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Der amerikanische Präsident eröffnete sein offizielles Tagesprogramm damit, daß er sich im Garten mit den Gewinnern des Nationalen Rechtschreibwettbewerbs den Fotografen stellte. Gutgelaunt unterschrieb er im Beisein der jungen Leute eine Gesetzesvorlage zur Erziehungsbeihilfe und verteilte anschließend Kugelschreiber als Souvenirs, Später kam Lowenstein aus seinem im Erdgeschoß liegenden Büro herauf, um den ersten Entwurf der bevorstehenden Rede an das Volk zur Kuba-Frage mit dem Präsidenten durchzusprechen. Sie unterhielten sich über Änderungen und machten zahlreiche Randnotizen.

»Lesen Sie Wilsons und Roosevelts Kriegserklärungen vor dem Kongreß nach und fertigen Sie danach für alle Fälle einen Entwurf an …«, bat der Präsident.

Dann empfing er die Raumfahrtleute. Der Präsident befürchtete, sein Eintreten für das Riesenbudget könne die Kongreßwahlen im nächsten Monat entscheidend beeinflussen. Der NASA-Chef teilte ihm mit, daß für kommenden Mai der soundsovielte Satellitenstart vorgesehen sei.

Kurz vor Mittag trat der Ministerrat zu der ersten seiner zwei täglichen Sitzungen zusammen. Die meiste Zeit hörte sich der Präsident die Berichte und Meinungsäußerungen nur an, machte sich Notizen und stellte ein paar Fragen, beteiligte sich jedoch kaum an der Diskussion.

Als nächstes stand Stu Taylor, der Chef des Lateinamerika-Referats, auf der Tagesordnung. Er teilte dem Präsidenten mit, die Delegierten der Organisation Amerikanischer Staaten tagten zur gleichen Zeit, da dem amerikanischen Volk das Quarantäne-Ultimatum verkündet werde. Taylor war überzeugt, der Präsident werde bei der OAS einstimmige Unterstützung finden. 

Während der vorausgegangenen Nacht hatten zwei amerikanische Truppenverbände der Panzerwaffe und der Infanterie ihre Standorte im Südwesten und äußersten Westen des Landes verlassen. Auf Anschlußgleisen waren Plattformen mit Panzern, Artillerie und beweglichem Kriegsmaterial beladen und ostwärts auf die Reise geschickt worden. Lange Wagenkolonnen hatten einsatzbereite Truppen zu Militärflugplätzen gebracht, von wo aus die Soldaten dann an die Ostküste geflogen wurden.          

Vor dem Mittagessen nahm der Präsident mit seinen Kindern ein Bad im Swimming-pool des Weißen Hauses.

Nach dem Essen empfing der Präsident den indischen Botschafter und versprach ihm, sich für eine weitere Weizenlieferung einzusetzen.

General St. James meldete, daß alle Generalstabsoffiziere in Schlüsselstellungen etwaige Reisen abgesagt hätten und Gewehr bei Fuß ständen; sie seien bereit, zur »Beratung eines Sonderbudgets« ins Pentagon zu kommen.

In Hampton Roads, Virginia, passierte ein Zerstörergeschwader das Leuchtschiff und preschte südwärts. Versiegelte Befehle wurden geöffnet. Die Schiffe bezogen ihre Blockadeposition im Karibischen Meer und hielten ihre Waffen feuerbereit.

Am Spätnachmittag drückten McKittrick, der Pressesekretär und General St. James ihre Besorgnis darüber aus, daß die Presse den Truppenverschiebungen nach Florida auf der Spur sei. Sie kamen mit dem Präsidenten überein, die Sache als außerplanmäßiges Manöver hinzustellen.

Dann wurde dem Präsidenten weiteres Fotomaterial vorgelegt. Ungewöhnlich schwere Transportschiffe waren aus den Häfen des Ostblocks mit Kurs auf Kuba in den Atlantik ausgelaufen.

Um siebzehn Uhr dreißig hatte der Präsident eine vorbereitende Besprechung für den Besuch des russischen Außenministers Wassilij Leonow, der um achtzehn Uhr zu einem einstündigen, halboffiziellen Gespräch im Weißen Haus erwartet wurde.

*

Leonow war einer der wenigen überlebenden Sowjetpolitiker von altem Schrot und Korn und bei weitem der beste Kenner amerikanischer Verhältnisse; er war früher als Botschafter und als Führer der UN-Delegation tätig gewesen.

Der Präsident begrüßte den um zwanzig Jahre älteren Russen herzlich. Man ließ sie allein. Die beiden Herren machten es sich bequem und unterhielten sich auf englisch.

Sie sprachen über dies und jenes und gingen dann auf die Lage in Berlin ein. Wassilij Leonow versicherte dem Präsidenten, Rußland werde vor den amerikanischen Wahlen im nächsten Monat keinen weiteren Druck auf Berlin ausüben.

Beide vertraten in der Berlin-Frage einen Standpunkt, den die Gegenseite längst kannte. Die Sowjets drängten weiterhin auf den Status einer »offenen Stadt« und erblickten in der Anwesenheit alliierter Truppen eine vorgeschobene NATO-Position. Der Präsident dagegen wiederholte die amerikanische Auffassung, daß die Truppen nur symbolischen Charakter hätten und daß er Berlin niemals an Ostdeutschland ausliefern könne.

