31

Als die beiden Männer sie aus dem Haus führen wollten, ballte sich in Eva eine letzte, außerordentliche Kraft zusammen und entlud sich in Faustschlägen, die erst den Alten, dann den Dickwanst gegen die Wand schleuderten. Gleich einer Tollhäuslerin schlug sie um sich, trotz ihrer Fußfesseln, bis sie schließlich selbst ins Straucheln geriet. Kaum war sie zu Boden gegangen, stürzten sich die Männer auf sie. Ein letztes Mal versuchte sie sich zu wehren, wand sich und zappelte, spürte dann, wie sich kräftige Hände um ihren Hals legten und drückten, bis sie würgte und spuckte und kaum noch Luft bekam. Da gab sie auf.

«Na also! Wurde aber auch Zeit.»

Roderich stülpte ihr einen schweren Sack über den Kopf, der beißend nach Hühnerschiss stank, und zog ihn unten am Saum zu. Danach löste er die Fußfesseln, die er ihr stattdessen um die Handgelenke schlang, und schleifte sie hinter sich her nach draußen.

«Sind die Tiere bereit?», hörte Eva ihn fragen.

«Ja, Herr.»

Das war die Stimme von Bartlome, einem der beiden Mauerwärter des Landguts. Mit ihm hatte Eva zwei, drei Male nach Feierabend gewürfelt. Ein winziger Funken Hoffnung keimte in ihr auf. Der Mann war zwar nicht gerade der Hellste, aber er war ehrlich und ein ergebener Bewunderer von Moritz von Ährenfels.

«Was machen wir mit ihrem Kram?», fragte Hartmann von Zabern.

«Den nehmen wir mit. Das Werkzeug wird Hilprands Schneidergesell gut brauchen können. He, Bartlome, glotz nicht so dämlich! Beeil dich, binde den Beutel der Metze hinter den Sattel, wir sind spät dran.»

Grob wurde Eva auf das Reittier bugsiert. Ihre Füße tasteten nach den Steigbügeln, die Finger umkrampften den Sattelknauf, als das Tier sich in Bewegung setzte. Sie hatte keine Erfahrung in den Reitkünsten, und umso unheimlicher war ihr das Geschaukel, zumal sie mit ihrer Vermummung rein gar nichts erkennen konnte. Schwindelgefühle packten sie; oben und unten, rechts und links flossen ineinander, und sie glaubte, sich übergeben zu müssen.

«Haltet an», rief sie. «Mir ist übel.»

«Dann kotz halt!», war Roderichs knappe Antwort.

Tränen stiegen ihr in die Augen. «Lieber Gott im Himmel, Jesus und Maria», begann sie leise zu beten, «bleibt bei mir! Zeigt mir einen Ausweg! Lasst mich nicht bei diesen Ungeheuern! Lasst mich nicht zur Hure werden!»

Sie gab sich jetzt keinerlei Mühe mehr, die Tränen zurückzuhalten. Es sah sie ja niemand hinter dem groben, stinkenden Sackleinen ihrer Kapuze, die ihr in diesem Moment fast zum Schutz und Trost wurde. In lautlosen Schluchzern begann sie zu weinen – nicht etwa über ihre aussichtslose Lage, sondern über den Verrat, über die unfassbare Hinterlist jenes Mannes, den sie zu lieben geglaubt hatte.

 

Eva schrak aus ihrem Dämmerzustand. Fast wäre sie vornüber aus dem Sattel gekippt, als ihr Reittier ganz plötzlich zum Stehen kam. Sie hörte vor sich Stimmen, die sich fröhliche Grußworte zuwarfen, dann die Frage: «Was führt Ihr denn da für ein Nachtgespenst mit Euch, Roderich von Ährenfels?»

«Eine Betrügerin», gab Roderich zur Antwort. «Eine Diebin und Betrügerin. Ich will oben auf der Burg Gericht über sie halten.»

«Recht so! Haltet nur all das Gesindel fern von unsrer schönen Hofmark. Grüß Euch Gott und kommt gut heim.»

«Grüß Euch Gott, Herr Pfarrer.»

Damit setzte sich die seltsame kleine Karawane wieder in Bewegung.

Wie gern hätte sie dem Pfarrer entgegengeschrien, dass er sie von seinen Gottesdiensten her kannte, dass sie der Schneiderbursche vom Herrenhof war. Und dass der Ährenfelser sie entführt hatte, mit den abscheulichsten und allersündigsten Absichten. Aber der Pfarrer würde ihr kein Wort glauben.

Nein, mit Mutwillen und Gewalt erreichte sie im Augenblick gar nichts. Sie musste in kleinen Schritten vorgehen. Erleichtert spürte sie, wie die Hoffnung in sie zurückkehrte. Hatte sich nicht bislang aus jeder Zwickmühle ein Törchen für sie geöffnet?

