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Laborkomplex auf Adranos
Veronica schaute Xander hinterher, während dieser das Zimmer verließ. Er bog links auf dem Flur ab, dass hieß, er ging dorthin zurück, woher er gekommen war. Sie hatte ihn als unaufmerksam empfunden, trotz der Kontrolle, die er nun über sie ausübte. Veronica war davon ausgegangen, dass er die Situation stärker ausnutzen und sie unterdrücken würde, weil er ja jetzt wusste, wer sie war. Doch ihr kam es so vor, als interessiere er sich gar nicht dafür – und jetzt ließ er sie einfach frei herumlaufen? Folglich musste etwas Wichtigeres im Busch sein, und sie machte es sich zur Aufgabe, dem auf den Grund zu gehen.
Außerdem musste sie DeKirk ausfindig machen. War er schon hier oder noch immer unterwegs?
Veronica betrat vorsichtig den Flur. Sie schaute sich in beide Richtungen um, sah aber nur Xander, der im lockeren Laufschritt nach links verschwand, also schlug sie die Gegenrichtung ein. Hier drinnen war es unheimlich ruhig, doch draußen in der Ferne hörte sie Rufe und knatternde Schüsse. Sie verfluchte die Tatsache, dass sie ihren Arztkoffer in der Eile, das Schiff zu verlassen, verloren hatte, allerdings nicht wegen der medizinischen Artikel darin – was dies betraf, war der Mummenschanz ja jetzt endlich vorbei –, sondern weil darin ihr eigenes Handwerkszeug steckte, ihr Marschgepäck als Spionin sozusagen, versteckt unter einem doppelten Boden. Es handelte sich um ein Mehrfunktionsmesser, ihre Dienstwaffe und ihr Satellitentelefon! Alles, was sie gerade nutzen konnte, war dieses dämliche Handy. Im Aufenthaltsraum hatte sie nachgesehen, ob es etwas empfangen konnte, doch nein, was allerdings auch keine große Überraschung war. Hier gab es jedoch drahtloses Internet, vermutlich auch über Satellit, doch sie hatte es nicht geschafft, die Verschlüsslung zu umgehen, weshalb sie ihre CIA-Betreuer nicht verständigen konnte.
Hier war sie nun und wanderte mit wenig mehr als den Klamotten an ihrem Körper auf dieser Insel herum, während sie versuchte, einen skrupellosen Biowaffenhändler zu stellen – einer Insel, auf der Dinosaurier hausten und irgendeine Krankheit jedermann zu einem marodierenden, mordlustigen Zombie umkrempelte …
Ein kräftiger, böiger Wind prallte gegen ihren Körper, als sie sich dem Ende des Tunnels näherte, der nach draußen führte. Als sie sich gegen die Zugluft nach vorne neigte und hinausstürzte, prasselte ihr der Regen ins Gesicht. Links lag ein Jeep auf seinem Dach, doch von irgendwelchen Menschen fehlte jede Spur. Gut möglich, dass es sich um denjenigen handelte, mit dem sie hergekommen waren, doch das wusste Veronica nicht genau, weil irgendwie alle gleich aussahen: völlig offen ohne Türen oder Fenster. Einer der Reifen drehte sich noch in der Luft.
Rechts stieg eine Böschung auf, die mit Farnwedeln überwuchert war. Aus dieser Richtung hörte sie Geräusche. Während sie die kurze Anhöhe hinaufkletterte, fluchte sie leise, weil ihr Laub und Zweige ins Gesicht peitschten, und sie spuckte angewidert Stücke des Pflanzenmaterials aus. Als sie die Kuppe endlich erklommen hatte, blieb sie schlagartig stehen.
Ein Soldat lieferte sich gerade einen Schlagabtausch mit einem anderen Mann, obwohl … als sie genauer hinschaute, wurde ihr klar, dass sein Gegner gar kein Mann war, zumindest nicht mehr. Veronica erkannte ihn wegen seines zerrissenen Overalls als Mitglied der Schiffsbesatzung und erinnerte sich sogar noch an sein Gesicht, bloß dass es dies nun nicht mehr länger war. Sein Gesicht war eingefallen und grau, mit gelben Streifen und merkwürdigen Aderbündeln unter festen Schuppen, mit überwiegend schwarzen Augen mit gelben, länglichen Regenbogenhäuten.
