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An Bord des Öltankers Hammond-1, mit Kurs auf Adranos Island
Alex trat von dem Bullauge über dem Frachtraum zurück, von dem aus er seinen Vater und Veronica beobachtet hatte. Er wartete, bis die Männer mit der Tragbahre eintrafen, ehe er rückwärts weiter in den extremen Wind und die Kälte ging.
Dann stand er auf dem Deck, zitternd und unsicher, was er als Nächstes tun sollte. Allerdings spürte er die Veränderung der Lufttemperatur – gerade noch so eben. Es war ein wenig wärmer geworden, als sie das frostige Polargebiet verlassen hatten, doch jetzt frischte der Wind wie erzürnt auf und prallte auf eine mildere Front aus dem Norden. Eine dichtere Dunkelheit verschluckte nun die Sterne, und in der Ferne schraffierten Blitze den Himmel.
Da braut sich gerade ein heftiger Sturm zusammen, dachte er besorgt. Immer noch unschlüssig, was er tun sollte, zog er seine Kapuze hoch, sah sich um und versteckte sich tiefer im Schatten hinter dem Abzugsrohr eines Luftschachts, um abzuwarten.
Dies musste er nicht lange tun, denn schon kurz darauf kam Xander mit einer kleinen Ledertasche heraus. Alex wusste, dass darin die Blutproben des T-Rex und seines Vaters steckten.
Soll ich dem Blut folgen oder bei meinem Vater bleiben?
Alex fror. Die falsche Ärztin stand, auch wenn er nichts auf ihre Fähigkeiten gab, wenigstens auf der richtigen Seite dieses Durcheinanders. Er konnte ihr seinen Vater anvertrauen, doch dieser Xander … Alex musste wissen, was genau es mit ihm auf sich hatte und weshalb er dieses Blut unbedingt untersuchen wollte – bestimmt nicht aus Sorge um seinen Dad, also musste es sich um etwas Gemeineres, Weiterreichendes handeln. Und darüber hatte er sich Klarheit zu verschaffen, und zwar schnell. Denn ihm lief die Zeit davon – und seinem Vater vermutlich auch.
Xander zog wegen des Windes den Kopf ein und schritt geradewegs an Alex’ Versteck vorbei.
Dieser folgte ihm mit übergeworfener Kapuze und gebührendem Abstand, wobei er nicht darauf achtete, wie laut seine Schritte auf den glatten Metallstufen klangen, weil die kräftigen Böen sowieso alles mit ihrem unermüdlichen Geheul übertönten. Xander ging zügig zu seiner Kabine – Nummer 412 –, doch als er gerade dabei war die Luke aufzusperren, kam ihm der Captain aus dem Flur entgegen. Der breite, hoch aufragende Mann, der seinen Mantel nicht trug, sondern dem Wind lediglich mit einem Rollkragenpullover trotzte, schien mit einem dringenden Anliegen zu seinem neuesten Passagier zu kommen, und Alex, der sich erneut schnell im Schatten verbarg, wartete auf eine günstige Gelegenheit.
Diese würde sich bestimmt nur einmal auftun, und wie sich herausstellte, eine mehr als verwegene Handlung nach sich ziehen. Doch im Grunde genommen stellte sich angesichts dessen, was auf dem Spiel stand, der Verfassung seines Vaters und all der Fehler, die Alex bereits begangen hatte, um sein Schicksal so gut wie sicher zu besiegeln, die Frage: Warum nicht alles auf eine Karte setzen? Einen Moment später, als sich Xander ein Stück mit dem Captain entfernt hatte, und dieser gerade über die Heckreling zeigte und etwas rief, das man wegen des aufziehenden Unwetters kaum verstehen konnte, trat Alex rasch in Aktion. Er schlich sich in die offene Kajüte und verschaffte sich schnell einen Überblick. Schreibtisch und Laptop, Kühlschrank und Flachbildfernseher, Bett und Aufbewahrungsmöglichkeiten …
Er musste sich beeilen – die Schritte einer rückkehrenden Person waren bereits zu hören, deshalb entschied er sich für die beiden hintersten Türflügel des Wandschranks. Dieser enthielt nur Kleiderbügel und ein Schließfach. Alex stieg geduckt hinein, schloss die Türen und ging anschließend im Dunkeln in die Hocke, um durch die Luftschlitze schauen zu können, genau in dem Augenblick als Xander in den Raum platzte.