«Edler Herr von Ährenfels», rief sie, so freundlich es ihr möglich war. «Könntet Ihr mir wenigstens den Sack vom Kopf nehmen? Ich will auch keinen Aufstand mehr machen, ich schwör’s Euch.»

«Aha, unser falsches Schneiderlein wird vernünftig. Bartlome, nimm ihr den Sack weg und gib ihr ein Batzerl Brot. Aber keine Zicken, mein liebes Kind, ich warne dich.»

Das grelle Licht stach ihr in die Augen, als Eva sich umblickte. Hier war das Land um einiges bergiger und waldiger als beim Gutshof, und dem Stand der Sonne nach ging es in Richtung Norden. Vor ihr, auf zwei kraftvollen, edlen Rössern, ritten der Alte und sein Hofmeister. Dicht neben ihr, wie sie selbst, schwankte auf einem knochigen Maultier der Knecht.

Hungrig verschlang sie den Kanten Brot, den Bartlome ihr gereicht hatte. Die Verlegenheit stand dem Mauerwächter qualvoll ins Gesicht geschrieben.

«Wie weit ist es noch bis zur Burg?», fragte sie ihn leise.

Bartlome schüttelte den Kopf.

«Weißt du vielleicht, wo Junker Moritz steckt?»

Wieder erntete sie nur Kopfschütteln, und beinah ärgerlich sagte sie: «Was soll das? Waren wir nicht immer gut Freund gewesen?»

Mit einem ängstlichen Blick nach vorn flüsterte Bartlome: «Ich soll nicht mit dir sprechen.»

Sofort beffzte Roderich sie an: «Haltets das Maul, ihr beiden. Oder soll ich’s euch zubinden?»

Etwa eine Stunde später – es hatte bereits zu dämmern begonnen – kehrten sie in einem vornehmen Landgasthof ein. Eva taten von dem langen Ritt alle Knochen weh, als Bartlome ihr aus dem Sattel half.

«Los, ab in den Stall mit euch.» Der Alte schlug Bartlome grob gegen die Schulter. «Wenn du die Tiere versorgt hast, lass ich euch was zu essen bringen. Und vergiss nicht, dem Weib die Fußfesseln anzulegen. Nicht dass unser Goldtäubchen auf und davon fliegt.»

Eine halbe Stunde später kauerte Eva auf einer Strohschütte, Hand- und Fußgelenke gefesselt, während sich Bartlome neben ihr ausstreckte.

«Es tut mir leid, das alles», murmelte er. «Wie heißt du eigentlich? Als Weib, mein ich.»

«Eva.»

Sie schwiegen. Schließlich fragte sie: «Warst du schon mal auf der Burg?»

Bartlome nickte. «Die klebt hoch oben auf einer Felsnadel, mit doppelter Ringmauer und Graben und einem einzigen Tor, das mit Zugbrücke und Fallgitter gesichert ist. Da kommst du so schnell nicht wieder raus, falls man dich gefänglich einlegt.»

«Sind dort oft solche – solche gemeinen Weiber?»

«Schon. Und es geht ihnen nicht schlecht, glaub ich. Aber warum fragst du? Was hast du mit diesen Huren am Hut?»

«Bist du so tumb, oder tust du nur so? Warum werd ich wohl in Fesseln auf die Burg geschleift?»

«Weil über dich Gericht gehalten wird, dachte ich.»

Die Stalltür schwang auf, und Hartmann von Zabern stapfte herein.

«Was ratschst du da wie ein altes Waschweib? Ist dir nicht verboten, mit der Gefangenen zu sprechen?»

«Ja, Herr. Verzeiht.»

«Hier, nimm. Wasser, Brot und ein Stückerl Schwarzwurst. Das muss reichen bis morgen früh. Wie viel du dem Weib abgibst, überlass ich dir. Aber ich warne dich: Halt deine dreckigen Pfoten im Zaum, sonst quetsch ich dir die Eier zu Mus. Und morgen bei Sonnenaufgang sind die Pferde gesattelt, verstanden?»

«Ja, Herr.»

Nachdem der Hofmeister verschwunden war, behielt Bartlome die Tür noch eine Zeitlang im Blick, dann zog er aus seiner Tasche ein mehrfach gefaltetes Papier.

«Hör zu, Eva. Als der junge Herr heut Morgen vom Hof geritten ist, hat er mir das hier für dich gegeben. Der Alte darf es aber niemals erfahren, sonst komm ich in Teufels Küche.»

Eva starrte mit stockendem Atem auf den Zettel in Bartlomes Hand, als enthielte er ein tödliches Gift.

«Tu das weg», flüsterte sie schließlich kaum hörbar.

«Aber ich muss es dir geben. Auf Leben und Tod, hat der junge Herr mir gesagt.»

«Tu das weg, hab ich gesagt.» Jetzt brüllte Eva voller Wut und schlug dem Knecht das Papier aus der Hand. «Verflucht sei dein junger Herr! In der Hölle soll er schmoren für das, was er mir angetan hat!»

