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Im Jahr 1940

Frankreich war besiegt!

Andre Devereaux' Weg begann in Montrichard, einer Stadt im Loiretal, jener berühmten Landschaft, die der Garten Frankreichs ist.

Das Loiretal mit der Pracht seiner hundert großen Schlösser - seinen Seen, Gärten und Wäldern - war einst der Spielplatz der Könige und über tausend Jahre lang die Herrin der Geschichte gewesen.

Jeanne d'Arc und ihr Orleans, Karl der Große und sein Kloster Pont-Levoy, die älteste Schule von ganz Europa, St. Florentin in Amboise, die letzte Ruhestätte Leonardo da Vincis, und Schloß Chambord mit den Werken seiner genialen Hand. Und die Schlösser von Loir-et-Cher! Chaumont, Montresor, Amboise, wo da Vinci gestorben ist, und Schloß Chenonceaux mit seinen fünf über den Cher gebauten Bögen! Der schwankende Felsen in Le Puy, gekrönt von der Statue der Schwarzen Jungfrau; und die Jagd, die Hatz auf Bär und Fuchs hinter den herrlichen Cheverny-Hunden; und die Reben von Tours, die funkelnden Perlweine von Vouvray, die armseligen Bauernhöfe, der Ziegenkäse von Sancerre.

Montrichard, Andre Devereaux' Heimat, lag im Herzen Frankreichs. Straßen mit Kopfsteinpflaster führten durch zerklüftete Felsen zu den weißen Sandufern des Cher. Die Weinkellerei Montmousseau am Stadtrand hatte ihre Fässer tief in Felskammern gelagert, die noch aus römischer Zeit stammten. Ringsum erstreckten sich Himbeer- und Erdbeerfelder. Die uralten primitiven Höhlenwohnungen in den Felsen wurden während der Weinlese noch immer von den Bauern benutzt.

Montrichard! Der Berg des Richard Löwenherz, benannt nach dem König von England, der auf der Rückkehr von seinen Kreuzzügen hier haltmachte.

In den frühen Sommertagen des Jahres 1940 lag Trauer über dem Land, denn Frankreich war besiegt.

Die Nation war geteilt. Wenige Kilometer südlich von Montrichard, wo der Cher behäbig nach Chenonceaux fließt, verlief jetzt eine Grenze. Montrichard lag im besetzten Frankreich. Jenseits der Grenze - in Vichy - hatte eine Schwindelregierung von Kollaborateuren ihren Sitz bezogen, geführt von dem einst verehrungswürdigen Maxschall Petain.             

Als Frankreich kapitulierte, war Andre Devereaux zwanzig Jahre alt und arbeitete als Volontär im Anwaltsbüro seines Vaters. Der alte Devereaux, ein vermögender Grundbesitzer, war Witwer. Seine Frau war bei einem Autounfall ums Leben gekommen und hatte Andre im Säuglingsalter als Halbwaise zurückgelassen. Der Vater hatte sich an dem Unfall schuldig gefühlt und sich mit Selbstvorwürfen zerfleischt. Die Sehnsucht nach der Mutter und die Selbstanklage des Vaters hatten Andre damals in einen heftigen Gefühlskonflikt gestürzt.

Schloß Devereaux lag am Westrand der Stadt an der Straße nach Schloß Chenonceaux und besaß achtundvierzig Zimmer - wenig im Vergleich mit anderen Schlössern dieser Gegend.

Das Leben verlief jetzt in geordneten Bahnen. Andre bereitete sich darauf vor, in einem Landstrich, in dem nichts Umwälzendes mehr geschah, die Verantwortung für die Familie zu übernehmen.

Ein, zwei Monate nach der Eroberung Frankreichs saß Andre eines Morgens am Schreibtisch, als ihn sein bester Freund Robert Proust besuchte.

»Was gibt's?« fragte Andre.

»Könntest du zum Mittagessen ins La Tete Noire kommen?«

»Freilich.«

»Ich möchte dich dort mit jemandem bekannt machen.«

»Warum tust du so geheimnisvoll?»