Nachdem dieser die Luke hinter sich geschlossen hatte, stellte er die schwarze Tasche auf seinen Schreibtisch und drückte ein paar Tasten auf seinem Laptop, bevor er seine Jacke abstreifte, sie fallenließ und einfach mit einem Fuß beiseiteschob.
Hätte ich auch tun sollen, dachte Alex nachdenklich in seinem Versteck. Er keuchte immer noch und bekam in dem warmen Schrank richtiggehende Hitzewallungen. Bald würde er richtig ins Schwitzen geraten und dadurch noch größere Schwierigkeiten beim Luftholen bekommen. Xander sollte sich bloß nicht zu viel Zeit lassen, sondern rasch wieder verschwinden – oder aufs Klo gehen, damit Alex die Proben an sich nehmen und abhauen konnte.
Er sah ein, dass dies besser als gar nichts war, doch hoffentlich gewann er zuerst ein paar Informationen, und was das anging, enttäuschte Dyson ihn nicht: Gewohnt zielstrebig trat er vor eine Kommode und öffnete sie, um etwas herauszunehmen. Er kam kurz danach mit einem Rucksack zurück – und einem Kasten, den er mit an Bord gebracht haben musste. Das Gerät darin erkannte Alex sofort: Es war eine Zentrifuge, und ein Mikroskop zog er ebenfalls heraus.
Also gut, Experte, mach dich mal an die Arbeit.
***
Am Ende des ersten Durchlaufs seiner Analyse fokussierte Xander den Objektträger mit Marcus’ Blut. Er hielt es für richtig, sich erst einmal zu vergewissern, ob der Doktor sich vielleicht irgendetwas eingefangen hatte, bevor er die Probe des T-Rex untersuchte. Denn er hatte keinen blassen Schimmer, wie er darin überhaupt irgendetwas erkennen sollte, denn schließlich war er selbst kein Paläobiologe, falls es so etwas überhaupt gab. Zum Teufel auch, vermutlich konnte momentan nur einer wirklich etwas damit anfangen, und zwar derjenige, dessen Blut gerade auf diesem Objektträger haftete, doch der Zustand des Mannes schloss gänzlich aus, dass er Xander dabei helfen konnte.
Ganz unerwartet öffnete sich ein Skype-Fenster auf dem Laptop, und DeKirks argwöhnisches Gesicht erschien.
Scheiß Verbindung, dachte Dyson und wünschte sich, der Sturm, vor dem der Captain gewarnt hatte, sei bereits aufgezogen und störe die Satellitenübertragung.
»Xander?«
»Ja, Sir? Ich habe leider noch keine Ergebnisse. Würden Sie mir vielleicht noch ein wenig Zeit geben, bitte!«
»Diesen Luxus haben wir nicht. Auch ich beobachte dieses Unwetter und möchte keinerlei Entschuldigungen – oder Ausfälle. Was haben Sie bis jetzt?«
Xander zuckte mit den Achseln und schaute wieder ins Okular, nachdem er einen Tropfen aus der Probe in der Zentrifuge entnommen hatte. »Nun ja, wie Sie bereits selber sagten, verfüge ich hier nicht über die notwendigen Betriebsmittel, um eine wirklich gründliche Analyse durchführen zu können, aber es sollte möglich sein …«
Er brach ab und blieb mit offenem Mund sitzen.
