Teil 1

Die Flucht

Frühjahr 1561 – Frühjahr 1563

1

Wenn Eva an ihre Kindheit zurückdachte, hatte sie vor allem zwei Bilder vor Augen: zum einen die immer kränkelnde Mutter, wie sie mit geschlossenen Augen im Elternbett lag, bleich wie die Wachsglieder, die in der 14-Nothelfer-Kapelle von der Decke hingen, und zum anderen die wundersame Wiedererweckung ihres toten Schwesterchens. Das war am Ende ihrer Glatzer Zeit gewesen, an einem Sonntag auf Johannis den Täufer. Nach einer qualvoll langen Geburt war der kleine Wurm endlich zur Welt gekommen, nur um sie wenige Atemzüge später wieder zu verlassen. Starr vor Schreck waren sie um das Wochenbett gestanden, ihre Geschwister, ihr Stiefvater, die Familie ihrer Mutter, Dutzende neugieriger Nachbarn: Wussten sie doch alle, dass ein Mensch erst mit dem Sakrament der Taufe vor möglicher Verdammnis geschützt war. Da hatte die alte Wehmutter das reglose Kind genommen, in ein Tuch gepackt und mit durchdringender Stimme erst die Mutter Gottes, dann den heiligen Christophorus, Josef von Nazareth, Johannes den Täufer, den heiligen Nikolaus und wen noch alles angerufen, bis schließlich alle Umstehenden eingestimmt hatten in ihr Flehen und Jammern und Beten. Immer wieder hatte die Alte dem Kind über Augen und Stirn gestrichen, bis es doch wahrhaftig wieder die Augen öffnete, die kleine Brust hob und jeder in der Kammer das Wimmern vernehmen konnte. Rasch war die Taufkerze entzündet und die Nottaufe verrichtet, dann durfte das Kind endlich in Frieden sterben. Von da an suchten Frauen und junge Mädchen scharenweise die Grabstelle der kleinen Maria auf, ob ihrer wundersamen Wiedererweckung, was sich erst verlor, als die Hebamme in der Umgebung weitere Totgeborene scheinbar ins Leben zurückrief und schließlich wegen Betrug und Kindstötung auf dem Scheiterhaufen landete.

Ihre Mutter hatte diese schwere Geburt und den Verlust ihrer Jüngsten wohl nie verwunden. Hatten sonst allein ihr Wille und die Liebe zu ihren vier Kindern sie nach jedem Schwächeanfall wieder auf die Beine gebracht, so schien ihr Vorrat an Kraft hiermit endgültig erschöpft: Für den Rest des Jahres blieb sie liegen, um am Weihnachtstag endgültig die Augen zu schließen. Da war Eva gerade elf Jahre alt geworden und ihre Kindheit zu Ende.

Eine Zeitlang hatten sie noch von Mutters kleinem Erbe, das sie als Tochter einer angesehenen Handwerkerfamilie eisern zusammengehalten hatte, leben können, ihr Stiefvater, sie und ihre Geschwister Adam, Josefina und der kleine Niklas, das einzige leibliche Kind von Evas zweitem Vater. Dessen Badstube hatte nie viel abgeworfen, schon immer war das meiste für seine Spiel- und Wettschulden draufgegangen. Ohnehin hatten die Glatzer Bürger nie verstanden, warum Evas Mutter nach einjähriger Witwenschaft diesen Tunichtgut und obendrein viel zu alten Gallus Barbierer geheiratet hatte, für den Eva, seit sie denken konnte, einen unbestimmten Ekel empfand und dessen Namen sie nun tragen musste. An ihren leiblichen Vater konnte sie sich nicht mehr erinnern. Drei oder vier Jahre war sie bei seinem Tod gewesen, doch in ihrer Vorstellung sah sie ihn als stolzen, aufrechten Mann in spitzenbesetzten Gewändern. Schneidermeister war Hans Portner gewesen und so geschickt in seinem Handwerk, dass man ihn am Ende sogar an den Grafenhof berufen hatte.

