36
Als Eva zum ersten Mal die Augen öffnete, lag sie in einem breiten, weichen Bett, dessen Weißzeug stark nach Kampfer roch, hoch über sich eine dunkle Holzbalkendecke. Sie wandte den Kopf zur Seite und blickte geradewegs in ein mildes, liebes Gesicht, das jetzt zu lächeln begann.
«Mutter!» Eva schluchzte auf, sank zurück in ihr Kissen und damit wieder in tiefen, traumlosen Schlaf.
Als sie das zweite Mal erwachte, zeigte sich ihr Bett längst nicht mehr so kommod. Mit einem ausgemergelten Greis musste sie den Platz teilen, der gotterbärmlich nach Schweiß stank und nach den ekligsten Winden, die einer nur von sich geben konnte. Dabei stöhnte und jammerte er in einem fort, wie arg ihn seine Gedärme schmerzten.
«Wo bin ich?», flüsterte Eva. «Wo ist meine Mutter?»
Eine Frau mit hellblauer Leinenhaube beugte sich über sie und strich ihr über die Wange.
«Du bist im Katharinenspital. Und wo deine liebe Mutter ist, kann ich dir leider nicht sagen. Ich bin hier nur die Spitalmutter.»
«Meine Mutter – ist tot.» Eva schloss erschöpft die Augen. Wenn Gott sie nur wieder zurückführen würde in das tröstliche Dunkel. Hier, in diesem Spital, mit diesem stinkenden Alten in einem Bett, wollte sie nicht bleiben. Und dann dieser Kopfschmerz und dieser brennende Durst! Sie leckte sich die gesprungenen Lippen. Und warum nur waren ihre Hände und ihre Stirn dick verbunden?
«Warte, ich helf dir.»
Die Spitalmutter schob ihr den linken Arm unter den Kopf und führte mit der Rechten einen Becher mit Kräutersud an ihren Mund.
«Trink das! Langsam und in kleinen Schlucken.»
Eva verzog das Gesicht ob des bitteren Geschmacks.
«Schmeckt scheußlich, was? Sind aber allerbeste Kräuter. Wegerich gegen den Kopfschmerz, Salbei gegen den rauen Hals. Und noch ein paar Mittelchen gegen deinen Anfall.»
«Was …» Das Sprechen fiel ihr schwer. «Was … ist … mit mir?»
«Du bist sehr krank, noch immer! Du warst bewusstlos und hattest dir alles aufgeschlagen, als sie dich vom Jakobstor hergeschleppt hatten. Ich werd jetzt den Herrn Pfarrer rufen lassen, zum gemeinsamen Gebet und auch, damit er dir die Beichte abnimmt und wir mit der Behandlung beginnen können. Aber zuvor sag mir noch eins: Hast du was eingenommen? Eine Arznei gegen Schmerzen etwa? Grad die Wanderärzte sind da oft rechte Quacksalber. Wenn die bei Herzleiden zu viel Fingerhut oder zu viel Tollkirsche gegen Bauchkrampf verabreichen, dann kann einer schon mal in solcherlei Tanzwut ausbrechen wie du vor drei Tagen.»
«Vor drei Tagen?», hauchte Eva.
«Hm.» Die Spitalmutter nickte. «Also – warst du bei solch einem Scharlatan?»
«Nein.»
«Oder hat man dir heimlich Bilsensamen ins Bier getan?»
«Bilsen?»
«Das beste Mittel, um ein Madl gefügig zu machen. Oder einen Burschen außer Gefecht zu setzen und ihn dann auszurauben. Hast du davon nie gehört?»
«Nein.» Eva fror und schwitzte gleichzeitig und hatte nur den einzigen Wunsch, wieder einzuschlafen.
«Kein Bilsen», flüsterte sie noch, dachte an die zwei Schlückchen Branntwein, die Anselm ihr aufgedrängt hatte, dann hatte sie es geschafft und war wieder eingeschlafen.
Die nächsten Tage vergingen zwischen fiebrigem, unruhigem Schlaf und kurzen Phasen, in denen sie mehr oder weniger wach lag und nassgeschwitzt darauf wartete, dass ihr jemand zu trinken gab.
Sie war jedes Mal heilfroh, wenn statt des Siechenknechts die Spitalmutter nach ihr sah. Die hieß, wie Eva bald erfuhr, Kathrin Barreiterin und war eine ledige Frau von bereits um die dreißig. Gerade dieser Altersunterschied war es, der es Eva angetan hatte: Die Barreiterin umsorgte sie in einer so sanften, mütterlichen Art, dass es Eva vor Dankbarkeit fast die Tränen in die Augen trieb und sie sich bald selbst wie ein kleines Kind vorkam. Kein Wunder, dass sie die Frau im Fieberwahn für ihre eigene Mutter gehalten hatte!
Hin und wieder erwachte Eva davon, dass die Frau in ihrem schlichten braunen Gewand und der stets blitzsauberen Schürze an ihrem Bettrand saß, ihre Hände umschlossen hielt und leise betete. Meist bat sie um Fürsprache der Heiligen, rief Sankt Vitus an oder Elisabeth von Thüringen und verriet damit, dass sie dem alten Glauben anhing. Wenn Eva dann die Augen aufschlug, forderte sie sie mit einem Lächeln auf, ins Gebet mit einzustimmen. Ohne göttliche Barmherzigkeit gebe es keine Heilung, waren ihre Worte, und auch, dass Christus selbst der höchste aller Heilkundigen sei.
