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In den nächsten Tagen bekam sie Moritz von Ährenfels nicht mehr zu Gesicht, da er den Brückenbau über ein nahegelegenes Flüsschen zu beaufsichtigen hatte, und das war ihr ganz recht so. In aller Ruhe arbeitete sie sich durch den Stoß von Beinkleidern und Hemden, von Kitteln und Wämsern der Dienerschaft. Sollte sie alles zur Zufriedenheit erledigt haben, würde sie sich an die Kleidung der Herrschaften machen dürfen.
Man hatte ihr einen Tisch in der kleinen Werkstatt zugewiesen, den sie, um das Licht der warmen Sommertage zu nutzen, nach draußen unter das Vordach geschafft hatte. Von hier hatte Eva alles im Blick, was sich zwischen Wirtschaftsgebäuden und Hintereingang des Herrenhauses so tat. Sie sah die Wäscherinnen ihre schweren Körbe zum Ufer des Bachs hinausschleppen oder die Spülmagd frisches Wasser vom Brunnen holen, sah mehrmals täglich den Küchenjungen zum Backhaus tänzeln und mindestens ein Mal, wie er dort verstohlen eine der jungen Mägde küsste. Frühmorgens wurden die Schweine herausgelassen und in den Wald getrieben, dann die Reit- und Kutschpferde vor dem Stall angebunden und geputzt, bis ihr Fell in der Sonne glänzte. Gegen Abend kehrten die Knechte und Mägde von der Feldarbeit zurück.
So verliefen ihre Tage höchst abwechslungsreich, und alle naslang gesellte sich jemand zu ihr an den Tisch, um einen Schwatz zu halten. Schon nach kurzer Zeit wusste sie Bescheid um alles Mögliche: etwa dass der alte Roderich von Ährenfels seine Gemahlin mit seiner ewigen Nörgelei und seinen Weibergeschichten ins Grab gebracht hatte und auch jetzt noch ein alter Hurenbock sei, vor dem sich jeder Rock in Acht nehmen müsse. Dass er seine beiden Töchter glänzend verheiratet hatte, die eine ins nahe Ingolstadt, die andere an den Wittelsbacherhof in München. Und dass er auf seinen dritt- und jüngstgeborenen Sohn Moritz überhaupt nicht gut zu sprechen sei – vielleicht, weil der gar zu wenig nach dem Ebenbild des Alten geraten war.
Der Zweig der Adelsfamilie, der hier auf der Hofstatt wohnte, war nicht allzu groß. Außer den beiden Brüdern Moritz und Kilian waren das nur noch Kilians kränkelnde Frau und deren beiden Töchter im Kindesalter, dazu eine unverheiratete, greise Schwester des Hofherrn, die so gut wie nie ihre abgedunkelte Kammer verließ, und einige halbwüchsige Vettern, die den Sommer hier verbrachten. Der erstgeborene Sohn des alten Roderich, Hilprand von Ährenfels, lebte im Übrigen mit Frau und sieben Kindern auf der Stammburg, zwei Tagesritte von hier, und Roderich selbst pendelte zwischen Gut und Stammburg hin und her. Damit glaubte er wohl, seine Hofmark besser im Griff zu haben.
Anfangs wunderte sich Eva, wie wenig herrschaftlich es hier zuging. Genau genommen nicht viel anders als auf den Höfen der reichen Bauern, die Eva von ihren Wanderungen her kannte. Scharen von Hühnern, struppigen Katzen und Ziegen liefen einem vor den Füßen herum, überall stank es nach deren Hinterlassenschaften und von den Abortgruben her, die außen vor den Mauern lagen und viel zu selten geleert wurden. Jeder Schritt über den Hof wirbelte jetzt im Hochsommer Staub auf, im Herbst und Winter dann würde man im Morast versinken, da nur die Auffahrt vom Haupttor zum Portal des Herrenhauses gepflastert war. Überhaupt gaben sich, bis auf das Herrenhaus und die mächtige Ringmauer, die Gebäude äußerst einfach und schmucklos, waren allesamt aus Holz, Lehm und Stroh und würden erfahrungsgemäß beim ersten Herdbrand oder Blitzschlag in Flammen aufgehen.
Einen beträchtlichen Unterschied zum Hof eines reichen Bauern gab es dennoch: die große Anzahl von Bediensteten. Da waren der Leibkoch mit der Spülmagd und dem Küchenknaben, der Stallmeister und der Jagdgehilfe, zwei Wäscherinnen, die Hennenmagd und die Schweinemagd, der Torwächter mit seinen beiden Mauerknechten sowie ein gutes Dutzend Mägde und Knechte für die Feld- und Gartenarbeit.
