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An Bord des Öltankers Hammond-1, mit Kurs auf Chile

Alex verließ den Laderaum und stieg auf das achterliche Arbeitsdeck, nicht weil er dort etwas Bestimmtes suchte, sondern lediglich wegen seines Vaters, von dem er momentan so weit entfernt sein wollte wie nur möglich. Bald stieß er auf eine kleine Menschenmenge, die einen dicht geschlossenen Kreis bildete. Er hörte laut erteilte Anweisungen wie »Etwas Druck darauf ausüben!« und »Hat jemand einen Gürtel?«

Nachdem er näher herangetreten war, um zu sehen, was los war, ohne jemanden zu stören, machte er zwischen zwei Körpern einen Arbeiter aus, der auf dem Boden lag, gequält zuckte und sein rechtes Bein festhielt. Sein gummierter Overall war auf Kniehöhe aufgerissen, und er blutete stark durch das Material. Nicht weit entfernt auf dem Deck lag umgestürzt eine schwere Maschine, deren Funktion Alex nicht genau bestimmen konnte.

»Wo bleibt nur die verdammte Ärztin?«, rief jemand aufgeregt.

»Sie wurde bereits verständigt«, entgegnete ein anderer Mann.

Weil er nichts tun konnte, um sich nützlich zu machen, hielt Alex es für das Beste, niemandem im Weg zu stehen. Er ging die Treppe am hochragenden Brückenturm hinauf, und als er oben ankam, betrat er einen Laufsteg, der um die Aufbauten des Tankers herumführte. Niemand war hier oben zu sehen oder zu hören, also blieb er am Geländer stehen und schaute hinaus auf das Wasser. Die Sonne ging gerade über dem Feld von Eisbergen unter, das sie bereits hinter sich gelassen hatten. Der spektakuläre Anblick beeindruckte ihn jedoch nicht, genauso wenig wie ihm der klirrende Wind zusetzte, der durch die kleinsten Öffnungen in seinem Parka schnitt. Als er die Küste der Antarktis in der Ferne verschwinden sah, dachte er wieder an seinen Freund; Tonys Leichnam lag immer noch dort unten an diesem Schreckenshort. Ich bin schuld – und diese Russen … Was war bloß los mit ihnen?

Er konnte die Gedanken daran nicht mehr ertragen und wandte sich von der Küstenlinie ab. Plötzlich hielt er es nicht mehr aus, draußen zu sein und den Ort zu sehen, wo das Leben für ihn eine so entsetzlich falsche Wendung genommen hatte. Vor ihm gab es eine Tür. Er wusste nicht, wohin sie führte, aber das war eigentlich auch egal. Nachdem er sie aufgeworfen hatte, trat er in einen kurzen Gang … und stockte.

Er war erstaunt darüber, eine Person zu sehen, die aus der Gegenrichtung auf ihn zukam, und umso größer wurde die Überraschung, als er erkannte, dass es eine Frau war, noch dazu eine attraktive. Ihre Frisur kam ihm ein bisschen merkwürdig vor – kurz geschnitten, und zwar nicht sonderlich schick –, und ihre Klamotten waren auch nicht gerade ansehnlich, aber hey: Hierbei handelte es sich um einen Tanker im Einsatz in der Antarktis und nicht um Frühlingsferien in Cabo San Lucas. Er schätzte ihr Alter auf dreißig. Ihre meergrünen Augen starrten gebannt auf den Touchscreen ihres Smartphones, doch er sah ihren Blick hochschnellen, als sie das Geräusch der aufgehenden Tür gehört hatte. Der schwarze Arztkoffer, den sie trug, gab sie genauso wie das gestickte rote Kreuz mit dem Äskulapstab auf der Brust ihres altbackenen Sweatshirts als Schiffsärztin zu erkennen.

»Hi. Äh … entschuldigen Sie«, hob Alex an.