«Was hätt ich denn tun sollen mit drei kleinen Kindern?», hatte Eva ihre Mutter oft seufzen hören, wenn wieder eine Nachbarin über ihren Stiefvater vom Leder zog und prophezeite, dass er noch den ganzen Hausstand zugrunde richten würde. Tatsächlich war es noch schlimmer gekommen: Gerade mal ein gutes Jahr nach Mutters Tod war Gallus Barbierer vor den Rat der Stadt zitiert worden, und bald ging es durch die Gassen wie ein Lauffeuer: Dieser Schandbube habe in seiner Badstube ein heimliches Hurenhaus betrieben! So ganz verstanden hatte Eva die Aufregung damals nicht, schließlich hatte sie mit eigenen Augen die vielen erlauchten Herren in schwarzer Schaube und Silberbehang, einige Geistliche sogar, mit leuchtendem Blick und geröteten Wangen dort ein und aus gehen sehen, und sie hatte bei sich gedacht, dass es um ihr Ansehen wieder besser stünde bei so viel vornehmer Kundschaft in ihrem kleinen Badhaus.

Stattdessen war Gallus Barbierer auf eine Woche bei Wasser und Brot in den Turm gesperrt worden, um anschließend samt seinen Kindern aus der Stadt gejagt zu werden.

Dies alles lag nun schon über ein Jahr zurück. Monatelang waren sie damals durch die Lande geirrt, fast immer zu Fuß, der kleine Niklas auf den Schultern des starken, großen Adam, Eva selbst festgeklammert an der Hand der ein Jahr älteren Schwester, ihr Vater schließlich mit dem Handkarren, der das Wenige beförderte, was man ihnen gelassen hatte. Nur selten hatten mitleidige Fuhrleute sie aufsteigen lassen. Trotz Blasen an den Füßen ging es immer weiter über mal staubtrockene, mal tief verschlammte Landstraßen, und Eva lernte erstmals brennenden Durst und quälenden Hunger kennen. Schon immer hatten die Geschwister zusammengehalten gegen den Stiefvater, diese endlosen Wochen indes machten sie zu einer verschworenen Gemeinschaft. Einmal des Nachts, als sie zitternd um ein Lagerfeuer kauerten und ihr Vater unterwegs war, um in einer Schäferhütte nach Essensresten zu suchen, hatten sie sich feierlich gelobt, einander nie zu verlassen.

Schließlich waren sie über Ölmütz und Brünn, wo Wegelagerer ihren Karren geraubt hatten, nach Wien gekommen. Die Habsburgerstadt hatte ihr Ziel sein sollen, doch man verwehrte ihnen den Einlass. «Scheißkerle!», hatte der Stiefvater gebrüllt, «verdammtes Schelmenpack!», und dreimal gegen das Torhaus gespuckt. «Dann eben nach Passau, zu meinem Vetter.»

Sein Einfall war es auch gewesen, sich bei Einbruch der Dunkelheit auf einen Zug aus vier langgestreckten Frachtbooten zu schleichen, die am Donauufer vertäut lagen. Allerdings dauerte ihre Schiffsreise nur einen Tag, denn schon am nächsten Abend wurden sie entdeckt, und der Bootsführer warf sie in Ufernähe der Reihe nach über Bord. Nur mit Mühe erreichten Eva und Josefina das Ufer, wo ihr Stiefvater bereits mit eisiger Miene wartete, und wäre Adam nicht gewesen – der kleine Niklas wäre jämmerlich ersoffen.

«Was bist du nur für ein Mensch!» Voller Verachtung hatte Adam die Augen zusammengekniffen. «Deinen einzigen leiblichen Sohn hättst ertrinken lassen!»

«Halt dein dreckiges Maul und lass mich in Ruh!»