Als Spitalmutter war die Barreiterin hier im Siechenhaus die rechte Hand des Spitalmeisters Heinrich Winklmair, der mit Hilfe einer Schar von Taglöhnern, Knechten und Mägden, von Müller und Bäcker, Bader und Schreiber, Küster und Braumeister die alltäglichen Geschäfte des Spitals besorgte. Trotz dieser Aufgabenfülle ließ es sich Heinrich Winklmair nicht nehmen, jeden Morgen bei den Kranken hereinzuschauen. Ganz im Gegensatz zu den Herren Spitalräten, die man in der Krankenhalle kaum je zu Gesicht bekam – genauso wenig im Übrigen wie einen städtischen Wundarzt oder gar gelehrten Physikus. Dafür schneite immer wieder der Bader herein, ein quirliges Männchen mit langem, schütterem Grauhaar und einer durchdringend hohen Stimme. Sixtus Hasplbeck stand im Ruf, ein heimlicher Apotheker und wahrer Hexenmeister in der Herstellung von Heilmitteln zu sein. Neben seinen Schröpfköpfen und dem Gläschen mit frischen Blutegeln, die er in den Donauauen einsammelte, hatte er immer allerlei widerliches Zeug dabei: gepulverte Hechtzähne und Wolfskrallen, gedörrte Kröten, Schlangen und Augen von Flusskrebsen, kostbare ägyptische Mumia oder Geiersalbe aus den Innereien des Aasgeiers. Gegen Nierensteine empfahl er Maulwurfsasche, Bocksblut gegen Wechselfieber und frischen Schafsmagen gegen Scharbock.
Wenn Eva ihn nur schon von weitem hörte, verkroch sie sich, obgleich ihr Kopf und Glieder noch so sehr schmerzten, unter ihrer Decke und betete, dass dieser Mann unverrichteter Dinge an ihrem Bett vorübergehen möge. Dafür traf es hin und wieder den Greis an ihrer Seite. Dem hatte Meister Hasplbeck einmal in Bier gekochte Regenwürmer eingeflößt, mit dem Ergebnis, dass der Alte den ekligen Glitsch postwendend wieder ausspuckte und damit im gesamten Bett verteilte. Ihre sämtlichen Decken und Kopfkissen mussten ausgewechselt werden, und Eva konnte von Glück sagen, dass ihr Hemd nichts abbekommen hatte. Sonst wäre womöglich ihr größter Alb wahr geworden: dass man sie ausgezogen und ihren Betrug entdeckt hätte!
Eines Morgens hörte sie, wie der Bader sich an ihrem Bett mit der Barreiterin unterhielt, und stellte sich wohlweislich schlafend.
«Was also, liebe Barreiterin, glaubt Ihr? Werden sich diese Anfälle wiederholen?» Hasplbecks Stimme klang schmeichelnd, fast so, als habe der Alte ein Auge auf die Spitalmutter geworfen.
«Ich weiß nicht recht. Anfangs dachte ich ja, es sei ein exemplarisches Beispiel von Chorea Sankt Viti oder auch der fallende Wehtag. Zumal seine Glieder die ersten beiden Nächte nicht zur Ruhe kamen. Dazu hatte er solch wirre Geschichten erzählt, dass mir angst und bange wurde.»
«Wollt Ihr meine Meinung hören? Dieser Adam ist einer dieser jungen Burschen, deren Blut in Wallung gerät und die sich nicht im Zaum haben, weil ihnen der nötige Glauben abgeht. So wie der Kerl hier ankam, war er eindeutig von einem Dämon besessen!»
«Nein, nein, das glaub ich fei nicht. Das Fieber ist herunter, und seit gestern schläft er viel ruhiger. Das zeigt doch, dass meine Behandlung nach Paracelsus anspricht.»
«Ach, Barreiterin, Ihr immer mit Euren neumodischen Rezepturen! Dieser Paracelsus war doch ein Scharlatan, ein Zahnbrecher und Hodenschneider, der sein Wissen von Henkern, alten Weibern und Schwarzkünstlern hatte.» Der Bader schnaubte verächtlich. «Diese Veitstänzer, diese vom Tanzteufel Besessenen, kann nur die Kirche wirklich heilen. Ihr seid noch zu jung, um Euch zu erinnern. Aber einstmals, als die Stadtväter noch dem alten Glauben anhingen, hat man solche Leute vor die Stadt bringen lassen, zur Kirche Sankt Vitus, draußen bei der Kartaus. Dort wurden ihre Füße mit Weihwasser besprengt, und sie mussten in roten Schuhen, worauf oben und unten mit Chrisam ein Kreuz gemacht war, um den Altar tanzen.»
«Alles verlorne Liebesmüh», hörte Eva jetzt neben sich den Greis knurren. «Das muss gehn wie in meiner Heimatstadt: Zur Musik von Sackpfeifern lässt man diese depperten Gecken so lang tanzen, bis es sie vor Erschöpfung umhaut. Treibt das den Dämon nicht ausi, geht’s ab zum Exorzismus in die Kirch. Aber wennst mich fragst: Das einzig Wahre ist der Scheiterhaufen. Nur so lässt sich dem Satan die Seele entreißen!»
«Dich fragt aber keiner», fuhr ihm die Barreiterin scharf über den Mund.
