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Durch die unbarmherzige Augusthitze schleppte sich Eva Meile für Meile voran, ohne sich Rast noch Pause zu gönnen, ernährte sich von Waldbeeren, geklautem Obst und erbetteltem Brot. Des Nachts oder wenn die Mittagshitze unerträglich wurde, suchte sie sich irgendeinen Unterschlupf abseits der Straßen. Nicht mehr Straubing war ihr Ziel, sondern das Ries um Nördlingen, und längst trug sie wieder Hose, Kittel und Mütze, die sie einem badenden Bauernjungen vom Ufer weg gestohlen hatte.
Zunächst hatte sie einen riesigen Umweg machen müssen, war kreuz und quer durchs Land geirrt, denn sie wagte nicht, der Stadt Regensburg zu nahe zu kommen. Sie litt Hunger und Durst, und die Füße schmerzten in den viel zu engen Holzpantinen, bis sie sie schließlich einem kleinen Mädchen schenkte und barfuß weiterlief. Ein mitleidiger Schwabacher Eisenkrämer mit dem vielsagenden Namen Konrad Reysenleiter hatte ihr am fünften Tag den richtigen Weg gewiesen. Zurück ins Donautal solle sie, nur immer stromaufwärts bis Donauwörth. Von dort sei es nordwärts nicht mehr weit bis ins Ries. Nördlingen solle sie linker Hand liegen lassen und weiterziehen auf Nürnberg zu. Dann lande sie unfehlbar in Oettingen.
Dieser Eisenkrämer war es auch gewesen, der ihr in diesen Tagen und Wochen die einzige richtige Mahlzeit verschafft hatte, indem er sie des Abends mit in ein Gasthaus nahm.
Sie hatte sich ihm als Student und Sohn eines Passauer Ratsherrn ausgegeben, den drei Wegelagerer bis aufs Hemd ausgeraubt und gewiss auch gemeuchelt hätten, wäre nicht ein Fuhrmann dazwischengekommen. Mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen hatte sie ihm ihr Unglück geschildert, um anschließend einen ihrer Schwächeanfälle zu erleiden, von denen sie inzwischen manchmal selbst nicht mehr wusste, wann sie sie vortäuschte, wann tatsächlich erlitt.
So hatte der gute Mann sie eingeladen, mit ihm zu speisen. Nach dem dritten Krug Bier war dann tatsächlich alles über ihr zusammengebrochen, die ganze Anspannung, all ihre Ängste der letzten Wochen. Warum nur hatte sie damals das Vertrauen in Moritz so gänzlich verloren, hatte geglaubt, dass er sie so schändlich hintergehen würde? Warum hatte sie ihrerseits Kathrin derart belogen und betrogen? Solcherlei quälende Gedanken brachen an jenem Abend über sie herein, ganz ohne Vorwarnung, bis sie schließlich vor den Augen des erschrockenen Eisenkrämers in Tränen ausgebrochen war.
«Du armer Kerl, wie hat man dir übel mitgespielt», waren dessen Worte gewesen, als er ihr mitleidig übers Haar strich, wobei Eva nur noch mehr schluchzte. Nach dem Essen dann hatte er ihr angeboten, auf seinem Karren zu übernachten. Zum Dank dafür hatte sie ihm ein paar Schuhe aus feinem, weichem Kalbsleder vom Wagen gestohlen und sich in der Stille der Nacht aus dem Staub gemacht.
Erst zwei Tage später hatte sie sich auf die große Handelsstraße im Donautal gewagt. Ein heftiges Gewitter hatte der Hitze ein Ende gemacht, doch in ihrem Innern wollte keine Ruhe einkehren. Immer wieder sagte sie sich, dass sie bald am Ziel sei, dass sie Moritz wiedersehen und damit alles gut werde. Doch ihre Zweifel wuchsen mit jeder Meile, die sie sich vorwärtsquälte. Wer sagte ihr, dass Moritz noch immer bei diesem Oettinger weilte? Und wer, dass er nicht längst eine neue Liebe gefunden hatte, eine standesgemäße dazu? Sie kam nicht mehr an gegen diese tiefe, innere Müdigkeit, die nichts zu tun hatte mit der täglichen Erschöpfung des Wanderns. Sie war müde ihres ganzen bisherigen Lebens, das aus nichts anderem zu bestehen schien als aus Possenspiel und Gaunereien, aus Diebstahl und Betrug.