Was auch immer sich Marcus durch den Biss eingefangen hatte: So sah es aus. Doch dies war nicht Marcus, was bedeutete, dass sich diese unbekannte Seuche verbreitete, die jene Idioten aus dem unterirdischen See in der Antarktis geborgen hatten.
Veronica stand zitternd hinter einem gewundenen Farnblatt, während der Kampf sich keine zehn Fuß vor ihr weiter abspielte. Das Automatikgewehr des Soldaten hing noch auf seinem Rücken, also musste er überraschend auf den Zombie gestoßen sein, vielleicht als dieser aus genau dem Dickicht gesprungen war, in dem sich Veronica gerade versteckte. DeKirks Mann hielt jedoch ein Messer mit fixierter Klinge in seiner rechten Hand und stieß damit zu, wenn er die Gelegenheit bekam. Sie beobachtete, wie er dem Zombie seitlich am Körper eine Schnittwunde zufügte, woraufhin sich dessen Overall dunkelrot färbte, während das Blut darin einsickerte.
Der Zombie hatte beide Arme ausgestreckt und packte im Moment die des Soldaten, der wiederum versuchte, seinen Gegner lange genug auf Abstand zu halten, um sich die Waffe vom Rücken ziehen zu können, doch jedes Mal, wenn er einen Arm losreißen konnte, klammerte sich das einstige Crewmitglied wieder an ihm fest. Gleichzeitig machte der Zombie wiederholt den Hals lang, um in den des Soldaten beißen zu können, wozu er mit dem Mund wild ins Leere schnappte.
Der Regen nahm zu und neigte im kräftigen Wind fast zur Horizontalen. Veronica war entsetzt und zog sich tiefer ins Unterholz zurück.
Der Soldat riss seine rechte Hand, also diejenige mit dem Messer – Veronica erkannte es als KA-BAR, ein Modell des US-Marinekorps –, schwungvoll herunter, um sie den spastischen Greifbewegungen des Untoten zu entziehen. Dabei geriet ein Finger des Zombies unter die Klinge, woraufhin dieser abgeschnitten davonflog, was den praktisch geistlosen Angreifer zu einem Grunzen bewog. Der Soldat wich zurück, doch sein Gegenüber setzte ihm verblüffend schnell nach. Veronica dachte an die klassischen Zombie-Filme, die sie gesehen hatte, und wie lethargisch die Kreaturen darin stets gewesen waren. Diese hier begann langsam, schien aber auch mit ihrer Energie zu haushalten, um hin und wieder rasch vorstoßen zu können. Wie ein Reptil, dachte Veronica – ein Kaltblüter, der sich eine Weile in die Sonne legen musste, um Kraft zu tanken …
Während der Zombie geräuschvoll ausatmete, riss er sie aus ihren Mutmaßungen. Der Soldat hatte sich so lange zur Wehr gesetzt, bis es ihm schließlich gelungen war, die sieben Zoll lange Klinge bis zum Griff in die linke Brustseite seines Gegners zu treiben.
Jetzt ist er tot, glaubte Veronica und verscheuchte eine Stechmücke von ihrer Wange, während sie beobachtete, wie der Soldat dem Zombie mit Schwung gegen die Brust trat, direkt unter das hervorstehende Messer, sodass dieser rückwärts taumelte, ehe er über eine am Boden aufragende Wurzel stolperte und im Schlamm aufs Kreuz fiel.
DeKirks ausgebildeter Söldner neigte den Kopf zur rechten Seite und betätigte einen Funktransmitter, der an seiner Schulter befestigt war. »Bravo an Alpha, Bravo an Alpha: ein Tango neutralisiert, Sektor zwei. Ich wiederhole …« Dadurch, dass er sich umdrehte und mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne schaute, um nach seinen Kameraden zu suchen, entging ihm, wie sich der Zombie plötzlich wieder aufrichtete.
