21
«Weißt du überhaupt, wohin du willst?», fragte Niklas mit erstickter Stimme.
Sie hatten eben das Obere Tor durchquert, von wo es nach Regensburg und weiter nach Westen ging, und schlugen den Fußweg zur großen Handelsstraße ein. Eva blieb stehen. Über alles Mögliche hatte sie in den letzten Tagen nachgedacht, auch wie sie Josefina vielleicht doch noch ausfindig machen könnte – nur darüber nicht. Aber Niklas hatte recht: Der Mensch brauchte ein Ziel, sonst war er nur ein vertrocknetes Blatt im Wind.
«Ich will nach Straßburg zu unserem Bruder Adam.»
«Spinnst jetzt? Weißt du, wie weit das ist? Die Fuhrleute brauchen dafür drei bis vier Wochen!»
«Ach, Niklas, ich hab doch alle Zeit der Welt. Und jetzt geh zurück. Sonst wird der Oheim nur noch zorniger.»
«Das ist mir gleich.»
Wie in alten Zeiten, als Niklas noch der schmächtige Knabe mit den ewig kurzgeschorenen Haaren gewesen war, schob er trotzig die Unterlippe vor, und der Anblick versetzte Eva einen Stich. Eines Tages, das schwor sie sich, würde sie ihn besuchen kommen. Es durfte kein Abschied auf immer sein!
In diesem Moment begann es aus dem dunklen Gewölk über ihnen herunterzuprasseln. Eva nahm ihren Bruder bei der Hand und rannte mit ihm unter das Vordach eines nahen Schuppens. Zu ihren Füßen bildeten sich die ersten Pfützen.
«Bitte, Eva, bleib hier.» Niklas wischte sich mit dem Ärmel über das nasse Gesicht. «Ich werd mit dem Oheim reden, dass du nicht mehr die ganze schwere Arbeit im Haus allein machen musst und er diese falsche Schlange Agatha vor die Tür setzt. Glaub mir, ich werd ihn überreden können!»
Sie schüttelte den Kopf. «Es ist nicht nur wegen Agatha oder weil mir das Kreuz wehtut vom Wasser- und Holzschleppen. Da ist so was in mir, das ich nicht recht erklären kann. Eine Unruhe, so eine Unrast – als würde mir ein Stück in der Seele fehlen, der Teil der Seele, mit dem andre Menschen Wurzeln schlagen. Verstehst du, was ich meine?»
«Nein, kein bisschen. Hast du vergessen, wie schrecklich es manchmal war auf der Straße? Wie gefährlich? Wie oft wir gefroren und gehungert haben? Wie wir nass bis auf die Haut wurden bei solch einem Scheißwetter wie heute?»
«Hunger hattest vor allem du, und der Regen hört gleich wieder auf, das ist nur ein Aprilschauer.» Eva versuchte zu lachen. «Nach allem, was wir erlebt haben, weiß ich heute besser denn je, wo Gefahren lauern und wo nicht.»
«Ach ja?» Jetzt wurde Niklas wütend. «Und gegen Wegelagerer und Meuchelmörder wehrst du dich dann mit den Fäusten und mit deinem lächerlichen Jagdmesser? Ich bin kein kleines Kind mehr, Eva. Ich weiß genau, was Männer mit wehrlosen Frauen machen, was sie ihnen antun.»
«Hör zu, Niklas. Ich wollt es dir eigentlich nicht sagen, weil du mich sonst für verrückt erklärst. Aber jetzt verrate ich es dir eben: Ich werd nicht als Frau unterwegs sein.»
Niklas blieb der Mund offen stehen.
«Jetzt schau nicht so entgeistert. Ich wär nicht die erste Frau, die sich als Mann verkleidet. Wahrscheinlich kannst du dich nicht erinnern, aber in Glatz hatte mal eine Kompanie Pikeniere ihr Lager vor der Stadt aufgeschlagen. Durch Zufall war rausgekommen, dass einer von den Fußknechten eine Frau war. Jahrelang war sie unerkannt Soldat gewesen!»
Dass man die arme Frau nach der Entdeckung mit zwölf Rutenstreichen auf den nackten Rücken halb totgeschlagen hatte, verschwieg sie wohlweislich.
«Du bist – du bist wirklich verrückt», stammelte Niklas.