Da hatte Adam die Hand gegen den Älteren erhoben und ihm ins Gesicht geschlagen. Und der hatte sich nicht einmal gewehrt, ihn nur mit blödem Ausdruck angestiert. Nie würde Eva diesen Anblick vergessen!

Im Spätherbst endlich waren sie hier, im altehrwürdigen Fürstbistum Passau, gelandet. Womit keiner der Geschwister gerechnet hatte: Gallus Barbierer fand umgehend eine Anstellung. Durch die Vermittlung seines Vetters, eines dickwanstigen alten Nachtwächters, hatte er schon bald seine Dienste als städtischer Büttel antreten dürfen. Eva wusste, als Häscher, als Blutscherge stand ihr Stiefvater nun nahezu auf einer Stufe mit Henker und Abdecker, und auch an seinen Kindern würde nun auf immer der Makel der Unehrlichkeit haften. Was aber weitaus schmerzhafter war: Kaum hatten sie sich einigermaßen in Passau eingerichtet, hatte Adam ihnen verkündet, dass er fortmüsse. Nach Straßburg wolle er, wo selbst Burschen wie er, ohne Vermögen und Rang, an Burse und Fakultät unterkämen. Heimlich und unter Tränen hatte er sich verabschiedet, und Eva war vor Wut und Enttäuschung mit den Fäusten auf ihn losgegangen. Ihr geliebter Bruder, den sie so bewundert hatte, der so stark und klug war, dass er es sogar geschafft hatte, ihr das Lesen und Schreiben beizubringen – ihr Adam brach den Eid und ließ sie alle schmählich im Stich. Dieser Schmerz brannte fast schlimmer als damals der Tod ihrer Mutter, denn das hier war nicht nur endgültiger Abschied, sondern auch Verrat.

 

«Wenn du gewinnst, trag ich dich huckepack nach Haus!»

Eva stieß ihren kleinen Bruder in die Seite, dann rannten sie beide gleichzeitig los. Immer wieder fiel Niklas auf diesen Trick herein, wenn er den weiten Weg von den Uferwiesen nach Hause nicht laufen wollte. Und wie immer ließ sie ihn, kurz vor dem Severinstor, gewinnen. Von dort trug sie ihn dann das restliche Stück durch die Gassen der Innstadt auf dem Rücken, wie versprochen.

Vor dem Haus des Torwächters rannten sie mitten in einen Menschenauflauf. Ohne zu überlegen, nutzte Eva die Gunst der Stunde und prallte mit voller Wucht gegen einen dickleibigen Herrn, einen Trödler augenscheinlich, der seine Geldkatze allzu offenherzig am Gürtel trug. Der Dicke taumelte, Eva hielt ihn einen Moment lang fest und sah ihn dabei entschuldigend an.

«Verzeiht vielmals, werter Herr, aber mein kleiner Bruder ist mir auf und davon. – Saubazi! Bleibst du wohl stehen!»

«Kinderpack!», knurrte der Mann nur, dann lauter zum Torhüter: «Kann ich meine Ware jetzt endlich in die Stadt bringen?»

Eva lief um den Krämerkarren herum und ergriff ihren Bruder beim Arm. Dabei bückte sie sich mit einem überraschten Aufschrei.

«Habt Ihr das verloren?»

Sie reichte dem Mann die Geldkatze. Dabei lächelte sie treuherzig.

«Sapperment! Das ist in der Tat meine.» Seine Miene wurde freundlich. «Hab vielen Dank, Mädchen. So ehrliche Kinder findet man selten in diesen Zeiten.»

Rasch packte er den Schatz weg, ohne auf Evas erwartungsvollen Blick zu reagieren, hob die Deichsel seines Karrens an und marschierte durch das Tor.

«Alter Geizhals», murmelte Eva enttäuscht. Immer seltener erhielt sie einen Obolus, wenn sie die unbemerkt geklauten Geldbeutel zurückgab. Sie musste sich etwas anderes einfallen lassen.

