Nachtrag der Autorin

Das Motiv des als Mann verkleideten Weibes war und ist ein beliebtes Thema der Literatur. Doch auch in der historischen Realität, gerade in der Epoche der Frühen Neuzeit, trifft man immer wieder auf Frauen, die sich Männerkleider überstreiften, um ein freieres Leben führen zu können. Manche hielten dieses Leben über Jahre hinweg durch, und auch die historische Eva Barbiererin schaffte dies über eine lange Zeit, bis ihr «Possenspiel» schließlich entdeckt wurde. Oftmals wurde ein solcher Betrug, selbst bei einer vollzogenen Heirat, «nur» mit einer sogenannten Ehrenstrafe geahndet (etwa mit dem Pranger und anschließendem Stadt- bzw. Landesverweis), zumindest nach den offiziellen Prozessordnungen. Grund für diese vermeintliche Milde: Da der Frau eine eigene Sexualität gar nicht zugestanden wurde, vermuteten die Richter dahinter keineswegs eine sexuelle Verfehlung (selbst erotische Zärtlichkeiten unter Frauen wurden schlichtweg ignoriert), wohl aber einen Beweis der Verdorbenheit und vor allem: eine schändliche Täuschung und Arglist. Schließlich stand der Mann über der Frau, und Frauen, die sich als Männer ausgaben, machten sich in betrügerischer Weise männliche Vorrechte zu eigen.

Aus diesem Grund versuchten die Richter nicht selten, solchen Frauen weitaus schlimmere Delikte nachzuweisen, wie auch im Fall der Eva Barbiererin. Die lange Kerkerhaft, die Verhöre und schließlich die Folter hatten sie so zermürbt, dass sie sich schließlich nur noch in Widersprüche verwickelte und am Ende alles Mögliche zugab. So auch Straßenräuberei, worauf für Frauen Tod durch Ertränken stand. Außergewöhnlich in ihrem Fall ist allerdings, dass sie aufgrund zahlreicher Fürbitten zu dem sehr viel gnädigeren und ehrenvolleren Tod durch das Schwert verurteilt wurde.

Der Prozess sowie zahlreiche Fakten zu ihrem Leben sind im Nördlinger Stadtarchiv erstaunlich gut dokumentiert, zumal durch die detailreiche Aufarbeitung des Historikers und Stadtarchivars Dr. Gustav Wulz. Ich folge dabei seiner Einschätzung, dass Eva die ihr zur Last gelegten Gewaltverbrechen niemals begangen, sondern nur unter dem Druck der Folter gestanden hatte – tatsächlich nämlich konnte ihr zweifelsfrei nichts anderes nachgewiesen werden, als dass sie ein «unehrenhaftes Leben» geführt hatte.

Eines schimmert durch sämtliche historischen Fakten immer wieder hindurch: dass Eva eine außergewöhnliche, sehr selbständige und auch gewitzte junge Frau war, die sich jahrelang erfolgreich über Wasser gehalten hatte – mit ihrem Geschick im Schneiderhandwerk einerseits, mit kleinen Tricks und Betrügereien andererseits.

Dazu gehörte auch die damals unter Bettlern häufig angewandte Vortäuschung eines Veitstanzes, einer Art epileptischen Anfalls. Ob Eva nun tatsächlich an solchen (Schwäche-)Anfällen litt oder sie nur vorgab, ist ungewiss. Sicher aber ist, dass sie aus einem unglücklichen Elternhaus floh und sich auf eigene Faust vom böhmischen Glatz bis ins schwäbische Nördlingen durchgeschlagen hatte.

Ähnlich wie schon in meinem ersten Roman, «Die Hexe von Freiburg», habe ich versucht, die Fakten, die aus dem Prozess bekannt sind, mit Leben zu füllen, habe versucht, mich in die Beweggründe dieser jungen Frau einzufühlen, die dazu geführt haben mochten, dass sie jahrelang durch die Welt gewandert ist, sich allein und schutzlos den Gefahren der Landstraße ausgesetzt hat, bis sie zuletzt als Mann verkleidet weiterzog.

Einiges in meinem Roman mag den Lesern unwahrscheinlich vorkommen, doch gerade die unwahrscheinlichsten Vorkommnisse sind historisch belegt: so etwa, dass ihre Verkleidung nicht einmal während ihrer Krankheit im Spital oder im Badhaus durchschaut wurde und eine Bademagd sie gar verführen wollte; dass sie als Handwerksbursche in den Zunfthäusern, dieser Bastion männlichen Berufslebens, ein und aus ging; und dass sie offiziell verlobt war mit der Regensburger Spitalmutter, einer angesehenen, schon etwas älteren Bürgersfrau. Auch bei der Darstellung von Evas Kerkerhaft in Nördlingen, den Verhören, der Folter, der Urteilsverkündung und schließlich der Hinrichtung habe ich mich an den historischen Fakten orientiert.

