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Seit Andres Ankunft auf Kuba waren drei Wochen vergangen. Maggie, die Köchin von Juanita de Cordoba, war schon oft zum Stand von Jesus Morelos geschickt worden und hatte manches Huhn mitgebracht, in das eine Nachricht eingenäht war. Jede neue Nachricht hatte einen weiteren Hinweis darauf enthalten, daß die Sowjets Raketen ins Land brachten. Doch der Schlußstein eines wirklichen Augenzeugenberichts fehlte bis jetzt.

Die vier sowjetischen Schiffe liefen aus Viriel aus und wurden von vier anderen abgelöst. Andre wußte, daß die Raketen den Hafen von Viriel bald verlassen würden, um die Reise zur Finca San Jose anzutreten. Er richtete seine Gedanken immer mehr auf einen Umstand, der nach einem schweren Fehler der Kubaner und der Sowjets aussah.

Bei der Festlegung der Route zur Finca San Jose gab es keine Wahl. Die Raketentransporter waren gezwungen, von Viriel nach Havanna zu fahren, und zwar durch die Außenbezirke der Stadt; von dort ging es dann auf der Flughafenstraße weiter nach Süden. Die Straße nach Havanna verlief zwischen dem Castillo del Morro und der Cabana, führte dann durch einen Tunnel unter dem Hafen hindurch und mündete auf der Stadtseite in die Küstenstraße ein, die Calzada del Malecon.

Nach Andres Berechnungen waren die Raketen vermutlich zu groß für den Tunnel. Diese Fehlkalkulation würde die Transporter zwingen, eine Nebenstraße nach Havanna zu benutzen, die mitten in die alte Innenstadt führte. Hier mußten die Raketen durch ein Labyrinth von engen Nebenstraßen gefahren werden. Wenn Andres Schätzungen stimmten, waren die Russen wahrscheinlich gezwungen, ihre Geheimfracht direkt unter ihrer Nase vorbeizufahren.

Außer Jesus Morelos wohnten noch mehrere Freunde von Juanita de Cordoba in der Innenstadt. Sie sagte ihnen, wonach sie Ausschau halten sollten, und trug ihnen auf, nur mit einem Auge zu schlafen.

Von Viriel kam Nachricht, daß die Fracht den Hafen unter schwerer Bewachung in Richtung Havanna verlassen habe.

Der junge Medizinstudent Arnaldo Valdez wohnte bei seinen Eltern im Stadtteil La Lisa, aber nicht selten verbrachte er die Nächte bei Anita, seiner Liebsten, die in der Innenstadt, in der Nähe der Avenida de Aqua Dulce, eine kleine Wohnung hatte. Tagsüber war auf den Straßen in der Nähe ihrer Wohnung eine merkwürdige Geschäftigkeit zu beobachten gewesen. Anita und Arnaldo sprachen darüber, als er am Abend zu ihr kam, und sie nahmen an, daß es sich um die Absicherung einer Strecke handelte.

Nach Mitternacht, als Anita schon schlief und Arnaldo am Tisch in ihrem Schlafzimmer arbeitete, hörte er in der Ferne Motorengeräusch.

Als er sich sein Hemd zuknöpfte, erwachte Anita.

»Um Gottes willen, Arnaldo«, flehte sie angstvoll, »geh nicht hinaus auf die Straße!«

»Ich muß. Du kennst unsere Anweisungen.«

»Aber ich habe Angst.«

»Pssst. Es wird schon gutgehen.«

Er ließ sie verstört auf dem Treppenabsatz stehen, warf ihr eine Kußhand zu und ging hinaus auf die Straße.

In früheren Zeiten hatte es die ganze Nacht über keine Ruhe gegeben. Rauhe Späße, Gelächter, Huren, Schlägereien. Aber seit der Revolution waren die Straßen gleich nach Einbruch der Dunkelheit leer und tot.

Im Schatten der Arkaden schlängelte sich Arnaldo durch das Labyrinth der Straßen und Gassen, an schlafenden Hunden und schreienden Katzen vorbei, und näherte sich dem Motorengeräusch, Sogar als die Straßen unter der ungewöhnlichen Last zu erzittern begannen, zeigte sich niemand neugierig. Abgesehen von einigen armseligen Spelunken blieb Havanna dunkel.

NO PASEO! warnte ihn ein Schild. DIESE STRASSE IST VON MITTERNACHT BIS SONNENAUFGANG GESPERRT!

Am Ende der Arkaden spähte Arnaldo um die Ecke und überlegte, ob er weitergehen sollte. Es waren keine Scheinwerfer zu sehen, aber die Kolonne konnte nur noch einige Häuserblocks entfernt sein.

Auf der anderen Seite der verdunkelten Straße sah er die Holzbude eines ehemaligen Lotteriestandes. Mit einigen Sätzen überquerte er die Straße und kroch unter den Verkaufstisch. Dort saß er zusammengekauert und versuchte seine keuchenden Lungen zu beruhigen. Er sah sich in seiner engen Behausung um. Der Stand war verfallen. Mit dem Taschenmesser drückte er zwei Bretter so weit auseinander, daß er durch den Spalt die Straße sehen konnte. Eine Gruppe von Motorrädern war schon ganz nahe. Dahinter kamen Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten, die die Straße nach Bummlern und Neugierigen absuchten.

