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Odilia Edelmanin war tatsächlich eine grässliche alte Jungfer, zumindest auf den ersten Blick. Als junge Frau, im ersten Ehejahr, war sie bereits Witwe geworden und hatte sich nie wieder für einen Mann erwärmen können. Jetzt führte sie im Haus ihres Bruders ein strenges Regiment, herrschte über seine drei Kinder, eine Milchkuh und eine Schar Federvieh.

Schon bei der Ankunft hatte Niklas aus Angst vor ihr zu weinen begonnen.

«Was schleppst du da für Zigeunerpack an?», hatte die Frau zur Begrüßung geschnauzt. «Bist du narrisch geworden?»

Eva würde dieses Bild nie vergessen: wie die hagere, viel zu groß gewachsene Frau da in der Haustür stand, in Leinenschürze und ausgetretenen Pantoffeln, die Mundwinkel herabgezogen, die Arme in den Türrahmen gestemmt, um ihnen doch tatsächlich den Einlass zu verwehren. Und das, obwohl sie bis auf die Haut durchnässt waren und Niklas vor Kälte zitterte.

«Lass uns vorbei!» Edelman schob sie zur Seite und nahm den schluchzenden Niklas bei der Hand. «Komm nur mit rein. Wirst sehen, gleich wird’s dir bessergehen.»

Die Edelmanin bedachte Eva mit einem giftigen Blick, als sie sich an ihr vorbeidrängte, und warf krachend die Tür hinter ihnen ins Schloss. Gütiger Gott im Himmel, dachte Eva, bei diesem Weib halte ich es nicht einen einzigen Tag aus.

Sie standen in einem schmalen, düsteren Hausflur, von dem eine Treppe ins obere Stockwerk führte. Begleitet von der Schimpftirade der Hausfrau, zogen sie ihre triefenden Umhänge aus.

«Und wer wischt jetzt den Boden auf? Diese beiden Haderlumpen etwa?»

«Ach, Odilia», sagte der Schneider besänftigend, «kannst du dich denn nicht ein bisserl freuen über meine Rückkehr?»

Er blickte nach oben und breitete die Arme aus. «Na los, ihr Hasenherzen, kommt runter. Die beiden beißen nicht.»

Da erst entdeckte Eva die drei neugierigen Kindergesichter, die vom obersten Treppenabsatz zu ihnen herunterstarrten. Im nächsten Augenblick schon kamen sie mit lautem Geschrei angepoltert. Alle drei hatten sie lustige, sommersprossige Gesichter und rötlich braunes Haar. Das ältere Mädchen warf sich ihrem Vater in die Arme.

«Das ist Lisbeth, meine Älteste», erklärte Wenzel Edelman zwischen den Begrüßungsküssen seiner Tochter. Sein Gesicht strahlte voller Vaterstolz. «Sie ist sechs. Die Zwillinge heißen Bartholomä und Christopherus und sind vier.»

«Deine Tochter ist sieben», schnaubte die Edelmanin. «Aber wie sollst das auch wissen, wenn du dauernd unterwegs bist? Und kein Mensch nennt die Kleinen Bartholomä und Christopherus.»

Dann knurrte sie noch etwas Unverständliches vor sich hin und verschwand mit den nassen Umhängen durch eine Tür, die offenbar in den Stall führte.

Edelman lachte gutmütig. «Na gut, dann eben Bärtel und Stoffel. Und jetzt ab in die Küche, da ist es schön warm.»

Eine Stunde später drängten sie sich in trockenen Sachen um einen Topf mit dampfender Gemüsesuppe, Eva im Arbeitskleid von Edelmans verstorbener Frau, Niklas in einem viel zu großen Hemd, das ihm fast bis zu den Fußknöcheln reichte. Ihre sämtlichen Kleidungsstücke hingen nebenan im Kuhstall über einer Leine.

Nach dem Tischgebet verteilte Odilia Edelmanin die Löffel für die Suppe.

«Wie lang also wollen diese zwei sich hier einnisten?», fragte sie.

«Red nicht so daher. Eva ist die beste Näherin, die ich kenne. Mit ihr hab ich letzte Woche so viel verdient wie sonst in zwei Wochen. Sie soll dir im Haus helfen. Und Niklas kann Lisbeth beim Viehzeug zur Hand gehen. Wenn ich hier alles für den Winter gerichtet und geregelt hab, geh ich auf meinen letzten Rundgang in diesem Jahr und liefere die beiden bei ihrer Muhme in Straubing ab.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: «Sie sind nämlich Waisen.» Offenbar hoffte er, ein wenig Mitleid bei seiner Schwester zu erregen.

«Du hast doch einen Sparren zu viel! Straubing ist viel zu weit, jetzt, mitten im Herbst! Wie willst du heimkommen, wenn’s zu schneien anfängt?»

«Bislang bin ich immer heimgekommen. Und jetzt lasst uns essen, wir sind völlig ausgehungert.»

 

Gar so schlimm, wie es Eva sich bei ihrer Ankunft ausgemalt hatte, wurde es im Haus der Edelmans dann doch nicht. Die Hausfrau scheuchte sie zwar von früh bis spät herum, maulte und schimpfte dabei ohne Unterlass, aber Eva merkte bald, dass das gar nicht ihr galt. Odilia Edelmanin schimpfte nämlich auch, wenn sie sich allein glaubte. Dieses ewige Maulen gehörte zu ihr wie ihre Ordnungsliebe und ihre unglaublichen Kochkünste. Noch aus den einfachsten Zutaten konnte sie die köstlichsten Mahlzeiten bereiten. Und ganz nebenbei lernte Eva, wie man butterte, Käse und Quark machte, Fleisch räucherte und einsalzte, wie man für den Winter Obst, Pilze und Hülsenfrüchte dörrte oder Gemüse sauer einlegte. Ansonsten war sie damit beschäftigt, Küche, Wohnstube und die Schlafkammern von Wenzel Edelman, seiner Schwester und den Kindern, wo auch sie nächtigten, sauber zu halten. Kein Staubkörnchen, kein Strohhalm durfte auf den Böden und Ablagen zu finden sein, alles musste an seinem Platz stehen, wenn sie sich abends zu Bett begaben. Eva gefiel das nicht schlecht, denn obwohl der Schneidergeselle und seine Schwester recht sparsam lebten, erinnerte hier so gar nichts an das armselige Leben, das sie in Passau geführt hatten.

