
und zog Draculas rechte Hand aus dem Sarg. Sie zeigte Geneviève
die dicht behaarte Handfläche. Sie wies eine vernarbte Brandwunde
auf.
»Weißt du noch, das silberne Skalpell, an dem
verbrannte Vampirhaut klebte?«, sagte Kate. »Der Beweis, dass der
tödliche Stoß von einem Vampir mit bloßen Händen ausgeführt worden
ist? In Wirklichkeit war es so, dass Dracula erstochen wurde und
dann versucht hat, das Messer wieder herauszuziehen. Er schaffte es
nicht und ließ los, und die Hand fiel zur Seite. Niemand hat sich
seine behaarten Handflächen genau angesehen.«
»Kate, was machst du eigentlich da oben?«, wollte
Penelope wissen.
Kate sprang in den Sand hinunter.
»Dir auf die Spur kommen, Penelope.«
Geneviève erkannte sofort, dass Kate richtig
vermutet hatte.
Kate nahm Penelopes Hand.
»Du hast Handschuhe angehabt, Penny. Du bist
vorsichtig.«
Penelope wies die Anschuldigung nicht zurück.
»Du arrangierst Dinge«, sagte Kate. »Empfänge,
Feste, Beerdigungen. Die Leben anderer Leute. Und den Mord hast du
genauso arrangiert wie alles andere, mit Stil, aber ohne dich in
den Vordergrund zu spielen.«
Geneviève stellte sich neben Kate. Wenn Penelope
ihre Freundin angriff, war sie bereit, sie zu retten - ganz egal,
was sie der Engländerin schuldig war.
Lange Augenblicke verstrichen.
»Na schön«, sagte Penelope kühl. »Ich erzähle euch,
was passiert ist. Ich weiß nicht, ob das irgendetwas erklärt, aber
…«
36
Penelope, die Listenreiche
Ich habe es mir ausgesucht, das zu werden,
was ich bin. Das wisst ihr beide. Ich habe einen Handel mit Arthur
gemacht, mit Lord Godalming. Er hat mich verwandelt, und dafür habe
ich … nun, ihr könnt es euch wohl vorstellen. Ich bin nicht wie du,
Katie, oder du, Geneviève. Mir wurde beigebracht, dass das Leben
aus Kaufen und Verkaufen besteht, dass Gefälligkeiten ausgetauscht
und nicht verschenkt werden. Es ist eine sehr viktorianische
Einstellung, mit der man aus allen Frauen Huren macht und aus allen
Männern Freier. Wir haben vom »Heiratsmarkt« gesprochen und vom
»Wert« eines Mädchens.
Wisst ihr noch, wie es war, sich zu verwandeln? Von
frühem Alter an wusste ich, dass ich Macht besaß. Über meine
Eltern, meine Freunde, über Männer. Und nicht nur, weil ich hübsch
war. Katie, du warst klüger als ich. Und ehrlicher. Darum hat
Charles dich vorgezogen. Aber du hättest ihn nie dazu bringen
können, dir einen Heiratsantrag zu machen. Und vergesst nicht, das
alles ist passiert, als ich noch lebendig und nur ein junges
Mädchen gewesen bin. Stellt euch vor, wie viel mächtiger ich als
Vampir wurde, wenn ich die Anziehungskräfte unserer Art ins Spiel
bringen konnte. Zuerst war ich trunken von den Möglichkeiten.
Dann wurde ich krank, wie ihr wisst.
Andere Neugeborene tranken verdorbenes Blut und
wurden dahingerafft. Aber so etwas passierte doch Penny nicht.
Passierte es sehr wohl. Du, Geneviève, hast mir das Leben gerettet,
als du diesen Quacksalber Dr. Ravna daran hindertest, mir noch mehr
von seinen Blutegeln anzusetzen. Ich habe die Narben immer noch.
Ich kann nur hochgeschlossene Blusen tragen.
Ich bin vielleicht erwachsen geworden, habe mich
vielleicht
verändert, aber im Grunde bin ich immer noch Penelope Churchward.
Die schöne Penny. Die schlimme Penny. Es mag keine ganz und gar
glückliche Lage sein. Ich gebe zu, dass ich euch beide beneide. Ihr
habt Freiheiten genossen, die ich nie kennengelernt habe. Charles
hat euch beide mir vorgezogen, und ich kann es ihm nicht verdenken.
