Dies waren die längsten und aufregendsten Tage in Andres Leben. Für einen Geheimdienstchef gibt es keine Erholungspausen von dem immerwährenden Druck. Es gibt für ihn keine Faustkämpfe, keine Schießereien, kein Klettern über Balkone, keine Entführungen von Jungfrauen, keine Akrobatik, keine Karateschläge, keine elektronischen Wunderapparate. Der ständige Druck erforderte stillen Mut und die gehirnauslaugende Arbeit, einen fähigen und gefährlichen Gegner mit jedem Gedanken und allen Manövern auszuspielen.
Als die bewegende Kraft hinter dem Unternehmen war Andre dazu verurteilt, in quälender Stille zu warten, während seine Agenten seine Anordnungen ausführten. Die meisten von ihnen waren keine Professionellen, sondern eben anständige Patrioten, die bereit waren, auf sein Kommando in den Tod zu gehen - und diese Verantwortung drückte ihn nieder. Doch Andre konnte die inneren Wunden verbergen und in der Öffentlichkeit seine Spannung überspielen.
Nur seine Geliebte, Juanita de Cordoba, kannte die Wahrheit, wenn diese aschgraue Farbe in seine Wangen trat und wenn sich die Überarbeitung seines Gehirns durch die blutunterlaufenen Augen verriet.
Teilinformationen fanden ihren Weg zu Juanita und wurden an Andre weitergegeben. In der Ungestörtheit der Botschaft setzte er die Stücke zusammen, wertete die schwerbeschafften Nachrichten aus und entwickelte neue Pläne. Das Unternehmen machte recht gute Fortschritte, aber ein Durchbruch war erforderlich. Nichts von ausreichender Beweiskraft war bisher gefunden worden.
Es war ein merkwürdiges Spiel. Die Katze und die Maus verhielten sich in der Öffentlichkeit weiter freundlich zueinander. Als hoher französischer Diplomat wurde Andre von den Kubanern und sogar von den Russen mit herzlichem Händedruck begrüßt. Er besuchte lange Empfänge und Konferenzen über diplomatische und Handelsangelegenheiten und erledigte mit seinen Gegenspielern die routinemäßigen Regierungsgeschäfte.
Obwohl die G-2 und der Sowjetresident Gorgoni den Verdacht hegten, daß Devereaux vor ihrer Nase einen Spionagering leitete, konnten sie ihn einfach nicht fassen. Aber während das Unternehmen näher an den Kern herankam, wuchsen die Möglichkeiten für Fehler und eine Entdeckung, und der Druck erhöhte sich.
Andre gelang es, mit Sicherheit festzustellen, daß es in Juanitas Villa keine Telefonanzapfungen und Abhöranlagen gab.
Er nahm an, daß sich die G-2 dumm stellte, um sie in Sicherheit zu wiegen. Höchstwahrscheinlich war sich die G-2 auch darüber im klaren, daß Andre die Anzapfungen ohnehin schnell entdecken und sie dazu benutzen würde, sie mit verwirrenden falschen Informationen zu versorgen. Die Abhörsicherheit der Villa gab Andre und Juanita ein willkommenes Maß an Freiheit, miteinander zu sprechen.
*
Am Tag des Empfangs für den neuen Ersten Sekretär der Chinesen in der französischen Botschaft kamen von Morelos, dem Geflügelhändler, drei Nachrichten - wieder in Hühner eingenäht.
Sie waren einfach verschlüsselt und auf ein Spezialzigarettenpapier geschrieben, das Juanita vor Monaten ausgegeben hatte. Als er sich für den Empfang anzog, legte Andre Tabak auf die Papiere, rollte sie zu Zigaretten und steckte sie in eine halbleere Camel-Packung.
