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Im Sitz von DeKirk Enterprises auf Adranos

Marcus Ramirez stand in einem Raum, der noch einmal von einem äußeren abgetrennt war; eigentlich kauerte er – das traf es eher –, weil er die Knie beugen musste, während sein Kopf hin und her zuckte, und gelegentlich fuhr er sich mit der Zunge über seine aufgeplatzten Lippen. Xander hatte Veronica in einem Aufenthaltsraum abgesetzt und angekündigt, wieder zu ihr zu kommen, sobald er sich um Marcus gekümmert habe. Daraufhin war er mit ihm in diesen inneren Laborraum gekommen, der dazu diente, Versuchsobjekte in Schach zu halten. Die Umgebung war komplett steril: einheitlich weiße Bodenfliesen und grelle Leuchtstofflampen an der Decke. Ein Edelstahltisch auf Rollen nahm die Mitte der Fläche ein, ein Industriewaschbecken war in eine Wand eingefasst worden. Es gab nur ein Fenster, verstärkt mit einem Drahtnetz und auf Kopfhöhe in die einzige Tür eingesetzt.

Durch diese Öffnung beobachtete Xander nun Marcus.

Neben ihm standen zwei schwergewichtige Typen, beides hervorragend bezahlte Soldaten aus DeKirks Privatarmee, die wie Ende zwanzig aussahen, Stoppelfrisuren mit aufwändig rasierten Mustern an den Seiten zur Schau stellten, körperlich fit und außerdem gut bewaffnet waren. Er wusste nicht genau, welchen Werdegang sie hinter sich hatten, ob es sich um ehemalige Navy-SEALS oder lediglich Kleinverbrecher von der Straße handelte, doch so oder so: Er würde sich nicht mit ihnen anlegen wollen.

Soweit Xander erkennen konnte, war dieser Ort bestens ausgestattet, eher wie eine Kleinstadt als ein bloßes Labor. Er hatte bisher sage und schreibe hundertfünfzig Beschäftigte gezählt, ungefähr die Hälfte davon Soldaten oder Personen, die für die innere Sicherheit zuständig, aber genauso schwerbewaffnet wie die Wachen draußen waren. Bei den Übrigen handelte es sich um scharenweise Unterstützungskräfte: Ärzte, Hausmeister, Köche und Verwaltungspersonal, die alle mit mehreren Dutzend Forschern und Wissenschaftlern zusammenarbeiteten.

Xander beobachtete Ramirez noch ein paar Sekunden länger. Der Paläontologe blinzelte gegen die Beleuchtung an und wandte sich dann von der Tür ab. Er trat, wo er stand, auf der Stelle, und am Boden blieb daraufhin eine klebrige Substanz zurück. Xander war sich nicht sicher, glaubte aber, es sei Gewebe, weil er sich langsam anfing zu häuten.

»Was hat dieser Kerl?«, fragte einer der Soldaten verwirrt.

Marcus Haut war überall dort, wo man sie sah, gelb bis grau, nicht zu vergessen die erschreckenden Bündel pulsierender, orangefarbener Venen oder Arterien, die gedrungen rings um den Hals und im Gesicht hervortraten.

»Sieht wahnsinnig eklig aus«, fügte sein Kamerad hinzu und hielt sich die Hand vor den Mund. »Wie die Pest oder die Pocken.«

Während sie zuschauten, sprang Ramirez hoch und langte mit der Hand, die ihm noch geblieben war, nach einer Lampe an der Decke. Als er landete, ging er tief in die Hocke, um sich erneut aus dieser Kauerstellung heraus abstoßen zu können. Beim nächsten Versuch schlug er den Glasschirm eines Lampenkastens, der in der Decke versenkt war, mit der Faust ein.

»Komm schon.« Xander stieß die Tür auf, und zugleich prasselten durchsichtige Scherben in das nach oben gerichtete Gesicht des Doktors. Er blinzelte nicht einmal.

»Marcus?« Dyson zwang sich zu einem munteren Tonfall, als spreche er gerade zu einem gefährlichen Tier, das Furcht spürte und auf die ruhige Stimme reagieren würde. »Wie geht es Ihnen?«

Ramirez wirbelte so hastig herum, dass sein Körper dabei fast unkenntlich wurde, doch sein Kopf bewegte sich umso langsamer, während er Xander und die bezahlten Söldner musterte, als sei er ein Faultier, das mit einem Stock angestoßen worden war. Er begann, wiederholt zu zwinkern, sagte aber kein Wort.