«Warte nur ab.«

Als Andre später das Restaurant betrat, führte ihn Robert an einen separaten Tisch, an dem ein schlanker, hübscher junger Mann Anfang Zwanzig saß. Er wurde ihm als Jacques Granville aus der Nachbarstadt Blois vorgestellt. Jacques war im Krieg Offizier gewesen und aus der Gefangenschaft entflohen.

»Robert hat mir erzählt, daß Sie alte Freunde sind«, sagte Jacques, als er die Weinflasche entkorkte.

»Ja«, erwiderte Andre. »Wir sind zusammen in die Klosterschule Pont-Levoy gegangen.«

Jacques schenkte ein. »Dann sind wir ja Schulkameraden. Ich bin nämlich auch dort zur Schule gegangen.«

Robert Proust, ein einfacher Bursche, klein und schüchtern, nippte nervös an seinem Wein. »Jacques … Monsieur Granville hat viele Verbindungen in Blois, um … um Leuten zu helfen.«

»Das verstehe ich nicht ganz.«

»Robert hat mir gesagt, ich könnte offen mit Ihnen sprechen«, sagte Jacques. - »Ja, natürlich.«

»Wir helfen Juden«, sagte Robert.

»Was meinst du mit .helfen'?«

»Ich selbst bin Halbjude, das weißt du ja«, sagte Robert.

»Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht«, erwiderte Andre.

»Für die Juden wird die Situation im besetzten Frankreich immer schwieriger. Die Deutschen sind ein gemeines Pack. Erst wurden die Juden öffentlich gedemütigt. Jetzt werden sie geschlagen, und man nimmt ihnen ihren Besitz weg. Der Himmel mag wissen, was das nächste ist. Viele Juden versuchen, aus dem besetzten Frankreich über die Grenze nach Vichy-Frankreich zu entkommen. Wir richten eine Untergrundverbindung ein.«

»Warum ?«

»Es sind Franzosen«, sagte Jacques Granville eifrig, »und sie sind in Schwierigkeiten. Wenn sich die Lage weiter verschlimmert, werden noch ihre eigenen Landsleute über sie herfallen.«

»Widerlich«, sagte Andre.

»Robert hat den Vorschlag gemacht, daß ich mich mal mit Ihnen zusammensetze, weil Ihr Vater - das stimmt doch? - mehrere Bauerngüter am Cher besitzt.»

«Ja.«

»Wären Sie bereit, den Juden zu helfen?«

»Natürlich«, erwiderte Andre, ohne zu zögern.

Proust und Granville atmeten tief auf und warfen sich einen Blick zu. Jacques beugte sich mit aufgestützten Ellbogen vor.

»Es ist aber nicht ganz ungefährlich.«

»Die Deutschen sollen zur Hölle gehen«, erwiderte Andre, »ich hasse sie. Was soll ich für euch tun?«

»Kann man den Pächtern auf den Bauernhöfen Ihres Vaters trauen?«

Andre dachte nach. »Wir haben vier kleine Bauern am Cher. Für zwei von ihnen würde ich meine Hand ins Feuer legen.«

»Gut«, sagte Granville. »Wie Sie wissen, verläuft der Duberrv-Kanal parallel zum Cher. Das dazwischenliegende Gebiet lassen die Deutschen von ihren Grenzposten überwachen. Wenn es uns gelingt, von einem der Bauernhäuser aus die deutschen Wachtposten zu beobachten, können wir eine Art Plan machen und dann bei Nacht die Juden über den Fluß bringen.«

Der Vorschlag erfüllte den jungen Andre mit Furcht und Begeisterung zugleich. Er fühlte sich schuldig, weil er nicht wie der ein Jahr ältere Robert gegen die Deutschen mitgekämpft hatte.

»Ich helfe euch«, sagte er, »wenn ihr mir versprecht, meinem Vater nichts davon zu sagen.«

Der feurige Jacques Granville lächelte strahlend, der sanfte Robert Proust nickte nur.

»Sei uns willkommen, Kamerad«, sagte Jacques, und die drei schüttelten sich die Hände.