Leonow hoffte, man werde zu einer Dauerlösung kommen, »bevor die Sowjetunion die Hoheitsrechte des ostdeutschen Regimes anerkennt«, und regte ein Treffen mit Chruschtschow an. Der Präsident fand, das sei keine schlechte Idee. Seit er in Helsinki mit dem Sowjetpremier aneinandergeraten war, hielt er nach einer Revanche Ausschau.

Die Atmosphäre war entspannt. Man sprach über Kuba.

»Solange Sie die kubanischen Flüchtlingsunternehmungen so offen unterstützen, Herr Präsident, befürchtet Castro eine neue Invasion à la Schweinebucht - aber möglicherweise mit stärkerer amerikanischer Rückendeckung. Unter diesen Umständen können wir Castros Forderung nach Verteidigungswaffen nicht ablehnen.«

»Aber die Zahl der sowjetischen Truppen und Fachleute scheint mir unverhältnismäßig hoch zu sein.«

»Wenn ich einmal rückhaltlos offen sein darf, Herr Präsident: Castro befürchtet eine amerikanische Invasion, und unsere Verteidigungswaffen sind hauptsächlich dazu da, ihn zu beschwichtigen. Was kann das kleine Kuba schon gegen die Vereinigten Staaten unternehmen?«

»Ich habe in Helsinki mit Chruschtschow darüber gesprochen und ihm mein Wort gegeben, daß es zu keiner amerikanischen Invasion kommen wird. Sollte im nächsten Jahr ein Gipfeltreffen stattfinden, müssen wir noch einmal über die Angelegenheit sprechen.« Leonow versäumte nicht, dem Präsidenten in aller Ausführlichkeit zu versichern, daß die russischen Absichten auf Kuba ausschließlich friedlicher Natur seien.

In diesem Sinne endete die Unterredung, Leonow kehrte in die sowjetische Botschaft zurück, wo er mit den russischen Diplomaten Rücksprache nahm, ehe er am Abend einer Einladung des amerikanischen Außenministers folgte.

Seine Hauptaufgabe bestand darin, herauszufinden, wie die Amerikaner sich in der Kuba-Frage verhalten würden. Er sprach darüber sehr lange mit dem Botschafter und dem Residenten. In Washington schien alles ruhig und normal zu sein. Die amerikanischen Truppenverschiebungen bedeuteten wohl nichts als ein wenig Säbelrasseln. Trotz seiner Gerissenheit und seiner in langen Jahren erworbenen Erfahrung vermochte Leonow keinerlei Anzeichen für eine amerikanische Beunruhigung oder Tatbereitschaft zu entdecken. Wenn die Amerikaner überhaupt von den Raketen wußten, mußte man zu dem Schluß kommen, daß sie keinen Zusammenprall mit der Sowjetunion wünschten.

Der russische Außenminister war ein wenig enttäuscht. Er verglich die Amerikaner und ihren Präsidenten immer mit hochgewachsenen, schweigsamen Cowboys, die in gefährlichen Situationen wenig sagten, kaum drohten und lieber den Gegner gleich ins Herz schössen. Er hatte Chruschtschow gegenüber seine Bedenken geäußert, aber Chruschtschow war steif und fest der Meinung, man könne den amerikanischen Präsidenten ausmanövrieren. Vielleicht war die neue Generation von Amerikanern nicht mehr von der alten unnachgiebigen Art.

Bevor er zu dem Empfang des amerikanischen Außenministers fuhr, telegrafierte Leonow dem Kreml die schon erwartete Meldung:

WERDE GESPRÄCHE MIT AMERIKANISCHEM PRÄSIDENTEN IN 3 TAGEN FORTSETZEN. ALLES SCHEINT JEDOCH NORMAL. ENTWEDER WISSEN DIE AMERIKANER NICHTS ODER SIE BEABSICHTIGEN PASSIVE STELLUNG ZU BEZIEHEN. EMPFEHLE UNTERNEHMEN KUBA MIT VOLLER KRAFT DURCHZUFÜHREN.

Nachdem der Präsident an der zweiten Ministerratssitzung teilgenommen hatte, folgte schließlich noch eine mitternächtliche Besprechung mit Lowenstein. Auf dem Programm standen die Rede, die politische Lage bei den kommenden Wahlen und die Gesetzesvorlagen, die man im Kongreß durchzubringen hoffte.

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Der letzte Besucher kam um ein Uhr dreißig nachts ins Schlafzimmer. Der Präsident genehmigte eine Presseverlautbarung, mit der die Absage einer Rede außerhalb Washingtons begründet wurde:

DER PRÄSIDENT HAT EINE LEICHTE ERKÄLTUNG UND ERHÖHTE TEMPERATUR. MIT RÜCKSICHT AUF DAS STÜRMISCHE WETTER BESTEHT DER ARZT DES WEISSEN HAUSES DARAUF, DASS DER PRÄSIDENT IN WASHINGTON BLEIBT UND SEINE REDE IN CLEVELAND ABSAGT.

Wassilij Leonow war überrascht, als er in den Spätausgaben der Sonntagszeitungen las, daß der Präsident mit seiner Familie der Messe beigewohnt habe, nachdem erst wenige Stunden zuvor eine Wahlrede abgesagt worden war. Nun ja, dachte er, der Präsident ist schließlich ein frommer Mann, und die Amerikaner freuen sich, wenn sie wissen, daß er in die Kirche geht. Zur Schau gestelltes Selbstbewußtsein. Irgendwie mußte der arme Junge ja seinen Mut unter Beweis stellen.