29

Die Hufspuren auf dem Waldweg verrieten Eva, dass hier vor kurzem ein Pferd entlanggegangen sein musste. Ihr Herz schlug heftiger. Wenn im Jagdhaus tatsächlich Moritz von Ährenfels auf sie wartete – was wollte er dann noch von ihr? Hatte er etwa Mitleid? Weil sein Bruder ihr nicht mal einen Bruchteil des vereinbarten Lohnes ausbezahlt hatte? Oder wollte er sich einfach von ihr verabschieden? Aber dazu hätte er sie nicht ins Jagdhaus bestellen müssen.

Wahrscheinlich beging sie einen aberwitzigen Fehler, indem sie seiner Aufforderung folgte. Sie wollte weder aus Mitleid eine Handvoll Groschen zugesteckt bekommen noch irgendwelche Freundschaftsbekundungen zu ihrem Abschied – schon gar nicht von einem Mann, von dem sie sich wider alle Vernunft den Kopf hatte verdrehen lassen!

Als sie unter dem Begrüßungsgebell von Moritz’ Jagdhund den Hof vor dem verwitterten Holzhaus betrat, war es zur Umkehr zu spät: Der Junker stand im Türrahmen und sah sie mit festem Blick an.

«Eva!»

Ganz ernst sprach er ihren Namen. Dann pfiff er seinen Hund heran, fasste Eva beim Arm und führte sie ins Haus, hinein in die kleine, holzgetäfelte Stube, in der schon ein Feuer im Kamin flackerte.

Dort betrachtete er sie stumm.

«Was wollt Ihr noch von mir?», fragte sie mit rauer Stimme. Etwas in ihrem Inneren zog sich schmerzhaft zusammen. So nah bei ihm zu sein, sie beide ganz allein in einem Raum – das war kaum auszuhalten.

Er deutete auf einen Tisch in der Ecke, und jetzt erst sah Eva das weinrote Kleid aus glänzender Atlasseide mit feinem Spitzenkragen und offenem, dunkelgrün unterfüttertem Rock, das über die Tischplatte gebreitet lag. Daneben fanden sich ein Paar zierlicher Lederschuhe mit silbernen Schnallen sowie ein mit Perlen besticktes Samthütchen, wie es adlige Damen bei der Jagd trugen.

«Zieh das an, bitte.»

Eva trat an den Tisch und strich über den weichen Stoff des Kleides. Es war wundervoll gearbeitet, das sah sie auf den ersten Blick.

«Es gehört dir.»

Sie fuhr herum. «Aber warum? Was soll das?»

«Bitte, Eva!», sagte er mit flehendem Blick. «Tu es mir zuliebe. Ich möchte dich endlich sehen als das, was du bist – eine Frau. Ich will mich nicht länger mit Trugbildern quälen müssen. Du ahnst nicht, in welche Abgründe du mich gestürzt hast. Seit deiner Ankunft habe ich mich jeden Tag mehr als widernatürliche Kreatur empfunden, als abartiges, sodomitisches Ungeheuer. Nur, weil ich mich zu dir hingezogen fühlte! Und dabei habe ich doch die ganze Zeit die Wahrheit geahnt.»

Er drehte sich zur Wand.

«Bitte, zieh es an», wiederholte er.

Zögernd entkleidete sie sich bis auf ihr dünnes Leinenhemd, dann streifte sie sich das Kleid über. Es saß wie angegossen. Sie schlüpfte in die Schuhe, die nur ein wenig zu groß waren, und setzte sich das Hütchen auf die Locken.

«Ihr dürft Euch umdrehen.»

«Endlich!» Moritz von Ährenfels sank vor ihr auf die Knie, und Eva wurde rot vor Verlegenheit. Plötzlich musste sie lauthals lachen.

«Bitte, Junker Moritz, steht wieder auf. Ihr tut grad so, als sei ich ein Edelfräulein. Dabei ist dieses kostbare Kleid genauso eine Mummerei wie meine Schneidertracht.»

Moritz von Ährenfels schüttelte heftig den Kopf.