Früher einmal, in den ersten Wirren des Lebens als Vampir, habe ich
mir eingebildet, euch alle zu hassen. Ich versuchte mich an euch zu
rächen, indem ich mir Charles holte. Ich hätte ihn leertrinken und
verwandeln und damit, so dachte ich damals, zu meinem Sklaven
machen können.
Ich habe es nicht getan. Ich war nahe daran, aber
sein Blut hat mich verändert.
Das ist etwas, das mir nie jemand gesagt hat vor
der Verwandlung. Man hatte mir beigebracht, dass das Vampirdasein
nur etwas Körperliches ist, das Trinken von Blut. Ich war
schockiert, was die heiße kupferne Flut noch alles mit sich trug.
Gefühle, Widersprüchlichkeiten, Informationen. Ich wusste
nicht, dass die Vampirwerdung Penny Churchward in ein Gefäß
verwandelte und das Bluttrinken mich mit anderen Menschen erfüllen
konnte. Ein schwacher Vampir, wie ich einer war, kann zu viel von
einer starken warmblütigen Person trinken und verlorengehen, eine
Reinkarnation seines Opfers werden. Dafür habe ich nicht genug von
Charles’ Blut getrunken. Wenn, dann wäre er gestorben. Aber ich
trank genug, um mich mit seinen Augen zu sehen, um Pamelas Gesicht
über meinem verschwundenen Spiegelbild zu sehen, um das Monstrum zu
sehen, das ich schon gewesen war, bevor ich den dunklen Kuss
gesucht hatte.
Ich bekämpfte das Blut in mir. Ich versuchte mich
von Charles frei zu machen. Seit damals habe ich nur von den
Schwachen, den Dumpfen und den Professionellen getrunken. Dünner
Tee, mit viel Milch.
Ich gab den Falschen die Schuld dafür. Charles
Beauregard hatte
mich nicht zu dem gemacht, was ich war, hatte meine Welt nicht mit
Blut gefärbt. Auch Art nicht. Nicht in Wirklichkeit. Hinter allem,
hinter dem ganzen Wandel, steckte Dracula.
Er war Prinzgemahl damals. Später nannte er sich
alles Mögliche, Prinz und Kaiser der Nacht und Katzenkönig und was
weiß ich. Für mich ist er immer noch derjenige, als der er sich
ganz am Anfang Jonathan und Mina Harker und meiner armen Freundin
Lucy Westenra vorgestellt hatte: der Graf.
Wir haben Titel damals viel zu wichtig genommen.
Nein, ich bin ungerecht. Ich habe Titel damals zu wichtig
genommen. Als Lucy erzählte, dass sie die Lady Godalming werden
würde, war ich grün vor Neid. Ich wäre nur Mrs. Charles Beauregard
geworden, wobei ich hoffen durfte, dass er eines Tages zum Ritter
geschlagen, vielleicht sogar in den Adelsstand erhoben werden
würde. Dennoch konnte Charles gesellschaftlich bestenfalls ein
Neugeborener sein, während Art ein Ältester war.
Dracula. Ja, zu ihm komme ich noch.
Ich erholte mich langsam von meinen unklugen
Räubereien, zehn Jahre lang. Ich legte mir eine Brut Neugeborene
zu, erschuf mir einen Hexenzirkel. Die meisten starben während des
ersten Krieges und den Jahren danach. Ich hatte darauf geachtet,
nur Leute zu verwandeln, die sich nicht aufs Kämpfen verstanden und
mich als ihre Herrin akzeptieren würden. Es gelang mir nicht, sie
überlebensfähig zu machen. Das machte mich sehr traurig. Es gibt
noch Reste meines Blutgeschlechts, das Geblüt der Godalmings. Ich
habe dir gegenüber mit ihnen angegeben, Katie. Das war die alte
Penny, fürchte ich. Sie sind so degeneriert, dass sie nichts mehr
retten wird. Manchmal lassen sie sich blicken, gegen eine Geld-
oder Blutzuwendung. Die meisten sind Gespenster und von einem
Appetit beherrscht, der größer ist als ihre Persönlichkeit.
England wurde ein schwieriges Pflaster für mich.