Veronicas Kehle schnürte sich zu, als sie sah, wie sich der lebende Tote aufraffte, obwohl sieben Zoll Stahl sein Herz durchstoßen hatten und ein schwarzer, nasser Fleck im Stoff seiner Kluft immer größer wurde. Sie wollte den Soldaten warnen (Er steht auf!), befürchtete aber, dieser könne reflexartig reagieren und stattdessen eine Salve auf ihre Position abgeben, weshalb sie lieber still blieb. Sie hörte, wie eine andere Stimme über Funk antwortete, woraufhin sich der Soldat wieder umdrehte und sah, wie der Zombie mühsam aufstand.
Der Lebende bekam den Mund nicht mehr zu, weil er den Anblick absolut nicht glauben konnte. Dann nahm er sein Automatikgewehr, hielt es im Anschlag und hob es an. Dieses Mal zielte er auf den Kopf. Der Zombie verfiel in einen schlurfenden Gang, der ungelenk war, ihn aber nichtsdestotrotz voranbrachte.
Der Soldat wich nicht von der Stelle und eröffnete mit einem vollautomatischen Streuschuss das Feuer. Das Gesicht, die Zähne, Augäpfel und Gehirn des Zombies spritzten gemeinsam mit den Bleipatronen durch den explodierenden Hinterkopf des Zombies. Ein Kleintier huschte aus dem Weg, als die glibberige Masse mit dem Regen auf die Erde klatschte. Der fast kopflose Zombie verharrte noch ungefähr eine Sekunde lang im Stehen, bevor seine Knie nachgaben und er zusammenbrach.
Hinter den Farnen zitterte Veronica am ganzen Körper. Sicher, auch sie hatte zuvor schon auf Menschen geschossen und auch welche getötet; in ihrem Berufsalltag als Spion tat man alles Notwendige, doch dabei hatte es sich stets um saubere Morde und ordnungsgemäße Hinrichtungen gehandelt, in deren Rahmen dezent mit Munition umgegangen worden war. Dies aber … war einfach nicht richtig. Veronica drohte, den Verstand zu verlieren angesichts des Ausmaßes an Scheußlichkeit, mit dem der Soldat dieses … Wesen, das einmal ein Mensch gewesen war, abgeschlachtet hatte. Es verstörte ihn anscheinend sogar selbst, wie sie erkannte, denn er ging praktisch auf Zehenspitzen zu dem massakrierten Körper hinüber, weil er sich nicht sicher war, ob der Zombie vielleicht erneut aufstehen würde. Während er stehenblieb und sein Gesicht verzog, rauschte sein Funkgerät wieder, und sagte etwas von wegen einem halben Kilometer südöstlich, woraufhin er loslief.
Veronica wartete, bis sie davon überzeugt war, dass sich der Zombie nicht mehr rühren würde.Als der Regen nachließ, schlich sie vorsichtig aus dem Schutz der Sträucher und näherte sich dem Wust aus geschundenem Fleisch, der einmal einer von DeKirks Männern gewesen war. Es ließ sich noch ein Stück des Unterkiefers erkennen, oder waren es Rippen, die da vor ihr aufragten? Sie wusste es nicht, doch das Messer steckte noch immer in der Brust der Kreatur.
Veronica trat vor und packte den Griff, der trotz des fallenden Regens noch klebrig vom Blut war. Indem sie fest auf den Boden trat, zog sie die Waffe aus der Brusthöhle des Zombies; dabei entstand ein nasses schmatzendes Geräusch. Sie betrachtete den Körper ängstlich; falls sich das Ding jetzt bewegte, obwohl es keinen Kopf mehr hatte, würde sie bestimmt die Fassung verlieren.
Nein, es rührte sich nicht.
Sie wischte die Klinge mit ein paar Pflanzenblättern sauber, denn die Kleidung des Zombies war komplett blutgetränkt, und ihre eigene mit dieser kranken, fauligen Flüssigkeit zu beflecken stand völlig außer Frage.
