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An Bord des Öltankers Hammond-1, mit Kurs auf Adranos Island

Marcus fühlte sich, als würde er gerade nach dem schlimmsten Besäufnis seines Lebens ausnüchtern, bloß dass er sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre, nicht mehr betrunken hatte, also seit seiner Zeit am College. Die Lampen auf der Krankenstation des Tankers wurden langsam schärfer, als er einen Arm anhob, um sich seine pochende Schläfe zu massieren … und einen glatten Wulst aus Verbandsstoff über seine Haut gleiten spürte. Was seine Kopfschmerzen umso schlimmer machte, war das unaufhörliche Geplapper der Schiffsärztin. Wie hieß sie noch gleich?

Veronica Winters stand in einer Ecke des Behandlungszimmers und damit ungefähr so weit von Marcus entfernt, wie es in dem kleinen Raum nur möglich war. Sie sprach mit gedämpfter Stimme in ein Satellitentelefon, das sie in seiner Anwesenheit bisher noch nie benutzt hatte. Normalerweise trug sie ein Smartphone bei sich, das über den bordeigenen Satellitendienst funktionierte, oder ansonsten ein Funkgerät. Er schloss die Augen wieder, denn sie sollte nicht bemerken, dass er ihr zuhörte.

»… sicher, dass DeKirk nicht an Bord ist. Nein. Wenn Sie mich einfach erklären lassen würden …«

Sie redete sehr leise und brachte gerade so viel Luft für ihre Worte auf, dass sie kein bloßes Flüstern blieben.

»Nein, wir waren unterwegs nach Chile, doch der Kurs wurde geändert, um irgendeine Insel anzusteuern. Adranos glaube ich. Hören Sie, wenn Sie meine Tarnung nicht gefährden wollen, sollten Sie das Gespräch jetzt beenden; ich muss diesen Kerl irgendwie verarzten. Ich melde mich noch einmal von der Insel aus unter dieser Nummer und gebe Ihnen einen neuen Lagebericht. Ende.«

Marcus hörte, wie sie das Satellitentelefon in ihrem Arztkoffer verstaute und dann angestrengt Luft holte. Er schlug die Augen wieder auf. Nachdem er ihr seinen Kopf zugewandt hatte, beobachtete er, wie sie eine Packung Riechsalz aus dem Erste-Hilfe-Kasten nahm. Damit drehte sie sich um und wollte gerade auf ihn zugehen, stockte aber, als ihr Blick seinem begegnete.

Sie ließ das Salz fallen und näherte sich nervös der Pritsche, auf der er lag. Vage erinnerte er sich an den T-Rex und die zermürbenden Schmerzen in seiner Hand. Als er an sich hinunterschaute, sah er den bandagierten Stumpf und dass stellenweise Eiter durch den Mull sickerte. Deshalb musste er sich große Mühe geben, nicht wieder wegzutreten. Er wackelte mit seinen verbliebenen Fingern und den Zehen. Was noch dran war, schien unverletzt zu sein, aber er fühlte sich unglaublich unwohl, soviel stand fest. Die Kopfschmerzen; eine allgemeine Übelkeit … etwas, das sich nicht genau bestimmen ließ, aber einfach … überhaupt nicht in Ordnung war.

Auch sein Handgelenk tat verdammt weh. »Was haben Sie mir verabreicht?« Er starrte Veronica erwartungsvoll an.

»Oh, gut, Sie sind wach!«

»Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Doktor

»Bis jetzt, äh … nichts.«

Er versuchte, sich aufrecht im Bett hinzusetzen, doch die plötzliche Bewegung verursachte einen stechenden Schmerz in seinen Schläfen, da sein Blutdruck abrupt absackte, weshalb er sich langsam wieder zurücklegte. Dann drehte er den Kopf zur Seite, um sie anzusehen, während er weitersprach: »Gar nichts? Wieso nicht?«

»Sie schienen sich gut zu erholen, und ich dachte, es sei das Beste, Sie erst einmal ein wenig ausruhen zu lassen.«

»Was? Moment mal: Sie meinen, ich habe noch nicht einmal Antibiotika bekommen?« Er schaute fassungslos auf den Verband an seinem Stumpf und den stinkenden Ausfluss daraus und schien alles fast wie durch gedämpfte Regenbogenfarben wahrzunehmen.

Veronica sah ihn verständnislos an.

»Das ist doch lächerlich!«

»Möchten Sie etwas zu trinken?«

»Etwas zu …«, begann er, musste aber innehalten, als ihm erneut ein Schmerzensschub durch den Kopf schoss. Eines seiner Augen juckte, und als er vorsichtig daran rieb, blieb eine beträchtliche Menge zähflüssiger, senfgelber Schleim an seinem Finger kleben.