Die Frauen
bekamen das Wahlrecht, wie ihr wisst. Insgeheim hatte ich schon
immer gefunden, dass es ihnen zustand, wenngleich ich mir nicht
vorstellen konnte, warum eine Frau sich an die Politik vergeuden
sollte. Ich war mir bewusst, dass das Eintreten für das
Frauenwahlrecht - wie du es getan hast, Katie, Heldin des
Zeitalters - den eigenen Wert auf dem Gebiet schmälerte, das
wirklich zählte. Meine Mutter starb, warmblütige Freunde wurden
alt. Moden wechselten, Röcke wurden kürzer. Alle telefonierten die
ganze Zeit. Ich war ein Schmetterling unter Glas, mit einer Nadel
fixiert, den man manchmal bestaunte, der einem aber eigentlich egal
war. Du, Katie, warst immer dort, wo etwas los war. Du hast dich
nicht in eine Wachsblume verwandelt. Das bewies, dass es nicht
zwangsläufig zum Vampirdasein gehörte. Sondern dass es etwas in mir
drin war, in Penelope. Die schlimme Penny war an einem Wendepunkt.
Ich musste unbedingt etwas finden, womit ich mich nützlich machen
konnte.
Nach dem zweiten Krieg suchte ich den Grafen
auf.
Ich sorgte dafür, dass Mina mich bei ihm einführte.
Ausgerechnet Mina. Sie gehörte schließlich zu seiner Brut und hatte
den Kontakt zu seinem Haushalt aufrechtgehalten. Als Dracula sich
hier niederließ, im Palazzo Otranto, machte ich einen Besuch und
stellte mich ihm zur Verfügung.
Es wäre übertrieben zu sagen, dass er mein Angebot
annahm. Er hatte nur nichts dagegen.
Stellt euch die Szene vor. Ich komme oben beim
Palast an. Mein Kopf ist voll mit den ganzen Geschichten. Von
Jonathan Harker, der diesen Berg in Transsylvanien hinaufsteigt und
nach Burg Dracula kommt, wo ihn der Vampirkönig und sein
blutdurstiger Harem erwarten. Und von Charles und dir, Geneviève,
die ihr euch in den Buckingham-Palast vorwagt, während der Graf
dort Hof hält, und seiner roten Herrschaft ein Ende setzen
wollt.
Ich glaubte zu wissen, was mich erwartete. Wenn
Dracula mich
töten oder versklaven wollte, dann war es eben so. Ich stand in
seiner Schuld.
Damals wurde er noch von Soldaten bewacht. Das war
1946, die Feuer Europas schwelten noch. Nach einiger Verzögerung
wegen der Soldaten - ich war schockiert, als sie von mir bestochen
werden wollten - wurde ich zu ihm vorgelassen. Ich war darauf
gefasst, vom schieren Gewicht seiner Persönlichkeit erdrückt zu
werden. Ich wusste aus zweiter oder dritter Hand, dass der Graf wie
ein Strudel war. Wer ihm nahe kam, riskierte, von der Strömung
erfasst und unter Wasser gezogen zu werden.
Dracula saß in einem Sessel, nicht in einem Thron.
Ich wurde nicht erdrückt, nicht unter Wasser gezogen. Nicht
getötet, nicht versklavt.
Zunächst dachte ich, er wäre tot. Endgültig
tot.
Dann öffnete sich ein Auge. Grelles Scharlachrot in
dieser Maske aus verwittertem Grau.
Ich hatte einen dieser plötzlichen
Erinnerungsschübe, die wir dem Blut unserer Liebhaber verdanken.
Ich war Charles, 1888 im Buckingham-Palast, das Silberskalpell in
der Hand. Um mich herum war überall Blut und Gefahr, waren die
schnellen Bewegungen erwachter Monstren.
Dann nichts mehr.
Das rote Auge betrachtete mich ohne sichtliches
Interesse. Alle meine Befürchtungen lösten sich in Luft auf. Es war
die reinste Enttäuschung. Ich hatte halb damit gerechnet, mich in
diesen Mahlstrom zu werfen, die alte Penny endgültig hinter mir zu
lassen. Wenn ich eine von Draculas Bräuten geworden wäre, hätte
alles ein Ende gefunden.
Stattdessen war ich auf einmal die Hausherrin
dieses Monstrums.
Irgendjemand musste den Posten haben. Und ich war
dort.
Es war eine ziemliche Überraschung für mich, dass
der Graf so
fügsam war, ein Schock sogar. Ich meine damit nicht, dass er
willensschwach war. Sondern dass er das Interesse an der Welt
verloren hatte.
Sogar für ihn war alles zu viel.
Das ist das Geheimnis, das ich bewahrt habe.
Dracula war nicht mehr der, der er einmal gewesen war. Er schlief
die meiste Zeit. Wenn er wach war, nährte er sich und spazierte in
Gedanken umher. Die Geschichte hatte ihn eingeholt, hatte ihn
hinter sich gelassen.
