Sie musste den ganzen restlichen Tag und die folgende Nacht wie ein Stein geschlafen haben, denn als sie erwachte, schob sich die Morgensonne eben über die Baumwipfel und ließ den Fluss vor ihr glitzern wie ein Band aus Kristallen.
In schmerzvollen Schüben kehrte die Erinnerung zurück. Ob sie die Augen nun offen oder geschlossen hielt – stets sah sie die blutigen und geschändeten Leichname vor sich. Sie versuchte sich einzureden, dass die beiden auch ohne ihr Beisein zu Tode gekommen wären, dass auch sie selbst ein Opfer dieses Schandbuben war, aber es gelang ihr nicht.
Obwohl ihre Glieder von der Kühle der Nacht noch klamm waren, suchte sie sich eine seichte Stelle am Ufer, streifte sich die Kleider vom Leib und stieg in die eisigen Fluten. In der Mitte des Flusses tauchte sie ein bis zum Hals, zitternd und mit klappernden Zähnen, wusch und schrubbte sich, als könne sie sich damit von aller Schuld reinwaschen. Als das kalte Wasser ihr Gesicht berührte, schrie sie auf vor Schmerz. Kaum wagte sie die Wunde auf ihrer Stirn zu ertasten, auch der Nasenrücken musste etwas abbekommen haben, und ihr linkes Auge, das merkte sie erst jetzt, war fast zugeschwollen. Wahrscheinlich sah sie grauenhaft aus!
Unwillkürlich blickte sie sich um, lauschte auf Stimmen, auf Hufgetrappel. Aber außer ihr war keine Menschenseele in diesem gottverlassenen Stück Wald. Unter Zähneklappern holte sie ihre Siebensachen, trug sie mit erhobenen Armen quer durch den Fluss und kleidete sich am anderen Ufer an. Sie spürte eine große Leere in sich, und als sie sich langsam auf den Weg machte, fühlte sie sich ausgehöhlt wie ein fauliger Baumstamm.
Dem Sonnenstand nach marschierte sie geradewegs gegen Abend, durch eine vollkommen einsame Landschaft mit bewaldeten Kuppen, mageren Wiesenhängen und jähen Felseinbrüchen, die hier und da mit schwarzen Spalten und Löchern gespickt waren. Sie setzte Schritt vor Schritt, gleichmäßig wie das Räderwerk einer Turmuhr, ohne Furcht vor Überfällen, ohne Hunger oder Durst, überhaupt ohne jegliches Gefühl. Bald schon zog sich der Himmel schwer zusammen, und die Luft flimmerte vor Hitze, irgendwann zuckten die ersten Blitze. Doch sie marschierte weiter, ohne zu wissen, wohin, schrak nicht einmal zusammen, als Donnerschlag auf Donnerschlag die Stille ringsum erschütterte. Erst als der Regen in Sturzbächen auf sie herunterprasselte, kletterte sie in eines der Felslöcher, rollte sich auf dem sandigen Boden zusammen und schlief augenblicklich ein.
Am nächsten Tag beruhigte sich das Wetter allmählich wieder, und gegen Nachmittag führte ihr Weg sie zurück in bewohnte Gegenden. Einzelnen Köhlerhütten und Einödhöfen folgten alsbald Weiler und umfriedete Dörfer, die sich zwischen den sanften, fruchtbaren Hügeln verteilten. Als Eva auf einer Bergkuppe aus dem Schatten eines Buchenwäldchens trat, thronte auf dem flachen Hügel gegenüber ein herrschaftlicher Gutshof, umgeben von einer weißgekalkten Mauer mit wehrhaften Rundtürmen in den Winkeln. Zwischen den Strohdächern von Schuppen, Stallungen und niedrigen Hütten erhob sich in strahlendem Gelb das mehrstöckige, aus massivem Stein errichtete Herrenhaus. Mit seiner Fahne auf dem First und den zahlreichen Erkern und Türmchen wirkte es fast schon wie ein richtiges Burgschloss.
Beim Anblick des Landguts verspürte Eva plötzlich Hunger und Durst, zum ersten Mal seit jenem grauenhaften Geschehen auf dem Bauernhof. Und sie sehnte sich, nach zwei Nächten auf dem blanken Erdboden, nach einem Strohsack. Auch wenn sie sich am liebsten dagegen gewehrt hätte: Ihre Lebensgeister kehrten zurück. Sie würde bei dem Herrenhof nach einem warmen Essen und nach Unterkunft fragen und im Gegenzug ihre Dienste anbieten. Obwohl sie keine Ahnung hatte, ob eine solch vornehme Herrschaft, wie sie hier zweifelsfrei wohnte, nicht ihren eigenen Schneidermeister hatte.