«Für mich bist du ein Edelfräulein. Nein, mehr noch – eine Prinzessin! Und hör endlich auf, mich Junker zu nennen.» Er umkreiste sie in seinen langen Schritten. «Weißt du eigentlich, wie schön du bist? Allein dein Mund, deine Lippen – so fein gezeichnet! Und deine blauen Augen unter den dunklen Brauen!» Er blieb stehen. «Ich schwör dir, schon nach unserer ersten Begegnung konnte ich dich nicht vergessen. So stark und stolz bist du mir damals vorgekommen, wie eine wilde Katze, und zugleich so verletzlich! Und als du schließlich hier bei uns auftauchtest, glaubte ich, eine Erscheinung zu haben.»

Er nahm ihr Gesicht in beide Hände.

«Sag mir nur eins: Hast du auch manchmal an mich gedacht?»

Sie nickte, wollte etwas erwidern, da umschlossen seine Lippen ihren Mund. Ganz zart nur, als einen allerersten Versuch der Annährung, küsste er sie. Eva spürte, wie ein nie gekanntes Feuer in ihr aufloderte. Brüsk riss sie sich los.

«Was tut Ihr da? Wenn Ihr glaubt, Ihr könntet es ausnutzen, dass wir allein sind, dann kennt Ihr mich schlecht. Ich weiß mich zu wehren.»

Sie sah, wie er erschrocken, ja beinahe schmerzhaft das Gesicht verzog, und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Warum stieß sie diesen Menschen von sich, wo sie sich nichts sehnlicher wünschte, als in seinen Armen zu liegen? Alles war so anders mit Moritz, ihm vertraute sie grenzenlos, ihm gegenüber verspürte sie keine Angst mehr vor dem, was das männliche Wesen ausmachte, was sie sonst nur als hässlich und gewaltsam erfahren hatte. Im Gegenteil: Nicht nur seine Lippen, seine Küsse wollte sie spüren, sondern alles! Alles, was zwischen Weib und Mann möglich war!

«Verzeih, Eva. Verzeih mir vieltausendmal!» Er nahm ihre Hand. «Was bin ich nur für ein Esel! Wahrscheinlich denkst du, ich sei wie mein Vater. Denkst, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Aber glaub mir, ich will nichts ausnutzen. Ich wünsche mir nur eines: dass du nicht wieder davonrennst, wie dazumal bei Neumarkt. Komm!»

Er führte sie an den Tisch, hob einen ledernen Knappsack vom Boden auf und packte Weinschlauch, Brot, Käse und Schinken aus, dazu zwei Zinnbecher, die er randvoll goss. Dann setzte er sich ihr gegenüber.

«Du hast gewiss noch keinen Bissen gegessen heut.» Er hob seinen Becher. «Auf dich, Eva. Darauf, dass du wahrhaftig hierher ins Jagdhaus gekommen bist. Ich hatte es gar nicht mehr zu hoffen gewagt.»

Längst lächelte er wieder, und seine Augen strahlten sie an.

«Jetzt iss und erzähl mir von dir. Ich möchte noch so viel über dich erfahren.» Er nahm einen tiefen Schluck. «Bis jetzt weiß ich rein gar nichts, außer dass du einen kleinen Bruder hast, der damals mit auf dem Karren saß, und dass du aus Wien kommst.»

Wider Willen musste Eva lachen. «Aus Glatz komm ich in Wirklichkeit, allenfalls noch aus Passau. Von Wien kenn ich nur das Stadttor von außen. Aber den kleinen Niklas» – der Name versetzte ihr einen schmerzhaften Stich –, «den gibt es tatsächlich.»

«Siehst du! Nichts weiß ich. Und das mit dem großen Bruder in Straßburg – das war dann wohl auch geflunkert?»

«Nein. Auch den gibt es. Adam besucht in Straßburg die Universität.»

«Adam?»

«Ja. Ich hab mir seinen Namen ausgesucht, für mein Leben als Schneidergesell. Und dazu Portner, nach meinem leiblichen Vater. Der war seinerzeit ein bekannter Schneidermeister am Glatzer Grafenhof.»

Sie nahm einen Schluck von dem Wein, der wie Samt auf der Zunge lag. Von klein auf habe sie keinen anderen Wunsch gehabt, als ihr Brot mit Schneidern zu verdienen. Da eine Frau allenfalls als Näherin gehen dürfe, sei ihr vor einiger Zeit der Gedanke gekommen, sich als Bursche zu verkleiden. Zudem komme sie als Mann auch einigermaßen sicher über Land. Ihr Ziel sei Frankreich, wo ein solches Gaukelspiel dann nicht mehr vonnöten sei.

«Dort gibt es sogar Frauenzünfte. Das weiß ich von Adam.»