Früher hatte er eine Leidenschaft für alles Neue
und Kraftvolle gehabt, war er besessen gewesen von neuen
Erfindungen, neuen Jargons. Ich fand überall Hinweise auf seine
erloschene Begeisterung, von halb gebauten Kriegsmaschinen bis zu
Berichten von Wissenschaftlern und Gelehrten, die vor langer Zeit
in Auftrag gegeben worden waren und nun ungelesen herumlagen. Seine
Papiere befinden sich hier unter dem Sarg und warten darauf,
angezündet zu werden. Das war meine Entscheidung. Ich bin von
verschiedenen Seiten unter Druck gesetzt worden, ihnen das Material
auszuhändigen. Mr. Profumo vom Kriegsministerium appellierte an
meine Vaterlandsliebe, Mrs. Luce als Stellvertreterin der
Vereinigten Staaten an mein Misstrauen und Mr. Gromyko von den
Sowjets an meine Friedensliebe. Ich habe ihnen standgehalten, und
Draculas Geheimnisse werden mit ihm sterben.
Dieser Dracula, der Verschwörer und Ränkeschmied,
der sich darauf verstand, in den Kulissen der Geschichte zu warten,
war tot. Ich wurde die Gouvernante seines Gespensts, dieser
wandelnden Hülle des Vampirkönigs. Ich weiß nicht, was ihn so
verändert hat. Hiroshima und Nagasaki. Seine Brut, von der so viele
in den Todeslagern der Nazis verschwanden. Dass in England die
Labour Party regierte. Das Herunterrasseln des Eisernen Vorhangs.
Eine Infektion, die er sich bei den italienischen morti
viventi geholt hat. Dieses verfluchte Lied, der »Dracula
Cha-Cha-Cha«.
Der Mann, der Eisenbahnfahrpläne gemeistert hatte,
der Arien von Gilbert und Sullivan pfeifen konnte, kam nicht mit
dem Durchbrechen der Schallmauer und dem Rock’n’Roll zurecht. Du
kannst so viel begreifen, Katie. Ich habe deine Artikel über
Kerouac und Eddie Cochran gelesen, über die Mau-Mau und Brigitte
Bardot, und mir hat sich der Kopf gedreht. Ich habe versucht
mitzuhalten, wirklich. Ich habe Die Leute von Peyton Place
gelesen und Der Fänger im Roggen und Träume auf der
Terrasse. Aber manchmal will ich einfach, dass das aufhört,
dass alles so bleibt, wie es war. Das ist der Eissplitter, der
einem Vampir im Herzen steckt, der dabei ist, die falsche Sorte
Ältester zu werden, die Sorte, die der scharlachrote Henker gejagt
hat. Ich begreife, warum der Graf in seinen Sarg steigen und den
Deckel zuziehen wollte.
Wie du gesagt hast, Katie, ich bin eine
Arrangeurin. Ich wurde dazu ausgebildet, eine viktorianische Gattin
zu sein, was eine Kombination aus zurückhaltendem Takt und peinlich
genauer Buchführung und Zeitplanung erfordert. Jede Frau meines
Standes könnte eine Nation, eine Armee oder ein
Wirtschaftsunternehmen besser führen als diese zu groß geratenen
Schuljungen, die solche Machtstellungen innehaben. Wenn die
Menschheit dieses Jahrhundert überleben soll, dann empfehle ich,
die Gesellschaft nicht nach den Prinzipien von Karl Marx oder Henry
Ford auszurichten, sondern nach denen der viktorianischen
Haushaltung.
Als ich praktisch der Kopf des Hauses Dracula
wurde, hatte ich endlich meine Stellung gefunden. Diese letzten
Jahre über war ich Dracula. Ich habe seine Korrespondenz erledigt
und die führenden Regierungschefs der Welt, die mit ihm
geliebäugelt haben, gegeneinander ausgespielt. Ich habe für ihn
Kuppelei betrieben, ihm warmblütige Körper verschafft, von denen er
sich nähren konnte. Und als er sogar an willigen Opfern das
Interesse verlor,
habe ich ihn genährt, habe mich mit jungem Blut vollgetrunken und
es ihm aus meinen Adern in den Mund gespritzt.