Juanita betrachtete ihn, als sie sich ankleideten. Er war wieder einmal weit weg. Sein Geist war in dieser schrecklichen Tretmühle und dachte, dachte, dachte. Sie war beunruhigt wegen der offensichtlichen Belastung. Das hagere Gesicht - die plötzlichen Schwächeanfälle, die nur sie im Schlafzimmer bemerkte. Sie half ihm mit den Manschettenknöpfen. Während ihre eleganten Finger sein Hemd zumachten, dachte er laut: »Wir müssen jemanden nahe an die Finca Jose heranbringen. Keine verdammte Aussicht, eine Kamera dorthin zu bekommen.«
»Halt still, Liebster!«
»Rico Parra ist zu dem Empfang heute abend eingeladen. Das ist unsere erste Begegnung seit der im La Torre. Vielleicht will er reden. Wenn er Annäherungsversuche macht, laß ihn kommen! Versuch, freundlich zu ihm zu sein! Manchmal handelt er aus einem inneren Zwang heraus. Merk dir jedes Wort, das er sagt!«
»Ja, Liebster!«
Andre fegte den überschüssigen Tabak vom Toilettentisch in seine Hand und warf ihn in den Papierkorb. Er steckte die Packung mit den präparierten Zigaretten in seine Hemdtasche. Juanita rückte seine Schleife zurecht, tätschelte seine Wange und sagte ihm, daß er hübsch aussehe.
Wie vorausgesagt und von der kubanischen Presse vermerkt, war der neue Erste Sekretär der chinesischen Botschaft klug und voll orientalischem Charme. Das gleichmäßige Gesumm von Spanisch, Französisch und Englisch belebte den großen Salon der Botschaft. Da Havanna so eintönig war in diesen Tagen, war es ein Ereignis, wenn die Franzosen eine Party veranstalteten. Blanche Adam war eine Gastgeberin mit Stil. Der Chinese war entzückt.
Kurz nach seinem Eintreten mit Juanita nahm Alain Adam Andre beiseite und bat ihn um eine Zigarette. Andre nahm das Päckchen Camel aus seiner Hemdtasche. Alain bemerkte beiläufig, Camels seien zur Zeit schwer zu bekommen, und Andre bestand darauf, daß er die Schachtel behielt. Einige Augenblicke später wurde der Botschafter ans Telefon gerufen. Er entschuldigte sich, ging in sein Büro, schloß die Tür hinter sich ab und legte die Zigarettenpackung schnell in den Safe. Er stellte die Kennzahlen ein, um den Safe abzuschließen, und stieß dann einen Seufzer der Erleichterung aus. Alain Adam mochte Andre Devereaux gern, aber manchmal bedauerte er seine Besuche auf Kuba. Die Geheimdienstarbeit machte ihn nervös Der Botschafter ging in den Salon zurück, wischte sich den Schweiß von der Stirn und nickte Andre zu, der sich angeregt mit dem Chef der sowjetischen Kulturmission unterhielt.
An diesem Abend schien Rico Parra durch die elegante Atmosphäre eingeschüchtert zu sein. Es war geradezu bewundernswert, wie er sein Verlangen zügelte, mit Juanita de Cordoba zu sprechen. Schließlich wählte er diskret einen Augenblick, in dem sie außer Hörweite der anderen auf den Balkon hinaustreten konnten.
Juanita bemerkte seine nachdenkliche Stimmung. Ihr war bewußt, daß Rico Parra kein Narr war. Viel von seiner Polterigkeit war für die Öffentlichkeit bestimmt und sollte seinen Untergebenen Angst einflößen. Hinter dieser ruppigen Fassade verbarg sich ein Mann von enormen Fähigkeiten und natürlicher Intuition.
»Wenn ein Mann wie ich, Rico Parra, an die Macht kommt«, sagte er mit ungewohnt leiser Stimme, »ist er geneigt zu glauben, er könne alles verlangen und jede Frau bekommen. Das ist es, weshalb Sie so ein Rätsel für mich sind, Juanita.«
»Sie sind bezaubernd offen heute abend«, gab sie zurück.