So erschien es ihr im Nachhinein wie eine gerechte Fügung des Schicksals, dass sie, noch im Donautal, auf Bartel von Pfäfflingen traf. Dieser Bartel war nicht viel älter als sie, reiste ebenfalls allein und war seines Zeichens ein Schneiderknecht, gerade so wie sie. Vor allem aber hatte er ein offenes, verschmitztes Wesen, das ihr von Beginn an gefiel. Sie waren rasch ins Gespräch gekommen, und Bartel hatte alsbald bemerkt, dass sie etwas von der Schneiderkunst verstand. Kurzerhand erzählte Eva ihm dieselbe mitleiderregende Geschichte wie dem Schwabacher Eisenkrämer, mit dem Unterschied nur, dass sie sich nun wahrheitsgemäß als Schneidergeselle ausgab.
«Alles haben sie mir geraubt, dieses Pack, dieses Schelmendiebsgesindel! Nur meine guten Schuhe konnt ich retten.»
Bartel nickte zustimmend. «Ja, das Leben auf der Landstraße ist hart und gefährlich. Man darf heutigentags keiner Menschenseel mehr trauen.»
Dann fragte er sie, ob sie nicht bis Nördlingen gemeinsam wandern wollten, und sie konnte nicht anders als zustimmen.
«Was willst du eigentlich in Oettingen? Dort sagen sich Fuchs und Has gut Nacht. Außer, du willst an den Grafenhof. Aber da kommt so ein Lumpenvagabund wie du erst gar nicht bis zur Pforte. Geh doch mit mir nach Nördlingen. Da treffen sich zu den Messen Kaufherren aus aller Welt, und das Handwerk hat noch goldenen Boden.»
«Vielleicht ergibt sich’s ein andermal. Ich muss tatsächlich zum Grafen, ob du’s glaubst oder nicht. Als Bote.»
«Als gräflicher Bote – soso!» Bartel musterte von oben bis unten ihre armselige Aufmachung, dann brach er in schallendes Gelächter aus.
Sie kamen an diesem Tag bis in die Gegend von Donauwörth, wo das Tal der Wörnitz nordwärts in Richtung Ries abzweigte. Dieser Bartel hatte es tatsächlich geschafft, sie auf andere Gedanken zu bringen, mit seinen spaßigen Anekdoten, die er eine nach der anderen aus dem Ärmel schüttelte. Gerade noch rechtzeitig zur Nacht fanden sie Unterschlupf im Kuhstall eines freundlichen Bauern. Hundemüde drückte Eva sich ins Heu und war von einer Sekunde zur anderen eingeschlafen.
In dieser Nacht träumte sie von Moritz und Josefina. Sie war spät in der Nacht vor das Tor einer wehrhaften Stadt gelangt, und ein freundlicher Torhüter hatte sie bei der Hand genommen. Sie werde bereits erwartet, waren seine Worte. Dann führte er sie durch die dunklen, menschenleeren Gassen zu einem halbverfallenen Gebäude. Dort, hinter einem der Fenster, schimmerte ein tröstliches Licht. Der Wächter öffnete mit seinem riesigen Schlüssel ein Tor, sie trat ein und folgte dem Lichtschein. Er kam von oben, drei Treppen musste sie hinaufsteigen, bis sie in einem langgestreckten Raum stand, in dem es warm und hell war. Ganz am anderen Ende, vor einem flackernden Kaminfeuer, warteten Moritz und ihre Schwester, beide mit ausgebreiteten Armen. «Komm, Eva», riefen sie. «Komm zu uns. Es sind nur noch ein paar Schritte.»