Das Haus Dracula ist eines der großen Vermögen der
Welt und wird nun nach meinem Gutdünken verstreut werden, um
verdienstvolle Projekte rund um den Globus zu unterstützen. Das
Haus Vajda hatte sich in Gestalt der armen Prinzessin Klageweib
eine Allianz gewünscht, um im Triumph in sein Heimatland
zurückkehren zu können. Ich bin mir nicht sicher, was ich mir von
der Hochzeit erhofft hatte. Es war einer meiner Versuche, den Graf
aus seiner Erstarrung zu wecken. Es lag auf der Hand, dass er mich
nie als geeignete Gemahlin erachten würde, aber Asa hatte Geblüt,
Kinderstube und Grausamkeit aus den Tagen vor der Renaissance.
Meine Hoffnung war, dass die Hochzeit ihn wecken, ihn wieder zu
Dracula machen würde.
Ich habe ihn wohl geliebt. Charles habe ich wohl
auch geliebt.
Charles hätte ich beinahe umgebracht. Während ich
im Fieberwahn lag und mit Blutegeln übersät war, fantasierte ich
davon, das Herz einfach herauszureißen, das du mir entführt
hattest, Geneviève, und es über deinem Gesicht auszudrücken.
Dracula habe ich umgebracht.
Ich redete mir ein, dass Charles mich endlich
freigegeben hätte, damit ich die Tat ausführen konnte. Durch sein
Sterben. Er war das Letzte, was von meinem warmblütigen Leben übrig
war. Tut mir leid, Katie, aber du lebst nicht mehr. Genauso wenig
wie ich. Mit Charles’ Tod bin ich aus der Welt der Lebenden
endgültig in die Welt der Gespenster hinübergetreten.
Ich war in der Lage, das Monstrum zu vernichten,
das die Welt verändert hatte, das die Fäulnis des zwanzigsten
Jahrhunderts verbreitet hatte. Ich bin mir bewusst, welchen
Widerspruch ich gelebt habe. Jahrelang hatte ich mir eingebildet,
Dracula an den Punkt bringen zu können, wo er wieder auf der
Weltbühne erscheinen würde, aber mir war immer klar, dass ich ihn
am Ende
töten würde, um diese große Rückkehr zu verhindern. Ich bin eine
Frau. Ich darf meine Meinung ändern, darf zwei Dinge zugleich
wollen, die einander widersprechen. Ich weiß, ihr versteht mich,
meine Schwestern.
Ich leistete die Vorarbeit schon lange vorher. Ich
ließ die Waffe durch mein warmblütiges Werkzeug in den Palast
schaffen und bereitete alles vor, damit ihm die Schuld in die
Schuhe geschoben wurde. Ich benutzte Draculas eigenes Gold, um das
Silberskalpell des Jack the Ripper zu erwerben - die Waffe, die Art
und die alte Königin getötet hatte und die das Symbol der
Revolution gegen Dracula war, in der du, Katie, dich hervorgetan
hattest. Ein vampirischer Safeknacker unserer Tage stahl es für
mich, ein feiner viktorianischer Schurke, und ließ es durch den
Amerikaner hierherschmuggeln, der sich bald für den Mord an Graf
Dracula verantworten muss. Er braucht einem gar nicht leidzutun. Er
ist ein überzeugter und skrupelloser Vampirmörder und schlecht bis
ins Mark, wenn auch gelegentlich ganz amüsant.
Ich hatte das Skalpell monatelang. Ich trug
Charles’ Erinnerung daran in mir, wie er es gehalten hatte, und nun
hielt ich es selbst. Ich zog Handschuhe über und spielte damit,
genoss das Prickeln des Silbers durch die Baumwolle. Einmal
berührte ich mit seiner Spitze meine Zunge und versetzte mir einen
solchen Schock damit, dass ich ohnmächtig wurde. Es ist ein Jammer,
dass ich es nicht mehr habe. Ich verbinde so viel damit. Ich freue
mich, dass ich ihm noch eine weitere Bedeutung verleihen
konnte.
Vielleicht habe ich darauf gewartet, dass Charles
starb.
Vielleicht habe ich auf Zuschauer gewartet.
Vielleicht habe ich darauf gewartet, dass mich
jemand von meinem Plan abbringt.
Diese Geschichte ist nicht allein mein Verdienst.