«Hast du das Tuch mit dem Löwenzahn?», wandte sie sich an Niklas. Dem blieb der Mund offen stehen.

«Ich hab’s am Inn liegen gelassen.»

«Du Dummkopf!»

Die Ausbeute eines ganzen Morgens war dahin und ein gutes Stück Leintuch dazu! Jetzt im Frühjahr gaben die Felder noch nichts her, was man hätte stibitzen können, und so pflückten sie täglich nach dem Morgenessen draußen vor den Toren der Stadt Löwenzahn und allerlei Kräuter, damit überhaupt etwas Frisches auf den Tisch kam.

Niklas zog die Nase hoch, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er gleich zu weinen beginnen würde.

«Sollen wir zurück?»

«Das geht nicht. Die Hoblerin wartet. Und jetzt heul nicht und komm.»

Es tat ihr vor allem für ihren kleinen Bruder leid, dass sie in ihrer neuen Heimat, dieser Handwerkervorstadt vor der alten Brücke hinüber nach Passau, lebten wie die Junker von Habenichts, und das trotz ihres Vaters Anstellung als Büttel. Niklas war viel zu mager und klein für seine acht Jahre, was die anderen Gassenbuben weidlich ausnutzten, und auch sie selbst musste oft genug hungrig schlafen gehen. Dabei tat sie alles, um zum Unterhalt beizutragen: Neben der täglichen Hausarbeit wie Kochen und Putzen, Nachttöpfe-Leeren und Strohmatten-Wenden, Wäscheflicken und Töpfeschrubben bot sie überall in der Nachbarschaft ihre Dienste an. So schleppte sie Wasser und Holz für die alte Hoblerin von gegenüber, klaubte Pferdeäpfel aus dem Straßendreck, um sie gegen einen Kanten Brot einzutauschen, oder verrichtete Botengänge. Letzteres liebte sie fast ebenso sehr wie ihren morgendlichen Gang durch die Wiesen, denn es führte sie heraus aus der engen, stinkenden Vorstadt am Inn, mal über den Fluss in die Bischofsstadt, mal in die Fischersiedlung an der Ilz oder in den Marktflecken Hals mit seiner malerischen Burg. Hin und wieder, an sonnigen Tagen, nahm sie sich die Freiheit und wanderte nach ihren Botengängen hinauf in die grünen Hügel, bis zu einer einsamen kleinen Lichtung – ihrer Lichtung. Hier saß sie und sah aus luftiger Höhe auf die alte Residenzstadt herab, die wie ein Schiffsbug in den Zusammenfluss von Donau, Inn und Ilz ragte, in diese Ströme aus bunten Wassern: Blau floss die Donau dahin, smaragdfarbenes Grün brachte der Inn aus den Alpen, moorschwarzes Wasser die Ilz. Oftmals fühlte sie sich bei diesem Anblick so leicht und froh, dass sie lauthals zu singen begann.

Abends dann, wenn ihr Stiefvater eine Schenke nach der anderen aufsuchte, angeblich, um dort seiner hehren Aufgabe als Rüger in städtischen Diensten, als Hüter von Sittlichkeit und Ordnung nachzukommen, ging ihre Arbeit weiter. Nachdem sie Niklas zu Bett gebracht und noch ein, zwei Abendlieder mit ihm gesungen hatte, machte sie sich an die Küche, bis das Wenige, was sie besaßen, blitzte und blinkte. Oder sie besserte ihre abgetragene Kleidung aus. Manchmal klopfte in diesen Augenblicken die Hoblerin an die Tür, wohl wissend, dass sie allein war, und brachte ein Stück Käse oder einen Krug Milch vorbei.

«Damit euch nicht vor Hunger der Nachtmahr erscheint», sagte sie jedes Mal, bevor sie wieder davonschlurfte. Die alte Witwe war die Einzige hier, die ihnen nicht gleichgültig oder gar abfällig begegnete. Dabei hatte sie es selbst nicht leicht mit ihrem geringen Auskommen und den vielen Gebrechen und Zipperlein.