Dann war sie erwacht. Nein, sie würde nicht aufgeben. Nicht jetzt, so kurz vor dem Ziel.
Als sich ihre Augen an das Halbdunkel des frühen Morgens gewöhnt hatten, erkannte sie, dass der Platz neben ihr leer war. Bartel war verschwunden, und mit ihm das gute Paar Lederschuhe! Ihr lauter Fluch ließ die Kühe zusammenzucken, dann begann sie zu lachen. Sie lachte so lange, bis ihr die Tränen kamen.
Je weiter Regensburg hinter ihr lag, desto mehr verblasste die Erinnerung an alles, was sie dort erlebt hatte. Sie kam zwar nur langsam voran, aber immerhin unbehelligt von den Menschen, die mit ihr unterwegs waren. Diesen zerlumpten, halbverhungerten Bauernburschen schien keiner zu beachten. Nicht mal die zahlreichen Wanderbettler, die noch dem Elendesten ihre schäbigen Amulette und falschen Heilkräuter andrehen wollten, hatten Augen für sie.
Nur ein einziges Mal gab es einen Vorfall, der Eva in Schrecken versetzte: Sie war schon eine halbe Meile hinter Nördlingen, als sie eine verfallene Bauernkate zum Übernachten aufsuchte. Eben hatte sie sich in der halbdunklen Hütte hinter einen Holzverschlag gezwängt, wo jemand ein Lager aus Laub und Reisig aufgeschüttet hatte, als sie von draußen schwere Schritte und Männerstimmen hörte. Ihr blieb fast das Herz stehen, als die Männer die Kate betraten und sich nur wenige Schritte von ihr in der Finsternis niederließen.
«He, Schelle, gib schon von dem Wässerchen rüber.»
«Eine Watschn kannst haben, sonst nix. Hast alles vermasselt mit dem Nürnberger Fuhrmann. Lässt dir von einem wie dem die Feuerbüchse abnehmen!»
«Konnt ich was dafür?» Das war wieder die Stimme des Ersten. «Dieses verdammte Weibsstück ist schuld! Der schlitz ich den Leib auf, wenn ich sie erwisch, und nagel ihr Gedärm an den nächsten Baum!»
«Hab ja gleich gesagt, dass Weiber bei so was Unglück bringen. Wir malochen und machen die Drecksarbeit, und das Rabenaas haut ab mit der Beute.»
«Wer sich kreuzblöd angestellt hat, warst du! Wenn Eichel dem Alten nicht eins über die Rübe gezogen hätt, hätt man uns alle geschnappt.»
Eva wagte kaum noch zu atmen. Ausgerechnet eine Rotte Wegelagerer hatte sich hier eingenistet! Dass das keine harmlosen Diebe waren, verrieten allein schon ihre seltsamen Namen. Wenn man sie entdeckte, wäre es aus mit ihr. Immer stärker stieg ihr jetzt ein widerlicher Geruch in die Nase, und unter ihrem rechten Hosenbein spürte sie etwas Ekles, Feuchtes. Hier hatte nicht nur jemand genächtigt, sondern auch gleich noch seine Notdurft hinterlassen!
Ganz plötzlich und so deutlich, als sei es gestern gewesen, hatte sie jenen grässlichen Anblick wieder vor Augen: Da war sie wieder, die schmale Landstraße im Naabtal. Im blutgetränkten Sand krümmten sich die vier Leichname mit ihren abgeschlagenen Gliedern, sie und Niklas mittendrin. Sie sah den vor Entsetzen zitternden kleinen Bruder vor sich, sah sich selbst, wie sie sich zu einem der armen Opfer niederbeugte und ihm die Geldkatze vom Gürtel schnitt und sich damit in die Bande der Meuchelmörder einreihte. Das Bild verschwamm, und dann war sie es, die im Dreck lag, ihr Arm in der noch warmen Blutlache des Bauernjungen, dem der Kopf abgeschlagen war, nicht weit von ihm das halbnackte Mädchen, mit geschändetem Schoß und zertrümmertem Schädel.