Sie musterte ihn kurz, wohl um herauszufinden, ob er einer dringenden Behandlung bedurfte, wenngleich es Alex lieber gewesen wäre, sie würde es aus anderen Gründen tun. Als sich ihre Blicke begegneten, spürte Alex, wie sich etwas in ihm regte, das tiefer ging als das Stampfen des Schiffs und die frische Luft, die seine Nackenhaare aufrichtete. Es war jener Funke, der zuvor nur sehr selten in ihm aufgeflammt war, doch hier stand er nicht vor irgendeiner Öko-Tante, die er nach dem Anschauen von Der Killerwal oder Blood Dolphins hätte trösten können, sondern vor einer richtigen Frau und obendrein einer Medizinerin. Sie hatte offensichtlich etwas im Kopf und sah dabei noch gut aus. Wahrscheinlich war sie eine Nummer zu groß für ihn, doch andererseits traf dies auf diesen ganzen vermasselten Trip zu.

»Was ist?«, fragte sie, während sie an ihm vorbeischaute.

»Ach, ich vertrete mir nur die Beine.« Klasse, ein wirklich brillanter Auftakt. »Ach ja, und ich bin gerade unten auf dem Arbeitsdeck gewesen, da hat sich jemand übel verletzt, aber nicht dass ich mich auskennen würde oder so.« Glanzleistung, Blödmann.

Veronica schaute wieder auf ihr Handy, dann abermals in Alex Gesicht, und gab ihm eine kühle Antwort. »Ja, ich wurde bereits gerufen. Hören Sie, würde es Ihnen …«

»Oh, Verzeihung.« Alex neigte den Kopf wie zur Verbeugung nach vorne und trat dann zur Seite.

»Nein«, erwiderte sie, wobei sie einen milderen Ton anschlug. »Ich meinte, würde es Ihnen etwas ausmachen, mich dort hinzubringen? Ich bin noch neu an Bord, und bei solchen Verletzungen ist Schnelligkeit das A und O.«

Als Alex nun aufschaute, umspielte ein Lächeln seine Lippen. »Natürlich, selbstverständlich. Hier entlang.«

Er führte sie auf dem Flur zurück durch die Tür, die er benutzt hatte, und dann draußen über den Laufsteg.

»Meine Ex-Freundin macht gerade ihr Premed-Studium«, meinte er, um ein Gespräch vom Zaun zu brechen, während sie mehrere leiterartige Treppenläufe hinunterstiegen. »Als sie auf der Uni in San Francisco anfing, verließ sie mich.«

»Ich bedauere, das zu hören.«

»Ach, halb so wild, ich bin längst darüber hinweg. Wo haben Sie studiert?«

Eine Pause, dann: »In Los Angeles.«

»Oh, wow! Ich lebte in Westwood, gleich in der Nähe. Ich ging zwar nicht zur UCLA, bin aber dort groß geworden und kenne die Gegend deshalb sehr gut. In welcher Straße haben Sie denn gewohnt?«

Sie antwortete nicht, sodass Alex ein paar Sekunden lang nur ihre Schritte auf den Metallstufen hörte. Sie erreichten den letzten Absatz und wandten sich dann den Stufen zu, die auf das Hauptdeck führten.

»Ich kann mich nicht mehr an den Namen erinnern, tut mir leid. Alles, was ich dort getan habe, war studieren. Die Wohnung sah aus, na ja … wie eine typische Studentenbude eben, so etwas in der Art.«

»Das medizinische Studium dauert doch sechs Jahre oder so, nicht wahr?«

»Eigentlich acht, wenn man die Assistenzarztzeit mitrechnet. Ich habe während meiner Zeit dort in verschiedenen Appartements derselben Straße gewohnt.«

Alex legte die Stirn in Falten. Halt den Rand, das ist ihr offenbar unangenehm. Der Klugscheißer in ihm konnte aber nicht widerstehen. »Sie haben also den Namen einer einzelnen Straße vergessen, in der Sie acht Jahre lang gewohnt haben? Das muss ganz schön …«

Plötzlich läutete ihr Telefon, und sie hielt es sich ans Ohr. Alex hörte eine aufgeregte Stimme am anderen Ende, ehe Veronica sagte: »Ich bin schon unterwegs und gleich da.«

Sie gab Alex gestisch zu verstehen, er solle ihr sagen, wie es weitergehe, als sie auf den Steg der unteren Ebene traten. Er zeigte nach links und deutete mit einer Armbewegung an, sie solle ihm folgen, woraufhin er locker in Richtung Arbeitsdeck lief.

Als sie näherkamen, ging die Crew für die Ärztin auseinander wie das Rote Meer für Moses.