Sorgen machte sie sich nur um Niklas. Die Hausherrin jagte ihm nach wie vor große Angst ein. Hinzu kam, dass die beiden Kleinen ihn ärgerten, wo sie nur konnten, und er es wegen des Altersunterschieds nicht wagte, sich zu wehren. Lisbeth, mit der er die meiste Zeit zusammen war, im Stall, im Gemüsegarten oder drüben am Waldrand beim Nüsse- und Pilzesammeln, begegnete ihm mit Eiseskälte – sie schien eifersüchtig zu sein auf dieses neue Kind, das ihr da ins Haus geschneit war. Gleich nach der ersten Nacht hatte sie durchgesetzt, dass sie aus der Kinderkammer zu ihrer Muhme ins Bett wechseln durfte. Niklas schwatze und heule im Schlaf, hatte sie sich beschwert, und die Zwillinge hatten sich darüber auch noch lustig gemacht.

«Sei doch froh drum», hatte Eva versucht, den kleinen Bruder zu trösten. «So haben wir viel mehr Platz in dieser engen Kammer.»

Wenzel Edelman schien von alldem nichts mitzubekommen. Die Vormittage über war er damit beschäftigt, den Holzvorrat anzulegen und Winterfutter für die Tiere zu beschaffen, die Nachmittage dann saß er in der Wohnstube, die von der Küche her notdürftig beheizt wurde, und nähte und flickte an der Winterkleidung seiner Familie.

Im Großen und Ganzen hatten sie es gut getroffen, fand Eva. Doch mit jedem Tag, der verging, wurde ihre Unruhe größer. Alles in ihr drängte danach, endlich die Schwester zu finden. Als Edelman nach zehn Tagen immer noch keine Anstalten machte, nach Straubing aufzubrechen, wurde es Eva zu bunt. Sie hatten bald Martini, und draußen wurde es Tag für Tag kälter. So suchte sie ihn kurz vor dem Nachtessen in der Stube auf.

«Warum sind wir immer noch hier?», fragte sie ohne Umschweife.

«Weil ich mit meiner Arbeit noch nicht fertig bin.» Er ließ Nadel und Faden sinken und sah sie aus seinen hellen Augen an. «Gefällt’s dir denn nicht bei uns?»

«Doch – schon. Aber Ihr hattet versprochen, uns nach längstens einer Woche zur Muhme zu bringen.»

Wenzel Edelman seufzte. «Nun gut – dann sag ich es dir halt. Es hätt eine Überraschung geben sollen. Hier» – er breitete den dunkelgrünen Lodenmantel, an dem er gerade arbeitete, auf der Tischplatte aus –, «der ist für dich. Ein Wintermantel, warm und regenfest. Er hat meiner lieben Frau gehört, und ich hab ihn für dich umgearbeitet.»

Wortlos starrte Eva auf den Mantel. Noch nie hatte sie ein solch wertvolles Stück besessen. Sie war hin und her gerissen zwischen Freude, Dankbarkeit und Ärger darüber, dass sich wegen dieses Mantels ihr Aufbruch verzögerte.

«Das – das kann ich nicht annehmen. Niemals», sagte sie.

«Aber ja. Das gute Stück liegt nur unnütz in der Truhe herum.»

«Ihr könntet es verkaufen.»

«Solche Dinge verkauft man nicht. Er ist für dich, keine Widerrede. Und für Niklas hab ich einen alten Überwurf von mir umgearbeitet. Nicht besonders schön, aber aus flauschigem, warmem Grautuch. Damit kommt ihr zwei gut durch den Winter.»

Angesichts dieser Großzügigkeit schämte sie sich nun fast über ihren Ärger. «Wann also reisen wir?», wagte sie dennoch zu fragen.

Er sah zum Fenster. Es war längst dunkel draußen, Vollmond herrschte, und eben jetzt schob sich dichtes Gewölk vor das leuchtende Rund.

«Übermorgen früh. Ganz gewiss.»

 

Als Eva am übernächsten Morgen aufstand und ans Fenster trat, lag das kleine Dorf unter einer dicken Schneedecke begraben. Tränen der Enttäuschung schossen ihr in die Augen, als sie beobachtete, wie die Flocken unaufhörlich vor dem kleinen Dachfenster hin und her wirbelten. Sie hatte ihr Bündel am Vorabend also völlig umsonst gepackt.

Niklas trat neben sie.

«Müssen wir jetzt hierbleiben?», fragte er.

«Ich weiß nicht. Vielleicht hört’s ja wieder auf mit Schneien.»

Aber dem war nicht so. Fast ohne Unterbrechung schneite es die nächsten Tage, und Eva wurde klar, dass damit der Marsch durch die Berge unmöglich wurde.

Wenzel Edelman beteuerte ein ums andere Mal, kein Mensch habe mit einem so frühen Wintereinbruch gerechnet, und seine Schwester kam nicht aus dem Schelten heraus, was er da jetzt angerichtet habe: zwei hungrige Mäuler mehr zu füttern – wie er sich das vorstelle!