Anderes hingegen habe ich meiner Phantasie überlassen, angeregt von den zahlreichen, teils auch widersprüchlichen Aussagen, die sie selbst zu ihrem Leben gemacht hatte. Auch die historische Eva ist als halbes Kind aus dem Elternhaus und vor einer Zwangsheirat geflohen – bei mir kommen noch die sexuellen Übergriffe des Stiefvaters hinzu. Mit der zunehmenden Rechtlosigkeit und Ausgrenzung von Frauen zu Beginn der Frühen Neuzeit nämlich (im Mittelalter hatten sie innerhalb ihres Standes weitaus mehr Freiheiten), mit der aufkommenden Sexualfeindlichkeit voller Heuchelei und Bigotterie sind Fälle brutalen Inzests und Vergewaltigungen Minderjähriger in den Gerichtsakten des 16. Jahrhunderts gehäuft verzeichnet.

Erfunden ist ebenfalls die Liebe zu Moritz. Aber auch hierzu haben mich historische Hinweise angeregt: Etliche Gnadengesuche von Adligen, denen Eva gut bekannt gewesen sein musste, hatten sie vor dem qualvollen Tod des Ertränkens bewahrt. Darüber hinaus war der Kontakt zwischen dem einfachen Landadel und der Landbevölkerung vielerorts recht eng, man unterschied sich kaum in Alltagskultur und Sprache. Eine Liebesbeziehung zwischen Landjunkern und Bauernmädchen kam daher vor.

War Eva Barbiererins «Possenspiel» nun eine einzigartige Ausnahme? War ihre Art von Leben tatsächlich so unerhört, wie es den Bewohnern der kleinen süddeutschen Handelsstadt Nördlingen erschien? Nein, sicherlich nicht. Unerhört war, dass man einen solchen Fall bestaunen durfte. Man kannte die zahlreichen Heiligenviten, etwa der heiligen Wilgefortis, der sogar ein Bart gewachsen war, oder man hatte von solchen «Hosenteufeln» aus den weitverbreiteten Flugschriften gehört. Zahlreiche Geschichten und Lieder kursierten hierüber im Volk.

Allein in den Niederlanden sind zwischen 1550 und 1839 über 120 Frauen in Männerkleidern historisch belegt, viele davon aus Deutschland. Fast kann man schon von einer Art Tradition sprechen: die Verkleidung als bekanntes Mittel, schwierigen Lebenslagen zu entkommen. Meist waren es junge Frauen, die zerrütteten Elternhäusern entstammten, Waisen oder Halbwaisen waren. Manche verdingten sich sogar als Soldaten oder Seeleute, es gab die legendäre Piratin Mary Read oder Maria van Antwerpen, die ihre Verkleidung als Soldat dreizehn Jahre lang aufrechtzuerhalten vermochte. Anderen wiederum erschien eine Heirat als letzte Konsequenz, um Argwohn zu vermeiden. Erleichtert wurde dieses Verkleidungsspiel durch die zunehmende Prüderie jener Zeit: Nacktheit und erotische Offenherzigkeit waren zunehmend tabuisiert. Dennoch brauchte es starke Nerven, Schlauheit und Schauspieltalent – Eigenschaften, die Eva ganz offensichtlich besaß.

Nur in den wenigsten Fällen kann die Forschung als Ursache für einen solchen «Mummenschanz» eine sexuelle Orientierung ausmachen. Weitaus häufiger waren die pragmatischen Gründe: Flucht vor dem Elternhaus oder einer ungewollten Heirat, die Aufnahme einer Arbeit, die Männern vorbehalten war, oder aber einfach das Überleben auf der Landstraße, unbehelligt von sexuellen Übergriffen. Bei Eva Barbiererin trafen wohl alle Gründe zu.

«Starb also kecklich und mannlich» – mutig und mannhaft, heißt es im Gerichtsprotokoll voller Anerkennung am Schluss. Doch Eva nutzte diese Anerkennung nichts mehr: Was ihr als einziger Ausweg erschien, nämlich ein von der Männerwelt geborgtes, falsches Leben, das ihr zunächst Sicherheit und ungeahnte Freiheiten, Anerkennung und auch materiellen Erfolg gewährte, wurde ihr zum Verhängnis.