«Ich hab alles durchdacht. Beim nächsten Markt besorge ich mir Mannskleider, dann geh ich als Schneidergeselle und werd mir durch ehrliche Arbeit mein Geld verdienen. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Ich werd nicht klauen noch betteln, sondern abends in anständigen Wirtshäusern essen und in Herbergen übernachten. Siehst du? Der Regen lässt schon nach. Komm her, mein Kleiner, und gib mir einen Kuss. Ich muss los.»
Als sie unter dem Vordach hervortraten, brach die Sonne durch das nasse Grau und ließ die Welt in warmen Farben leuchten. Diesmal waren es keine Regentropfen, die sich Niklas aus dem Gesicht wischte.
«Ich werd dich so vermissen», schluchzte er.
«Ich dich auch, mein Igelchen.» Sie kämpfte schwer mit sich, nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen, und nahm ihren Bruder in die Arme, ein letztes Mal.
Als sie einander endlich losließen, spannte vor ihnen ein Regenbogen sein riesiges Halbrund über die Ebene des Straubinger Gäus, in so kräftigen und klaren Farben, wie es Eva nie zuvor gesehen hatte.
«Wie wunderschön», sagte sie mit leiser Stimme. «Es ist grad, als ob er für uns zum Abschied gemacht wäre.»
Niklas nickte. «Man möchte drauf hinaufklettern, bis hoch in den Himmel.»
«Weißt du, was, Niklas? Immer wenn wir einen Regenbogen sehen, denken wir aneinander. Dann stellen wir uns vor, dass wir dort oben sitzen, dicht beisammen, und hinunterschauen auf die Welt.»
Als sich Eva zum ersten Mal wieder umwandte, waren die Türme Straubings, die sonst weit hinein in die fruchtbare Ebene grüßten, im Dunst verschwunden. Eine gute Stunde war sie marschiert, im Stechschritt eines Landsknechts, der in die Schlacht zieht, hatte sich jeden Gedanken an den kleinen Bruder verboten und dennoch nicht verhindern können, dass ihr die Tränen unablässig übers Gesicht rannen. Erst als sie die Handelsstraße nach Regensburg erreichte, verlangsamte sich ihr Schritt. An einem steinernen Flurkreuz dicht bei der Straße machte sie halt und öffnete ihren Beutel mit der Wegzehrung. Dabei stieß sie auf ein schmales Lederbändchen mit einem kostbaren Marderzahn daran. Kühl und glatt lag das Amulett in ihrer Hand. Sie lächelte gerührt – Niklas musste es ihr unbemerkt in den Beutel gelegt haben. Ganz gewiss würde dieser Talisman ihr Kraft und Schutz geben.
«Danke, Igelchen», flüsterte sie und knotete sich das Band um den Hals. Sie fühlte sich in zwei Hälften zerrissen: die eine verging fast vor Abschiedsschmerz und Einsamkeit, die andere frohlockte angesichts der Weite der Landschaft und der Freiheit, die sich vor ihr auftat. Zu Adam nach Straßburg zu wandern war gar keine dumme Idee. Noch immer – oder vielmehr erneut – war sie von dem Traum erfüllt, sich im welschen Franzosenreich als Schneidermeisterin niederzulassen, und da lag das berühmte Straßburg geradezu auf dem Weg. Zuvor aber musste sie als Wandergeselle Erfahrungen sammeln. Ihr Plan war, hierzu die schöne Jahreshälfte zu nutzen und kreuz und quer durch die Dörfer und Flecken zu ziehen, um dort und auf den Einödhöfen ihre Dienste anzubieten – ganz so, wie sie es einst an der Seite von Wenzel Edelman getan hatte. Zudem konnte sie alte Kleidung aufkaufen, ausbessern und zu einem höheren Preis wieder verkaufen. Dass sie die Städte, wo das Handwerk fest in der Hand der Zünfte steckte, würde meiden müssen, tat ihr nicht weiter weh: Sie hatte vorerst genug von der Enge hinter Mauerring und Wehrtürmen.