Als nach zwei Wochen ganz allmählich ihre Kräfte wieder zurückkehrten, wuchs auch Evas Ungeduld. Längst sah sie sich nicht mehr als hilflose Kranke und hielt es kaum noch aus zwischen all den armen Siechen, die von früh bis spät jammerten und stöhnten. Ertrug schier nicht mehr den Anblick von diesen mit Pusteln und stinkenden Schorfkrusten bedeckten Körpern, von verdrehten Gliedern, schwarzbrandigen Zehen und Fingern, zugequollenen blutroten Augenlidern, von mit grünlichem Auswurf oder Erbrochenem befleckten Hemden. Einer, gleich im Bett nebenan, behauptete steif und fest, seine eigene Frau habe ihm diese großen schwarzen Blattern ans Bein gehext, die er nun Tag für Tag aufs Neue aufkratzte, bis ihm die Barreiterin die Hände zusammenband. Und dann gab es welche, die die ganze Nacht auf dem Abtritt hockten, einem Holzstuhl mit ausgesägter Öffnung, der sich hinter einem löchrigen Vorhang befand, um von dort aus mit ihrem Gefurze und Geschiss die Nachtruhe zu stören und die Luft zu verpesten.
Keinen Deut besser war der Alte in Evas Bett: Nachts, wenn ihn sein Bauch besonders plagte, wälzte er sich schlaflos unter der Decke und plärrte den heiligen Erasmus um Hilfe an. Seitdem der Knecht ihm mehrmals täglich von hinten Einläufe und von oben salzigen Kräutersud verabreichte, verbrachte der Mann allerdings mehr Zeit auf dem Abtritt als im Bett.
«Bitte, Spitalmutter», bettelte Eva eines Morgens, als der Greis in Richtung Latrine geschlurft war, «könnt Ihr diesen stinkenden Alten nicht verlegen?»
«Hätt ich ein Bett vakant, würd ich’s dir zuliebe tun.» Die Spitalmutter setzte sich zu ihr an den Bettrand. «Schau, Adam, er ist grad der Einzige, der mit Sicherheit nichts Ansteckendes hat. Oder willst etwa bei dem Krämer mit dem italischen Fieber liegen, der sich Tag und Nacht die Lunge aus dem Leib hustet? Oder bei dem armen Kerl mit dem Blutsturz? Ich will dich doch wieder gesundkriegen!»
Bei diesen Worten strich sie ihr zärtlich das Haar aus der Stirn, und nicht zum ersten Mal fiel Eva auf, wie ihre hellbraunen Augen sie anstrahlten.
«Aber ich versprech dir was: Noch ein, zwei Tage, und du bist den Alten los. Der hat nämlich nichts andres als die Würmer im Leib, und das Wurmkraut und die Klistiere werden bald ihre Wirkung tun.»
Einmal mehr bewunderte Eva die Spitalmutter um ihr Wissen und um ihre Fähigkeiten, als am nächsten Morgen tatsächlich die Würmer abgingen. So ekelerregend sich diese Prozedur auch darstellte – ein Exemplar von zehn Fuß Länge wurde ausgeschieden, und zwar nicht in den Aborteimer, sondern geradewegs zwischen ihre Zudecken! –, so war Eva ihren Bettgenossen danach doch wenigstens los. Sie wartete noch, bis die Barreiterin mit dem Siechenknecht und der Magd zum Mittagsmahl verschwunden war, dann erhob sie sich mühselig aus ihrem Bett, um sich die Beine zu vertreten und herauszufinden, wo sie sich überhaupt befand. Bis auf die paar Schritte hinüber zur Latrine hatte sie hier nämlich noch keinen Fuß auf die Erde gesetzt, und sie war fest entschlossen, am nächsten Tag, nach einer hoffentlich ruhigen Nacht und einem stärkenden Morgenessen, das Siechenhaus auf immer zu verlassen. Dieses hässliche Kratzen im Hals würde bis dahin hoffentlich vorübergehen.
Eva hielt sich am Bettrand fest und blickte sich um. In zwei Reihen waren die Betten aufgestellt und bis auf das von Eva allesamt zweifach belegt. Mit den Fußenden voraus säumten sie rechts und links einen breiten Durchgang, an dessen hinterem Ende ein hölzernes Podest für die Krankenwache errichtet war. Jetzt, zur Mittagszeit, war die Bank darauf leer. Keine gute Zeit also, um zu sterben, fuhr es Eva durch den Kopf. Ihr Blick ging in die andere Richtung, vorbei an den beiden offenen Kaminen zur Eingangstür, über der ein schwarzgebeiztes Kruzifix hing. Der ganze Siechensaal erinnerte an eine schmucklose lutherische Dorfkirche, mit seiner hohen Decke, den weißgetünchten Wänden und den hoch angesetzten Fenstern, die keinen Blick nach draußen erlaubten.
Ihr schwindelte plötzlich, als sie sich bückte und unter das Bettgestell sah. In einer Art offenen Kiste lagen ihr Wams, ihr Umhang, ihre Pluderhose samt Strumpfhose und Schuhe – alles ordentlich gefaltet, dafür von ihrem Werkzeug und ihrer Geldkatze keine Spur! Man hatte sie bestohlen! Irgendwer in diesem stinkenden Schelmenspital hatte sie beklaut, irgendwer von diesen halbtoten, zerlumpten Gestalten rundum! Oder gar einer von den Knechten oder Mägden hier. Sie musste sofort die Barreiterin aufsuchen.
Vorsichtig richtete sie sich wieder auf und wartete, bis die Funken vor ihren Augen zu tanzen aufgehört hatten. Dann tappte sie barfuß über den eiskalten Steinboden zur Tür, öffnete mit Mühe einen schmalen Spalt und schlüpfte hinaus, in eine große, zugige Vorhalle. Von hier aus führte eine Holztreppe in die oberen Stockwerke. Dort musste der Schlafsaal der armen Leut sein, jener bedürftigen Seelen, die kein Dach über dem Kopf und kein Brot im Säckel hatten und für eine Nacht hier Kost und Unterkunft gewährt bekamen. Jetzt allerdings war es totenstill dort oben.
