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Die Finca San Jose lag auf halbem Weg zwischen Havanna und San Julian, nicht weit von Pinar del Rio entfernt. Es war ein riesiger Besitz gewesen, der einer einzigen Familie gehört hatte. Nach der kubanischen Revolution war er aufgeteilt und an Hunderte von kleinen Pflanzern übereignet worden, die dort unter dem Feudalismus seit Generationen geschuftet hatten.

Als die alten Besitzer beseitigt waren, gaben die Revolutionäre das Land mit viel Propagandaaufwand an das Volk zurück. Würdenträger aus Havanna, Castro-Distriktchefs, neue Landwirtschaftskommissare und Illusionisten erschienen in der Finca San Jose.

Eindrucksvolle Urkunden mit vielen Siegeln, Regierungsstempeln und schwungvollen Unterschriften wurden den Bauern ausgehändigt, um ihnen zu bestätigen, daß das Land jetzt ihnen gehöre, für immer.

Mit Reden und einem einwöchigen Fest wurde die Revolution gefeiert. Und die Redner zogen wieder ab. An ihre Stelle trat ein neuer Typ von Bürokraten, die sich in der Finca niederließen.

Ein Musterhaus wurde gebaut. Es war das erste eines ganzen Dorfes, das errichtet werden sollte - später.

Eine Schule wurde gebaut. Die erste in der Geschichte der Finca. Andere sollten folgen - später.

Eine Kommune wurde eingerichtet, wo man seine Beschwerden vortragen konnte. Der Himmel auf Erden war versprochen worden. Aber als die große Sommerhitze eingesetzt hatte, wurde den Bauern klar, daß die neuen Bürokraten lediglich die Stelle der früheren Aufseher einnahmen. Zu Anfang gelang die Täuschung noch, denn die Illusion der kleinen Landbesitzer war so groß gewesen und der Umschwung so heiß herbeigesehnt, daß sie nicht glauben wollten, daß es ihnen schlechter ging als vor der Revolution. Es ging ihnen tatsächlich schlechter. Die ständig steigenden Produktionsnormen verlangten Arbeitsleistungen, die weit über ihre Kräfte gingen. Sie sprachen untereinander ausführlich über die Eigentumsurkunden und gingen damit sogar zu jemandem außerhalb der Finca, der lesen und schreiben konnte.

Die Urkunden besagten, daß kein Farmer sein Land verkaufen oder verpachten durfte. Wie konnte er Besitzer sein, wenn er es nicht verkaufen durfte?

Die Urkunden besagten, daß das Land fleißig zu bearbeiten sei und daß die Ablieferungsnormen erfüllt werden müßten; andernfalls habe der Besitzer mit Gefängnisstrafe zu rechnen.

Die Urkunden besagten, daß das Land nach dem Tod des Besitzers von dessen ältestem Sohn bearbeitet werden müsse. Diese ewige Knechtschaft war die Auffassung der Revolutionäre von »Besitztum«.

Es war klar, daß die Bauern tiefer in der Sklaverei steckten als ie zuvor. In der Finca San Jose und in Hunderten anderer »befreiter« Dörfer in Kuba zog die alte Trostlosigkeit ein, und sie wurden wieder, was sie immer gewesen waren: verfallene Drecknester.

Eines Tages erschien eine große Kolonne tschechischer Lastwagen am Tor zur Finca. Die meisten der Lastwagen waren leer. Andere waren mit Soldaten der Revolution besetzt. Die Alarmglocke des Dorfes wurde geläutet, und die Männer kamen mit Macheten in der Hand aus den Zuckerrohrpflanzungen gerannt, die Frauen aus den Schuppen und aus der Zuckerfabrik und die Kinder aus der Schule, wo sie kaum von etwas anderem hörten als von der Revolution. Sie wurden auf dem Dorfplatz zusammengetrieben, der jetzt Freiheitsplatz hieß, und dort sprach ein Castro-Beamter von der Ladefläche eines Lastwagens aus zu ihnen. Er las von einem Dokument ab, das ebenso eindrucksvoll aussah wie ihre »Besitzurkunden«.

Das Dokument besagte, daß die Finca San Jose zur Förderung der Revolution geräumt werden müsse. Es erklärte nicht, welche Vorteile das für die Revolution habe. Die Familien erhielten eine Stunde Zeit, ihre Habseligkeiten in nicht mehr als zwei Koffer oder Ballen zu packen und damit die Lastwagen zu besteigen - zur Umsiedlung. Sie wurden entlassen mit dem Revolutionsruf: »Vaterland oder Tod!«

Es war keine großartige Siedlung, diese Finca San Jose, aber keiner ihrer Bewohner hatte eine andere Heimat gekannt. Keine Zeit zum Weinen oder für Sentimentalität. Auf die Wagen und fort mit ihnen. Lang lebe die Revolution!