«Eva?»

Sie schrak aus ihren Gedanken. Niklas hielt ihre Hand fest. «Bist du mir noch böse?»

«Nein, mein Igelchen.» Sie strich ihm über die blonden Haarstoppel. «Außerdem ist heut Viktualienmarkt, und da lässt sich noch viel Besseres auftreiben als irgendwelche Kräuter, wirst sehen.»

Kurz darauf standen sie vor ihrem Haus in der Löwengrube, einem einfachen Handwerkerviertel mit ungepflasterten Gassen und stinkenden Abortgruben an jeder Ecke. Schief und schmal, eingeklemmt zwischen einer Schmiede und dem dreistöckigen Haus eines Rotgerbers, schien das verwitterte Holzhäuschen nur durch die beiden Nachbargebäude am Umfallen gehindert. Wie die ärmlichsten Häusler auf dem Dorf lebten sie hier: Im Erdgeschoss befand sich ein einziger Raum, der als Wohnstube und im hinteren Bereich, zum Hof hin, als Küche diente, Vaters Schlafecke hatten sie mit einem Vorhang abgetrennt. Die Böden waren aus festgestampftem Lehm, die Fenster klein und unverglast, und im Winter, wenn die Holzläden geschlossen waren, erstickten sie schier im Rauch und in den eigenen Ausdünstungen.

Neben der Tür zum Hof führte eine steile Stiege nach oben auf die Bühne. Dort, zwischen Gerümpel, in dem des Nachts die Mäuse rumorten, schliefen auf einer breiten Strohmatte Eva und Niklas – und bis vor zwei Monaten auch Josefina. Wenn Eva an ihre Schwester dachte, nagte fast so etwas wie Neid an ihr. Um wie vieles besser hatte Josefina es doch getroffen! Sie hatte ein Glück, das Eva wohl nie vergönnt sein würde: Sie wohnte tatsächlich drüben in der stolzen, alten Bischofsstadt, wo die berühmten Passauer Gold- und Klingenschmiede ihre Werkstätten und die Handelsherren ihre prachtvollen Häuser hatten. Ebendort, am Residenzplatz, hatte Josefina ganz plötzlich eine Stellung als Dienstmagd gefunden, mit vier Gulden auf Walpurgis, vier auf Michaelis. Keiner hatte damit gerechnet, dass sie so schnell außer Haus gehen würde – und vor allem eine Anstellung finden würde. Aber ein Mädchen wie Josefina nahm man gerne zu sich, schön und gut gewachsen, wie sie war, mit ihrem blonden, dichten Haar, den hellblauen Augen und dem runden Mund mit feingezeichneten, vollen Lippen. Obendrein hatte Josefina ein freundliches Wesen, und fix im Denken war sie auch.

Eva machte sich nichts vor: Gegen ihre Schwester wirkte sie selbst wie ein ungelenker Knabe. Ihr Körper hatte so gar nichts von den anmutigen Rundungen eines Weibes, viel zu eckig war alles, zu schmal die Hüften, und ihr Busen, der vor einem Jahr zu wachsen begonnen hatte, würde wohl auf ewig so klein und mickrig bleiben. Die Statur hatte sie von ihrer Mutter geerbt, und auch die dunkelbraunen Haare, deren Krauslocken sich in alle Richtungen bogen, und das schmale Gesicht. Das einzig Besondere an ihr waren vielleicht die tiefblauen Augen, die in auffallendem Gegensatz zu ihrem dunklen Haar standen.