Moritz hatte ihr aufmerksam zugehört.

«Fühlst du dich denn nicht manchmal einsam, wenn du so mutterseelenallein unterwegs bist?»

«Ach – ich finde schnell Gesellschaft. Nur meine Geschwister vermisse ich schrecklich, vor allem den Kleinen, den Niklas. Ich denk eigentlich jeden Tag an ihn. Wir hatten beim Abschied ausgemacht, dass wir jeden Regenbogen als Gruß vom andern sehen und uns dann vorstellen, dort oben beinanderzusitzen und auf die Welt zu schauen. Und letzte Woche, wisst Ihr noch?, als sich dieser wunderschöne Regenbogen über die Hügel hinterm Gutshof zog, da war ich dann ganz nah bei Niklas. Es gibt sie bloß viel zu selten, diese Regenbögen.»

Kopfschüttelnd betrachtete Moritz sie.

«Noch nie zuvor bin ich einer Frau wie dir begegnet.»

«Ist das nun geschmeichelt oder geschmäht?»

«Weder das eine noch das andre.» Verstohlen strich er über ihre Hand, dann schenkte er ihr und sich selbst von dem Wein nach. «Ich bewundre deinen Mut, Eva, aber ich darf mir gar nicht vorstellen, was dir alles hätt zustoßen können auf deinen Wanderungen. Ein klein bisserl narrisch bist du wirklich, das musst du zugeben.»

Eva verzog trotzig den Mund. «Narrisch ist das doch nur in den Augen von euch Mannsbildern. Schließlich habt ihr gut reden: Ihr könnt von Alpha nach Beta wandern, grad wie es euch zupasskommt. Als Bürger könnt ihr das Schneiderhandwerk lernen oder Goldschmied oder Tuchmacher oder was weiß ich. Aber gottgewollt ist das alles keineswegs, sonst würde Gott auch bei den Welschen keine Frauenzünfte dulden.»

Sie holte Luft. Wieder griff Moritz nach ihrer Hand, doch sie entwand sie ihm.

«Ich will Euch noch was sagen. Ich bin nämlich nicht das einzige Weib, das so narrisch ist. Immer wieder hab ich von Frauen gehört, die sich als Mann verkleidet haben, und zweioder dreimal bin ich in letzter Zeit Kerlen begegnet, da war ich mir ganz sicher, dass es keine waren. Auch wenn Ihr mir das jetzt nicht glaubt.»

«Doch, ich glaub dir. Ich weiß sogar, dass es zu anderen Zeiten und in anderen Weltgegenden immer schon Frauen gab, die den Männern in nichts nachstanden. Sogar Fürstinnen und Königinnen, die ihr Land vorbildlich regierten. Hast du jemals von den geschworenen Jungfern vom Balkan gehört?»

«Nein.» Warm und wie eine weiche Höhle legten sich Moritz’ Hände über ihre, und diesmal zog Eva sie nicht zurück.

«Dort im Balkangebirge leben Bergvölker mit kriegerischer Kultur, mit blutigen Fehden zwischen den Sippen. Wie überall untersteht die Frau dort erst dem Vater, dann dem Ehemann. Aber es steht ihr frei, einen Schwur abzulegen, das Gelübde, auf ewig Jungfrau und unverheiratet zu bleiben. Als geschworene Jungfrau dann hat sie das Recht, Mannskleider anzulegen und sogar Waffen zu tragen. Und sie kann den Platz eines verstorbenen Vaters oder Bruders als Familienoberhaupt einnehmen.»

«Ist das wahr?»

«Wenn ich’s doch sage.»

Sie hatte das Gefühl, in Moritz’ Blick zu versinken wie in einem dunklen Waldweiher. Heilige Elisabeth, wohin würde das alles noch führen? Sie entzog ihm ihre Hände und versteckte sie in den Falten ihres Rocks. Dann räusperte sie sich.

«Wisst Ihr, was ich mich oft frage? Warum eigentlich macht man uns Frauen das Leben so schwer? Arbeiten sollen wir genauso wie die Männer, uns plagen mit Wasserschleppen und Holzschleppen, wir sollen Wäsche und Töpfe schrubben, die Felder pflügen, das Vieh melken. Und zwischendurch mal eben Kinder gebären und großziehen – aber immer dürfen wir nur das tun, was uns von den Männern bestimmt wird. Warum soll eine Frau nicht Meister werden können, warum nicht zur See fahren, warum nicht in den Krieg ziehen? Doch nicht etwa, weil sie es nicht vermag! Denn all die Frauen, die sich als Männer verkleiden, beweisen ja grad das Gegenteil. Genau wie Eure geschworenen Jungfrauen.»