Unter den Rico-Parra-Papieren befand sich ein umfangreiches Dokument, aus dem die Bedingungen eines kubanisch-sowjetischen Paktes hervorgingen, über den in Moskau verhandelt worden war. Rico Parra sollte den Sowjets in New York während der UNO-Versammlung gewisse Details übergeben.

Andre Devereaux fand die plötzliche Räumung der Finca San Jose und ihre Übergabe an die sowjetischen Streitkräfte am interessantesten.

Ein anderer Teil des Vertrags bezog sich auf den Hafen Viriel, der achtzig Kilometer östlich von Havanna lag. Es war ein alter Hafen, der fast völlig verfallen war, weil er nicht mehr benutzt wurde. Jetzt sollte Viriel wieder in Ordnung gebracht und ausgebaut werden, und zwar im Hinblick auf einen bald zu erwartenden starken sowjetischen Schiffsverkehr. Umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen sollten getroffen werden, um den Mantel des Geheimnisses über die Angelegenheit zu breiten. Da Havanna als Hafen mehr als ausreichte, lag es für Andre klar auf der Hand, daß die Sowjets geheime Frachten an Land bringen wollten.

Andere Artikel des Paktes befaßten sich mit der Ankunft von schwerem Baugerät und von Materialien für Vorratstanks und zum Bau von Kasernen, Straßen und Eisenbahnen im Gebiet von Pinar del Rio und Remedios.             

Mit der Entdeckung dieses Geheimnisses stand Andre vor einer schweren Entscheidung. Wenn die Entscheidung richtig sein sollte, mußte er sie allein fällen, und es würde nicht unbedingt eine populäre Entscheidung sein. Nach den ungeschriebenen Gesetzen des NATO-Nachrichtendienstes durfte ein Mann in Devereaux' Stellung, wenn die Sicherheit eines Mitgliedstaates bedroht war, das betreffende Land ohne Rückfrage in Paris direkt informieren.

Andre wußte, daß die Amerikaner Kuba durch U-2-Flugzeuge überwachen ließen. Er wußte außerdem, daß der amerikanische Spionagering in Kuba aufgeflogen und Amerika weitgehend von seinen Verbündeten abhängig war, die noch diplomatische Beziehungen zu Kuba unterhielten. Die Amerikaner hatten ihre Illusionen von der Brauchbarkeit der Flüchtlingsaussagen verloren und hielten sie im ganzen für unzuverlässig.

Andre hatte zwar das Recht, Kopien der Rico-Parra-Dokumente ohne Erlaubnis aus Paris an die Amerikaner weiterzugeben, aber dies war nicht so einfach. Die Beziehungen zwischen Frankreich und Amerika waren so weit abgekühlt, daß der Austausch von Geheiminformationen fast eingeschlafen war. Ein Verhalten, das den Amerikanern Nutzen brachte, würde in Paris starke Verärgerung hervorrufen. Aber angenommen, er schickte den Film nach Paris, ohne die Amerikaner zu unterrichten. Was dann? Es bestand die Möglichkeit, daß man ihn anwies, den Amerikanern keinen Einblick in die Rico-Parra-Dokumente zu gewähren. Ihnen könnten Ereignisse verheimlicht werden, die die ganze Hemisphäre bedrohten.

Für Andre war es eine vertraute Situation. Er steckte wieder einmal in der Zwickmühle. Nach zwei schlaflosen Nächten saß er hager und der Erschöpfung nahe an seinem Schreibtisch. Zwei Kopien des Films sollten in Washington zurückbehalten und die Originalnegative durch Kurier dem SDECE in Paris überbracht werden.

Als die Entscheidung getroffen war, setzte Andre eine Nachricht an sein Hauptquartier auf:

BESITZE FOTOS VON DOKUMENTEN, DIE RICO PARRA BEI SICH TRUG. ORIGINAL-NEGATIVE DURCH KURIER UNTERWEGS. WEGEN DRINGLICHKEIT DER INFORMATIONEN MACHE ICH VON MEINEM RECHT GEBRAUCH UND LIEFERE DEM AMERIKANISCHEN ININ- CHEF EINE KOPIE DES FILMS MIT AUFNAHMEN VON ALLEN DOKUMENTEN.

DEVEREAUX