Arnaldo rollte sich angstvoll zusammen wie ein Igel und murmelte Gebete, während das Dröhnen immer lauter wurde. Er hob sein schweißnasses Gesicht und riskierte einen Blick. Eine riesige Zugmaschine, das größte Fahrzeug, daß er je gesehen hatte, zog einen sechsachsigen Anhänger. Auf jede Achse kamen acht Räder. In seiner Erregung versuchte er sich an Juanitas Instruktionen zu erinnern. Achte auf die Reifen! Sieh dir die Reifen an!

Ja! Sieh nur! Sie waren halb zusammengedrückt von der ungeheuren Last. Der große Zylinder lag auf dem Anhänger. Er war zwei Arkaden lang und mit einer Plane zugedeckt, und während er sich langsam vorwärts bewegte, drückten die Reifen Spuren in die Straße.

Der Schwanz war nicht zugedeckt. Arnaldo versuchte, sich seine Größe und Gestalt genau einzuprägen. Aber er konnte ihn schon bald nicht mehr sehen. Die Kolonne fuhr vorbei; ein Dutzend Panzerwagen und ein offener Lastwagen mit russischen Soldaten folgten dem Raketentransporter. Er wartete auf vollkommene Ruhe, aber vergebens, denn sein Atem und sein Herzschlag waren hörbar. Schließlich gerieten die Fahrzeuge außer Hörweite.

Er war drauf und dran, sein Versteck zu verlassen, zögerte aber noch. Sicher würden G-2-Männer die Gegend überwachen. Der bloße Gedanke an das Grüne Haus machte ihn krank. Dort war sein Bruder totgeprügelt worden. Die Lotterieeinnehmerbude schien der sicherste Ort zu sein. Sich hinlegen und bis Tagesanbruch hierbleiben. Anita würde zwar vor Angst fast umkommen, aber es war das beste so.

In den alten Zeiten, vor der Revolution, war es nichts Besonderes gewesen, auf der Straße schlafende Betrunkene zu finden. Aber an diesem Morgen wurde Arnaldo von zwei Milizsoldaten entdeckt, unsanft auf die Beine gestellt und kräftig geschüttelt.

Er spielte einen Mann mit einem schweren Kater und grinste seine Entdecker verlegen an. »Ich bin ein Medizinstudent, Genossen. Bitte laßt mich los, ich muß mich etwas zurechtmachen und zur Universität gehen.«

»Betrunkene schädigen das Ansehen der Revolution. Sie gehen mit zur Polizei. Die werden Sie schon nüchtern machen. Pancho, ruf den Wagen!«

»Ich bitte Sie, Senores. Wenn Sie mich nicht laufen lassen, fliege ich von der Universität.« Arnaldo fing an zu weinen, und nicht alle seine Tränen waren geheuchelt.

»Wer braucht Ärzte wie Sie in Kuba?« fragte der Milizmann böse.

»Laß das dumme Schwein gehen!« sagte der zweite. »Wer will all die verdammten Berichtsformulare ausfüllen?«             

»Nein! Ein Medizinstudent darf sich nicht wie ein besoffenes Schwein benehmen.«

»Also meinetwegen. Ich rufe den Wagen.«

Plötzlich erschien Anita. Sie ging auf Arnaldo zu, schlug ihm die Handtasche um den Kopf und trat ihn gegen die Schienbeine.

»Du Hund!« kreischte sie.

Eine belustigte Menge versammelte sich.

»Du läßt mich sitzen, läufst zu diesem anderen Weib und besäufst dich! Lügner! Hund!« Sie packte ihn am Ohr und riß ihn den Milizsoldaten buchstäblich aus den Händen.

»Ich arbeite mir die Finger wund, um dir das Studium zu bezahlen, und das ist der Dank! Du Dreckskerl!«

Die Menge lachte und pfiff, während sie ihn unter die Arkaden stieß. Arnaldo bückte sich und hielt die Hände vor Gesicht und Magen.

»Ich verspreche dir, ich werde studieren. Tag und Nacht werde ich arbeiten.«

Ein Milizmann verteidigte seine Autorität: »Er geht mit zur Polizeistation.«

»Nein«, heulte die Menge. »Nein!«

»Er bekommt so genug Prügel.«

»Hund! Lump!«

»Laßt ihn gehen!« riefen sie.

Anita trat und stieß ihn die Straße hinunter und um die Ecke, während die Menge sich um die ratlosen Milizsoldaten drängte und hitzig argumentierte. Als die beiden mit den Schultern zuckten und ihre Runde fortsetzten, applaudierten die Zuschauer.

In ihrem Zimmer weinte Anita und küßte Arnaldo für jeden Schlag, den sie ihm gegeben hatte. »Ich war fast von Sinnen«, sagte sie unter Tränen, »ich war fast von Sinnen. O mein Liebster, Liebster, Liebster!«

Sie küßten sich, rollten sich im Bett und fielen auf den Fußboden. Er lachte schallend. »Ich hab' sie gesehen! Ich hab' sie gesehen!«

Und sie setzte sich neben ihn auf den Fußboden und lachte mit ihm, bis ihnen die Seiten weh taten und ihre Wangen von Tränen naß waren.