Während Eva mit einem heftigen Würgereiz kämpfte, kehrte drüben bei den Männern für kurze Zeit Ruhe ein. Nur noch Schmatzen und Schlucken war zu hören. Ganz offensichtlich machte jetzt der Branntwein die Runde.
«Wo treffen wir eigentlich die andern Rottgesellen?» Diese Stimme klang noch sehr jung.
«Beim Geißenwirt, wie immer. Ich sag euch, der Obrister wird uns durch die Spieß jagen, wenn wir mit leeren Pfoten kommen.»
«Dann nehmen wir halt ’nen andern Fisch aus. Hier springen ja genug Nördlinger Pfeffersäcke rum, was, Fünfer? Kannst dann mal beweisen, ob du zu uns gehörst. Bei dem Fuhrmann hast dir ja schier ins Hemd geschissen!»
«So stinkt’s hier, ehrlich gesagt, auch! Nach Pisse und Scheiße!»
In diesem Augenblick krabbelte eine fette Ratte über Evas nackten Unterarm. Fast hätte sie aufgeschrien, und ihr Arm schnellte in die Höhe.
«Verdammt, was war das?», brüllte der, den die anderen Schelle nannten. «Zünd den Kienspan an, hier ist wer.»
«Damit man uns entdeckt, du Hornochse? Da, da hast du’s – eine Ratte, nix weiter. Jetzt gib den andern Schlauch her, der hier ist leer.»
Quälend langsam verging die Zeit, bis die Männer endlich lautstark zu schnarchen begannen. So leise wie möglich kroch Eva aus ihrem Versteck, die Beine und Arme schmerzten vom reglosen Liegen, das Blut pochte ihr in den Schläfen. Mit unsicheren Schritten durchquerte sie den kleinen Raum, bemüht, keinen der massigen Leiber, die da auf dem Boden lagen wie Leichen, zu berühren. Dann hatte sie es geschafft. Ein klarer Sternenhimmel empfing sie draußen vor der Kate, der silberne Mond wies ihr den Weg zu einem nahen Eichenholz, wo sie sich für den Rest der Nacht im Dickicht zusammenkauerte, zitternd und mit nasser, stinkender Hose.
In diesen letzten Tagen ihrer Wanderung nach Oettingen durchlebte sie ein Wechselbad der Gefühle: Ihre Sehnsucht nach Moritz war so stark, dass es schmerzte, aber ebenso groß war die Angst vor dem Augenblick, wo sie sich gegenüberstehen würden. Oftmals hielt sie beim Gehen inne, weil ihr die Luft wegblieb. Dann hätte sie am liebsten jedes Mal kehrtgemacht.
Es war gegen Mittag, als die Ringmauer des Städtchens Oettingen aus dem Dunst auftauchte. Sie hatte noch keinerlei Gedanken darauf verwendet, auf welche Weise sie in das Grafenschloss gelangen sollte. Eines war jedoch klar: So verdreckt, wie sie war, würde nicht mal die gutmütigste Seele sie einlassen. Und Moritz wollte sie so schon gar nicht gegenübertreten.
Mutlos kauerte sie sich an den Wegesrand. Eine Handvoll Knechte und Mägde, die gerade bei der Erntearbeit waren, glotzte misstrauisch zu ihr herüber. Augenblicklich befielen sie wieder diese elenden Kopfschmerzen, und ihr Magen fühlte sich an, als sei er ein ausgetrockneter Wasserschlauch. Da sah sie in einer Staubwolke fünf Reiter herantraben, der vorderste mit einer Standarte in der Faust. «Die Männer des Grafen», rief einer der Bauern, und sofort verneigten sich alle bis zum Boden. Eva sprang auf die Füße und rannte, ohne eine Sekunde nachzudenken, den Reitern mitten in den Weg.