»Wie fühlen Sie sich?«

Ramirez’ Reaktion belief sich darauf, dass er Interesse an einem langen Glassplitter zeigte, der in seiner Wange steckte.

»Marcus?«

Blut quoll aus dem Mund des Paläontologen und tropfte von seinem Kinn auf den Boden, während er Xander stumm anstarrte. Sie hörten es leise platschen, während sie warteten, um herauszufinden, ob er mit ihnen reden würde.

»Können Sie sprechen? Sagen Sie doch bitte etwas.«

Der Laut, den er ausstieß, zwang die beiden hartgesottenen Soldaten dazu ein paar Schritte zurückzutreten, obwohl sie es gar nicht wollten.

»Aaaaaaaaaaaaaaaaaaleshhhhh!«

Als Wort ließ es sich kaum verstehen, so anders war die Aussprache, und wie er sich artikulierte, klang viel eher nach jemandem, der Wasser gurgelte, aber nicht nach einer normalen Menschenstimme.

»Der Name seines Sohnes.« Xander ging einen Schritt auf Marcus zu und sprach langsam:

»Er ist nicht hier Er …« Gerade wollte er erklären, dass Alex vermisst wurde und vermutlich ertrunken sei, besann sich dann jedoch eines Besseren. Ehe ihm etwas anderes einfiel, schüttelte der Doktor verärgert seinen Kopf und spuckte die Glasscherbe aus, die zusammen mit einem merkwürdig grauen, verwesenden Stück Backenfleisch auf Xanders Schuh landete.

Einer der Soldaten schaute entsetzt nach unten. »Ich glaube, dieser Typ fault, Mann, er fault bei lebendigem Leib!«

Sein Kollege wandte sich an Xander: »Ist das so etwas, wie Lepra oder Ebola, wobei einem die Körperteile abfallen?«

»Da bin ich mir noch nicht so ganz sicher. Sie beide behalten ihn bitte im Auge, während ich etwas erledige.«

Daraufhin ging Xander zu einem der Laborschränke und nahm eine Digitalkamera heraus. Er begann, ein Video von Marcus aufzunehmen, während er langsam im Kreis um ihn herumging, damit er den Körper, der sich gerade verwandelte, von allen Seiten einfangen konnte. Plötzlich fuhr der Gefilmte herum und starrte direkt in das Objektiv.

»Seine Augen sehen ja abgedreht aus«, meinte einer der Soldaten.

»Wie die von einer Schlange«, stimmte ihm sein Kollege zu.

»Würden Sie beide bitte still sein? Ich dokumentiere hier den Zustand des Testob… ich meine des Patienten und brauche Ihr Geplapper im Hintergrund nun wirklich nicht. Tun Sie Ihre verdammte Arbeit.«

Die Soldaten nahmen den Tadel gleichgültig hin und begnügten sich damit, langsam von Marcus zurückzutreten, wobei sie die Verschlüsse ihrer Pistolenhalfter öffneten.

»Marcus, können Sie mir beschreiben, wie es Ihnen geht?«

Darauf fand Alex’ Vater keine Antwort.

Xander senkte die Kamera zu einer Seite seines Körpers, um die schauderhaften Einzelheiten seiner Verfassung einfangen zu können.

Der Trottel hat Recht, dieser Mann fault wirklich bei lebendigem Leib, irgendwie befindet er sich in einem Zustand beschleunigter Verwesung. Dahinter muss eine einzigartige biochemische Reaktion stecken, der ich später noch auf den Grund gehen muss, aber ich würde mich doch sehr täuschen, wenn er nicht lebendig verfault, weil er sich, als ihn der Dinosaurier gebissen hat, mit irgendeinem prähistorischen Virus angesteckt hat. Vielleicht aktivierte es so etwas wie einen übersteigerten Autoimmunprozess …

Nichtsdestotrotz schien Ramirez dagegen anzukämpfen, weshalb er sich langsamer als die Besatzung des Tankers Hammond verwandelte. Die vermeintliche Ärztin hatte ihm Antibiotika gegeben, vielleicht zögerte ja auch dies den Vorgang hinaus.

Marcus schaute auf den bandagierten Stumpf und nestelte mit den Fingern seiner rechten Hand daran herum. Eine zwanghafte Reflexbewegung wie das Kratzen auf ein unwillkürliches, penetrantes Jucken hin. Dabei fiel etwas vom Verband auf den Boden; es war ungefähr so weiß wie die Fliesen, also konnte man es auf Anhieb nur schwer erkennen. Xander hielt es zuerst für Fasern des durchweichten Stoffes, beobachtete dann aber, wie es sich plötzlich am Boden bewegte.