Als Aufwarter drüben im Haus verdingten sich zwei Kammerdiener und zwei Kammerfräulein, dazu Mundschenk, Tischdiener und Schürknecht. In der kleinen Kanzlei des Edlen von Ährenfels schließlich residierten der Kämmerer, der sich zugleich als Schreiber verdingte, und, in uneingeschränkter Herrschaft über alle anderen, der Hofmeister, ein kurzatmiger Dickwanst, dem Eva möglichst aus dem Weg ging. Von Anbeginn an nämlich war Hartmann von Zabern ihr mit unverhohlener Abneigung begegnet – warum auch immer.
Fast ebenso zuwider blieb ihr der Torwächter, von allen nur Rotbart gerufen. Mit den beiden Mauer- und Kellerknechten hingegen freundete sie sich, trotz des unschönen ersten Zusammentreffens, bald an. Sie waren vielleicht nicht gerade die Hellsten, auf ihre Art aber gutmütig und freundlich.
Auch was Kleidung und Äußeres der Leute betraf, fühlte man sich eher in ein ganz normales Dorf versetzt als auf einen Herrenhof. Bei der täglichen Arbeit überwogen, zumal bei den Männern, Kleider aus groben, zweckmäßigen Stoffen, und wer nicht barfuß ging, trug plumpes Schuhwerk mit dicken Sohlen. Nicht einmal Hofmeister und Kämmerer unterschieden sich wesentlich von ihrer Dienerschaft. Nur an Sonn- und Feiertagen oder wenn hoher Besuch eintraf, legten sie ein vornehmes Gewand an.
Es gab nur einen, der tagaus, tagein herumstolzierte wie ein aufgeputzter Affe, und das war Kilian von Ährenfels. Er hätte wahrhaftig eher in eine Residenz wie München gepasst, schon allein seines hochnäsigen Gesichtsausdrucks und seiner blasierten Ausdrucksweise wegen. Ansonsten aber fluchte und lachte man hier in derselben Sprache wie der einfache Landmann, schnäuzte sich am Ärmel, spuckte auf den Boden und grölte abends beim Weißbier dieselben Lieder wie in jeder Dorfschenke. Vielleicht ging es ja drinnen im Saal etwas gesitteter zu, doch außer der prächtigen Eingangshalle hatte Eva von dem Herrenhaus noch nichts zu Gesicht bekommen.
Auch die Umgebung des Landguts kannte sie kaum, denn bis auf den Kirchgang bot sich ihr keine Gelegenheit herauszukommen. Die Herren von Ährenfels besaßen keine eigene Kapelle, und so wurde, auf gut Katholisch, in der nächstgelegenen Dorfkirche gebetet.
Schon der erste Kirchgang ließ Eva mit dem jungen Herrn zusammentreffen. Es war zu Mariä Himmelfahrt, und bereits in der frühen Morgenstunde stand die Luft vor Hitze. Moritz von Ährenfels nahm, wie der Hofmeister und die übrigen Mitglieder seiner Familie, den Weg ins Dorf hoch zu Ross. Als er Eva erblickte, stieg er sofort ab und führte seinen Rappen neben sich her.
«Ich hab gehört, du hast dich gut eingefunden.» Er strahlte sie an. «Nächste Woche kommt unser Vater zurück. Ich bin sicher, er wird zufrieden sein mit deiner Arbeit. Und wenn der erst seine und Kilians Kleidertruhen öffnet, dann hast du Arbeit auf Wochen. Hättest du denn die Zeit, oder musst du weiter?»
«Nein, nein, mich treibt nichts.»
Eva spürte, wie die Verlegenheit ihr fast die Stimme raubte. Warum nur musste der Junker ausgerechnet neben ihr gehen? Und warum diese Freundlichkeit? Was hatte ein Edelfreier schon mit einem Schneiderknecht zu schaffen? Jetzt wischte er sich den Schweiß von der Stirn.
«Was für eine Hitze am frühen Morgen. Hoffentlich gibt das kein Gewitter. Wir wollen morgen mit der Kornernte beginnen.»
«Wir?» Eva vermochte den Spott in ihrer Stimme nicht zu verbergen.
«Auch wenn du es nicht glaubst: Ich helfe mit.» Er lachte. «Schneiden, Garben binden, kutschieren – es macht mir Spaß. Die meisten Menschen haben ein grundfalsches Bild von uns Kleinadligen. Letztlich haben wir mehr mit dem Landvolk gemeinsam als mit den Grafen und Fürsten. Ich kann mich noch erinnern, wie wir Kinder, vor dem Neubau des Herrenhauses, mit dem Gesinde in einem Raum geschlafen haben. Weißt du, im Grunde unterscheidet uns vom reichen Bauern nur der Grundbesitz. Und natürlich Burgbann und niedere Gerichtsbarkeit. Aber was schwatz ich da – das interessiert dich als Schneider gewiss gar nicht.»