In eiligem Schritt stieg sie talwärts. Da sie keine Toreinfahrt entdecken konnte, umrundete sie in gehörigem Abstand die weitläufige Anlage. Zur anderen Seite hin, einer Talmulde, durch die sich ein Bach schlängelte, fand sie das mit einem Wehrgang besetzte Tor. Nicht weit davon, am Ufer des Baches, lagerte zu Evas großem Erstaunen eine Sippe Zigeuner: Splitternackte Kinder mit dunkler Haut und dichtem pechschwarzem Haar tobten unter den gespannten Wäscheleinen herum, Hunde dösten in der Abendsonne, und eine Handvoll Weiber in grellbunten Stoffen, behängt mit schwerem Silberschmuck, war gerade dabei, den Kessel fürs Abendessen zu füllen.
Eva kniff unwillig die Augen zusammen. Wollte sie zum Tor des Gutshofs, musste sie mitten hindurch zwischen den schmuddeligen Planwagen und Handkarren, zwischen diesen fremdartig anmutenden Frauen und Kindern. Männer waren keine zu sehen. Sie straffte die Schultern, hielt ihren Ledersack mit beiden Händen fest umklammert und setzte sich mit großen Schritten in Bewegung. Doch sie kam nicht mal bis zu dem gepflasterten Vorplatz.
«He, du! Weg, weg! Verschwind!»
Erschrocken starrte Eva auf die drei jungen Burschen, die sich jetzt vor ihr aufbauten. Sie waren dunkel wie die Nacht, einer von ihnen richtete drohend einen Holzbengel gegen sie.
«Was soll das?», fragte sie mit so männlicher Stimme wie möglich. «Lasst mich vorbei.»
«Nix da. Weg, verschwind!», wiederholte der mit dem Prügel, offensichtlich der Anführer, in seiner fremdartigen, kehligen Aussprache.
Da platzte Eva der Kragen. Dieses Tatarenpack! Die hatten ihr gar nichts zu sagen! Sie schleuderte dem Wortführer ihren Ledersack gegen das Kinn, sodass der mit einem Aufschrei hintenübersackte, und lief los in Richtung Tor – bis sie ein Schlag in beide Kniekehlen straucheln ließ. Als die Zigeuner sie packen wollten, brüllte und raste und fluchte sie, schlug um sich, kratzte und biss, was sie erwischen konnte, sodass es den Kerlen kaum möglich war, sie festzuhalten. Ein Faustschlag in die Magengrube schließlich ließ sie zusammenklappen.
«Was soll das Getös?»
Eva sah keuchend auf. Im Tor zum Gutshof hatte sich eine Klappe geöffnet, durch die ein rotbärtiges Gesicht glotzte.
«Ist dreckiger Landstörzer», erklärte einer der Angreifer mit frechem Grinsen. «Wollte betteln. Krieg i Belohnung jetzt?»
Da erst begriff Eva. Sie hatte davon gehört, dass mancherorts der landsässige Adel Vaganten und sogar Zigeuner auf seinen Gütern wohnen ließ, mit dem Auftrag, auf Fremde achtzugeben und alles fernzuhalten, was nach Bettlern und anderem Gesindel aussah.
Der Rotbärtige spuckte aus. «Dafür, dass du mir solche Haderlumpen vor die Tür schleppst, statt sie zu verjagen? Bist narrisch?»
Wieder schlug Eva um sich. «Bin kein Landstreicher. Ich bin Schneider und such Arbeit gegen Kost und Unterkunft.»
«Willst mich vergackeiern? Schneider – ha! Und woher hast du dann deine verschrammte und verblutete Goschn? Bist wohl kopfüber vom Schneidertisch gefallen, was?» Der Wächter lachte keckernd über seinen eigenen Spaß. «Hau ab jetzt, sonst stech ich dir meinen Sauspieß in die Rippen.»
Eva sah den Mann verblüfft an. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht: Wahrscheinlich sah sie aus wie der übelste Gartknecht, der eben einer Wirtshausschlägerei entkommen war. Und ihr Gewand war dazu völlig verstaubt und fleckig.
«Verdammt, tu deine dreckigen Pfoten weg.» Wütend biss sie einem ihrer Peiniger in den Handballen. Der jaulte auf und schlug ihr hart ins Gesicht.
