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Im Herzen der Finsternis
Mitternacht war lange vorbei. Geneviève
ließ sich in Jacks Sessel nieder und betrachtete das Durcheinander
von Papieren, mit denen sein Schreibtisch übersät war. Bei ihrer
Rückkehr hatte Morrison ihr von fünf Krisenfällen berichtet, welche
sich seit ihrem Fortgang am gestrigen Nachmittag ereignet hatten.
So taktvoll wie möglich hatte der junge Mann ihr zu verstehen
gegeben, sie vernachlässige ihre Pflichten ebenso sehr, wie der
Direktor dies in jüngster Zeit getan habe. Das hatte sie zutiefst
getroffen. Sie musste dringend etwas unternehmen. Jack war mit
seinem Vampirliebchen auf und davon, während sie sich mit Charles
herumgetrieben hatte.
Die Hall veränderte sich zusehends. Mit Druitts Tod
waren die Stundenpläne hinfällig geworden. Hatte das Institut einst
pädagogischen Zwecken dienen sollen, so war davon nun nicht mehr
viel zu spüren. Da die Infirmary aus allen Nähten platzte, geriet
die Hall allmählich zum Spital. Aus Vorlesungssälen wurden
Krankenzimmer. Nachdem man Jacks Aufmerksamkeit von seinen
persönlichen Interessen auf andere Dinge hatte lenken können,
genehmigte er die Einstellung weiterer Sanitäter. Nun standen sie
vor dem Problem, aus qualifizierten Leuten einen Ausschuss zur
Prüfung neuer Bediensteter bilden zu müssen. Wie immer fehlte es an
Geld. Wer sich zuvor als großherzig erwiesen hatte, schien sich nun
anderen Dingen zu widmen. Oder hatte sich verwandelt. Vampire waren
für ihre Herzlosigkeit berühmt.
Geneviève war hin- und hergerissen zwischen der
rasch nachlassenden Erregung, die Charles’ Blut in ihr wachgerufen
hatte, und den tausend brennenden Problemen von Toynbee Hall.
Neuerdings nahm ihr Leben viel zu verschlungene Wege, nahmen
Nichtigkeiten ihre Zeit viel zu sehr in Anspruch. Wichtige Dinge
hingegen hatte sie versäumt.
Sie erhob sich und wanderte im Zimmer umher. An
einer Wand standen Jacks medizinische Lehrbücher und Akten
aufgereiht. In der Ecke, unter einer Glasglocke, befand sich sein
geschätzter Phonograph. Als amtierende Direktorin hätte dies ihr
Zuhause sein müssen. Stattdessen hatte sie sich nach Chelsea und
ins Alte Jago fortgestohlen. Nun überlegte sie, wen sie eigentlich
gejagt hatte, den Ripper oder Charles Beauregard.
Sie stand an dem winzigen Fenster, das auf die
Commercial Street hinausging. Dichter Nebel lag tief über der
Straße, ein schäumender, fahlgelber Ozean, der plätschernd gegen
die Häuser schlug. Für einen Warmblüter war die Novemberkälte
schneidend wie ein Rasiermesser. Oder ein Skalpell.
Der Ripper hatte seit dem letzten
Septemberwochenende nicht mehr gemordet. Sie hoffte inständig, dass
er endgültig untergetaucht war. Vielleicht hatte Colonel Moran ja
Recht gehabt, vielleicht war Montague Druitt tatsächlich Silver
Knife gewesen? Nein. Ausgeschlossen. Und doch hatte Moran in jener
Nacht etwas gesagt, das sie nicht vergessen konnte.
Gegenüber der Hall stand, gehüllt in einen
schwarzen Umhang, ein Mann allein im wallenden Nebel. Ebenso wie
sie kämpfte er offenbar mit inneren Zweifeln. Es war Charles.
Moran hatte gesagt, die Hall befände sich inmitten
einer geometrischen Figur, einer Figur, die sich aus den
Schauplätzen der Morde leicht ersehen ließe.
Mit unvermittelter Entschlossenheit überquerte
Charles die Straße, und vor ihm teilte sich der Nebelvorhang.