Entschlossen trat Eva an das zweiflügelige Eingangsportal und drückte die schwere Klinke nach unten. Nichts! Sie rüttelte mit beiden Händen daran, zerrte und drückte, aber vergeblich. Die Tür war verriegelt und verschlossen! Man hatte sie also eingesperrt wie die Malefikanten im Turm! Nicht einen Tag länger, schwor sie sich, würde sie hier im Spital bleiben, nicht einen Tag! Sie musste nur noch herausfinden, wo ihre Sachen geblieben waren, und dann – nichts wie weg aus Regensburg. Wenn nur die Barreiterin endlich käme! Es war so bitterkalt hier in der Zugluft, barfuß, wie sie war, und nur im dünnen, knielangen Leinenhemd.
Da entdeckte sie eine Luke im linken Türflügel. Wenigstens sie ließ sich öffnen. Doch als sie den Kopf hinausstreckte, blieb ihr fast der Atem stehen: Unter ihr, zu Füßen des Altans mit seiner ausladenden Steintreppe, lag die ganze Welt in frostiger Kälte erstarrt! Weißer Raureif umschlang das kahle Geäst der Kastanien, hatte sich auf die Dächer und Mauern rundum gelegt und das Holz des mächtigen Mühlrads zu ihrer Linken und selbst das bucklige Kopfsteinpflaster zwischen Siechenhaus und Wehrmauer überzuckert. Der Mühlbach, der hier unter dem Siechenhaus verschwand, war zu Eis erstarrt, alles schimmerte weiß, sogar der milchig trübe Himmel. Es bestand kein Zweifel: Der Winter war eingebrochen. Ob der Donaustrom auch gefroren war?
Mit ihren vor Kälte gefühllosen Fingern schaffte sie es nicht, die Luke wieder zu schließen, ja nicht einmal, die Tür zum Siechensaal aufzustoßen. Kraftlos sank sie zu Boden, ihre Zähne klapperten ohne Unterlass und ließen es nicht zu, dass sie um Hilfe rief. Vergeblich versuchte sie sich aufzurappeln, doch ihre Muskeln wurden nach und nach taub, wie tot hingen die Glieder an ihr, und um ihre Schläfen presste sich eine riesige Hand. Warum kam ihr denn niemand zu Hilfe? Durfte es sein, dass sie mitten in einem Spital, vor der Tür zum Krankensaal, zu Tode erfror? Eva verzog den Mund. Fast hätte sie gelacht, wäre das möglich gewesen mit ihren eisigen Lippen.
Endlich erbarmte sich Gott ihrer und sandte einen Engel. Die Mauern taten sich auf, und aus gleißender Helle schwebte ein himmlisches Wesen auf sie zu, das sanfte Gesicht in hellblauem Schein, umfing sie mit seinen Flügeln und trug sie mit sich hinfort.
«Wo bin ich?» Eva zog die Nase hoch, aus der es wie von einem schmelzenden Eiszapfen rann. «Es ist so kalt hier! Und wer hat …»
Der Rest ihrer Worte ging in ein mehrfaches Niesen über.
«Du bist bei mir, kleiner Adam, bei deiner Spitalmutter. Und da bleibst du vorerst auch.» Wie einem Kind putzte die Barreiterin ihr die Nase. «Warte, ich leg dir das Lammfell unter – mei, was bist du mager –, und eine Haube aus Schafwolle hab ich dir auch ergattert.» Vorsichtig hob sie Evas Nacken an und streifte ihr die wärmende Haube über. «Hab halt leider keinen Ofen hier. Aber so kalt ist’s gar nicht, von der Küche unter uns kommt’s warm herauf. Hast du Durst?»
«Ja. Was war das, Spitalmutter? Ist wieder der Veitstanz über mich gekommen?»
«Nein, mein lieber Junge. Du hattest einen Schwächeanfall. Wie konntest du aber auch in der Gegend herumspazieren, so ganz ohne Begleitung und dazu bei dieser Kälte? Hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt, wie du da halb totgefroren auf der Schwelle lagst! Zur Strafe hast dir jetzt einen schönen Katarrh geholt.»
Die Spitalmutter führte einen Becher mit Salbeiaufguss an ihre Lippen, den Eva kaum herunterbrachte, so sehr schmerzte ihr jetzt der Hals bei jedem Schluck. Mit einem Ruck wandte sie den Kopf zur Seite.
«Ich kann selber trinken. Bin schließlich kein Kleinkind. Und die Nase kann ich mir auch putzen, stellt Euch nur vor!»
Tränen der Wut und der Enttäuschung standen Eva jetzt in den Augen. Wieder lag sie ans Bett gefesselt und würde wahrscheinlich bis zum Frühjahr warten müssen, bis sie von hier wegkam.
Trotz Evas harscher Worte lächelte die Barreiterin und stellte den Becher auf dem Holzschemel ab, der neben dem Bett stand. «Wennst meinst. Ich muss wieder runter, nach den Kranken sehen. Wenn’s dir schlecht geht, läut einfach die Glocke hinter dir an der Wand.»
«Nein, wartet – es tut mir leid. Ihr seid so gut zu mir, wie eine leibliche Mutter. Danke!»
«Ach was, schon recht. Das ist mein Dienst an Gott und an den Menschen.» Ihr Gesicht wurde ernst. «Vielleicht ist’s aber auch, weil du mich an meinen jüngeren Bruder erinnerst, an meinen Lieblingsbruder. Und der hieß sogar Adam, genau wie du.»