Bartlome sah sie nur aus runden Augen an, dann zuckte er die Schultern und klaubte den Zettel zwischen den Strohhalmen heraus.

«Schlaf jetzt. Wir haben morgen noch ein gutes Stück zu reiten.»

 

Eva hätte nicht sagen können, ob sie wahrhaftig geschlafen hatte, als sich etwas an ihren Fußfesseln zu schaffen machte. Ratten!, war ihr erster Gedanke, und sie zog mit einem Ruck ihre Füße heran. Da erkannte sie in der Dunkelheit die Umrisse eines Mannes vor sich.

«Bartlome?»

Die Gestalt richtete sich auf. Zu Evas Erleichterung war es wirklich der Mauerknecht.

«Es geht», flüsterte der. «Es geht tatsächlich. Dass ich nicht früher draufgekommen bin.»

«Was meinst du?»

«Ich hab die ganze Zeit drüber nachgedacht, wie ich deine Fesseln aufkriege, so ohne Messer. Da hab ich deine Schneiderschere aus dem Werkzeugsack genommen. Jetzt halt still, der Strick ist gleich durch.»

Kurz darauf waren auch Evas Hände befreit. Ihre Augen füllten sich mit Tränen der Dankbarkeit. Wie grundfalsch hatte sie doch den Knecht eingeschätzt.

«Hör zu, Eva: Am besten verschwindest du in Richtung Süden, immer weiter, bis du auf Regensburger Gebiet kommst. Ich glaub nicht, dass der Ährenfelser so weit weg nach dir suchen lässt.»

«Aber es ist stockdunkel draußen.»

«Es wird schon gehen. Außerdem sieht dich dann ja auch keiner. Erinnerst du dich an die große Schleifmühle, eine halbe Wegstunde von hier?»

«Ja.»

«Der Fluss heißt Schwarze Laber. Eine Holzbrücke führt darüber, danach nimm den Pfad bis zu der großen Handelsstraße von Nürnberg nach Regensburg. Der folgst du einfach flussabwärts. Du kannst den Weg gar nicht verfehlen.»

Er reichte ihr den Beutel. «Vergiss dein Werkzeug nicht.»

«Aber – was wird der Alte mit dir machen? Bestimmt wird er dich auspeitschen!»

«So schlimm wird’s schon nicht. Ich sag ihm einfach, du hättst mich in der Nacht niedergeschlagen, mit deinen zusammengebundenen Fäusten. Stark genug bist ja.» Er grinste. «Vielleicht schnapp ich mir eins der Maultiere und mach mich aus dem Staub. Ich wollt mir eh einen neuen Dienstherrn suchen.»

Eva umarmte ihn.

«Ich danke dir!»

«Jetzt lauf los. Und viel Glück!»

Der Halbmond spähte hin und wieder zwischen den Wolken hindurch und gab ihr ausreichend Licht, um Mühle und Holzsteg zu finden. Als bald darauf die Nürnberger Handelsstraße, die sich hier auf halber Höhe an die Berge schmiegte, vor ihr auftauchte, menschenleer und gottverlassen, suchte sie Schutz hinter dichtem Buschwerk und überdachte ihre Lage.

Nun war sie wieder Frau, trug ein hübsches, ja kostbares Kleid auf dem Leib, viel zu dünn allerdings für den einbrechenden Herbst, dazu zierliche Lederschuhe, die einem nach kurzem Fußmarsch schon Blasen bescherten. Ihr war klar: In diesem Aufzug würde sie keinen Tag unbehelligt über die Landstraße ziehen können. Wenigstens hatte sie immer noch ihr Werkzeug, ihren kostbarsten Besitz. Um damit ihr Brot verdienen zu können, brauchte sie aber schleunigst wieder Männerkleidung, und sie besaß keinen einzigen Heller mehr. Beides, ihre alten Kleider wie das Geld, das ihr der Kämmerer zum Lohn ausbezahlt hatte, lagen gut verwahrt in einer der Truhen im Jagdhaus, zusammen mit dem schönen Jagdmesser von Moritz, das ihr so viele gute Dienste geleistet hatte. Es war alles so sinnlos!

Sie kauerte sich zusammen und kämpfte gegen die feuchte Kälte kurz vor Morgengrauen an. Noch war keine Menschenseele zu sehen, weder in Richtung Regensburg noch nach Nürnberg hin. Nichts wie weg wollte sie aus dieser vermaledeiten Gegend, in der sie nun schon seit Jahren kreuz und quer herumirrte wie ein Brummkreisel. Möglichst weit weg, nach Süden oder nach Westen, ganz gleich, wohin. Denn wer kein Zuhause hatte, konnte überall hingehen.

Diesen letzten Satz murmelte Eva immer wieder und tastete nach dem Amulett an ihrem Hals. «Keine Angst, Igelchen», sagte sie plötzlich laut in die Stille hinein. «Ich geb nicht auf.»

Sie lehnte den Kopf gegen ihren Ledersack und wartete auf den ersten wärmenden Sonnenstrahl.