Der einzige Nachteil bei solch einem Leben auf der Stör war, dass sie sich abseits der großen Handels- und Fahrstraßen bewegen musste. Insofern hatte sie Niklas angelogen, als sie ihm versprach, niemals allein zu wandern. Aber war sie erst einmal als Mann verkleidet, so drohten ihr unterwegs weitaus weniger Gefahren. Außerdem besaß sie noch immer ihr Jagdmesser.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie niemand beobachtete, zog sie ihren kostbaren Schatz unter der Rockschürze hervor. Die Klinge blitzte und funkelte im Sonnenlicht wie fürstliches Geschmeide. Fast zärtlich fuhr ihr Finger über den kühlen Stahl, dann über den Knauf mit dem hübschen Wappen. So vieles, was in den letzten Jahren geschehen war, hatte sie vergessen, und längst brachte sie Namen und Orte durcheinander. Eines aber war wie in ihrem Inneren wie festgebrannt: der Name Moritz von Ährenfels. Ob der Junker sich wohl noch an sie erinnerte?
Sie gab sich einen Ruck. Statt sich in Träumereien zu verlieren, musste sie schleunigst einen der Ostermärkte hier in der Gegend erreichen, denn die Sonne stand schon hoch. Gleich am heutigen Tag, das hatte sie sich geschworen, wollte sie einen Schneiderknecht aus sich machen. Hierzu würde sie ihre Weibskleider gegen Mannskleider eintauschen. Allerdings konnte sie nicht mir nichts, dir nichts an einen Marktstand treten und sagen: Gebt mir doch bitte diese Mannskleider, Ihr bekommt dafür jene, die ich am Leibe trag. So ging das selbstredend nicht, und erst an ihrem letzten Abend in Straubing war sie daraufgekommen, wie sie vorgehen konnte, ohne Verdacht zu erregen.
Auf dem Weg in das Dorf, das sich unterhalb eines Burgschlosses gegen den Berghang schmiegte, schlich sich Eva zu einem der zahllosen Weiher hier in der Gegend und versteckte sich im Unterholz. Dort kauerte sie sich ins Gras, lange Zeit reglos und starr wie ein altes Stück Holz, endlich murmelte sie ein Ave-Maria und gab sich einen Ruck.
Aus ihrem Reisesack zerrte sie ein mehrfach geflicktes Leinenhemd sowie Niklas’ alte Hose – jene löchrige, fußlose Strumpfhose, die Alois ihm einst geschenkt hatte und die Eva wie angegossen passte. Im Schutz der Büsche und Bäume zog sie sich aus, presste ihre kleinen Brüste mit einem Leinenwickel platt und schnürte sich bis zur Taille hinab. Dabei hielt sie immer wieder voller Sorge Ausschau, ob nur ja niemand Zeuge ihrer Verwandlung wurde. Sie streifte sich hastig die zerlumpten Kleider über, bückte sich und rieb sich die Hände kräftig mit der dunklen Walderde ein. Zufrieden sah sie, wie sich unter ihren Fingernägeln dicke Trauerränder bildeten, und beschmierte sich grad noch obendrein das Gesicht. Dann trat sie ins seichte Wasser des Weihers, wobei ihre Rechte den Knauf des Jagdmessers umklammerte, und beugte ihr Gesicht über den stillen, moosgrünen Wasserspiegel. Kurz zögerte sie, während sie ihr Konterfei betrachtete. Nein, es gab kein Zurück mehr. Entschlossen griff sie in ihr dichtes Haar und schnitt Strähne für Strähne, Locke für Locke bis auf Höhe der Ohren ab. Wie dunkle Schiffchen schaukelten die Büschel im Wasser davon.
Eva unterdrückte einen Seufzer. Viele Monate würde es dauern, bis ihr Haar wieder so lang sein würde. Aber es half ja nichts – schulterlang trug nur ein Edler und Vornehmer sein Haar, nicht aber ein Handwerker und schon gar nicht der reichlich zerlumpte Hirtenknabe, in den sie sich soeben verwandelt hatte.
Barfuß, ohne Kittel, ihr Kleiderbündel über der Schulter und einen Stock in der Faust – so kehrte Eva auf den Weg zurück, der geradewegs ins Dorf führte. Jetzt würde sich zeigen, ob sie ihr Narrenspiel durchhalten konnte. Wenn nicht, wäre alles aus.