«Hieß?»
«Er ist an der Roten Ruhr gestorben, als er zehn war – Gott hab ihn selig.»
«Das war sicher schlimm für Euch», murmelte Eva.
«Gewiss. Aber in allem Übel steckt auch der Keim zum Guten, man muss ihn nur finden. Ich hab meinen Bruder bis zum Tod gepflegt und dabei meine Bestimmung gefunden, nämlich den Kranken und Siechen zu helfen. Diesen Entschluss hab ich niemals bereut.» Sie lachte herzlich. «Sonst wär ich heut noch bei den Dominikanerinnen im Heilig Kreuz.»
«Ihr wart in einem Kloster?»
«Ja. Aber die strenge Klausur und das harte Regiment nach der Augustinusregel waren nichts für mich. Als mein Noviziat zu Ende ging und ich vor der feierlichen Profess stand, mit der ich mich auf ewig der Ordensgemeinschaft übergeben hätt, hab ich das Kloster verlassen. Dank der gütigen Mutter Priorin fand ich die Anstellung hier als Spitalmutter. Schon meine Vorväter waren in diesem Spital als Bereiter tätig, wie mein Name noch verrät. Aber genug geratscht, meine Pflicht ruft unten im Saal.»
«Bitte – da ist noch was: Meine ganze Habe ist verschwunden.»
«Keine Sorge, Adam! Ich hab alles sicher verwahrt. Auch unter Todkranken gibt’s schließlich Langfinger, und außerdem: Der Spitalmeister muss ja nicht wissen, was für ein prallgefülltes Geldsackerl du da mit dir rumschleppst. Das hätt sich nämlich schnell geleert, für die langen Tage hier im Siechenhaus. Aber keine Angst – ich hab das Geld nicht angerührt, und es ist wohl versteckt. Und jetzt schlaf, bis ich wiederkomm. Ich bring auch was zu essen mit.»
Eva sah ihr nach, wie sie energischen Schrittes das Zimmer verließ, dann sank sie zurück auf ihr Kissen. Die Barreiterin bewohnte im Dach der Schar, wie man das Siechenhaus hier nannte, eine geräumige Kammer, in das ein winziges Fenster nur spärlich Licht einließ. Ebenso spärlich war die Einrichtung: Außer Bett und Schemel gab es da nur noch eine grobgezimmerte Kleiderkiste und ein Waschtischchen und als einzigen Schmuck ein Kruzifix an der Wand. Eine zweite Schlafstatt konnte Eva nicht entdecken. Siedend heiß durchfuhr sie die Erkenntnis, dass sie mit der Spitalmutter in einem Bett würde schlafen müssen! Niemals konnte das hier länger gutgehen, nur zu genau erinnerte sie sich an die unheilvolle Begegnung mit der Badmagd. Das Beste würde sein, dieser lieben, sanftmütigen Frau die Wahrheit zu gestehen und sie flehentlich zu bitten, Stillschweigen zu bewahren. Zumindest bis sie gesund war und sich auf den Weg nach Ulm machen konnte.
Lag es an der Krankheit, dass sie mit einem Mal unter der Anspannung, entdeckt zu werden, litt wie noch nie? Wie lange noch würde sie ihre Rolle als junger Mann, dieses Gaukelspiel, das ihr einstmals der Teufel selbst eingegeben haben musste, noch spielen können? Aber viel schlimmer war es ja für sie, Frau zu sein! Sie wusste bald selbst nicht mehr, was für ein Wesen sie war.
Eva schreckte aus unruhigem Schlaf auf und musste sogleich heftig niesen. Im Dämmerlicht des Abends erkannte sie die Spitalmutter, die einen dampfenden Krug und eine Holzschale mit Mus auf dem Schemel abstellte.
«Fein, dass du geschlafen hast. Jetzt musst ein bisserl was essen.» Die Frau wandte sich in Richtung Tür, wo eben der Knecht mit einem Strohsack auf dem Rücken eintrat. «Leg es hier an die Wand, Hannes, die Decke hol ich hernach selber.»
Immer noch schlaftrunken, blieb Eva der Mund offen stehen.
«Wir schlafen also nicht im selben Bett?»
«Sag bloß, du hättst das gern!» Die Barreiterin lachte schallend. «Nein, nein, so etwas! Da könnt ich fast deine Mutter sein, und du machst mir ein solches Angebot. Brauchst nicht rot werden, Adam.» Sie zog Eva am Ohr. «Um ehrlich zu sein: Ich tät sofort mit dir in einem Bett schlafen, so jung und ansehnlich, wie du bist. Aber, ach, ich bin halt doch eine ehrbare Frau und dazu im strengen Glauben aufgewachsen.»
Sie reichte ihr Löffel und Musschüssel und setzte sich auf den Bettrand. Der Schalk blitzte ihr jetzt aus den hellbraunen Augen.
«Fändest du mich denn gar nicht zu alt für einen wie dich?»
«Aber nein, nicht unbedingt», stotterte Eva, und das war nicht mal gelogen. Auf den zweiten Blick nämlich wirkte die Barreiterin wesentlich jünger als die dreißig Jahre, die sie zählte. Das lag daran, dass sie so oft und gern lachte, und an ihren klaren, schönen Augen.
«Wart Ihr denn nie verheiratet?» Vorsichtig schluckte Eva das lauwarme Mus hinunter.
