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Eva war, als reiße eine dunkle Macht ihr Herz nach und nach in Stücke. Manchmal erwachte sie mitten in der Nacht, weil ihr die Brust schmerzte und die Kehle eng wurde. Dann sah sie in der Dunkelheit des Dachbodens ihre Schwester vor sich, wie sie sich zum Abschiedsgruß vor der Donaubrücke zu ihr umgewandt hatte: in diesem viel zu dünnen blassblauen Leinenkleid, das Schultertuch gegen den Nieselregen über den Kopf gezogen, die weit aufgerissenen Augen rot gerändert und voller Angst.
Erst die Mutter, dann der starke, kluge Adam, dann die geliebte ältere Schwester – alle waren ihr vom Schicksal in wenigen Jahren genommen worden. Und vorgestern schließlich hatten sie die Hoblerin zu Grabe getragen. Nur Niklas, der Zarte und Schwächste von ihnen, war ihr noch geblieben. Zeit ihres Lebens hatte Eva sich niemals unterkriegen lassen, doch plötzlich fühlte sie sich den Widrigkeiten und Unwägbarkeiten des Schicksals schutzlos ausgeliefert.
Müde stellte Eva an diesem milden Frühherbsttag, kurz vor Michaelis, ihr Spinnrad in den kleinen Hof und machte sich an die Arbeit. Seitdem Gallus Barbierer bei seiner alljährlich neu anstehenden Amtsverpflichtung kurzerhand zurückgewiesen worden war, war ihr Alltag noch elender geworden. Wahrscheinlich waren den Stadtvätern seine Trinkgelage und heimlichen Glücksspiele zu Ohren gekommen. Bis auf ein paar Botengänge hin und wieder für den Stadtschreiber hatte er nun keinerlei Verdienstmöglichkeit mehr. Bei gutem Wetter lungerte er tagsüber am Hafen herum, bei schlechtem fläzte er sich bis zum Nachmittag faul auf seinem Strohlager. Eva schlug jedes Mal drei Kreuze, wenn er sich endlich aufrappelte, um in den Rauen Mann zu verschwinden, die allerschäbigste und billigste Spelunke hier in der Vorstadt. Denn vom Saufen und Würfeln konnte er nicht einmal jetzt lassen, wo nur noch Evas Spinnarbeit Geld einbrachte.
In einer Jahreszeit, wo die Natur ihre üppigsten Schätze auftischte, wo an den Markttagen die Schragentische sich unter den Bergen an Feld- und Baumfrüchten bogen, da war Schmalhans uneingeschränkter Meister in ihrer Küche geworden und brachte nicht viel mehr als altes Brot und wässrige Suppe auf den Tisch. Fast sehnsüchtig dachte Eva inzwischen an ihre Anfangszeiten in Passau zurück, wo ihr noch die Freiheit gegeben war, durch die Gassen zu ziehen und mit ihren kleinen Gaunereien ein paar Heller zu verdienen. Das Krüglein Milch, das die Hoblerin hin und wieder vorbeigebracht hatte, fehlte nicht minder. Das einzig Gute in dieser Zeit der Not war, dass die Heiratsabrede mit dem alten Bomeranz wohl ein für alle Mal vom Tisch war. Ihr Stiefvater glaubte nämlich zu wissen, wer der Urheber seines schlechten Leumunds war – niemand anders als sein Vetter, mit dem er in letzter Zeit immer häufiger in Streit geraten war und dem er schließlich gedroht hatte, den Schädel einzuschlagen, sollte Bomeranz noch einmal seine Schwelle betreten. Um Geld und gemeine Weiber war es dabei wohl gegangen, so genau wusste Eva es nicht und wollte es auch nicht wissen. Hauptsache, dieser Kelch der Verlobung war ein für alle Mal an ihr vorübergegangen.
Eva streckte den Rücken, der immer häufiger in letzter Zeit zu schmerzen begann. Vom Nachbarhof her hörte sie eine Amsel singen. Früher hatte auch sie manchmal beim Spinnen vor sich hin gesungen, Kinder- oder Liebeslieder, und sich damit die eintönige Arbeit verkürzt. Früher – das war gewesen, als die Hoblerin noch gelebt hatte und sie sonntags mit Josefina am Innufer spazieren gegangen war. Jetzt fand sie keine Lieder mehr, die sie hätte singen können. Alles in ihr fühlte sich an wie ein morsches Stück Holz.