»Xander?«
Er starrte und starrte, bis er sich schließlich gewaltsam von dem Anblick losriss. Dann blinzelte er und schaute zurück auf den Bildschirm zu DeKirk. »Wir haben ein ernstes Problem hier!«
***
Alex hörte alles mit an und musste sich krampfhaft zurückhalten. Er wollte am liebsten aus seinem Versteck stürzen, Xander überwältigen und zu seinem Dad laufen, musste aber stattdessen weiter lauschen. Der Kerl plapperte mit nervöser Stimme in einem fort … etwas von Zellzerfall und gleichzeitiger Infektion durch eingedrungene Zellen, die bereits bestehende Strukturen stärkten, während sie sich anscheinend gleichzeitig auch von ihnen ernährten. Außerdem ging es um Energiemanipulation und die Erstickung mitochondrialer Kräfte.
Worauf das alles – dieser Konflikt zwischen prähistorischer DNS und moderner Genetik – auch immer hinauslaufen mochte: Der steinreiche Typ am anderen Ende wirkte deswegen hellauf begeistert. Er fuhr mehrmals dazwischen, um sich über Einzelheiten zu erkundigen, und schnitt Xander schließlich endgültig das Wort ab.
»Die T-Rex-Probe! Nehmen Sie sie sich vor und lassen Sie uns herausfinden, ob sie die gleichen Virus-Marker trägt.«
Dyson schüttelte den Kopf. »Wovon reden Sie? Haben Sie mich nicht verstanden? Was ich gerade gesehen habe, waren die lebendigen Zellen des T-Rex, übertragen durch den Biss und sie greifen …«
»Ich bin mir nicht sicher, ob Sie wirklich qualifiziert genug sind, um solche Schlüsse zu ziehen.«
»Aber …«
»Legen Sie einfach den Objektträger ein und schließen Sie das Aufnahmegerät an, dann kann ich die Bilder herunterladen und sie mir selbst anschauen.«
Xander murrte, gehorchte aber. »Ich weiß nicht, wonach Sie genau suchen, es ist ja nicht so, als …« Er hielt inne, überlegte und beeilte sich dann auf einmal, das Glasplättchen wieder herauszuziehen und die andere Probe zu nehmen.
»Verdammt, Sie könnten Recht haben: das fehlende Herz, die anhaltende Bewegungsfähigkeit; selbsterhaltende Zellenergie … Gott, was ist, wenn …«
Alex erhaschte nun einen Blick auf den Laptop-Monitor und sah den Milliardär nicken. »Jetzt«, fuhr dieser fort, »gelangen Sie zu der Einsicht, die ich schon vor einigen Minuten gewonnen habe. Erkennen Sie das Potenzial dahinter?«
Xander nickte, bevor er einen zweiten Objektträger zur Untersuchung unter dem Mikroskop präparierte. »Wir sind von der monumentalen Entdeckung eines ausgestorbenen Lebewesens – eines Sammlerstücks und definitiven Jahrhundertfunds – eventuell zu einem biologischen … Ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll. Die Möglichkeiten der Anwendung sind schier erschlagend; ein Mittel gegen …«
»Sterblichkeit«, ergänzte DeKirk. »Vielleicht. Aber feststeht …«
»Eine Waffe«, wisperte Xander. »Eine fürchterliche bisher nicht vorstellbare Waffe.«
***
Er legte das Plättchen unter das Mikroskop und sah es sich an. Nicht zu entschlüsselndes Biomaterial aus der Vorzeit, das war gewiss, allerdings mit ähnlichen Zellstrukturen, wie er sie erwartet hatte. Biologie blieb Biologie, besonders bei Reptilien und Säugetieren, sobald man die generellen Größen- und Formunterschiede außer Acht ließ, indem man sich ausschließlich auf die mikroskopische Ebene beschränkte.
