Die Sûreté, die französische Sicherheitspolizei, hatte ihr Hauptquartier im Innenministerium gegenüber dem Elysee-Palast.
Ihr war ein Fahndungsdienst angeschlossen, der im großen und ganzen die gleichen Aufgaben versah wie der amerikanische FBI und von einem altgedienten Berufsbeamten namens Leon Roux geleitet wurde. Dieser gebot über geschulte Leute und einen glänzend eingespielten Polizeiapparat und war irgendwelchem Druck durch Staatspräsident Pierre La Croix verhältnismäßig wenig ausgesetzt.
Roux lehnte es ab, die neue Mode der Amerika-Verketzerung mitzumachen, und er begrüßte seinen alten Freund Sid Jaffe, wie man einen alten Freund begrüßt.
Der Franzose hatte die raschen, ruckartigen Bewegungen eines Kolibris, dagegen ein Gesicht, das so runzelig wie eine getrocknete Pflaume und von der jahrelangen Polizeiarbeit ausgesprochen zynisch geworden war.
Sie tranken Kaffee und plauderten, dann kam Sid Jaffe auf das zu sprechen, was ihn nach Paris geführt hatte.
»Bei Ihnen hier«, sagte Jaffe, »hat man dutzendweise NATO-Dokumente gestohlen und Kopien davon nach Moskau geschickt.« - Leon Roux stöhnte und rieb sich tief bekümmert das runzelige Gesicht.
»Wir besitzen zum großen Teil die russischen Übersetzungen, die uns ein Überläufer ausgehändigt hat«, fuhr Jaffe fort, »und wir haben festgestellt, daß insgesamt sechs Leute jedes dieser Dokumente gelesen haben: drei Franzosen und drei Vertreter anderer NATO-Länder. Letztere sind inzwischen alle in ihre Heimat zurückgekehrt. Nordstrom hat mich hergeschickt; er bittet Sie, uns zu unterstützen und die verdächtigen Franzosen überwachen zu lassen.«
Roux nickte.
»Wir möchten so wenig wie möglich Aufsehen erregen«, sagte Jaffe, womit er andeuten wollte, daß weder der SDECE noch Präsident La Croix schon jetzt ins Bild gesetzt werden durften. Jaffe wußte natürlich um die fortgesetzten Kämpfe zwischen Roux und dem SDECE - diese Rivalität kam ihm zugute.
Roux blickte zur Decke und dachte laut. »Sagen wir also, Jaffe hat mich nicht besucht und mir nichts gesagt. Sagen wir, ich habe durch eigene Quellen einen Fingerzeig erhalten. Infolgedessen habe ich das Recht, eigenmächtig zu handeln, und niemand braucht vorläufig etwas zu wissen, stimmt's?«
Jaffe lächelte. »Ich habe nichts gesagt.«
»Und nun raus mit der Sprache, welche braven Franzosen werden verdächtigt?«
»Oberst Galande, Einsatzplanung Luftwaffe.«
Roux stülpte die Lippen vor und machte eine Handbewegung, die besagen sollte: kann sein, kann auch nicht sein. »Möglich«, meinte er. »Galande war Offizier der Vichy-Regierung. La Croix hat ihn vor Jahren wieder in Gnaden aufgenommen. Seine Frau war Kommunistin - aber das ist in Frankreich kein Verbrechen. Möglich, möglich.«
»Guillon, Dienststelle des Generalstabschefs.«
»Äußerst zweifelhaft, Jaffe.«
»Man kann nie wissen.«
»Wer noch?«
»NATO-Wirtschaftsreferent Henri Jarre.«
Leon Roux' Schweigen sprach Bände. Er ließ sich die Personalakten der drei genannten Männer bringen und bat, man möge Marcel Steinberger hereinrufen.
»Ich übergebe diese Sache Inspektor Steinberger, den Sie gleich kennenlernen werden. Ein Halbjude. Von Auschwitz kam er noch nach Dachau, wo ihn die Amerikaner befreiten. Er hat Jahre in Ihrer Militärregierung gearbeitet, ist außerordentlich amerikafreundlich, verschwiegen und intelligent.«
Gleichzeitig mit den Akten der Verdächtigen kam Inspektor Steinberger. Die beiden Herren wurden einander vorgestellt, und während Roux den Auftrag des Amerikaners erläuterte, musterte Jaffe den Inspektor eingehend.
Steinberger war ein ziemlich kleiner Mann, dem man die Jahre in zwei Konzentrationslagern äußerlich kaum ansah, bis auf einen Anflug von Verstörtheit, der hin und wieder in seinen Augen aufglomm. Es war ein Ausdruck plötzlicher Leere und Geistesabwesenheit. Jaffe hatte die Erfahrung gemacht, daß diese Nachwirkung ihrer Leiden die Opfer der Konzentrationslager von anderen Menschen unterschied.
Nachdem der Bericht beendet war, sahen die drei Männer die Akten durch. Leon Roux riß zwei Blätter von einem Notizblock und reichte Jaffe und Steinberger je eines über den Schreibtisch.
»Wir wollen, jeder für sich, den Namen des gesuchten Mannes aufschreiben.«
Jaffe verdeckte seinen Zettel mit einer Hand und kritzelte zwei Worte hin, und genauso machte es Inspektor Steinberger. Roux dagegen klemmte sich den Kugelschreiber zwischen Zeige- und Mittelfinger und malte kunstvolle Schnörkel. Die Zettel wurden ihm verdeckt zugeschoben. Er drehte erst seinen eigenen um und dann die beiden anderen.
Auf allen dreien standen die gleichen Worte: HENRI JARRE.