«Schon. Aber nur kurz, vor vielen Jahren. Jetzt bin ich Witwe und kreuzfroh, dass dieser Kelch an mir vorüber ist. Weißt, wir Frauen gehören immer irgendwem: als Kinder dem Vater, als Eheweib dem Mann, als Nonne der Kirche. Nur als Witwe kann man ein Stückerl weit selbst bestimmen. Aber das verstehst du nicht.»
Dabei verstand Eva nur zu gut! Plötzlich spürte sie, wie sehr sie die Spitalmutter in der kurzen Zeit ins Herz geschlossen hatte.
«Heilige Anna – was fasel ich da rum, als wärst meine beste Freundin und nicht ein blutjunger Kerl! Man könnt meinen, ich sei geck geworden!» Die Barreiterin sprang auf. «Wenn du gegessen hast, wechsel ich dir das Hemd, damit wir deines waschen können. Es wird allerhöchste Zeit.»
«Nein!»
«Was heißt nein? Nur weil wir uns eben Schmeicheleien unter die Nase geschmiert haben, brauchst dich jetzt nicht so anstellen. Das, was ich vorher gesagt hab, war eh nur ein Scherz. Kranke sind Kranke, da schau ich nicht auf die Männlichkeit.»
«Ich mein ja nur – ich kann mich selbst umziehen. So krank bin ich schließlich auch nicht.»
Die Barreiterin zuckte die Schultern. «Wennst meinst. Aber glaub mir, ich hab schon mehr kranke Männer aus- und wieder angezogen, als du Hosen geschneidert hast.»
Eva gab ihr die leere Schale zurück und schnäuzte sich die triefende Nase. Krampfhaft dachte sie nach, wie sie diese gefährliche Klippe würde umschiffen können.
Die Barreiterin verließ das Zimmer und kehrte wenig später mit einer Wolldecke unter dem einen und einem sauberen Leinenhemd unter dem anderen Arm zurück. Sie legte alles auf den Schemel, dann schlug sie Evas Deckbett zurück. Augenblicklich täuschte Eva heftiges Zittern vor und begann erbarmungswürdig mit den Zähnen zu klappern.
«Mir ist so kalt», stammelte sie, zog die Decke wieder bis unters Kinn und entledigte sich, geschützt vor den Blicken der anderen, ihres Hemdes. Die Brustbinde hatte sie wohlweislich zuvor schon abgelegt, zusammengewickelt und in ihre Unterhose gestopft. Hoffentlich geht alles gut, betete sie innerlich, als sie die Hand nach dem frischen Hemd ausstreckte und es sich in Blitzesschnelle, der Barreiterin den Rücken zugewandt, überstreifte.
Die lächelte belustigt. «So gschamig hätt ich dich gar nicht eingeschätzt. Eher als Weiberheld, so wie du immer im Schlaf daherredest.»
«Ich red im Schlaf?», fragte Eva erschrocken.
«O ja, ganz wirres Zeug, und etliche Frauen kommen da vor. Zumeist Josefina und Eva. Sag bloß – hast du gleich zwei Schatzerl?»
«Josefina ist meine Schwester. Und Eva – Eva auch.»
Eva krümmte sich unter ihrer Decke zusammen. Jetzt fror sie tatsächlich, und der Kopf schmerzte auch.
«Warum bin ich eigentlich nicht unten in der Krankenstube?», fragte sie erschöpft.
«Weil dein Bett besetzt ist. Eine Kindbetterin ist reingekommen, grad als du zusammengebrochen bist. Wenn Gott seine schützende Hand über sie hält, wird sie heut Nacht noch entbinden.»
«Dann kann ich morgen also wieder runter?»
«Schmarrn. Nur lose Weiber oder fremde Bettlerinnen werden gleich nach der Niederkunft weitergeschickt. Die hier bleibt, bis sie wieder bei Kräften ist.»
Josefina, dachte Eva sofort, und ihr Herz krampfte sich zusammen. «Nehmt Ihr also jede Frau auf, die guter Hoffnung ist?»
«Nur wenn sie kurz vor der Niederkunft steht. Dann gilt das Gebot der Barmherzigkeit. Für mich zumindest. Der Spitalmeister war da schon manches Mal andrer Meinung. Aber warum fragst?»
«Weil …» Eva kämpfte mit sich. «Weil meine Schwester schwanger war. Man hatte sie aus der Stadt verwiesen, und seither ist sie verschwunden. Zwei Jahre ist das schon her, und ich weiß nicht mal, ob Josefina noch lebt.»
«In Unehren empfangen, ich versteh.» Die Barreiterin nickte, voller Mitgefühl, wie es schien. «Das ist ein hartes Los. Immer wieder klopfen solch arme Seelen bei uns an.» Dann stutzte sie. «Vor zwei Jahren? Josefina? In Passau der Stadt verwiesen?»
In Evas Kopf begann sich alles zu drehen, als sie jetzt aus dem Mund der Spitalmutter das schier Unglaubliche erfuhr. Dass ihre Schwester vor ziemlich genau zwei Jahren in höchster Not hier um Hilfe gefleht habe und tatsächlich um Gottes willen aufgenommen worden sei. Nach einer schweren und langwierigen Geburt sei schließlich ein strammer, gesunder Junge zur Welt gekommen und vom Spitalkaplan auf den Namen Nikolaus getauft worden, da es der Gedenktag des Heiligen von Myra war. Nachdem die Hebamme erfahren hatte, dass der heimliche Kindsvater ein Herrensöhnchen aus Passau sei, und dies der Obrigkeit pflichtgemäß meldete, habe man Mutter und Kind anderntags schon vor die Stadt gebracht, auf dass sie dem hiesigen Armenkasten nicht zur Last falle.