«Schon – aber manches ist einfach wider die Natur. So wie ein Mann ja auch keine Kinder gebären kann.»

«Mag sein. Aber ist es etwa wider die Natur, dass die Frau zwar schneidern und nähen darf, aber nur die Weißwäsche, keinesfalls Hosen und Gewänder? Das ist schlichtweg so festgelegt, und zwar nicht von Gott, sondern von den Zünften!»

In gespielter Verzweiflung verdrehte Moritz die Augen.

«Was bist du nur für eine Rebellin!»

Er stand auf und ging hinüber zum Kamin, um neues Holz auf die Glut zu legen. Nachdem es Feuer gefangen hatte, drehte er sich zu Eva um.

«Warum bist du mir in den See gefolgt und hast nach mir gerufen? Hattest du dir Sorgen gemacht?»

Sie antwortete nicht. Stattdessen erhob auch sie sich und trat zu der Reisetruhe, auf der sie ihre Kleider abgelegt hatte. Sie würde jetzt diese Kleider nehmen und von hier verschwinden. Und zwar augenblicklich. Ein leichter Schwindel erfasste sie. Das musste von dem schweren Rotwein rühren.

«Hattest du Angst um mich?» Seine Stimme war plötzlich dicht an ihrem Ohr. Seine Lippen berührten ihre Schläfe, sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut, seinen Arm, der sich um ihre Schultern legte und sie an seine Brust zog. Sie schloss die Augen.

«Ja, ich hatte Angst. Große Angst!»

Als er sie jetzt küsste, war ihr, als würde ihr ganzer Leib sich nach und nach in Wellen auflösen. Nichts in ihr hatte mehr Bestand, alles wurde weich und warm, zerfloss, verging, löste sich auf in wogende Zärtlichkeiten. Die Zeit zählte nicht mehr, die Welt zählte nicht mehr, es zählte nur noch, dass Moritz bei ihr war und sie bei ihm, ohne jede Lüge, ohne jedes Spiel, und dass sie sich endlich gefunden hatten.

Als Eva nach vielen Stunden, wie ihr schien, wieder halbwegs zu sich kam, als sie die Welt außerhalb wieder wahrnahm, lag sie in Moritz’ Armen vor dem Kaminfeuer, auf einem Lager aus weichen Fellen. Beide waren sie nackt, wie Gott sie geschaffen hatte. Sie hatten alles miteinander erkundet und erfahren, ohne jede Scham, ohne Vorbehalte, bis auf das Letzte, bis auf die eheliche Beiwohnung. Und dafür war Eva ihm dankbar. Nichts gab es somit zu bereuen, nichts zu befürchten – ganz im Gegenteil: Noch nie hatte sie sich sicherer und geborgener gefühlt, noch nie so sehr im Reinen mit sich selbst.

«Eva?»

«Ja?»

«Ich liebe dich.»

«Ich liebe dich auch, Moritz.»

Ihr Herz zog sich zusammen. Durfte sie so etwas überhaupt sagen? Sie, ein Weib einfacher Herkunft, der Stiefvater vom Vollbürger zum unehrlichen Büttel herabgesunken, sie selbst nicht mehr als eine Umschweiferin, eine Landstörzerin? Hinzu kam die bittere Erfahrung, die ihre eigene Schwester gemacht hatte: Durfte sie diesem Mann seinen Liebesschwur glauben? War er nicht von edlem Stand und daher von klein auf gewohnt, sich zu nehmen, was er begehrte? War es womöglich die reinste Dummheit, zu hoffen, dass sie Moritz mehr bedeutete als nur ein vorübergehendes Vergnügen? Dass er anders war als jener schändliche, aufgeblasene Bürgerssohn Lindhorn?

Andererseits: Wenn er sie so mit leuchtenden Augen betrachtete, so voller Zärtlichkeit und so voller Behutsamkeit berührte, nichts fordernd, was sie nicht zuließ – dann konnte das nichts Falsches sein. Nur – wie lange konnte so eine Liebe währen? Konnte sie überhaupt Bestand haben in einer Welt, in der jedem Mann, jeder Frau sein Stühlchen fest zugewiesen war?