Gerade noch rechtzeitig erreichte sie den Markt. Der einzige Altkleidertrödler, der seine Warenbank im Schatten der Pfarrkirche aufgebaut hatte, war gerade im Begriff, alles zusammenzuräumen. Sein Gesicht war mürrisch. Offensichtlich hatte er bisher kein allzu gutes Geschäft gemacht.
«Wartet, Meister», rief Eva, um dann, mit wesentlich tieferer Stimme, zu wiederholen: «Wartet bitte!»
«Was willst du?»
Sie breitete ihr Bündel auf dem Schragentisch aus. Nur den wollenen Umhang nahm sie wieder an sich, den wollte sie für kühle Tage behalten.
«Seht Ihr dieses schöne Kleid mit der hübschen Halskrause? Die zierliche Schürze dazu? Und das Schultertuch erst – es ist aus echter Atlasseide.»
Der Tändler verschwendete nicht mal einen Blick dafür.
«Ich kauf nix an heut, von niemandem», brummelte er.
«Schaut es Euch wenigstens an.»
Doch statt der Kleider musterte der Mann Eva, mit einem so durchdringenden Blick, dass ihr der kalte Schweiß ausbrach. Hatte er ihren Mummenschanz durchschaut? Ihre Muskeln spannten sich, sie war drauf und dran, sich aus dem Staub zu machen.
«Was bist du für ein Vogel?», fragte der Mann schließlich misstrauisch. «Hast das alles geklaut?»
«Herr im Himmel – nein!» Eva fiel augenblicklich ein Stein vom Herzen. Sie setzte ein treuherziges Lächeln auf.
«Das sind die Kleider der Dienstmagd meines Herrn, Gott hab sie selig. Grad an Karfreitag ist sie verstorben, nach dem Kirchgang, stellt Euch das vor! Vom Heuboden ist sie gestürzt und war sofort mausetot, und nur, weil sie das entlaufene Hündchen unserer Herrschaft suchen wollte. Ihr könnt Euch vorstellen, welch bittere Vorwürfe sich mein gnädiger Herr macht, weil er doch …»
«Was willst dafür?», unterbrach der Trödler ihren Redeschwall unwirsch. Er war an den Tisch getreten und strich jetzt über den Stoff des Kleides, drehte und wendete es sorgfältig. Sein Blick verriet, dass ihm gefiel, was er unter den Händen hielt.
«Eintauschen soll ich’s, hier bei Euch. Mein Herr sagt, Ihr hättet die beste Ware im ganzen Straubinger Land. Gerade richtig für seinen Sohn, der Wams, Hose und leichte Halbschuhe braucht.»
«Und warum kommt der Bazi dann net selber her?»
«Weil’s ihm das Herz zerreißen würde. Der hatte nämlich ein Aug auf das Mädchen gehabt, aber das darf keiner wissen. Weil der junge Herr gleich gebaut ist wie ich, hat er mich geschickt.»
Evas Geschmeichel zeitigte Erfolg. Ohne weitere Fragen legte der Tändler einen Stoß Kleider vor ihr aus.
«Für dein Glump da kannst Wams und Hose haben. Schuhe nicht, die musst in barer Münze berappen.»
«Was? Die abgewetzten Halbschuhe da soll ich bezahlen?»
«Hast doch gehört.»
«Dann nehm ich halt das Schultertuch wieder mit. Das ist viel mehr wert als deine Latschen.»
Dem Gefeilsche machte der Marktmeister ein Ende, der pünktlich mit dem Mittagsläuten herangeschlendert kam.
«Was soll das, Stadlersepp? Warum stehst noch hier rum? Wenn du dich nicht an die Bestimmungen hältst, brauchst gar nicht erst wieder aufkreuzen. Rasch jetzt, pack deinen Krempel weg!»
Wenige Minuten später war Eva im Besitz eines hellen Leinenwamses auf französische Art mit schwarzen Glasknöpfen, dazu hatte sie kurze, schwarze Pluderhosen aus Schwabentuch sowie rostbraune Wollstrümpfe und einfache Halbschuhe erstanden. Die Hosen hatten für Evas Geschmack einen viel zu stark gepolsterten Beutel im Schritt – andererseits verlieh ihr eine solch auffällige Schamkapsel vielleicht die nötige Männlichkeit.
Jetzt fehlte nur noch ein hoher Hut mit schneeweißer Feder. Aber den würde sie sich auch noch beschaffen.