Sie schrak auf, als Niklas vor ihr stand.
«Ist Vater hier?»
Eva schüttelte den Kopf. Da zog er zwei Äpfel unter seinem zerlumpten Wams hervor. Groß, rund und rotgelb leuchtend lagen sie in seiner Hand. Eva lief das Wasser im Mund zusammen.
«Die hab ich gefunden. Für uns beide.»
«Gefunden? Solche Äpfel liegen nicht am Wegrand.»
«Ist doch gleich.»
Gierig biss er hinein, dass der Saft aus seinen Mundwinkeln rann. Ein Gefühl der Mutlosigkeit stieg in Eva auf. Niklas hatte die Äpfel also gestohlen! Von den wenigen Pfennigen nämlich, die er für seine Handlangerdienste bekam, würde er niemals solch kostbare Früchte kaufen können. Sie wusste, wie liebend gern Niklas mehr zum Unterhalt beitragen würde, aber als Holzträger und Karrenschieber war er zu schmächtig, und an die begehrteste Arbeit der Gassenbuben, nämlich die Pferde und Ochsen der Treidelkähne anzutreiben, geriet er höchst selten. Sie seufzte. Warum nur konnten sie nicht von ihrer Hände Arbeit leben wie andere anständige Leute auch?
«Hast du ein bisserl Geld mitgebracht?», fragte sie leise.
«Nein.»
Der freudige Glanz aus seinen hellen Augen verschwand, sein Blick wurde stumpf.
«Aber ab morgen werd ich welches haben, wirst sehen. Der Abdecker sucht noch Kloakenkehrer.»
«Bist du toll geworden? Du willst nachts stinkende Abortgruben leeren? Dich für immer unehrlich machen? Weißt du, was das heißt?»
Niklas zuckte die Achseln. «Es wird gut gelöhnt. Einen Viertelgulden auf jede Grube, hab ich gehört. Und besser als Hunde totschlagen ist es allemal.»
«Niemals! Ich verbiete dir das! Und jetzt geh und feg die Stube aus.»
Mit eingezogenen Schultern kehrte Niklas ins Halbdunkel des Hauses zurück. Eva sah ihm nach. Es tat ihr leid, dass sie ihn angefahren hatte. War er doch bereit, die stinkendste und ekelerregendste Arbeit überhaupt anzunehmen, nur damit sie Kleider statt Lumpen tragen und etwas Warmes zu essen auf den Tisch bekommen würden. Aber trotzdem, niemals würde sie zulassen, dass Niklas sich solchermaßen erniedrigte. Sie würde noch heute mit ihrem Stiefvater reden. Es musste ein Ende haben, dass er alles, was sie verdiente, gleich wieder versoff. Oder noch besser: Sie würde den Wirt vom Rauen Mann aufsuchen und ihm ihre Lage schildern, damit er ein Auge auf ihn haben würde.
Eva beeilte sich, ihre Wolle fertigzubekommen, schickte Niklas damit zum Meister und machte sich selbst auf den Weg zur Floßlände, in der Hoffnung, dass ihr Vater noch nicht in der Schankstube hockte. Sie hatte Glück. Bis auf einen einbeinigen Greis und ein paar Flößer, die ihr freche Komplimente machten, war die Stube leer. Hinten beim Ausschank, wo es nach einer Mischung aus Starkbier und Unflat stank, fand sie den Wirt. Er spülte gerade in einer Wanne mit trübem Wasser Becher und Krüge aus.
«Gott zum Gruße, Meister», sagte Eva so höflich als möglich. «Ich bin Eva Barbiererin.»
«Ich weiß», gab der Mann knapp zurück, ohne auch nur aufzusehen.
«Es geht um meinen Vater, und ich …»
Sie wurde von einem Tumult unterbrochen. Am Tisch der Flößerleute flogen üble Schimpfworte hin und her, Stühle polterten, Holz krachte gegen Holz. Der Schankwirt sah kaum auf; stattdessen wälzte sich hinter dem Ausschank ein riesiges, fettes Weib hervor, schlug mitten hinein in die krakeelende Männerrunde, dass es nur so klatschte, um anschließend zwei der Streithähne am Kragen zu packen und vor die Tür zu setzen.