Dies wirkte immer noch nicht stimmig. Das Virus – denn genau das musste es sein – war auch hier vorhanden, nur viel weiter fortentwickelt. Fast parasitär haftete es an den subzellulären Strukturen der DNS des T-Rex. Xander schloss halb geistesabwesend den Adapter an, damit DeKirk zum gleichen Ergebnis gelangen konnte, doch zunächst einmal …
Ihn störte noch etwas anderes. Von dem Moment an, als er die Kabine betreten hatte, war ihm etwas sonderbar vorgekommen, und jetzt erkannte er auch endlich den Grund dafür.
Auf dem Teppich ließ sich neben den feuchten Abdrücken seiner eigenen Stiefel noch ein zweites Fußpaar ausmachen, nur noch vage allerdings, da die Spuren im Warmen bereits anfingen, zu trocknen.
Er sah weitere Schritte, die zum Wandschrank führten.
Er war offensichtlich nicht allein!
Er steckte eine Hand in den Rucksack, der die Geräte enthalten hatte, und griff zu einer 9mm-Pistole mit Schalldämpfer, die er ebenfalls darin aufbewahrte. Ihn beschlich das Gefühl, bereits zu wissen, wer ihm bis hierher gefolgt war. Diese Ärztin! Mit ihr stimmte doch ganz offensichtlich etwas nicht, und Xander hatte das Gefühl, sie von irgendwoher zu kennen; er wäre dem schon längst auf den Grund gegangen, hätte es keinen solchen Aufruhr im Laderaum gegeben.
Tja, dann würde er diese Versäumnis eben jetzt nachholen.
»Warten Sie kurz, Mr. DeKirk. Ich muss noch schnell etwas erledigen, während Sie schon einmal die Blutprobe unseres Fundes begutachten können.«
***
Ehe sich Alex versah, stand Xander vor dem Schrank, also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf etwas gefasst zu machen. Eine Chance hatte er allerdings noch. Angesichts seiner Position und Haltung schaffte er es vielleicht.
Die Türflügel wurden aufgerissen, und Xander zielte mit der Waffe in den Schrank hinein, sah sich aber einen Moment lang, als er Alex’ Blick begegnete, verwirrt um. Er hatte offensichtlich jemand anderen erwartet, begriff Alex – genauso wie er seinen Vorteil erkannte, der allerdings nicht länger als einen Sekundenbruchteil währen würde. Xander zögerte noch, da stieß sich der Junge bereits ab und schnellte unter der Waffe hoch.
Er schlug mit der Schädeldecke fest gegen das Kinn des Mannes und hörte einen ermutigenden Knall, als der Getroffene rückwärts umfiel. Er landete mit vollem Gewicht auf ihm, richtete sich sofort wieder auf und schlug Xander noch einmal ins Gesicht, ehe dieser sich fassen konnte.
In der Hoffnung, ihm wenigstens kurzzeitig die Sinne geraubt zu haben, sprang Alex auf, eilte zum Schreibtisch und warf den Laptop mit einer fließenden Bewegung hinunter, damit DeKirk nicht sehen konnte, wer ihm nun einen Strich durch die Rechnung machte. Alex’ Blick schweifte kurz vom Rucksack zu den Proben … dann entschied er, sich einfach beide zu nehmen, drehte sich um und rannte zur Tür hinaus …
… direkt gegen die Brust des Captains, der gerade um die Ecke bog. Es war, als laufe er gegen eine Felswand. Alex prallte zurück und geriet ins Wanken. Der Mann machte große Augen – vor Verwunderung, dann vor Zorn, als er sich Xander zuwandte, der sich gerade mühsam vom Boden hochrappelte.
Alex fluchte, fuhr herum und zwängte sich dann durch den Eingang, doch als er weiterlaufen wollte, hielt ihn eine große Hand von hinten an seiner Kapuze fest und riss ihn mit einem Ruck zurück.
Er fiel aufs Kreuz.
»Hey, warten Sie mal …«, begann er, aber dann schlug ihm eine gewaltige Faust auf die Nase, und alles um ihn herum wurde schwarz.