«Doch, doch.» Eva errötete. «Sprecht nur weiter. Bitte!»
Aber in diesem Moment rief Junker Kilian ihn zu sich, herrisch und mit sauertöpfischer Miene.
«Auf ein andermal.» Moritz hob die Hand zum Gruß und schwang sich mit der Leichtigkeit einer Feder auf sein Pferd.
Zwei Tage später war Sonntag und damit wiederum Kirchgang. Diesmal erschien Moritz ganz ohne Pferd und gesellte sich bereits vor dem Hoftor zu Eva.
«Erzähl mir ein wenig von dir», bat er. «Woher kommst du? Was hast du vor, wenn du von hier weggehst?»
«Aus Wien bin ich», log sie. Die Habsburgerstadt schien ihr weit genug weg und groß genug, als dass sie sich damit keine Falle stellte.
«Sag bloß! Aus dem schönen Wien?» Er riss seine smaragdgrünen Augen auf. «Das hört man gar nicht heraus. Du sprichst fast wie die Leute hier.»
«Bin ja auch schon lange fort von da.»
«Ich war zweimal in Wien: letzten Monat erst, als Kaiser Ferdinand starb, und dann als Kind, beim Einzug des Thronfolgers. Das hättest du sehen sollen – auf einem riesigen Elefanten kam der junge Maximilian angeritten! Die ganze Reise von Spanien her soll er darauf geritten sein. – Aber warum nur bist du weg aus dieser herrlichen Stadt? Ich meine, du bist ja noch so jung, hast kaum einen Bart ums Maul.»
«Es lief nicht gut zwischen mir und meinem Stiefvater.» Das wenigstens war nicht gelogen. Hinter der Wegbiegung tauchte der Turm der Dorfkirche auf. Schade, schoss es Eva durch den Kopf. Schade, dass ihr Zusammensein gleich ein Ende finden würde.
«Und was hast du vor?»
Auch hierzu wollte sie nicht lügen und erzählte von ihrem Vorhaben, ein wenig Erfahrung auf der Stör zu sammeln, um dann ihren Bruder in Straßburg aufzusuchen.
«Dort will ich die Sprache der Welschen lernen, meinen Meister machen und dann eine eigne Werkstatt im Franzosenreich eröffnen.»
Der Junker sah sie ungläubig an und schüttelte den Kopf. «So was hab ich ja noch nie gehört. Warum machst du’s dir so beschwerlich?»
Wider Willen musste Eva lächeln. «Beschwerlich? Ich will nur was von der Welt sehen. Ihr Herren von edlem Stand zieht doch auch in der Weltgeschichte herum. Ich wette, Wien ist nicht die einzige berühmte Stadt, die Ihr kennt.»
«Gut, gut, du hast gewonnen! Aber ein komischer Kauz bist du trotzdem. Wenn ich nur wüsste, wo ich dich schon mal gesehen habe. Ich bin mir darob ganz sicher. Irgendwo auf meinen Reisen.»
Eva verbarg ihre Hände hinter dem Rücken, die zu zittern begannen. Jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher, als endlich in der Kirche zu sein.
«Ich hab’s!»
Eva schrak zusammen.
«Du hast gewiss eine Schwester! Vielleicht ein, zwei Jahre älter als du, mit wilden, dunklen Locken.»
«Aber nein! Ich hab nur diesen einen Bruder in Straßburg. Ihr müsst Euch irren.»
Sie waren auf dem Kirchhof angelangt. Moritz von Ährenfels maß sie mit einem letzten prüfenden Blick.
«Seltsam, wirklich seltsam. So schnell irre ich mich bei Gesichtern sonst nicht.»
Dann betrat er den Seiteneingang, der zur Familienempore führte. Eva stand mit gesenktem Kopf und wartete, bis sie an der Reihe war, das Kirchenschiff zu betreten. Sie war sich sicher, dass sie Moritz’ letzten Satz schon mal aus seinem Mund gehört hatte.
Als der Junker gleich nach dem Gottesdienst von Hartmann von Zabern zur Seite genommen wurde, nutzte sie die Gelegenheit und machte sich, so schnell sie konnte, aus dem Staub. Auch wenn sie ihn brennend gern gefragt hätte, warum ihm denn dieses Mädchen mit den dunklen Locken so lange im Gedächtnis geblieben sei.