Der Greis spendete Beifall. «Gut gemacht, Blattnerin!»
«Was willst?», wandte sich der Wirt jetzt an Eva. Er klang alles andere als freundlich.
«Mein Vater, Gallus Barbierer, der kommt doch jeden Abend hierher.»
«Ja und?»
«Ich … ich bin mir sicher, er trinkt mehr, als ihm guttut.»
«Da magst recht haben.» Der Mann verzog das Gesicht zu einem hässlichen Feixen. «Mehr Leut ertrinken im Becher denn im Meer!»
Er reichte der fettleibigen Alten zwei randvoll gefüllte Krüge. Die Angelegenheit schien für ihn erledigt, aber so leicht ließ sich Eva nicht abspeisen.
«Mein Bruder und ich, wir haben kaum was zu essen. Unser Vater verprasst das ganze Geld. Könntet Ihr nicht …?»
«Ich wüsst nicht, was mich das angeht», unterbrach er sie.
«Vielleicht doch. Würfeln und wetten tut er nämlich auch, hier bei Euch. Ihr wisst, dass das verboten ist!»
«Potzhunderttausend Sack voll Enten», mischte sich die Frau jetzt ein, «die kleine Metze will uns drohen! Schau dich besser nach einer Ehegefährtin für deinen sauberen Vater um. Das meiste Geld haut er nämlich für lose Weiber auf den Kopf! Und jetzt verschwind, sonst fliegst arschlings hier raus.»
Hilfesuchend blickte Eva auf den Wirt, doch der kniff nur böse die Augen zusammen und wies mit dem Kopf zur Tür.
«Raus hier! Kannst froh sein, wenn wir deinem Vater nichts von deinem Besuch hier ausposaunen.»
Irgendwer indessen musste ihrem Stiefvater doch davon erzählt haben, denn im Morgengrauen weckte er sie mit einem groben Tritt.
«Du bleibst im Bett», befahl er seinem Sohn. «Ich hab mit deiner Schwester ein Hühnchen zu rupfen.»
Dann zerrte er Eva die Stiege hinunter, hinter den Vorhang seines Verschlags. Sein Atem stank nach Branntwein.
«Dass dir Donner und Hagel in die Goschn schlagen!», stieß er hervor. «Mir vor aller Welt eine Schelle anhängen!»
Sie unterdrückte einen Schrei, als er ihr rechts und links eine Ohrfeige verpasste.
«Vielleicht bin ich ja nicht dein leiblicher Vater, aber noch bin ich hier der Hausherr, hast verstanden?»
«Ja, Vater. Ich wollte doch nur –»
Sie zitterte am ganzen Leib, vor Kälte in ihrem dünnen Hemdchen, aber auch vor Angst. Denn in dem fahlen Dämmerlicht erkannte sie plötzlich wieder diese Gier in seinen Augen. Seine dürren Finger krallten sich in ihre Brüste, die sich unter dem Stoff abzeichneten, zugleich warf er Eva mit seinem ganzen Gewicht rückwärts gegen die Wand.
«Ihr Weiber seid doch alle gleich.» Sein Atem ging in ein stoßweises Keuchen über. «Ein Fluch ist’s mit euch. Nichts wert seid ihr und Huren allesamt!»
Seine Rechte fuhr ihr unter das kurze Hemd, die Finger krallten sich in ihren Schoß. Ein brennender Schmerz durchfuhr sie wie ein Dolchstoß. Sie schrie auf. Da presste er seine Brust gegen ihr Gesicht, dass sie kaum noch Luft bekam, und versuchte zugleich, die Kordel seiner Hose zu lösen.
«Jetzt kriegst, was du verdienst. Ein für alle Mal!»
«Nein!»