Maden! Sich windende Maden waren aus dem Verband gefallen und zuckten nun auf dem Boden, während sie nach der warmen Höhle aus verrottendem Fleisch suchten, aus der sie gerade eben geschüttelt worden waren.

Xander spürte, wie ihm Galle hochkam, und versuchte, es zu verhindern, aber sie stieg ihm unaufhaltsam in den Mund. Er schaute hinüber zu den Soldaten, für den Fall, dass sie ihn ansahen, aber ihre Augen waren auf Marcus fixiert. Während er sich bemühte, die Flüssigkeit wieder herunterzuschlucken, ohne dass sie es bemerkten, würgte er doch unbeabsichtigt.

Die Soldaten sahen, wie er sich den Mund mit seinem Hemdsärmel abwischte, und waren trotz der Umstände peinlich berührt.

Xander riss sich zusammen und schritt zur Tür. »Ich brauche ein Chemie-Prüfkoffer. Warten Sie hier, ich bin gleich wieder da.«

Die Soldaten machten einen beunruhigten Eindruck, sagten aber nichts, sondern betrachteten nur weiterhin Marcus.

Als Xander die Tür aufzog, störte etwas – vielleicht der Schwall frischer Luft, die aus dem eigentlichen Labor hereinströmte – den Kranken, der nun begann, den Kopf wie hyperaktiv auf- und ab zu bewegen. Dies erinnerte Dyson an Eidechsen, bei welchen er das gleiche Verhalten beobachtet hatte, und dies verstörte ihn aus irgendeinem Grund zutiefst. Schließlich wusste er, dass Reptilien so mit ihren Köpfen zuckten, um Luft gezielter über ihre Sinnesorgane zu verteilen. Könnte Marcus das auch tun?

Kaum dass er dies zu Ende gedacht hatte, sprang der Paläontologe mit einem urwüchsigen Fauchen auf die zwei Soldaten zu. Xander beobachtete verblüfft, dass sich Ramirez anschickte, dem kleineren der beiden – er stand von Dyson aus gesehen links – ins Schlüsselbein zu beißen. Der Zweite versuchte noch, seinen Kameraden wegzuziehen, doch das brachte überhaupt nichts. Denn der Knochen des Mannes, dessen irrer Schrei auf unglaubliche Schmerzen hindeutete, klemmte in Marcus’ Gebiss fest.

Während die Drei kämpfend miteinander verkeilt waren, stahl sich Xander aus dem Raum, machte die Tür vorsichtig zu und sperrte sie hinter sich ab. Dann blieb er stehen und schaute durch das Türfenster, während sich das Schauspiel dahinter fortsetzte.

Der größere Soldat schaffte es endlich, seinen Kollegen von Marcus zu befreien, doch dieser machte nicht einmal den Mund auf. Er wurde durch den Raum geschleudert, während ein Brocken Fleisch – steckt da etwa ein Knochen drin? – immer noch zwischen seinen blutigen Zähnen klemmte.

Xander staunte nicht schlecht, weil er durch die dicke, nahezu schalldichte Tür immer noch hören konnte, wie der Mann brüllte, während er sich an das zerstörte Schlüsselbein fasste.

Der andere Soldat zückte nun seine Pistole. Er zielte auf Marcus Brust und drückte zweimal ab … zwei Treffer ins Herz. Marcus drehte sich beim Einschlag der Kugeln im Kreis, doch irgendwie gelang es ihm, trotzdem auf den Beinen zu bleiben, wobei er allerdings torkelte wie im Tanz zu einer Musik, die nur er hören konnte. Der Soldat feuerte wieder, und eine der Patronen traf den Bauch ihres Ziels. Xander zuckte zusammen, es war ein Eingeweideschuss gewesen.

Bemerkenswerterweise gab Marcus immer noch keine Ruhe, selbst als das Blut nur so aus seinem Unterleib heraussprudelte. Er fiel, wie es dem Beobachter vorkam, mit Jagdlust auf sein ebenfalls blutendes Opfer, wo sein Kopf dann über der Wunde hin und her schnellte wie bei einem Hai im Mordrausch. Blut spritzte auf den Boden und an die Schränke in der Nähe, teilweise sogar quer über die gesamte Decke.

Xander starrte fassungslos in die Schreckenskammer; die Kamera in seiner Hand hatte er vollkommen vergessen, sie nicht einmal mehr eingeschaltet.