Ich gebe zu, dass Prinzessin Asa sich als eine große persönliche
Herausforderung erwies. Ich musste einsehen, dass ich mich
verrechnet hatte
und dass sie vorhatte, mich nach der Heirat aus diesem Haushalt zu
verdrängen. Sie war fuchsteufelswild, weil Dracula nicht aus seiner
Gruft kommen wollte, und gelangte sogar zu dem Verdacht, dass ein
Betrug im Gange war. Ihr fiel die Angewohnheit des Grafen ein, auf
dem Schlachtfeld mit diversen Doppelgängern für Verwirrung zu
sorgen - du erinnerst dich doch an den ungarischen Schauspieler,
der im ersten Krieg umgekommen ist, Katie? -, und fragte sich, ob
ich nicht versuchte, ihr einen Überlebenden von damals
unterzujubeln.
Wäre ich eine Mörderin aus Leidenschaft und nicht
aus Vernunftgründen, hätte ich ihr wohl die Kehle durchgeschnitten
und sie ausbluten lassen. Wie sich herausgestellt hat, wäre das
vielleicht eine Gnade gewesen. Was auch passieren mag, ich werde
zusehen, dass man sich um sie kümmert. In ihrem gegenwärtigen
Zustand stellt sie für niemanden eine Gefahr dar. Der Tod Draculas
ist wie der Untergang eines Kontinents gewesen, und Prinzessin Asas
Verstand ist von den Strudeln in den Mahlstrom gesogen
worden.
Dracula hat uns allen so viel bedeutet. Als die
Ältesten zu der Verlobung zusammenkamen, sah man, wie viele ihn
kopierten. Sie trugen Kleidung, deren Stil er einmal aufgebracht
und dann wieder verworfen hat, diese ganzen rot gefütterten
schwarzen Umhänge und gestärkten Frackhemden. Sie gaben den Grafen,
den Prinzen, den Baron, genau wie er. Sie erweckten Teile seiner
Biografie wieder zum Leben, wie die Mitarbeiter von
spießbürgerlichen Reiseunternehmen, die ständig seine Taten
nachspielen.
Warum war ich es, die ihn tötete?
Erinnerst du dich an Van Helsing, Katie? Und weißt
du noch, wie Mr. Stoker sich in seinem merkwürdigen Buch ausmalte,
wie der Professor und seine unerschrockenen Begleiter den Grafen
jagten und zur Strecke brachten? In Mr. Stokers Welt, wie sie hätte
sein sollen, waren sie alle stark - Mina, Jack Seward, Jonathan,
sogar Art - und in dem ganz normalen Lauf der Welt, wie sie war,
wären sie stark genug gewesen. Aber Dracula war mehr als ein
Mensch, mehr als ein Vampirältester. Er war eine Idee, eine
Philosophie, eine große, einfache Antwort für ein Zeitalter, das
der komplizierten Fragen müde wurde. Wir können ihm das nicht
vorwerfen. Wir haben ihn uns ausgesucht.
Es wurde Zeit, dass jemand dem Ganzen ein Ende
setzte.
Ich war am besten dafür geeignet. Ich war keine
Marionette dieses Wesens, dem wir im Kolosseum begegnet sind -
jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Aber sie war auch dort. Damit
hattest du Recht, Katie. Ich glaube, ihre Vorstellungen über
Vampirälteste wurden durch seine Gegenwart gleich hinter den
Grenzen ihres Territoriums geformt. Alles, was sie über ihn an
Vermutungen anstellte und was sie in den Herzen seiner Nachahmer
las, traf auf dich nicht zu, Geneviève, und wird auch auf dich
nicht zutreffen, Katie. Aber auf mich schon.
Mein Herz ist tot. Meine Liebsten sind tot. Es wird
keine weiteren geben.
Als ich seine Gruft betrat, machte der Graf keinen
Versuch, sich zu wehren. Es war keine Szene, wie Mr. Stoker sie
beschreibt: die zögernden Vampirjäger, die sich dem überwältigenden
Monstrum nähern, sich ihm entgegenstellen, die die Kräfte des
großen Guten heraufbeschwören, um das titanische Böse zu besiegen.
Ich glaube, er hat mich erwartet. Ganz ruhig auf mich gewartet. Er
wollte auf sein eigenes Fest nicht gehen.
Ich habe ihn getötet, weil ich ihn und alles, was
er meiner Welt angetan hat, hasste. Ich habe ihn getötet, weil ich
ihn liebte und ihm die Demütigung ersparen wollte, die zwangsläufig
gekommen wäre, wenn sein Zustand öffentlich bekannt geworden wäre.
Ich habe ihn getötet, weil ich es konnte.