Anschließend schaute sich Veronica um. Wohin sollte sie jetzt gehen? Der Eingang zum Tunnel fiel ihr wieder ins Auge, und da ihr das gerade Erlebte die Lust an der freien Wildbahn fürs Erste verdorben hatte, kehrte sie zum Gebäudekomplex zurück.
Als sie etwa die Hälfte des Wegs hinter sich hatte, sah sie eine vertraute menschliche Gestalt hinter einem Betonpfeiler hervortreten … oder eher wanken. Zombie oder nicht? Sie war sich nicht sicher. In der Nähe verlief überirdisch ein Bündel Industrierohre; sie rannte hinüber und duckte sich hinter einem der dicksten. Dann sah sie, wie die Gestalt stehenblieb und aufmerksam schnupperte.
Doch, zweifellos ein Zombie!
Veronica erstarrte, packte das Messer fest mit ihrer Rechten, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, der Kreatur nahe genug zu kommen, um es einzusetzen, so wie es der Soldat getan hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie das schaffen würde, und dann dämmerte es ihr: die Erkenntnis, dass diesem Zombie die linke Hand fehlte. Es war Marcus Ramirez!
Würde er sie erkennen, wenn er sie sah?
Sie bezweifelte es. Er war bereits auf der Fahrt hierher sehr weit abgedriftet gewesen, auch wenn noch ein wenig Kampfgeist in ihm stecken könnte. Vielleicht bekämpften die Antibiotika, die sie ihm gegeben hatte, das Virus ja auf irgendeiner Weise.
Ihre Neugierde trieb Veronica währenddessen dazu an, ihn genauer zu begutachten. Sie musste eruieren, wie weit er sich entwickelt oder eher zurückentwickelt hatte; dies war ein passenderes Wort für die Transformation, die diese urtümliche Infektion auslöste. In jedem Fall musste sich Veronica selbst überzeugen. Die Degeneration des Dr. Marcus Ramirez.
Fehlt nur noch Popcorn, um die Show zu genießen, scherzte sie innerlich. Humor hielt Veronica in düsteren Momenten bei der Stange. Dies hatte sie vor langer Zeit über sich selbst erfahren, und einzig dadurch war es ihr gelungen, am Leben zu bleiben nach dem, was Xander Edgars angetan hatte.
Sie verharrte vollkommen still inmitten der verschlungenen Rohre und hielt den Atem an, während Zombie-Marcus schleppend auf sie zukam. Als er nahe genug war, schaute sie ihm genau ins Gesicht.
Oh Gott.
Es war nun eingefallen und grau, leichenhaft, vollkommen hohl und verschrumpelt. Ihm fehlten die Vorderzähne, die, wie Veronica vermutete, vielleicht infolge einer Erschütterung und nicht einfach so ausgefallen waren, doch irgendwie tippte sie trotzdem auf Letzteres. Sie blickte auf ihr Streitgespräch mit ihm auf der Krankenstation zurück, wo er ihr vorgeworfen hatte, keine Ärztin für Medizin zu sein. Meiner nicht fachkundigen, nicht medizinischen Meinung zufolge, ist dir das gottverdammte Fleisch unter den Zähnen abgefault, und das scheint noch das kleinste deiner Probleme zu sein, mein lieber Marcus.
Neue Reihen scharfkantiger Reißer wuchsen und drückten die alten Zähne heraus, die ihrer nunmehrigen Funktion nicht mehr gerecht wurden.
Veronica wartete, bis sich der Zombie weit genug entfernt hatte, ehe sie auf den Eingang in den Komplex zulief. Selbst wenn sie sich drinnen mit Xander herumschlagen musste, war dies dem hier vorzuziehen. Zumindest hatte sie eines bestätigt, während sie den Gummizug ihrer Jeans als Scheide für das Messer zweckentfremdete: Diese Dinger ließen sich mit einem Kopfschuss zur Strecke bringen!