«Aus dem Weg, Kerl!»
Doch Eva blieb stehen wie festgewurzelt und schloss die Augen, in der sicheren Erwartung, im nächsten Moment zu Boden getrampelt zu werden.
Deutlich spürte sie das Schnauben des Pferdes, das vor ihr scheute, dann einen Schlag gegen ihre Schulter.
«Bist du des Teufels?», brüllte der Bannerträger sie an.
Sie öffnete die Augen. Unruhig tänzelten die Pferde vor ihr hin und her, die geharnischten Reiter sahen sie böse an. Moritz war nicht darunter.
«Verzeiht vieltausendmal, edle Herren», brachte sie in mühevollem Krächzen hervor. «Gehört Ihr zum Grafen von Oettingen?»
«Was geht dich das an, du grindiger Flohbeutel?»
«Ich suche den Landjunker Moritz von Ährenfels.»
«Der Vagantenlump sucht unseren Landjunker – habt ihr das gehört, Männer?», blaffte der Standartenträger in Richtung der anderen. «Hör zu: Ich zähl bis drei, und wenn du dann nicht weg bist, trampelt dich mein Ross zu Matsch.»
«Ich hab eine Nachricht von seiner Schwester Isolde aus Ingolstadt.» Blitzschnell war Eva dieser Gedanke gekommen, und tatsächlich trat so etwas wie Unsicherheit auf das hoffärtige Gesicht des Reiters. Der, der hinter ihm geritten war, trieb sein Pferd zu Eva.
«Junker Moritz hat tatsächlich eine Schwester namens Isolde», sagte er zu dem Anführer. «Lassen wir ihn reden.»
«Ich hab eine Nachricht von seiner Schwester», wiederholte Eva, nun mit fester Stimme. «Aber ich darf sie nur dem Junker höchstselbst übergeben.»
«Gib uns die verdammte Nachricht und verschwinde! Der Junker ist unterwegs.»
Sie schüttelte den Kopf. «Dann komme ich, wenn er zurück ist.»
«Jetzt seht euch den kleinen Rappelkopf an. Mumm hat er ja!» Der Anführer stieß einen anerkennenden Pfiff aus. «Da wirst du dich zwei Wochen gedulden müssen. Er ist mit dem Grafen nach Landshut geritten.»
«In zwei Wochen ist er zurück?»
«Ja.»
«Hier in Oettingen?»
«Ja, verdammt! Und jetzt weg mit dir, du stiehlst uns die Zeit.»
«Sehr wohl. Nur sagt ihm bitte, dass ich hier war. Im Auftrag der Prinzessin.»
Der Anführer lachte verächtlich. «Soll das eine Losung sein oder was?»
Sie hielt seinem Blick stand. «Ganz genau. Junker Moritz wird sie verstehen.»
Mit einem Gefühl, als habe sie eben die Welt erobert, trat sie zur Seite und sah den Reitern nach, wie sie davongaloppierten. Ihr Herz tat einen Sprung. Jetzt wusste sie, was zu tun war.
Einen Tag später stand sie unter dem in Sandstein gehauenen, buntbemalten Wappen mit dem Nördlinger Reichsadler und bat um Einlass in die Stadt. Zuvor hatte sie sich an einem Bach sorgfältig gewaschen und brachte nun mit neuerwachtem Selbstbewusstsein ihre Bitte vor: Man möge ihr den Weg weisen zum Zunfthaus der Schneider, sie sei überfallen worden und brauche Schutz und Hilfe. Dabei deutete sie auf die Wunde an ihrer Stirn, die sie sich beim Sturz am Bachufer zugezogen hatte.
«Ein Zunfthaus haben die Schneider nicht», gab der Torhüter bereitwillig Auskunft, «aber geh nur in den Sternen, dort versammeln sich die Schneider und Tuchscherer. Um diese Zeit ist der Vorgeher mit den Geschworenen sicher noch beim Mittagstisch.»