Sie wusste selbst nicht, woher sie in diesem Augenblick die Kraft nahm. Ihr Knie schnellte mitten in seinen Schritt. Ein viehisches Gebrüll – dann sackte Gallus Barbierer vor ihr zusammen und krümmte sich gotterbärmlich auf dem Boden. Einen Moment stand sie wie gelähmt, dann rannte sie hinüber zur Stiege, wo sie ihren Umhang vom Haken riss und in ihre Holzpantinen schlüpfte. Von oben hörte sie unterdrücktes Schluchzen: Niklas’ entsetztes Gesicht schob sich über die Bodenluke.
«Gehst du fort?»
Eva ließ den Umhang sinken und schüttelte schweigend den Kopf. Niemals würde sie den Kleinen allein zurücklassen. Wohin sollte sie auch gehen? Sie hatte ja niemanden mehr in dieser Stadt.
«Das Täubchen wollt wohl ausfliegen?»
Eva fuhr herum. Ihr Stiefvater hatte sich vor der Haustür aufgebaut, halb nackt und noch immer mit gekrümmtem Oberkörper. In der Faust hielt er die Weidengerte, mit der er Niklas den Hintern zu versohlen pflegte.
«Komm nur her und hol dir ab, was dir gebührt. Und du Scheißkerl dort oben, sperr deine Glotzer auf. Ja, schau nur zu, was ich gleich mit deiner Schwester machen werd.»
Er ließ die Rute durch die Luft schnellen.
«Los, an den Tisch und ausziehen! Wird’s bald?»
Er kam breitbeinig auf sie zu, Eva wich Schritt für Schritt zurück. In ihren Ohren begann es zu rauschen, wie damals, als der Veitstanz sie gepackt hatte. Sie versuchte, ruhig durchzuatmen, ihrer Kehle entrang sich dabei ein Wimmern wie bei einem verletzten Tier.
«Heul nur, es nutzt dir alles nix.» Gallus’ Stimme hatte längst wieder den verhassten wollüstigen Beiklang. Und tatsächlich: Sein halblanges Hemd begann sich zwischen den Lenden zu wölben. Dann brüllte er:
«Zieh dich aus!»
Plötzlich wusste Eva, was zu tun war. Nie wieder sollte ihr Stiefvater an sie gehen, nie wieder! Ihre Muskeln spannten sich, dann war sie mit einem Satz in der Küchenecke und riss das Fleischmesser vom Haken.
«Wenn du mich anlangst, stech ich zu», fauchte sie.
Gallus Barbierer stutzte, dann brach er in Hohnlachen aus.
«Du elendes Hurenbalg, das wirst nicht wagen. Gib das Messer her.»
«Keinen Schritt weiter!»
Aber es war zu spät. Er stand dicht vor ihr und holte mit der Gerte weit aus. Blitzschnell duckte sie sich und stach zu, einmal, zweimal, vielleicht ein drittes Mal. Blut schoss aus dem nackten Oberschenkel des Stiefvaters, sein Leinenhemd färbte sich rot. Gallus Barbierer schwankte wie ein Mast im Sturm, die Weidengerte fiel ihm aus der Hand, dann kippte er lautlos zur Seite.
Heulend kam Niklas die Stiege heruntergestolpert. Eva ließ das Messer fallen und starrte mit offenem Mund auf den leblosen Mann. Sie hatte ihn getötet, den eigenen Vater hatte sie erstochen! Das war das Ende!
Niklas wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. «Was hast du bloß getan?»
«Schnell, zieh dich an. Wir müssen verschwinden.»
Wenige Minuten später trugen sie alles auf dem Leib, was sie an Kleidung besaßen, dazu die Geldkatze, die Eva von ihres Vaters Gürtel abgeschnitten hatte. Als sie den Riegel von der Haustür zurückschob, hörte sie hinter sich ein lautes Stöhnen: Gleich einer riesigen Blindschleiche, die nach Luft schnappt, wälzte sich ihr Vater über den Lehmboden auf sie zu, einen Arm ausgestreckt, als wolle er sie packen.
«Ich – mach – dich – tot», keuchte er.
Selbst in dieser Düsternis sah sie die Blutspur glänzen, die Gallus Barbierer hinter sich herzog. Das hier war schlimmer als der schlimmste Albtraum. Fort, nur fort von hier, schrie es in ihr. Sie riss Niklas mit sich hinaus und ließ die Tür krachend ins Schloss fallen. Dann rannten sie los durch die noch menschenleere Gasse.