Andre war von dem Erlebnis der vergangenen Nacht mit Nicole noch so erfüllt, daß er auf die Unterhaltung zwischen Jacques und Robert gar nicht achtete, als sie den Hügel zur Villa Capucines, dem Wohn- und Amtssitz des Generals Pierre La Croix, hinaufstiegen. In einer nahe gelegenen Mädchenschule hatte jetzt die Regierung des Freien Frankreich ihren Sitz.
Als sie in die bescheidene Villa eintraten, bemerkten sie auf den Gesichtern der Leute, die schweigsam und geschäftig an ihnen vorbeigingen, den Ausdruck einer fast religiösen Ergebenheit.
Jacques und Robert durchquerten das Vorzimmer und kehrten dann abwechselnd zu Andre zurück, um ihm flüsternd Ratschläge zu geben, während im Allerheiligsten des Generals das nervöse Kommen und Gehen anhielt. Plötzlich dröhnte durch die dünnen Wände die Stimme Pierre La Croix'.
»Was für eine Niedertracht. Erklären Sie diesen Halunken, sie hätten zu tun, was wir von ihnen erwarten, oder sie bekämen einen Tritt in den Hintern.«
Das war das erste, was Andre - ohne förmliche Vorstellung - von Pierre La Croix zu hören bekam.
Die Stimme hinter der Wand polterte noch eine Weile in einer so wüsten Tonart weiter, daß sogar Jacques Granville errötete.
»Er drückt sich recht deutlich aus«, sagte Robert.
Die Adressaten der La Croixschen Schimpfkanonaden kamen hastig aus seinem Zimmer, der eine blaß, der andere rot.
Als die drei Freunde hineingerufen wurden, hatte Andre feuchte Handflächen, und der Mund war ihm wie ausgetrocknet.
Pierre La Croix, der Außenseiter unter den französischen Offizieren, saß aufrecht wie ein Ladestock auf einem reichgeschnitzten Mahagonistuhl vor einem mit Akten beladenen Barocktisch. Hinter ihm an der Wand hing eine Trikolore mit dem Lothringer Kreuz. Als die drei auf seinen Tisch zugingen und Haltung annahmen, blieb La Croix sitzen, lächelte auch nicht und würdigte sie keines Grußes.
Aus kurzsichtigen Augen blinzelte er Andre an.
»Setzen Sie sich, meine Herren«, sagte er in der Art eines Königs, der eine Audienz gewährt. Ein Sekretär legte ihm rasch Andres Personalakte vor. Er warf einen kurzen Blick hinein und sah dann auf.
»Was haben Sie mir zu sagen, Devereaux?«
»Ich trete mit meiner ganzen Kraft für die Sache des Freien Frankreich ein. Ich habe mich von weit her durchschlagen müssen und möchte mich im Einsatz bewähren.«
»Frankreich erwartet nichts Geringeres als Ihre Hingabe«, erwiderte er. »Ich teile Sie meinem Nachrichtendienst zu. Proust wird Sie mit Ihrer Arbeit vertraut machen.«
»Danke, Herr General.«
»Frankreich heißt Sie willkommen. Das ist alles, meine Herren.«
Als sie draußen waren, fanden sie ihr Gleichgewicht wieder. Robert schüttelte Andre lange und kräftig die Hand.
»Na, wie findest du ihn?« fragte Jacques.
»Einen solchen Mann habe ich noch nie gesehen.«
»Er ist Frankreich«, erwiderte Jacques, und damit war alles gesagt.
*
Mit Robert Proust teilte Andre ein Büro in einer Villa in der Rue Edouard Cat. Er stürzte sich in seine neue Aufgabe und bemühte sich, die Ansprüche des Generals zu befriedigen. Die Geheimdienstarbeit lag ihm so sehr, daß er rasch vorwärtskam und den Sondertitel eines »Einsatzleiters« erhielt; als solcher wurde er zu einem der persönlichen Berater des Generals.
