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Das von einer hohen Mauer umgebene Haus in Laureil, Maryland, wurde von vier Dobermann-Wachhunden und drei sich ablösenden Hundeführern bewacht. Zwei Wächter waren ständig auf dem Grundstück postiert, und im Hause selbst schlief ein Posten, in Rufweite der verängstigten Familie Kuznetow. Es vergingen zwei Wochen, bevor sie sich so weit beruhigt hatten, daß Michael Nordstrom Wilcox, den ININ-Spezialisten für Verhöre, mit seinem Team zu ihnen schicken konnte. Boris Kuznetow spielte mit Wilcox und sagte fast nichts aus.

Jedes Verhör endete entweder mit einer Depression des Russen, oder er jagte sie in einem Wutanfall hinaus.

Nordstrom hatte es nicht eilig. Der Koffer, der mit dem Gepäckschein in Kopenhagen eingelöst worden war, enthielt mehrere hundert Dokumente. Es würde Zeit erfordern, sie aus dem Russischen zu übersetzen, und ein Studium von Monaten würde nötig sein, um festzustellen, ob sie echt und wertvoll oder sorgfältig gefälscht waren.

Nach der ersten raschen Durchsicht stellte W. Smith, der Rußlandexperte des ININ fest, daß die meisten der Papiere mit NATO-Angelegenheiten zu tun hatten. Das war ein vielversprechender Hinweis, denn alle NATO-Dokumente waren numeriert, so daß man wußte, wieviel Exemplare hergestellt worden waren und wer sie gelesen hatte. Es konnte am Ende darauf hinauslaufen, einen Leser für alle Papiere ausfindig zu machen und bei diesem Fischzug einen großen Verräter innerhalb der NATO ins Netz zu bekommen. Aber in Wirklichkeit hatte Boris Kuznetow ihnen ein gigantisches Rätsel aufgegeben. Wer war Boris Kuznetow eigentlich? Wie waren die NATO-Dokumente nach Moskau gekommen? Wie in allen Nachrichtendiensten kannten auch die Chefs des sowjetischen KBG nur wenige Namen außerhalb ihres engsten Umkreises, und was Kuznetow wußte, behielt er für sich. Seiner Frau und seiner Tochter hatte er offensichtlich aufgetragen, sich vollkommen unzugänglich zu verhalten. Als Wilcox nach einem Monat noch kein Ergebnis erzielt hatte, beschwerte er sich beim Chef.

»Nichts. Nicht einmal seinen Geburtsort. Nichts.«

»Versuchen Sie es weiter!«

Wilcox stieg die Zornröte ins Gesicht. »Wenn Sie mich fragen, Mike, wir sollten den Kerl auf der Schwelle der russischen Botschaft absetzen.«

»Ganz recht. Und wir würden nie wieder einen russischen Überläufer bekommen.«

»Mir ist noch nie ein so schwieriger Fall vorgekommen.«

»Sie sind müde, Wilcox. Nehmen Sie ein paar Tage Urlaub!«

Der verwirrte Verhöroffizier brummelte etwas Abfälliges über seine Berufswahl, aber dann entschuldigte er sich bei Nordstrom für die mangelnde Bereitschaft, seinen Chef zu unterstützen.

»Wir haben Erfahrung mit Überläufern. Sie sind wie verängstigte Tiere, allein, wollen nur leben - oder sterben. In fremder Umgebung. Nehmen Sie es nicht tragisch, Wilcox, er wird schon auftauen.«             

Michael Nordstrom hielt sich absichtlich von der Gruppe der Verhörspezialisten fern. Er stand als Freund zur Verfügung, als jemand, bei dem sich Kuznetow beschweren konnte und zu dem er - möglicherweise - Vertrauen fassen konnte. Allmählich ließ der Russe durchblicken, daß er über viele geheime Angelegenheiten Bescheid wußte.

»Soll ich Ihnen erzählen, warum der deutsche Hauptmann von Behrmann von seinem NATO-Posten entfernt wurde? Ich will es Ihnen sagen. Er redete im Bett zuviel darüber, wie bedeutend er sei - und über NATO-Unterseeboote in sowjetischen Gewässern.«

Bei jedem Besuch Nordstroms in Laurel versuchte der Russe, ihn mit einer neuen Information zu verblüffen.

»Mein lieber Boris, Sie erzählen mir ständig Dinge, die schon den Bach hinunter sind.«

»Den Bach hinunter?»

«Ja, überholte Nachrichten.«

»Wie ist es dann mit dieser?«

Boris Kuznetow gab eine verblüffende Vorstellung und enthüllte das Ausmaß seiner Kenntnisse. Über eine Stunde lang erklärte er aus dem Gedächtnis den Aufbau des gesamten amerikanischen Geheimdienstes, gab die Namen der Abteilungsleiter, ihrer Assistenten, der Spezialisten und der Geheimposten an. Es stimmte alles genau.

Sanderson Hooper, der Chefauswerter des ININ, war ein nachlässig gekleideter weißhaariger Mann Anfang Sechzig, den man eher für einen Professor oder für einen verkannten Dichter gehalten hätte. Er war es, der den Schlüssel zur Lösung des Rätsels suchen sollte. Nordstrom hatte sich immer sehr auf Hooper gestützt, und als sich das Geheimnis um Kuznetow verdichtete, versuchte er, ihn zu einer Antwort zu drängen.

»Wie wir alle wissen«, sagte Sanderson Hooper gelassen, »ist dieser Kuznetow ein äußerst tüchtiger Agent von hohem Rang, der in NATO-Angelegenheiten Bescheid weiß. Er besitzt ein beachtliches Maß an Intelligenz.«

»Ist er echt, oder ist er der größte Schwindler und der beste Schauspieler des Jahrzehnts?«

Sanderson Hooper zog besorgt die buschigen Augenbrauen hoch und spielte mit seiner Tabakspfeife, die er immer bei sich hatte. »Was haben wir, Mike? Einen Überläufer, der Unterschlupf und Schutz von uns will. Er ist keinen Handel mit uns eingegangen.«

»Aber er wirft uns ständig gerade genug Köder vor, um uns in dem Glauben zu halten, er sei ein wichtiger Mann.«

Hooper paffte, faltete seine runzeligen Hände und dachte nach. »Das ist noch kein offizielles Urteil, Mike, aber ich will Ihnen sagen, was ich vermute. Ich glaube, Boris Kuznetow weiß selbst nicht, was er will. Er ist geflohen, weil er sich in Lebensgefahr wähnte, und jetzt kann er sich zu nichts entschließen.«

»Nun, ich werde Sie nicht darauf festnageln, aber wollen Sie damit sagen, daß er wirklich ein großer Fang ist?«

»Ich habe das Gefühl, daß Boris Kuznetow sich als der wichtigste Überläufer erweisen wird, denn wir je bekommen haben.«