Eva bedankte sich und wanderte mitten hinein in die von Zwingermauern, starken Türmen und tiefen Gräben umfasste Reichsstadt. Zunächst irrte sie kreuz und quer durch die Gassen, bis sie wieder den majestätisch in den Himmel ragenden Kirchturm vor Augen hatte. Sankt Georg mit seinem hohen Turm sei der Mittelpunkt der Stadt, hatte der Torhüter gesagt, insofern könne sich hier kein Mensch verirren.
Dieser Haderlump von Bartel hatte nicht übertrieben, wenn er Nördlingen als eine der gefälligsten und angenehmsten Städte im südlichen Reich gepriesen hatte – wiewohl die Bürger hier weit weniger protzten als die Regensburger mit ihren Patrizierburgen. Alles wirkte gediegener, gemütlicher, die Gassen waren breit und gepflastert, die Häuser frisch verputzt, einige gar völlig neu errichtet. Die zahllosen großen und kleinen Marktplätze, die Messehäuser mit ihren weitläufigen Laubengängen, die Wein- und Salzlager verwiesen auf die Bedeutsamkeit Nördlingens als Messe- und Handelsstadt. Jetzt, zur Mittagszeit, ging alles sehr geruhsam einher. Die Handwerker saßen mit ihren Knechten und Frauen vor den offenen Läden ihrer Werkstätten und genossen den warmen Spätsommertag.
Eva passierte eine Reihe riesiger Kornschrannen, die in einer Stadt wie dieser sicher bis obenhin gefüllt waren, und gelangte vor die mächtige Pfarrkirche Sankt Georg. Auf einem Rübenmarkt vor der Chorseite packten die Krauterinnen eben ihre Körbe zusammen. Sie erfrischte sich am Brunnen, dann fragte sie eines der Marktweiber nach dem weiteren Weg zum Sternen.
«Mei, wie schaust du verhungert aus», murmelte die Frau und reichte Eva ein Stück Semmelbrot aus ihrem Schürzenbeutel. «Du gehst da vorn über den großen Markt, noch am Rathaus vorbei, und dann bist schon in der Baldinger Gass.»
Eva bedankte sich gerührt. Wie freundlich die Menschen hier waren!
Auch der Vorgeher der Schneiderzunft, ein hochgewachsener Mann um die vierzig mit Namen Bernhard Sick, lud sie gleich zu sich und seinen beiden Begleitern an den Tisch. Eva hatte sich ihm als Schneiderknecht Adam Portner, Sohn angesehener Eltern, vorgestellt, dem das Schicksal übel mitgespielt habe. Nun bitte sie die Zunft demütigst um christliches Mitleid und um Hilfe, einen ausgemachten Schelmen zu finden.
Mit einem Wink bedeutete der Vorgeher dem Wirt, etwas zu essen und zu trinken aufzutragen.
«Und nun erzähl, mein Junge.»
Eva nahm einen Schluck Bier, dann begann sie zu berichten, was sie sich zurechtgelegt hatte. «Bei einem Meister in Nürnberg war ich zuletzt in Arbeit. Vergangenen Sonntag bin ich von dort weg, mit einem Zunftgenossen, dem Schneidergesellen Bartel aus Pfäfflingen. Wir wollten zusammen auf Wanderschaft, mit Nördlingen als Ziel. Dieser Bartel hatte mir vorgeschwärmt, welch guten Lohn man hier bei Euch zahlt. Aber bei Schwabach dann hat der Kerl mich ins Gehölz geführt, um zu rasten. Dort» – ihre Stimme wurde kraftloser – «ist er über mich hergefallen, hat mich mit den Fäusten bearbeitet, ohne allen Grund, und ich musste ihm alles Geld und Kleidung geben. Splitternackt war ich, nicht mal meinen Lehrbrief hat er mir gelassen.»
Sie presste sich eine Träne aus den Augen.
«Danach hat er mich gefesselt und wollt mich eben in eine Grube werfen. Da hab ich gebrüllt, was ich konnte, bis ein Fuhrmann vorbeikam. Der hat mich befreit und den Bartel verjagt.»