«Ich erinnere mich genau, denn an diesem Tag Anfang Dezember war ganz plötzlich der Winter eingebrochen. Glaub mir, es tat mir in der Seele weh, die beiden gehen zu lassen. Einen kräftigen Mundvorrat und ein zweites wollenes Tuch für den Kleinen gab ich ihr noch mit, mehr konnte ich nicht tun. Aber, Adam – jetzt beruhig dich doch! Mein Junge!»
Hilflos sah sie auf Eva, die in Schluchzen ausgebrochen war.
Nach so langer Zeit endlich wusste sie um Josefinas Schicksal, nur wirklich begreifen konnte sie es nicht. Immer wieder von neuem begann sie zu weinen, ihre Brust schmerzte schon, Augen und Hals brannten. Längst war es stockfinster geworden in der Kammer. Irgendwann spürte sie, dass sich die Barreiterin neben sie gelegt hatte, den Arm um ihre Schultern, die warme Hand auf ihrer tränennassen Wange. In dieser tröstlichen Umarmung weinte sich Eva schließlich in den Schlaf.
Auch am nächsten Tag konnte es Eva kaum fassen, dass Josefina hier, an diesem Ort, ihr Kind zur Welt gebracht hatte. Sie löcherte die Spitalmutter mit Fragen zu ihrer Schwester und dem Neugeborenen, der den Namen des geliebten Bruders trug, wollte jede kleine Einzelheit wissen über die zwei Tage, die Josefina im Spital verbracht hatte. Doch je mehr sie erfuhr, desto heftiger sorgte sie sich letztlich um die beiden.
«So wirst nie gsund», schalt die Barreiterin irgendwann. «Du isst zu wenig, du schläfst zu wenig, du bist nur noch Haut und Knochen! Das hilft doch deiner Schwester keinen Deut weiter. Vielleicht hat sie ja meinen Rat befolgt und ist zu den frommen Schwestern der Beginen gezogen, in die freie Reichsstadt Ulm.»
«So eine weite Reise, und das mit einem Neugeborenen! Ihr habt doch selbst gesagt, sie war ganz schwach nach der Geburt.»
«Körperlich ja. Aber das Madl hat einen starken Willen, das hab ich damals gleich gemerkt. Und großes Gottvertrauen.»
Mit Evas Genesung ging es wahrhaftig nur langsam voran. Der Niesreiz wurde von einem trockenen Husten abgelöst, hartnäckige Kopf- und Gliederschmerzen zwangen sie zur Bettruhe. Die Spitalmutter kümmerte sich um sie weitaus mehr als um alle anderen. Sie brachte ihr mehrmals täglich zu essen und frischen Kräuteraufguss. Als Schlaftrunk gab es einen besonders großen Krug mit nahrhaftem Spitalbier oder von dem gesüßten Roten, der auf den spitaleigenen Weinbergen gedieh. Dass sie weiterhin auf ihrem Strohlager nächtigen musste, schien der Barreiterin nichts auszumachen.
Nach zwei Wochen endlich hatte Eva den Katarrh überstanden, nur der lästige Husten hatte sich festgesetzt. Zum Kummer der Spitalmutter und zu ihrer eigenen Erleichterung musste sie eine Bettstatt im Schlafsaal der armen Leut beziehen, da der Spitalmeister nicht länger duldete, dass Eva und die Barreiterin in einem Raum nächtigten. Am Arm der Barreiterin machte sie ihre ersten kurzen Spaziergänge, bald tappte sie allein im Haus herum, in ihren unförmigen Filzschuhen und dem wollenen Überwurf, den die Barreiterin ihr besorgt hatte.
«Wie ein Mönch», neckte die sie jedes Mal, «fehlt nur noch die Tonsur.»
Doch das Scherzen verging ihr, als der Bader Eva für gesund erklärte. Bis spätestens zum Christfest habe der Schneidergesell das Spitalgelände zu verlassen und sich beim Zunftvorgeher der Regensburger Schneider einzufinden. Der sei für alles Weitere zuständig.
«Aber, Meister Hasplbeck! Das ist ja schon nächste Woche!» Die Spitalmutter legte ihm ihre Hand auf das dürre Ärmchen und sah ihn flehentlich an. «Der arme Junge! Mit so einem Husten können wir ihn nicht gehn lassen. Schaut doch nur raus, diese Schneestürme!»
«Die gehen vorbei, und Husten hat zu dieser Jahreszeit bald jeder. Das ist kein Grund, sich auf Kosten des Spitals ein faules Leben zu machen.«
«So ein Schmarrn! Überall macht sich Adam neuerdings nützlich, für keine Arbeit ist er sich zu schade.»
Das stimmte. Sowohl im Siechenhaus als auch drüben im Pfründnerstock kümmerte sich Eva um die Feuerstellen, säuberte die Abtritte, half in den Küchen aus, in der Spitalpfisterei und vor allem im Siechensaal, der sich füllte und leerte und wieder füllte. In ihrer zupackenden Art war Eva überall gern gesehen – nur dem Bader begegnete sie besser nicht. Dem nämlich ging Evas Freundschaft mit Kathrin Barreiterin gehörig gegen den Strich, weil er selbst, so krampfhaft wie vergeblich, um die Gunst der Spitalmutter buhlte.
So verwunderte es Eva nicht, dass er sich an diesem stürmischen Wintermorgen durch nichts umstimmen ließ, auch nicht durch die schmachtenden Blicke seiner Angebeteten.