Und dann – ihr Name! Noch allzu gut erinnerte sie sich an die wortgewaltige Predigt des Pfarrers in ihren letzten Tagen in Glatz: Wie hatte der über die Sünde der Wollust gegiftet und vor der Gefährdung des Mannes durch das Weib gewarnt! Mit Eva sei die Todsünde in die Welt gekommen, mit Eva als erster Sünderin und Betrügerin am Mann. Allein deshalb müsse die Frau dem Manne untertan sein, sich von ihm leiten lassen und auf immer ihre Zunge hüten, müsse als Sühne die Schmerzen im Kindbett ertragen. Immer mehr war Eva bei diesem geistlichen Donnerwetter in sich zusammengesunken. Da war es ihr wenig Trost gewesen, zu hören, dass immerhin auch dem Weibe eine unsterbliche Seele zugestanden wurde, die Erlösung erlangen könne, sofern sich die Frau von ganzem Herzen in Tugend übe.

Inzwischen fragte sie sich, ob ihre Schwester damals dieser Predigt mit derselben Angst gelauscht hatte – jetzt, wo Josefina zu einer jungen Frau geworden war, glich sie dem Bild der ersten Frau auf Erden immer mehr.

Eva zog die knarrende Tür hinter sich zu und gab Niklas einen Klaps: «Zur Strafe hilfst mir jetzt beim Aufräumen. Und dann gehn wir auf den Markt.»

 

An diesem Abend erschien ihr Vater überraschend gut gelaunt zum Essen. Sogar ein Lächeln zeigte sich auf dem sonst so vergrätzten Gesicht, als er den Kräuterduft von Evas Gemüsesuppe roch. Da fiel es ihr ein: Es war Samstag, Lohntag.

«Hier, für die Einkäufe.»

Schwungvoll warf er eine Handvoll Münzen auf den Tisch. Eva verzog das Gesicht. Für die zehn Kreuzer bekam sie nicht mal ein Vierpfünderbrot. Und eines war so sicher wie das Amen in der Kirche: Heute würde er die halbe Nacht in der Schenke bleiben und dabei den Großteil des Verdienstes gleich wieder versaufen und verspielen. Dennoch schwieg sie. Sie wollte sich den Tag nicht verderben, der sich mit dem Bauernmarkt noch als ein wahrer Segen erwiesen hatte. Sie und Niklas waren genau zum richtigen Zeitpunkt zur Stelle gewesen, als ein Eselskarren einen Schragentisch umriss und der Gemüseberg auf das schmutzige Pflaster polterte. Zumindest für die nächsten Tage war ihr Vorratsregal nun gut bestückt. Außerdem freute sie sich auf den Sonntag, wo sie Josefina wiedersehen würde, die jede zweite Woche nach dem Kirchgang ein paar Stunden freihatte.

Nachdem der Stiefvater zu seinem Rundgang durch die Wirtsstuben aufgebrochen war, brachte Eva Stube und Küche in Ordnung. Danach löschte sie die Lampe und legte sich zu Niklas auf ihr Strohlager.

«Du hattest recht wie immer», hörte sie ihn flüstern. «Das mit dem Markt, mein ich. Schad drum, dass wir nicht noch mehr mitnehmen konnten.»

Sie knuffte ihn in die Seite. «Du musst schneller rennen lernen. Beinah hätt uns der alte Bauer erwischt. Und jetzt gute Nacht, Igelchen.»

Mitten in der Nacht erwachte sie schlaftrunken vom Knarren der Holzstiege. Von unten drang das schwache Licht der Lampe herauf. Da schob sich plötzlich das Gesicht ihres Stiefvaters über sie, das schüttere Grauhaar lag verschwitzt über der Stirn. Der Schreck fuhr ihr in alle Glieder: War er gekommen, um sie zu wecken und seine Wut an ihnen auszulassen, weil er wieder den ganzen Abend beim Glücksspiel verloren hatte? Das wäre nicht das erste Mal. Jetzt aber lag kein Zorn in seinem Blick, sondern er starrte sie nur mit aufgerissenen, glänzenden Augen an.

Rasch zog sie sich die Decke über den Kopf, drehte sich zur Seite und gab vor, zu schlafen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Was tat er hier, so stumm, mit keuchendem Atem? Endlich hörte sie ihn die Stiege wieder hinuntertrampeln, ein Stuhl polterte zur Seite, ein Fluchen – dann wurde es ruhig im Haus.