Ich stieß ihm das Skalpell ins Herz. Er griff
danach - sehr scharfsinnig, Katie -, doch nicht, um es
herauszuziehen, sondern
um es dort festzuhalten, als ob er seinem Herzen zutraute, es aus
seiner Brust herauszuspucken.
Ihr seht, ich hatte für dieses Verbrechen einen
Komplizen. Graf Dracula persönlich.
Am Ende, als sein Herz barst, sah ich das alte
Leben in seinen Augen. Er hatte so viele Jahre über den Tod
triumphiert, aber seinen letzten Sieg errang er über das Leben.
Über sein eigenes. Es kostete ihn seine gesamte große Kraft, und er
hätte es ohne mich nicht geschafft.
Ich glaube, ich war sein Geschöpf, wie dieser
scharlachrote Henker das Geschöpf der Hexe war. Er nahm mich bei
sich auf und formte mich durch behutsame Einflussnahme zu dem
Schwert, in das er sich stürzen konnte. Vielleicht deute ich zu
viel in einige Dinge hinein, versuche, die Schuld von mir
abzuwälzen. Das wäre durchaus typisch für mich, wie du gewiss
bestätigen wirst, Katie.
Ich verließ ihn, damit er allein starb.
Es war das Mädchen, bin ich überzeugt, das ihm den
Kopf abgeschnitten und diesen zum Spielen genommen hat. Wie wir
wissen, neigt die Kleine zum Theatralischen. Ich glaube, sie hatte
diese große Geste, den Kopf auf der Pike, als Warnung an uns
gemeint. Sie hat mich nicht dazu gebracht, es zu tun, aber sie
wusste, was ich tat. Ich kann es nicht erklären, aber ich glaube,
wir haben inzwischen gelernt, was sie anbelangt, keine Erklärungen
zu erwarten. Du bist in das Ganze hineingeraten, Katie. Du warst
dort, als das Mädchen seinen Kopf abgetrennt hat und all das Blut
herausschoss. Das tut mir leid. Ich wollte nicht, dass dir etwas
passiert. Das war eine private Angelegenheit zwischen mir und dem
Grafen. Aber sie konnte nicht privat bleiben, weil du dich immer in
alles einmischen, in alles hineindrängen musst. Früher hat mich das
sehr geärgert. Heute bin ich froh darüber.
So. Da habt ihr sie. Meine Geschichte.
37
Am Strand
Kate merkte, dass sie ein wenig geweint
hatte. Nur Geneviève und sie hatten Penelopes Geständnis
gehört.
»Jetzt sind wir frei«, sagte sie.
Als die Sonne aufging, löste Dracula sich auf.
Rasch wurden die Fackeln an die Bahre gehalten. Flammen stiegen
auf, leckten an dem Sarg. Der Leichnam wand sich, als fließe Strom
durch ihn hindurch. Verwesung, die für so viele Jahre aufgeschoben
worden war, tobte im Körper des Prinzen.
Prinzessin Asa wurde davon abgehalten, sich über
den Scheiterhaufen zu werfen wie eine indische Witwe. Penelope nahm
einen breitkrempigen schwarzen Hut aus ihrer Tasche und setzte ihn
der Prinzessin auf, damit sie vor dem Morgenlicht geschützt
war.
Kate sah zu, wie Draculas Sarg brannte, und spürte
keinen Triumph.
In der Mitte des Feuers knallte etwas, und eine
Säule aus Asche und Funken stieg von dem Scheiterhaufen auf. Das
Licht hatte die Leiche erreicht, und sie war in Flammen
aufgegangen. Nun brannte dort nur noch Holz.
Kate spürte die Hitze des Feuers, die Kühle des
Morgens.
Penelope übergab Asa in Kloves Obhut und wandte
sich vom Feuer ab. Geneviève war hinunter zur Wasserlinie gegangen.
Kate hakte sich bei Penny ein und ging vorsichtig mit ihr den
feuchten Sand entlang.
Ein orthodoxer Priester - der Vlads ursprünglichen
Glauben repräsentierte - leierte ein Gebet.
Marcello ging, hinter seiner Sonnenbrille
versteckt, zu den Klippen zurück. Ihre verzweifelte Liebe war
erloschen, aber sie
wünschte ihm auch nichts Böses. Er war so verloren wie alle
anderen auch. Soweit sie wusste, hatte er den Journalismus
aufgegeben und war jetzt Werbeagent für die ganzen neuen
Malenkas.
Charles, Dracula, Marcello. Alle fort.
Kate war so frei, dass ihr schwindelte. Nur von den
Gespenstern nicht.
