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Schlag zehn Uhr abends verließ Andre das Cafe des Deux Magots; so war es vorher telefonisch verabredet worden.

Er fuhr über den Pont d'Austerlitz auf das andere Seineufer und sah unterwegs immer wieder in den Rückspiegel. Seine Bewacher folgten ihm in die Rue de Rivoli, deshalb umkreiste Andre einmal die Place de la Concorde und fuhr dann auf die Place Vendôme zu, wo er seine Verfolger schließlich abschüttelte.

Dann schlug er die Richtung zum Bois de Boulogne ein. Als er am Pavillon d'Armemonville angelangt war, fuhr er dreimal langsam an ihm vorbei. Beim drittenmal blendete ein Wagen seitlich im Gebüsch kurz die Scheinwerfer auf. Andre bog von der Straße ab und parkte neben dem Auto, das ihm ein Zeichen gegeben hatte.

Robert Proust wartete nervös und trotz der Kälte schwitzend. Eine Weile musterten sie schweigend ihre Umgebung, um sicher zu sein, daß alles klar war.

»Wir haben einen langen Weg zurücklegen müssen, um uns einmal heimlich treffen zu können, was Robert?«

»Es ist in diesen Tagen gar nicht so leicht, dein Freund zu sein«, erwiderte Robert. »Aber du siehst, ich bin gekommen. Andre, du weißt, wie streng du überwacht wirst - jeder Schritt, jeder Anruf. Selbst wenn du auf deinen Posten nach Washington zurückkehrst, bekommt einer deiner neuen Leute den Auftrag, dich zu überwachen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich will damit sagen, daß du deinen törichten Starrsinn aufgeben sollst. Man weiß im Amt, daß ich persönlich nie einen Befehl gegen dich ausführen würde, aber in deinem Fall hat Fauchet seine Weisungen direkt von Oberst Brune erhalten, und ich habe auf ihre Ausführung keinerlei Einfluß.«

»Ja, ja, der gute alte Ferdinand. Der würde nichts lieber tun als eigenhändig die Pistole abdrücken - oder arbeitet er jetzt mit Drahtschlingen?«

»Du hast einen großen Vorteil… und das sind deine Dienstjahre und deine vielen Freunde. Noch lassen sie dich ungeschoren, weil man das Arbeitsklima im SDECE nicht gefährden will. Aber wenn die Zeit reif ist, wird Fauchet ganze Arbeit leisten - und er versteht sein Handwerk.«

Andre lachte und schlug die Warnung in den Wind. »Hast du immer noch ein privates Postfach im Postamt in der Rue des Capucine?«

»Ja.«

»Gut. Ich habe gefunden, was ich suchte. In ein oder zwei Tagen bekommst du einen Brief. Er enthält mein Rücktrittsgesuch und wird einen interessanten Namen enthüllen. Du mußt auf irgendeine einfallsreiche Art und Weise dafür sorgen, daß La Croix diesen Brief in die Hand bekommt. Ein gesonderter Umschlag enthält eine Kopie für dich!«

»Andre, um Himmels willen, laß die Finger davon!«

»Es geschieht nicht um des Himmels willen, sondern um Frankreichs willen. Sorge du dafür, daß der Präsident meinen Brief erhält?«

»Ja, ich verspreche es dir.«

»Nun zu Michele. Hast du sie in Montrichard gesprochen?«

»Ja. Sie ist unterwegs zur spanischen Grenze. Höchstwahrscheinlich hat sie sie sogar schon überschritten. Sie wartet in der vereinbarten Stadt. Von dort habt ihr eine Chance fünfzig zu fünfzig, nach Mexiko oder Südamerika durchzukommen. Du kennst diese Länder ja besser als irgend jemand sonst.«             

»Gut. Wenigstens mußte Michele nicht über die Berge marschieren wie wir einst, was Robert?«

»Du meinst, als ihr mich habt tragen müssen. Für einen elenden Wicht wie mich ist es schwer zu begreifen, aber ich habe immer gewußt, daß du zu denen gehörst, die nie aufgeben.«

»Mach dich nicht so schlecht, Robert. Du bist mir immer ein treuer Freund gewesen.«

»Andre …«

»Ja?«

»Nicole ist auch nach Spanien gefahren. Als ich mit ihr sprach, sagte sie: ,Ich bitte Andre, sich nicht von mir abzuwenden.'«

»Nicole? Nun ja, schließlich hat in Spanien alles begonnen. Aber können denn zwei Menschen, die einander so verwundet haben, wirklich noch einmal von vorn anfangen?«

»Irgendwie müßte es gehen.«

»Weiß sie von Juanitas Tod?«

»Ja. Sie meinte, du brauchtest sie nun mehr denn je.«

»Robert, ich will mich nicht selbst belügen und an irgendwelche Wunder glauben. Vielleicht ist Nicole überzeugt, daß sie im stillen Kämmerlein die Antworten gefunden hat. Aber wieder zum Leben zurückkehren und diese Anworten in die Wirklichkeit umsetzen ist etwas anderes. Wenn die Belastungen kommen, werden wir alle wieder zu dem, was wir sind. Die Menschen ändern sich selten, außer daß es bergab mit ihnen geht.«

»Dann willst du dich also von ihr abwenden?«

»Nicole und ich haben immer noch die Kraft, einander zu erreichen, einander zu verletzen und aufzuregen. Vielleicht muß uns das, was wir einander haben, genügen. Ich weiß das erst, wenn ich ihr wieder gegenüberstehe… falls ich das noch erlebe.«

Andre schüttelte Robert die Hand und klopfte ihm mit einem »Mach's gut, alter Junge« auf die Schulter. Dann stieg er in seinen Wagen, wendete und fuhr davon. Robert Proust sah ihm nach und wußte, daß er ihn nie wiedersehen würde.