Obgleich er erst Anfang Zwanzig war, ging Andre Devereaux doch völlig in dem Kampf für das Freie Frankreich auf, und seine Bewunderung für Pierre La Croix, der seine mächtigen Verbündeten verärgern konnte, als hätte er fünfzig Divisionen und nicht nur eine Handvoll Regimenter unter seinem Kommando, war groß.
Allerdings war Andres Bewunderung nicht so grenzenlos wie die von Robert und Jacques. Er fürchtete, wenn La Croix eines Tages an die Macht käme, könnte sein anmaßendes Wesen zu einer undemokratischen Herrschaft führen. Außerdem könnte La Croix' fanatischer Drang zur Macht von gewissenlosen Untergebenen für ihre Interessen ausgenutzt werden.
Da Andre Zugang zu streng geheimen Dokumenten hatte, war er in der Lage, den Kampf des Generals und die Wunder, die er im Namen Frankreichs vollbrachte, genau zu verfolgen.
Die Anglo-Amerikaner hatten das Freie Frankreich von allen Entscheidungen ausgeschlossen, die bei der militärischen und politischen Planung auf höchster Ebene getroffen wurden. Ungezählte Dokumente schienen die Furcht des Generals zu bestätigen, daß England danach strebte, Frankreich in verschiedenen Bereichen des Mittleren Ostens, die traditionsgemäß französisches Einflußgebiet waren, als führende Macht zu ersetzen.
In den frühen Stadien des Krieges beugte sich Churchill dem Druck Roosevelts und weigerte sich, das Freie Frankreich zu bewaffnen und in den alliierten Feldzügen mitkämpfen zu lassen. Schließlich drohte La Croix rundheraus, er werde eine französische Division an die Ostfront schicken und an der Seite Rußlands gegen die Deutschen einsetzen. Von da an gelang es dem General, auf die Führung des Krieges stärkeren Einfluß zu gewinnen.
Seine schmerzlichste Demütigung erlitt der stolze Franzose, als der amerikanische Präsident ihn nach Casablanca einlud. La Croix und sein Stab wurden kühl, ohne militärische Ehren, empfangen. Sie wurden hinter Stacheldraht untergebracht - auf französischem Boden! - und von bewaffneten amerikanischen Soldaten bewacht. Der Präsident der Vereinigten Staaten legte La Croix dringend nahe, seine Streitkräfte unter das Oberkommando des Admirals de St. Amertin zu stellen.
Aber selbst mit amerikanischer Rückendeckung war Admiral de St. Amertin dem dreisten Pierre La Croix nicht gewachsen, der ihn bei jeder Gelegenheit überlistete. La Croix machte dem Admiral seine Truppen abspenstig und brachte das Land auf seine Seite. Als dann Verhandlungen über eine Fusion und die Bildung eines Nationalrats begannen, stand von vornherein fest, daß La Croix als Sieger aus diesen Verhandlungen hervorgehen würde. Seine Vorrangstellung verdankte La Croix zu einem nicht geringen Teil dem phantastischen Nachrichtennetz, das er aufgebaut hatte und in dem der junge Devereaux eine der treibenden Kräfte war. Stets schien der General den taktischen Vorteil auf seiner Seite zu haben und jeden Schachzug der Anglo-Amerikaner wettzumachen.
Trotz der Landgewinne des Freien Frankreich versagte Amerika ihm die Anerkennung. Pierre La Croix hatte nur eine Gesandtschaft, aber keine Botschaft in Washington.
Eines Tages bekam Andre Devereaux Beweismaterial in die Hand, daß Amerika Frankreich zu »besetzen« trachte. Er bat sofort um eine Unterredung mit dem General und raste in die Villa Capucines.
»Herr General«, sagte Andre, »wir haben den Beweis - und zwar geht das aus amerikanischen Befehlen hervor -, daß die Vereinigten Staaten in Frankreich eine Militärregierung errichten wollen, ähnlich wie sie es im besiegten Deutschland tun werden.«