Die drei Frauen standen am Meer.
»Ich fliege heute Nachmittag nach London zurück«,
sagte Kate. »Es wird höchste Zeit. Auf mich wartet viel Arbeit. Und
ich muss dringend Geld verdienen. Der Guardian will mich
nach Kuba schicken, damit ich mir diesen Castro einmal anschaue und
vielleicht aus ihm schlau werde.«
»Ich gehe nach Griechenland«, sagte Geneviève. »Und
dann vielleicht nach Australien. Ich dachte, ich schaue mir diese
Raketenforschung einmal an. Ich bin die ganzen letzten Jahre immer
am selben Ort gewesen. Es wird Zeit, wieder einmal zu
reisen.«
Zwischen ihnen blieb unausgesprochen, dass sie sich
von Rom besser fernhalten wollten. Wenn sie irgendwelche Vampire
trafen, ob Älteste oder nicht, würden sie ihnen raten, um die Ewige
Stadt einen großen Bogen zu machen. Dort gab es jemanden, der sehr
alt und sehr versessen auf seine Position war.
Penelope planschte, ließ zu, dass Wasser in ihre
Schuhe drang.
»Ich würde gern Pamelas Grab besuchen«, sagte sie.
»Es liegt im Bergland, in Indien. Meine Cousine hat mir viel
bedeutet. Ich begreife jetzt, wie sehr ich immer zwischen den
beiden Möglichkeiten geschwankt habe, ganz genau wie sie sein und
ihr überhaupt nicht ähneln zu wollen.«
Penelope sagte das, als ob sie um Erlaubnis
fragte.
Kate wusste nicht, was sie tun sollte. Eigentlich
müsste sie die Story bringen. Penelope würde für viele eine Heldin
sein. Es wurden
bereits Spenden zur Verteidigung ihres Sündenbocks
gesammelt.
Sie hatte Penelope gerade erst alles andere
vergeben, was zwischen ihnen vorgefallen war. Diese jüngste Last
würde sie erst einmal verdauen müssen.
»Ich werde es nie jemandem erzählen«, sagte
Geneviève. Sie krächzte immer noch ein bisschen.
Penelope dankte ihr und schüttelte ihr die
Hand.
Draculas Rauch trieb über das Meer hinaus.
»Ich auch nicht«, sagte Kate.
»Wahrscheinlich.«
Penelope lächelte kalt und küsste sie.
»Ich hab nur ›wahrscheinlich‹ gesagt.«
»Ich weiß, was du meinst. Ich habe immer gewusst,
was du meinst. Und vergiss bei allem, was ich euch erzählt habe und
was wir zusammen durchgemacht haben, nicht, dass ich immer noch
Penny bin und du immer noch Katie.«
Kate sah, wie Pennys Augen matt wurden. Sie
veränderte sich erneut, streifte die nächste Schlangenhaut
ab.
»Hab dich«, sagte Penny. »Du bist dran.«
Penelope tippte sie ernst an die Schulter und lief
zu einigen Felsen davon.
Geneviève hatte keine Ahnung, worum es ging.
»Es ist ein Spiel, Gené«, erklärte Katie. »Wir sind
doch zusammen Kinder gewesen.«
Die Älteste sah sie ernst an und wirkte jünger als
je zuvor.
»Hab dich, du bist dran?«
»Ja, genau.« Kate tippte Geneviève an die Brust.
»Und jetzt bist du dran.«
Sie rannte davon, nicht sehr schnell.
Geneviève holte rasch auf, und als Kate bei den
Felsen ankam, wartete ihre Freundin dort schon, um sie zu fangen.
Lachend täuschte Kate einen Ausfall zu Geneviève hin an - die ihr
mit der
Gewandtheit einer Ältesten und der Listigkeit einer
sechzehnjährigen Französin auswich - und sprang über eine Lache und
tippte Penny an, die platschend umfiel und sich wieder nach vorn
warf, nur um zu merken, dass Kate bereits zurückgesprungen
war.
»Hab dich, du bist dran«, sagte Kate.
Sie rannte an dem noch immer brennenden
Scheiterhaufen vorbei, hüpfte durch den aschigen Sand, schlängelte
sich zwischen dem Bestatter und den Gehilfen hindurch, während
Penelope sie erbittert jagte.
»Ich krieg dich, Katie Reed«, rief Penny ohne
Bosheit. »Wart’s nur ab …«
Kate rannte den Strand entlang, fort von dem
Feuer.