»Sehen Sie, Täubchen, ich habe die Aristokratie immer aus einem bestimmten Blickwinkel gesehen. Als ich ein Junge war und in den Zuckerrohrfeldern schuftete, kamen die eingebildeten Töchter des Fincabesitzers auf ihren Araberpferden vorbeigaloppiert. Ich sehe sie noch deutlich vor mir. Wie es sich für einen guten armen Bauern gehörte, nahm ich die Mütze vom Kopf und verbeugte mich, wenn sie vorbeikamen. Aber sie fügten mir einen Schmerz zu - hier, in meinem Herzen -, den ich nie überwinden werde. Wenn man ein Affe im Zoo hinter Gittern ist und plötzlich befreit wird, wünscht man sich, alles in der Hand zu halten, was einem vorher verweigert wurde.« Er griff nach einer Zigarette, überlegte es sich dann aber anders. »Wissen Sie, was ich in Wirklichkeit von Juanita de Cordoba will? Außer Ihrer Schönheit - außer all dem Ansehen?«
»Vielleicht.«
»Ich will Ihre Macht. De Cordoba und Parra. Das ist Macht… ja, ich weiß, ich widere Sie an. Ich bin ein Tier. Die meisten Frauen ekeln sich vor mir.«
»Sie sind heute gar nicht Sie selbst, Rico. Was wollten Sie mir eigentlich sagen, als Sie mich hier herausführten?«
Der Kubaner brachte ein Lächeln zustande. »Sieh einer das Täubchen an! Sie durchschaut mich. Ich kann Sie als Mann nicht gewinnen. Aber vielleicht könnte ich Sie auf eine feinere Art davon überzeugen, daß eine Freundschaft zwischen uns gar nicht so von der Hand zu weisen wäre.«
»Sprechen Sie weiter!«
Rico Parra ging auf dem Balkon auf und ab. Die ganze Durchtriebenheit und Gefährlichkeit des Mannes wurde ihr bewußt. Die Eigenschaften, die ihn zu einem hervorragenden und brutalen Guerillakommandeur gemacht hatten, waren nicht zu unterschätzen. Er wählte seine Worte mit äußerster Sorgfalt.
»Castro«, sagte er, »hat mich auserwählt, um ein Auge auf gewisse ausländische Diplomaten zu werfen, die oft ein- und ausreisen.« Er hielt inne und sah ihr gerade in die Augen. »Castro läßt mir Handlungsfreiheit und hat mich bevollmächtigt zu tun, was ich in einer gegebenen Situation für notwendig halte.«
Juanita bewahrte ihre Haltung. Rico Parra war von ihrer Gewandtheit beeindruckt. Es war eine Gewandtheit, die er sich sichern wollte, die für ihn arbeiten sollte. »Ich muß sagen, daß Fidel Sie mit einer enormen Verantwortung betraut hat.«
»Ich wußte, Sie würden mich verstehen«, sagte Rico Parra.
*
Andre öffnete den Reißverschluß von Juanitas Kleid, hielt sie von sich und betrachtete ihren Rücken. Er war ungemein schön. Die meisten Frauen waren entweder knochig oder eckig oder fleischig oder hatten unreine Haut. Juanita war makellos.
»Ricos Benehmen war ungewöhnlich«, sagte sie.
»Ich bin ganz bezaubert von deinem Rücken.«
»Wir hatten unser Gespräch. Er war zur Abwechslung einmal nicht laut.«
»Wie ging es?«
»Nichts Neues, Liebster. Parras alter Unsinn auf neue Art serviert. Ich glaube, er ist ein vollkommener Trottel.«
Andre ließ seine Hände von ihr gleiten und überlegte. »Parra ist kein Trottel. Fehler - ja. Aber kein Trottel! Ich habe den Eindruck gewonnen, daß er einen Teil der Verantwortung für die G-2 übernommen hat. Ich glaube, er hat seine Nase in unserem Geschäft.«
»Ich konnte nichts davon bemerken«, sagte Juanita. Sie warf sich ihm in die Arme. »Heute nacht«, sagte sie, »will ich dich lieben.«
»Das tust du immer, Liebste. Du bist selbstlos - zu selbstlos.«
»Nein … ich meine … heute will ich dich lieben, die ganze Nacht lang - und dich dabei beobachten. Ich will sehen, wie du glücklich bist…«