«Was denkst du?», unterbrach er ihre Grübeleien. «Du siehst plötzlich so traurig aus. Du zitterst ja!»

Er sprang auf und zerrte eine Wolldecke aus einer der Truhen. Dabei entdeckte sie, dass sich auch über sein linkes Schulterblatt eine Narbe zog, ganz ähnlich der auf seiner Wange. Er breitete die Decke über sie, dann schlüpfte er ebenfalls darunter.

«Komm ganz dicht, damit ich dich wärme.»

Mit einem kleinen Seufzer schloss Eva die Augen.

«Wenn man uns nun hier entdeckt?», fragte sie leise.

«Außer mir kommt kein Mensch hier heraus. Schon seit Jahren nicht mehr. Und meinem Bruder und dem Hofmeister hab ich gesagt, ich sei nach Ingolstadt geritten, kleinerer Geldgeschäfte wegen.»

«Und wenn doch?»

Moritz grinste.

«Dann sag ich: Tretet ein, nur herein! Darf ich meine Braut vorstellen?»

«Du machst dich lustig über mich.»

«Aber nein. Es ist mir ernst mit dir. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du in meinen Armen liegst.» Er küsste ihre Stirn. «Erzähl mir mehr von deiner Familie. Von deiner Kindheit, von deinen Geschwistern.»

«Ein andermal.»

«Ein andermal? Heißt das, du bleibst?»

«Ich weiß es nicht.»

Sie öffnete die Augen.

«Du hast eben gesagt, es sei dir ernst mit mir. Wie ernst?»

«So ernst, dass ich dich, wenn du mich in einem Jahr immer noch liebst, zur Frau nehmen werde!»

«Weißt du, was du da redest? Das geht gar nicht! Du kannst doch nicht einem Mädchen von niederem Stand die Ehe versprechen.»

«Und ob! Ein Vetter meines Vaters hat im letzten Jahr eine Wirtstochter geheiratet. Bei uns Landjunkern bröckeln die Standesgrenzen längst. Ich glaube ohnehin, dass die große Zeit der Ritter auf immer vorüber ist. Der reiche Stadtbürger, der Patrizier – der hat das Wort! Diese Pfeffersäcke haben längst mehr Macht als wir, und mehr Reichtümer sowieso. Mit uns, den landsässigen Edelfreien, geht es bergab. Wir landen wieder dort, wo wir einst herkamen: beim Bauernstand.» Er hielt inne. «Verzeih mir, Eva. Da red ich und red ich von Dingen, die für dich furchtbar langweilig sein müssen.»

Sie strich ihm das lange Haar aus dem Gesicht. «Nein, überhaupt nicht. Erzähl mir mehr von deiner Familiengeschichte.»

Während der Tag draußen langsam zu Ende ging, erfuhr Eva, dass Moritz’ Ahnen vor Generationen noch unfreie Bauern waren, einfache Grundholde. Bis einer seiner Vorväter schließlich zum Meier der herzoglichen Güter hier in der Gegend ernannt wurde und damit zum Dorfführer und Fronherrn über die Bauern: Statt wie früher Abgaben und Frondienste zu leisten, forderte man nun selbst die Zinsen und Fronen ein.

«Unser Landgut war also über lange Zeit nichts andres als ein Fronhof der Wittelsbacher zu Landshut gewesen. Bis zu dem großen, blutigen Krieg um die Landshuter Erbfolge. Da hatte mein Urgroßvater dann rasch die Seiten gewechselt und wurde für seinen Treueid auf den neuen Baiernherzog, den Wittelsbacher zu München, mit dieser Hofmark belehnt und zum Freiherrn ernannt. Er war es auch, der die Burg Ährenfels erbaute.»

Damit habe, fuhr er fort, die Glanzzeit der Herren von Ährenfels begonnen, als getreue Dienstleute und Ministeriale der Baiernherzöge. Die Grundherrschaft samt Niedergericht über die hörigen Bauern wurde an die Söhne weitervererbt, bald zählten zehn Dörfer mitsamt den dazugehörigen Gütern zu ihren Besitzungen.