Einer der Tischgenossen nickte. «Ich denk, der Junge erzählt die Wahrheit. Von diesem Bartel hab ich gehört. Der hat schon mehr als einmal mit seinen Bübereien von sich reden gemacht.»
«Wisst Ihr denn, ob er hier in der Stadt ist?»
«Ich denke, nicht. Davon hätten wir schon Wind bekommen. Aber nun iss erst mal, du siehst fürwahr erbärmlich aus.»
Evas Magen krampfte sich vor Hunger zusammen, als der Wirt ihr eine Schüssel mit Eiersuppe und fetter Wurst vor die Nase stellte. Fast war sie dem Schicksal nun dankbar für die Begegnung mit Bartel.
Nachdem sie den letzten Rest vom Boden gekratzt hatte, fragte Bernhard Sick:
«Und wie ging es weiter?»
«Der Fuhrmann hatte mir ein altes Hemd übergeworfen und mich ins nächste Dorf mitgenommen. Dort, vor einer Herberge, bin ich einem reichen Kaufmann, einem Eisenkrämer aus Schwabach, begegnet. Was für ein herzensguter Mann! Ich war ja noch ganz schwach, da hat er mich verköstigt und für die Nacht beherbergt. Die Mütze hier und die Schuhe hat er mir obendrein geschenkt! Na, und dann bin ich über Oettingen mit letzter Kraft hierhergekommen – auch in der Hoffnung, diesen Diebsgesellen aufzuspüren. Ohne meine Papiere bin ich doch nichts wert in einer fremden Stadt.»
Verzweifelt sah sie den Vorgeher an.
«Nun, du wirst schon anderweitig beweisen können, wer und was du bist. Jetzt sollst du erst mal zu Kräften kommen.»
Bei diesen letzten Worten fühlte Eva tatsächlich so etwas wie kaltes Fieber durch ihre Glieder fahren. Schwindel erfasste sie, und ihre Hände begannen zu zittern.
«Wenn Ihr mir vielleicht für eine Nacht Obdach geben könntet? Dann will ich schon weiterziehen.»
Der Vorgeher warf einen fragenden Blick auf seine beiden Begleiter. «Der Junge braucht dringend Bettruhe. Aber hier im Sternen ist kein Plätzchen mehr vakant.»
«Vielleicht beim Bröcklinhans, im Goldenen Rad. Schicken wir doch den Knecht hinüber.»
Sick nickte und rief einen alten Mann heran, der reglos auf der Bank beim Eingang gesessen hatte.
«Geh hinüber zu den Metzgern und frag nach, ob sie für einen unserer Schneiderknechte noch ein Bett haben.»
So kam es, dass Eva keine zwei Stunden später mit gefülltem Magen und vom Wein leicht benebeltem Kopf in einem richtigen Bett lag, mit frischem, sauberem Bettzeug. Der Zunftknecht, der sie begleitet hatte, brachte ihr noch einen Krug frisches Wasser, dann ließ er sie allein in dem kleinen Schlafsaal, in dem sich noch fünf weitere Betten befanden.
Erschöpft zog sich Eva das Deckbett über den Kopf, denn es war noch helllichter Mittag, und bedachte ihre Lage: Dass sie so freundlich aufgenommen wurde, hätte sie niemals erwartet. Der Zunft würde sie schon beweisen, dass sie schneidern konnte; sie würde gegen Kost und Unterkunft arbeiten. Zwei Wochen hatte sie Zeit, um wieder auf die Beine zu kommen, dann wollte sie sich Frauenkleider besorgen und Moritz aufsuchen. Allein der Gedanke, dass er bald zurück sein würde, nur einen Tagesmarsch von hier entfernt, ließ sie vor Glück fast weinen. Sie dankte Gott für seine Güte, dann fiel sie in einen tiefen und traumlosen Schlaf bis zum nächsten Morgen.