Frustriert und verängstigt hielt er ihn in ihre Richtung und nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass sie schockiert war, während sie ihre Augen immer weiter aufriss und zurückwich. Doch gleichzeitig wurde ihm erschrocken bewusst, dass er nicht in kompetenten Händen war.

»Wo genau haben Sie Medizin studiert?«

»Ich …« Sie brach spontan ab, als erhalte sie gerade neue Anweisungen von ihrem Gehirn. »Hören Sie, ich bin mir jetzt sicher, dass Sie unter einer Infektion leiden. Der Biss ist noch nicht so lange her; ich werde Ihnen sofort etwas dagegen geben.«

»Und was, Doktor?«

»Nun ja, dies ist ein ungewöhnlicher Fall, weil ich noch nie jemanden behandelt habe, der von einem Dinosaurier gebissen wurde, doch …«

»Passen Sie auf, ich habe keine Zeit für diesen Unsinn. Gibt es hier irgendwelche Antibiotika mit einem breiten Wirkungsspektrum? Damit wäre doch zumindest etwas gegen die Bakterien unternommen … hoffentlich.« Ihm war schon jetzt klar: Falls er dies überleben wollte, kam er nicht umhin, sich selbst darum zu kümmern.

»Genau das ist es ja, Mr. Ramirez, wir …«

»Dr. Ramirez.«

»Was?

»Ich bin promovierter Paläontologe.«

»Ach ja, richtig – Dr. Ramirez, Verzeihung.«

Marcus seufzte. »Dann haben wir ja wenigstens einen Doktor im Raum, nicht wahr?«

Sie errötete, ignorierte den Vorwurf aber geflissentlich, indem sie das Gespräch einfach fortführte: »Wie ich schon sagte, Dr. Ramirez, was auch immer aus diesem urzeitlichen See geborgen wurde, sollte nicht mit moderner Biologie zusammenwirken. Ich habe keine Ahnung, womit man so einen Biss behandeln könnte; niemand weiß es, wie auch?«

»Stellen Sie sich diese Frage später; fangen wir doch zunächst erst einmal mit den Antibiotika an. Wo liegen sie hier?« Er schaute sich im Raum um, so wie es sein Sohn vorhin getan hatte, indem er die Beschriftung an den Schränken las. Allerdings stellte er dabei fest, dass er zunehmend schlechter sah. Ein paar Fuß weit reichte sein Augenlicht noch, aber alles Weitere wurde verschwommen. Während Veronica zu einem Schrank ging und ihn öffnete, fuhr Marcus fort:

»Vergessen wir vorläufig einmal die Zeit, aus welcher der biologische Stoff stammt, der mich infiziert hat, wobei ich schon gerne wissen würde, wie sich überhaupt zu irgendeiner Zeit biologisch erklären lässt, warum ein komplexes, vielzelliges Tier nach so vielen Jahren nicht nur noch lebt, sondern dies auch noch ohne die wichtigsten inneren Organe tut.«

Die Aufregung über diese beispiellose Situation stellte sich als zu heftig für seinen geschwächten Körper heraus, weshalb er sich nun über die Kante der Pritsche hinweg auf den Boden erbrach – eine gelbe Substanz mit einem deutlichen Grünstich, die so ekelhaft roch, dass auch Veronica unwillkürlich würgen musste.

»Hier, ich habe welche gefunden!« Dass Veronica derart überrascht war, tatsächlich ein gewöhnliches Medikament in ihrem eigenen Behandlungszimmer zu finden, verhärtete Marcus’ Befürchtungen nur noch mehr, doch im Augenblick brauchte er erst einmal dringend ein Antibiotikum, alles andere war zweitrangig.

»Großartig. Bringen Sie es bitte her.«

Sie hielt ihm zwei Tablettendöschen hin, damit er selbst eine Wahl treffen konnte. Marcus las aufmerksam die Etiketten und entschied sich dann für eines davon. Sie öffnete es für ihn und gab ihm ein Glas Wasser, woraufhin er das Doppelte der empfohlenen Dosis schluckte.

Dann legte er sich erneut auf das Bett zurück, da ihn alleine die Anstrengung, sich zum Einnehmen aufzurichten, schon bis an die Grenzen erschöpft hatte. Er schaute wieder zu Veronica hinüber, die den sonderbar gefärbten Auswurf auf den Linoleumboden anstarrte, dachte dabei aber nur eines:

Wo steckt bloß mein Sohn?