Der andere Soldat versuchte sein Glück erneut mit der Pistole und traf Marcus in den Rücken. Xander sah, wie das Fleisch erzitterte, als die Kugel die Haut durchdrang, doch der Angriff ging ungebrochen weiter. Falls sich überhaupt etwas geändert hatte, dann Marcus’ Ungestüm, das immer weiter zunahm, denn nun machte er sich auch mit den Fingern an der klaffenden Wunde des ausgebildeten Anlagenführers zu schaffen, der vergeblich mit seinen Beinen auf dem blutverschmierten Boden zuckte. Es sah aus, als versuche Marcus, das Schlüsselbein des Mannes auszuhebeln, um sein Gesicht noch tiefer in das freigelegte Fleisch stecken zu können.

Der Soldat mit der Pistole drehte sich zu Xander um und sprach dann stumme Worte, die Holen Sie sofort Hilfe bedeuteten.

Dies war ein Fehler, denn Dyson tat nichts anderes, als sicherzugehen, dass die Tür verschlossen blieb. In der Zwischenzeit hatte der Verwundete das Monster, zu dem Marcus geworden war, von sich wegtreten können. Dieser stürzte nun auf den anderen Soldaten zu, der sich gerade umgedreht hatte, als Marcus’ mit seinem verheerten Armstumpf ausholte. Er traf ihn mitten ins Gesicht.

Xander war fassungslos aufgrund der Geschwindigkeit, mit der sich der Kranke bewegte, insbesondere mit Hinblick auf seine Gesamtverfassung. Plötzlich drückte der Soldat, der auf ihn geschossen hatte, sein Gesicht gegen die Glasscheibe. Marcus hielt ihn mit einer Hand fest, aber eigentlich war dieses unmenschliche Etwas für Xander gar nicht mehr Marcus. Er sah, wie der Mann seinen Mund weit aufsperrte und seine spitzen Zähne in den Hals des Soldaten trieb.

Während der unbeherrschten Zuckungen seines Opfers infolge des Bisses schlug es so fest gegen das Sicherheitsfenster, dass ihm die Zähne ausgeschlagen wurden und an der Scheibe hinunterrutschten. Xander hatte noch nie einen so gewaltsamen Angriff erlebt – nirgendwo, nicht einmal in Filmen. Es kam ihm mittlerweile so vor, als schwebte er in Trance über dieser Hölle. Es war allerdings eine produktive Trance, denn eines wusste er, und dies ganz sicher, während er beobachtete, wie das Gesicht des nunmehr toten Soldaten wieder gegen das Glas gedrückt wurde:

Dies war der biologische Kampfstoff des Jahrhunderts!

Man musste sich nur einmal vorstellen, wie diese … diese Kreaturen, die sich nicht von Kugelhagel aufhalten ließen, in Städten oder auf Schlachtfeldern in einer feindlichen Stadt losgelassen wurden … Wie viel würden Amerikas Gegner für ein solches Werkzeug der Zerstörung zahlen? Jetzt musste es Xander nur noch von der rohen Naturgewalt, die es noch war, in eine handhabbare Technologie konvertieren.

Während er im Kopf verschiedene Möglichkeiten durchspielte, schaute er hinüber zu dem ersten Soldaten, der jetzt anscheinend bewusstlos auf dem Rücken am Boden lag, während das, was von seinem Schlüsselbein noch übrig geblieben war, aus seinem offenen Hals ragte.

Dann wurde der Soldat an der Scheibe wieder niedergedrückt, und Marcus starrte Xander nun durch das Fenster an. Er hielt eines seiner Augen dicht davor und glotzte durch einen Streifen Blut und einen Riss im Glas hindurch, in dem irgendwie einer der Schneidezähne des Soldaten steckengeblieben war.

Marcus’ Augen waren gelb und schwarz – eindeutig reptilisch, zugleich aber auch bar jeglicher Andeutung von Leben, die ein normales Reptil zeigte. Es waren lediglich tote, kalte Augen, die nicht im Geringsten den Anschein erweckten, ihn wiederzuerkennen.

Xander fragte sich, ob Marcus’ Verstand noch präsent war, und ob er sich an irgendetwas erinnern konnte, zum Beispiel dass er gefeuert worden war. Gerne hätte er gewusst, ob Rache überhaupt eine Rolle in Marcus verändertem Gehirn spielte. Er glaubte es allerdings nicht.

Und hoffte es umso inständiger.