«Was ist das nur für ein Affentanz!» Der Rotbart geriet nun ebenfalls in Harnisch. «Drei Burschen schaffen es nicht, dieses halbe Hemd hier wegzubringen.»
Er warf einen Strick heraus. «Hier, fesselt ihm die Hände. Wenn ihr jetzt keine Ruh schafft, könnt ihr morgen allesamt von hier verschwinden, verstanden?»
Ehe Eva sich’s versah, waren ihre Handgelenke aneinandergebunden.
«Das wirst du mir büßen», schrie sie den Torwächter an. «Du Mistkerl! Du grindiger, rothaariger Flohbeutel!»
«Dir werd ich das freche Maul schon noch stopfen! Los, bringt ihn her!» Die Luke wurde krachend zugeschlagen, kurz darauf öffnete sich neben dem Haupttor eine schmale Pforte. So grob wurde Eva durch den Spalt ins Innere des Hofes gestoßen, dass sie strauchelte und zu Boden ging. Als sie den Kopf hob, stand über ihr der Wächter, ein Bär von einem Mannsbild, daneben zwei Knechte, die sie neugierig anglotzten.
«Das macht mindestens zwanzig Peitschenhiebe.» Der Rotbärtige grinste voller Häme. «Holen wir also den Alten, der wird sich freuen über diese Abwechslung.»
«Er ist nicht da», sagte einer der Knechte. «Ist unterwegs zum Ständetag. Und die jungen Herren sind noch auf der Jagd.»
«Dann bringt ihn halt so lang runter ins Loch.»
Eva hatte keine Kraft mehr. Ohne weitere Gegenwehr stolperte sie den Knechten hinterher, quer über den riesigen Hof, vorbei am Herrenhaus, das jetzt aus der Nähe mit seiner abgeblätterten Farbe schon etwas schäbiger aussah, vorbei an Remise und Stall bis zu einem langgestreckten Wirtschaftsgebäude. Dort, im Steinsockel des Erdgeschosses, führte eine Rampe abwärts, durch einen Rundbogen geradewegs in das kalte Dunkel des Gewölbekellers.
Eva fragte sich, wie sie aus diesem Schlamassel wohl wieder herauskäme. Als einer der Männer einen Kienspan entzündete, entfloh eine fette Ratte ihren Füßen, huschte den Gang hinunter und quetschte sich unter einem Eisengitter hindurch, das einen winzigen Raum abtrennte.
«Da hast gleich die richtige Gesellschaft», lachte der Mann und öffnete das Gittertor. Die schwere Eisenkette an der Wand und der Haufen Stroh davor verrieten Eva, dass sie am Ziel angelangt waren: im Verlies des Herrenhofs.
«Was geschieht jetzt?», fragte sie mit dünner Stimme.
Der mit dem Kienspan zuckte die Schultern. «Wirst wohl warten müssen bis heut Abend.»
«Ich hab Durst.»
«Essen und Trinken gibt’s auch erst später. Hättest es dir halt früher überlegen müssen, ob du dich mit dem Rotbart anlegst. Andrerseits – hat dem mal ganz recht geschehen.»
Er warf einen Blick auf die Eisenkette. «Wenn du mir versprichst, keinen Aufstand mehr zu machen, dann lass ich das mit der Kette.»
«Ich versprech’s.»
Sie konnte kaum noch die Tränen zurückhalten, als sie sich auf das schmutzige Stroh sinken ließ. Von der Wand gegenüber fiel durch eine winzige Luke ein Streifen Tageslicht herein. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Zu warten, bis man sie holen ließ und mit Peitschenschlägen vom Hof jagte.
Sie musste eine Weile geschlafen haben. Als das Knarren der Kellertür sie auffahren ließ, war das Licht draußen völliger Dunkelheit gewichen.
«Steh auf, die Herren sind da.» Das war einer der Knechte von vorhin. Eine Lampe flammte auf und tauchte die Kellerwände in unruhigen Schein. Hinter dem Licht bewegten sich die Umrisse zweier Männer auf sie zu.
«Schließ das Gitter auf», vernahm Eva eine junge Stimme. Eine Stimme, die zu einer schlanken, hochgewachsenen Gestalt gehörte und Eva den Atem nahm. Vor Schreck, vor Erstaunen und auch vor Glück. Als sich dann das schmale Gesicht in den Lichtkreis der Lampe schob, gab es keinen Zweifel mehr: Vor ihr stand kein anderer als Moritz von Ährenfels!