«Der Bursche ist gesund, da gibt’s nichts zu rütteln. Er hat im Siechenhaus nichts mehr verloren. Im Übrigen ist das nicht meine Entscheidung, ich hatte nur das fachliche Gutachten auszustellen. Geht Euch also beim Spitalmeister beschweren, liebe Barreiterin. Ohnehin begreif ich nicht, wieso Ihr Euch für diesen Habenichts solchermaßen einsetzt. Fühlt Ihr Euch etwa durch dieses halbe Kind geschmeichelt? Das ist doch lächerlich!»
Mit einem verächtlichen Schnauben ließ er die beiden stehen.
Als Eva an diesem Abend zu Bett ging, lag sie noch lange wach auf ihrem harten Strohsack. Auch wenn es ihr längst zu eng geworden war in diesem von Mauern umschlossenen Spitalgelände – der Abschied von der Barreiterin würde ihr schwerfallen. Kathrin – wie sie sie inzwischen nannte – war ihr zu einer Mutter und einer großen Schwester zugleich geworden. Und zur ersten Freundin ihres Lebens; einer Freundin, mit der man über Gott und die Welt schwatzen, aber auch schweigen oder herzhaft lachen konnte. Und klug war diese Kathrin, so klug, wie sie es noch bei keiner Frau erlebt hatte! Sogar lesen und schreiben konnte sie, und das besser als die meisten Männer. Als Eva noch bei ihr in der Kammer geschlafen hatte, hatte Kathrin beim Schein der Tranlampe oft stundenlang in einem wunderschönen alten Buch gelesen, dem Feldbuch der Wundartzney, das ein gewisser Hans von Gersdorff verfasst hatte.
«Der war Medicus im weitberühmten Antoniterspital in Straßburg», hatte sie ihr erklärt, und Eva hatte schwören müssen, niemandem zu verraten, dass sich die Spitalmutter heimlich Bücher aus der Bibliothek im Pfaffenstock holte.
Ein andermal hatte Eva sie gefragt, mit welcherlei Mitteln sie sie von dieser furchtbaren Tanzwut geheilt habe.
«Mit Gottes Hilfe und den Rezepturen des großen Paracelsus.»
«Paracelsus?» Da war er wieder, dieser Name, den sie aus Kathrins Mund schon so oft gehört hatte.
Sie hatte eifrig genickt. «Von ihm gibt’s eine Schrift, die da heißt: Über die Krankheiten, die die Vernunft rauben. Drei Rezepturen gegen Veitstanz sind drin enthalten. Was ich bei dir angewendet hab, ist ein Mittel mit Alraune und Baldrian. Aber vielleicht hat dir ja auch dein Talisman geholfen», setzte sie verschmitzt hinzu.
Anschließend hatte sie Eva einen schwärmerischen Vortrag gehalten über diesen Theophrastus Bombastus von Hohenheim, wie der Feld- und Wundarzt in Wirklichkeit hieß. Zu Lebzeiten sei er von aller Welt geschmäht und angefeindet worden, nur weil er dort gelernt und gewirkt hatte, wo die Kränksten der Kranken sich einfanden: in den Feldlazaretten und Spitälern. Noch als «Doctor beider Arzneyen», den er sich auf der Fakultät zu Ferrara erworben hatte, sei er sich nicht zu schade gewesen, den Badern und sogar den Henkern über die Schulter zu schauen. Auch hier im Regensburger Spital habe er einige Zeit gewirkt. Und jedes neue Heilmittel habe er zuerst an sich selbst versucht.
«Paracelsus sagt: ‹Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist!› Es heißt» – sie senkte die Stimme –, «er habe sich auch der Schwarzkunst verschrieben und ein Elixier gegen alle Krankheiten besessen, das Elixier Theophrasti.»
Solcherart Gespräche hatten sie viele geführt, während der Arbeit, auf dem Weg zum Gottesdienst in der Spitalkirche, abends, bevor sie zu Bett gingen, oder auch während Kathrins seltenen freien Stunden. Zumeist machten sie dann bei Wind und Wetter einen Spaziergang kreuz und quer über das weitläufige Gelände, wobei sie Pfaffenstock und das vornehme Haus des Spitalmeisters in wohlweislich großem Abstand umgingen. Meist schlenderten sie an Pfründnerhaus und Pilgerhaus vorbei über den hübschen Kirchplatz bis zum Wirtschaftshof mit seinen Stallungen und Vorratsspeichern, von dort die Runde weiter am windschiefen Häuschen des Spitalschreibers entlang und über den Hof des Brauhauses hinunter zum Spitalanger, wo sich auch Bad- und Waschhaus befanden.
Vom nördlichen Donauufer aus hatte man einen herrlichen Blick auf die Türme und Mauern der freien Reichsstadt und ihre im ganzen Reich berühmte Steinbrücke, und hier durchfuhr Eva jedes Mal eine zutiefst widersprüchliche Regung: Zum einen fühlte sie eine unbestimmte Angst vor der Unberechenbarkeit der Welt da draußen, einer Welt, die ihr oft genug ihre grausamsten Fratzen gezeigt hatte, zum anderen packte sie heftiges Fernweh.
Das alles ging Eva durch den Kopf, als sie an diesem letzten Abend vergeblich einzuschlafen versuchte. Es würde ihr schwerfallen, die kleine, schutzhafte Welt des Regensburger Spitals zu verlassen. Und trotzdem hatte sie die Weisung des Baders, sich anderswo ein Unterkommen zu suchen, nahezu erleichtert hingenommen. Inzwischen stand für sie nämlich außer Zweifel, dass Kathrin Barreiterin ihr Herz an Adam Auer, den jungen Schneiderburschen, verloren hatte, und es war allerhöchste Zeit zu gehen.