«Doch diese Glanzzeit währte nur allzu kurz – dank unserem Vater.» Moritz lachte bitter. «Er hat sich nie mit dem wenig vornehmen Landleben des Niederadels begnügen können, hatte immer nur Spott übrig für die engen Bande zu den Bauern, von denen man sich in Sprache und Alltagsbrauch kaum unterschied. Partout wollte er etwas von der höfischen Eleganz einer Münchner oder Landshuter Residenz hierherzaubern! Seine Kinder sollten nicht länger die Kammer mit dem Gesinde teilen, und für die geplanten Festlichkeiten musste ein Rittersaal her, die alte, gemütliche Kemenate reichte nicht mehr aus. Und so hat er vor zehn Jahren Unsummen in den Bau des neuen Herrenhauses gesteckt, hat ein wahres Schloss daraus gemacht. Und ein neues Jagdhaus musste auch noch her.»

Er schüttelte verächtlich den Kopf. «Doch hohe Gäste sind nie gekommen, anstelle von Sängern und Spielleuten werden Huren zum Zeitvertreib geladen! Dafür sind wir heut ganz bitterbös verschuldet, bei den Degenbergern drüben im Baiernwald. Die sind selber Ministeriale unsres Herzogs und verstehen es, andere Hofmarksherren als Dienstgefolgschaft einzusetzen, wo es ihnen grad beliebt. Auch wir sind ihnen mit Haut und Haar verpflichtet. Im Frühjahr zum Beispiel musste Kilian hier alles liegen und stehen lassen, nur weil es einem der jungen Degenberger, einem achtjährigen Grünschnabel, einfiel, nach Prag zu reisen, und er hierzu einen Begleiter suchte! Stell dir vor, nicht mal mehr das Schildgeld können wir heuer aus eigener Schatulle begleichen.»

«Schildgeld?» Eva bemerkte, wie seine Mundwinkel vor Empörung zitterten.

«Früher mussten die Ritter und Vasallen dem Landesherrn Heerfolge leisten, jetzt kauft man sich durch ein hohes Schildgeld frei, für das der Herzog Söldner anwirbt.»

Fast tat Moritz ihr leid. Hatte es da Niklas nicht viel, viel besser getroffen, an der Seite seines Straubinger Oheims? Eva fiel der Leitspruch ein, den Endress Wolff so gern zum Besten gegeben hatte: Das Glück ist bei den Tüchtigen. Nur: Was tat einer wie Moritz, dessen Vater das Glück seiner Vorväter und die Zukunft seiner Söhne verspielt hatte?

«Hast du schon mal dran gedacht fortzugehen?», fragte sie.

«O ja, immerzu! Am besten weit fort, weg aus Baiern, außer Reichweite meines Vaters. Dorthin, wo das Leben mehr verspricht. Zum Kaiser nach Wien vielleicht, um den Habsburgern meine Dienste anzubieten. Oder gar an den spanischen Königshof. Für mich als Drittgeborenen ist hier ohnehin kein Platz, und wenn ich nächstes Frühjahr achtzehn werde, hat mir mein Vater rein gar nichts mehr vorzuschreiben. Und dann …» Er zog sie an sich und fuhr ihr zärtlich durch das viel zu kurze Haar. «Dann werden wir heiraten. Bis dahin können wir hier im Jagdhaus wohnen, nur wir beide. Du kannst nähen und sticken und schneidern, was und wie du willst – alles, was du hierzu brauchst, will ich dir beschaffen. Und dann im Frühjahr, wenn dein schönes Haar wieder so lang ist wie damals, als ich dich das erste Mal sah, werde ich dich erneut fragen: Willst du meine Frau werden?»

«Ach, Moritz – bis zum Frühjahr hast du dir längst eine Grafentochter geangelt!»

Moritz lachte. «Ich hätte schon viele haben können. Seitdem ich denken kann, werden mir irgendwelche affigen Jungfern vorgeführt, von hohem Stand, aus bestem Hause. Ich wollte sie alle nicht, und jetzt endlich weiß ich, warum: Weil das Schicksal dich vorgesehen hat für mich! Willst du also?»

Sie schmiegte sich in seine Armbeuge. Dies alles klang nach einer dieser wundersamen Geschichten, die sie Niklas immer so gern erzählt hatte. Die so vollkommen waren, dass ihr selbst manchmal die Tränen kamen – Tränen deshalb, weil sie genau wusste, dass die Welt für solche Wunder nicht geschaffen war. Andererseits: Warum sollte sie sich nicht, nach einem solch herrlichen Tag, diesem Traum hingeben dürfen?

Und so küsste sie ihn und sagte mit fester Stimme: «Ja.»