»Gleich hier, Doc«, rief einer der Männer. »Der Motor eines Bootskrans ist unter der schweren Last herausgesprungen – zu verteufelt kalt vermutlich – und genau auf sein rechtes Knie gefallen. Sieht ziemlich übel aus. Wir haben seinen Oberschenkel schon abgebunden, um die Blutung zu stoppen.«

Der Verletzte war in wirklich schlimmer Verfassung. Jemand hatte ihm ein Stück Holz gegeben, auf das er beißen konnte, doch er brüllte immer noch laut vor Schmerz. Sein Knie war heillos zertrümmert worden. Alex bemerkte, dass sich die Ärztin davor zu sträuben schien. Sie verzog angewidert ihr Gesicht, als sie sich bückte, um die Wunde genauer zu betrachten. Mehrere Sekunden vergingen, und sie sagte immer noch nichts.

»Doc?«, drängte einer der anderen Männer sie.

Sie schüttelte ihren Kopf, als ob sie eine Benommenheit zu überwinden versuche. »Gut gemacht mit der Aderpresse; sieht so aus, als sei die Blutung fast völlig gestillt. Hier können wir sonst nichts mehr für ihn tun. Ich muss ihn auf die Krankenstation bringen. Sie beide … können Sie ihn hochheben?« Sie zeigte auf zwei kräftige Crewmitglieder, die in der Nähe standen. Nachdem sie auf das verheerte Knie ihres Kollegen geschaut hatten, wechselten sie ratlose Blicke.

»Moment mal, warten Sie kurz«, lenkte Alex ein.

Als langjähriger Adrenalinjunkie und Extremsport-Begeisterter hatte er sich schon mehr als genug Stoßverletzungen verschiedener Art zugezogen, die von Sanitätern und Notfallärzten behandelt worden waren. »Er braucht doch eine Schiene und muss dann erst auf eine Bahre gelegt werden, um ihn bewegen zu können, oder?«

Veronica sah ihn verwirrt an. Einer der Arbeiter hingegen warf Alex einen wütenden Blick zu. »Ist das nicht der Wicht, der eigentlich in den Knast gehört? Warum sollten wir auf Sie hören?«

»Er hat aber Recht«, gestand ein anderer. Man hörte zustimmendes Raunen aus der Gruppe, die dichtgedrängt um ihren angeschlagenen Kameraden standen.

»Also gut«, sagte Veronica und schaffte es dabei irgendwie, dem Wort etwas Autoritäres zu verleihen. »Wer kann mir eine Schiene und Krankentrage besorgen?

Der Verletzte auf dem Deckboden stöhnte immer noch gequält.

»Doktor haben Sie den keine Gipsschienen auf der Station? Sie hätten sie mitbringen sollen; ich dachte, Sie seien darüber informiert worden, dass es sich um eine Knochenverletzung handelt.«

Veronica schaute den Sprecher streng an. »Ich bin nicht von der Station gekommen und ging davon aus, der Unfallraum sei womöglich näher als die Station.«

»Fragen Sie doch mal Ihren Patienten, ob ihn das interessiert«, entgegnete jemand, während er auf den Mann zeigte, der sich unter Schmerzen wand und dabei sein ruiniertes Knie festhielt.

Ein anderer gebot dem Kritiker schnell Einhalt. »Nicht jetzt, Mensch. Er braucht ihre Hilfe.«

Veronica stand neben dem Verletzten auf und warf die Hände hoch. »Sie …« Sie zeigte auf Alex. »Können Sie mit mir zur Station laufen und die Trage holen?«

»Sicher.«

»Dann los, und sie, Gentlemen, passen auf, dass er nicht wieder zu bluten anfängt.«

Die Männer schauten ihr hinterher, als sie verschwand, nicht wenige davon kopfschüttelnd.

»Ich weiß nicht, wo die Station ist«, sagte er, als ihm auffiel, dass er vorausging.

»Hier entlang«, entgegnete sie und eilte an ihm vorbei. Sie gingen an einer Treppe vorüber, die sie zuvor genommen hatten, und blieben weiter auf dem Hauptdeck. Nach einer gefühlten Ewigkeit für Alex traten sie durch eine Tür rechts in ein kleines Gebäude ein. An einem weiteren Eingang prangte ein großes rotes Kreuz. Veronica öffnete die Tür, und dann gelangten sie auf die Krankenstation des Schiffs.