Am nächsten Morgen weckte Eva ihn erst, als das Essen bereitstand. Sofort erkannte sie, dass ihm vom Saufen mal wieder der Schädel brummte. Sie gab Niklas, der gierig auf den Topf mit Getreidemus starrte, einen Tritt gegen das Bein – als Zeichen dafür, den Vater ja nicht zu reizen.

Übellaunig stieß Gallus Barbierer seinen Löffel in den graubraunen Brei.

«Pfui Teufel! Das schmeckt ja wie Pferdescheiße!»

«Ich find, es schmeckt wie immer», sagte Niklas, der folgsam gewartet hatte, bis sein Vater den ersten Bissen genommen hatte.

«Hab ich dich gefragt? Und überhaupt, wie gschissen du ausschaust! Wie ein damisches Kleinkind, mit deinem geschorenen Schädel. Mein Sohn soll aussehen wie ein richtiger Junge!»

Augenblicklich brach Niklas in Tränen aus.

«Mein Gott, jetzt flennt der Bettseicher auch noch wie ein Kleinkind. Womit hab ich das verdient?»

«Er kann doch nichts dafür», beschwichtigte Eva, «dass er schon wieder Läuse hatte.»

«Dann halt du den Haushalt sauberer!» Gallus Barbierers Gesicht lief veilchenfarben an.

«Aber …»

Ihr Stiefvater schnellte von der Bank, holte aus und versetzte ihr eine deftige Maulschelle.

«Widersprich mir nicht! Was hab ich da nur für Bälger großgezogen! Aber das Lotterleben hat jetzt ein End.» Seine Miene entspannte sich ein wenig. «Eva, leg den Löffel weg und hör mir zu. Und wenn du mich unterbrichst, pfeif ich dir gleich noch eine.»

Er räusperte sich. «Hab gestern Abend einen Weber kennengelernt, aus der Lederergasse, dem ist eine seiner Spinnerinnen verreckt. Hab dich hoch gelobt, wie geschickt du bist. Mach mir also keine Schande.»

«Dann – ist das schon ausgemacht?»

«Nächste Woche bringt er das Spinnrad her und den ersten Packen mit Wollewickeln. Seh ich recht?», brüllte er plötzlich los. «Was ziehst du für ein Gesicht? Soll ich dich lieber ins Waschhaus stecken, den Dreck andrer Leute schrubben?»

Instinktiv hielt Eva sich schützend den Arm vor, doch dieses Mal blieb ihr Stiefvater ruhig sitzen.

«Du bist alt genug, um zu arbeiten. Und damit mein ich nicht das Rumgehaspel für die alte Vettel von Hoblerin. Bis aufs Kochen wird Niklas die Haushaltung übernehmen.»

Eva starrte mit trotziger Miene auf den rußgeschwärzten Herd an der Wand gegenüber. Ihr graute es bei dem Gedanken, den ganzen Tag in diesem Loch zu verbringen, mit tagaus, tagein der gleichen Arbeit. Und das vielleicht auf Jahre.

«Hast mich also verstanden?»

«Ja.»

«Das heißt: Ja, Vater!»

«Ja, Vater!»

«Gut.» Er erhob sich ächzend und trat neben sie. Fast sanft wurde sein Blick mit einem Mal, während sein knotiger Zeigefinger über ihre Wangen strich, dann den Hals entlang.

«Du wirst sehen, auch für deine Zukunft springt was raus. Den Taglohn werd ich einbehalten, aber einen fünften Teil leg ich zurück, für deine Mitgift. Und jetzt macht euch fertig für den Kirchgang, aber gschwind.»

Mitgift! Ans Verheiraten dachte ihr Stiefvater jetzt auch schon! Nur mit Mühe konnte Eva die Tränen zurückhalten. Wenigstens würde sie den heutigen Tag mit Josefina verbringen.