Der Raum war überfüllt mit Regalen, Schubfächern und Schränken für medizinische Mittel und Instrumente. Alex fielen augenblicklich zwei Bahren ins Auge, die an einem Gestell an einer Wand hingen, also nahm er rasch eine herunter. Nachdem er sie hochgehoben hatte, wollte er hinausgehen, schaute dann aber zu Veronica hinüber, die sich immer noch unschlüssig umsah und sich nicht bewegte.

»Was ist los?«, fragte er.

»Ich suche nur noch die Schienen …« Ihr Blick irrte im Raum umher.

Alex schaute sie an und verdrehte seine Augen. »Sind Sie sicher, dass Sie nur acht Jahre bis zum Abschluss gebraucht haben?«

Während er geschwind die Etiketten an den Schränken überflog, verschaffte er sich einen Überblick dessen, was zusammen aufbewahrt wurde.

»Die Ersthilfe ist dort drüben«, sagte er dann und zeigte mit seiner freien Hand auf einen Spind. »Die Schienen müssten bei den Bandagen liegen.«

Veronica trat vor den Spind und öffnete ihn. Alex beobachtete, wie sie den Arm ausstreckte und dann wieder zurückzog, woraufhin sie einen Beutel voller Gipsschienen in der Hand hielt. Diesen klemmte sie sich unter den Arm, bereit zum Aufbruch.

»Das sind sie, jetzt nur noch die Krankentrage.« Sie ging auf die Tür zu.

Alex blieb stehen. »Einen Augenblick.«

Sie sah ihn erwartungsvoll an, während ihre Hand auf der Klinke lag. Alex schaute ihr direkt in die Augen und sprach leise: »Sie sind gar keine Ärztin, richtig?«

Nun klappte ihr Mund auf, und sie verharrte einen Moment lang so, als wolle sie etwas erwidern, schloss ihn dann aber wieder wortlos.

Alex dachte an all die echten Ärzte, die ihn behandelt hatten oder die er persönlich kannte, ob aus seinem Freundeskreis oder der Verwandtschaft. Die Ausstrahlung dieser Frau stimmte einfach nicht. Er schüttelte den Kopf und fügte nicht einmal etwas hinzu; das erübrigte sich seiner Meinung nach.

Veronica ließ die Tür los, näherte sich Alex langsam und starrte ihn drohend an. »In dieser Sache wollen Sie nicht weiter nachhaken, glauben Sie mir. Sie sind doch nur ein Unruhestifter, der Sohn eines Paläontologen, der gerade gefeuert wurde. Ganz richtig, ich habe alles mit angehört, also verzeihen Sie mir, wenn ich nicht allzu gefällig auf Ihr Verhör hier reagiere.«

Alex zog seine Augenbrauen hoch. »Würden Sie nur halb so viel vom Verarzten verstehen wie davon, was mit DeKirks Personal geschieht, wären Sie fein raus mit Ihrer … Verkleidung oder welches Spiel es auch sein mag, das Sie hier treiben.«

»Passen Sie auf, Sie kleiner …«

»Nein, Sie passen auf!« Er klang aggressiver, als er erwartet hatte, und wunderte sich darüber, dass sie wirklich den Mund hielt. Dann fuhr er fort: »Die Kerle da unten schöpfen sowieso schon Verdacht, da bin ich mir sicher. Fehlt nicht mehr viel«, deutete er an, ehe er sich um einen sanfteren Tonfall bemühte. »Wenn Sie mir einfach zuhören würden, bitte. Auch wenn Sie keine echte Ärztin sind, spüre ich, dass Sie Ihr Herz am rechten Fleck tragen, und außerdem vielleicht auch auf meiner Seite stehen.«

»Und welche Seite wäre das?«

Alex zuckte mit den Achseln. »Nicht die von diesem Xander oder jene von William DeKirk. Falls ich richtig in der Annahme gehe, dann bin ich auch bereit, Ihnen zu helfen, und so wie es momentan in meinen Augen läuft, werden Sie jegliche Hilfe brauchen, die Sie kriegen können.«

Veronica seufzte tief und schaute ihm dann wieder in die Augen, um zu ergründen, ob er ehrlich zu ihr war. »Sie haben gewonnen. Es stimmt, Sie werden mir helfen müssen, oder wir haben beide ein Riesenproblem.«