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Laborkomplex auf Adranos
Xander schaute durch das Fenster, während Marcus vor dem Soldaten mit dem abstehenden Schlüsselbein niederkniete. Er konnte sein Gesicht nicht sehen, brauchte und wollte es aber auch gar nicht. Marcus – aber er war doch gar nicht mehr Marcus, oder? Unmöglich, ausgeschlossen – verköstigte sich gerade am Fleisch des Bewusstlosen. Der Söldner lebte tatsächlich noch, was Xander daran erkannte, dass sich sein Bauch unter dem zerfetzten Hemd unter sehr flachen, angestrengten Atemzügen hob und senkte.
Marcus Ramirez – der fachkundige Paläontologe, der Xander einst zum Nachdenken über die Sicherheit seiner eigenen Position in DeKirks Unternehmen angeregt hatte – aß gerade das Fleisch eines lebendigen Menschen.
Er war nun, wie Dyson fand, in absolut jeder Hinsicht, ein Zombie. Er starrte in den Raum hinein und auf Marcus, der gerade Brocken rohen Menschenfleisches verschlang. Er hatte sich in dieses Ding verwandelt, doch es besaß definitiv keinerlei Eigenschaften der schwerfällig torkelnden und trägen Kreaturen, die man aus den meisten Filmen kannte. Dies war rohe Gewalt im Zusammenspiel mit Geschwindigkeit und Wildheit.
Ein Saurier-Zombie … Er vergegenwärtigte sich noch einmal den Arbeiter, der von dem T-Rex erfasst worden war.
Die Anwendungsmöglichkeiten dieser Entdeckung waren grenzenlos … Was würde Marcus – es war langsam an der Zeit, ihn nicht mehr so zu nennen –, was würde die Kreatur, dieser Zombie tun, wenn seine Versorgung mit Nahrung im Labor zuneige ging? Xander vermutete, dass er letztendlich genauso wie jeder andere Organismus, der sich nicht mehr versorgen konnte, sterben müsse. Dessen war er sich allerdings nicht sicher und es lag ihm fern, es darauf ankommen zu lassen.
Die Dinosaurier – ein T-Rex und zwei Cryos – trieben sich weiterhin frei auf der Insel herum.
Was würde geschehen, wenn er keine weiteren Zombies mehr erschaffen konnte? Was, wenn DeKirk sein gesamtes Personal evakuierte, wenn er eintraf, und sich von dem grauenhaften Spektakel des Ganzen überwältigt zeigte? Er war es schließlich gewohnt, Entwicklungen nur aus der Ferne, aus dem bequemen Umfeld seiner entlegenen Villen mitzuvollziehen. In diesem Fall wäre dies Xanders einziger Zombie-Versuchskörper.
Er hatte eine Menge Arbeit im Labor zu erledigen, bevor er zur ersten Triebkraft hinter dieser neuen Biowaffe avancieren konnte. Dafür war ungestörte Konzentration vonnöten. Als er zu dem Zombie hinüberschaute, der sich noch immer an dem Soldaten gütlich tat, wanderte Xanders Blick an der Wand hinauf zum Rost eines Belüftungsschachts an der Decke. Er erinnerte sich daran, den Schalter dafür im Hauptlabor bemerkt zu haben. Die Öffnung sah groß genug aus für einen Menschen – oder für einen Zombie.
Also drehte er sich um und lief zurück in den Hauptraum. Es war an der Zeit, genau herauszufinden, zu welchem Ausmaß von Zerstörung sich diese prähistorischen Zombies imstande zeigten; man könnte es eine frühe Feldstudie nennen. Xander ging hinüber zu dem Wandschalter, der das Gitter unter dem Luftschacht öffnete, betätigte ihn und eilte dann zurück zur Innentür.
Hinter ihm schaute der Marcus-Zombie hoch zu dem offenen Schacht, während bluttriefende Fleischfetzen aus seinem Mund hingen. Erneut begann er mit dem Kopfzucken, als er den Luftstrom durch den Schacht wahrnahm. Gerade als Xander begann, sich zu fragen, ob er versuchen würde, zu fliehen (vielleicht hatte es sich dort drinnen fürs Erste hinreichend satt gefressen), sprang das Geschöpf auf den Edelstahltisch und kauerte nieder, während es zu dem Gitter aufblickte. Dann sprang er – Marcus sprang – und verschwand in der Öffnung der Decke.
Xander warf noch einen Blick hinein auf die zerpflückten Menschenkörper auf dem Boden. Was für eine Schweinerei. Er wandte sich ab, um zu gehen, als er plötzlich eine Bewegung wahrnahm.
Es war unglaublich, doch der Soldat, den Marcus am schlimmsten zugerichtet hatte, derjenige, dem ein Stück Schlüsselbein fehlte, setzte sich gerade hin! Dann begann er, hektisch zu nicken, und stand schließlich auf.
Das kann nicht sein!, dachte Xander, wusste aber, dass es eben doch sein konnte, und war begeistert, es hautnah miterleben zu dürfen. Als der neue Zombie dastand, schaute er sich langsam um und schwankte leicht hin und her. Sein gebrochenes Schlüsselbein stand weiterhin auf unerhörte Weise ab, und in der rechten Hand hielt er immer noch seine Dienstwaffe. Als er an sich hinunterschaute, bohrte er sich den spitzen, freiliegenden Knochensplitter unter sein Kinn, sodass noch mehr Blut von seinem Hals hinabfloss.
Plötzlich klatschte eine flache Hand genau vor Xanders Gesicht gegen die Scheibe und wurde dann wieder zurückgezogen, woraufhin ein blutiger Abdruck zurückblieb. Er beobachtete, wie der Schlüsselbein-Zombie zur Decke blickte, wo Marcus verschwunden war.
Xander war fassungslos. Diese Männer machten die gleiche Verwandlung durch, der auch Marcus unterlegen gewesen war, und wurden nun direkt vor seinen Augen zu Zombies – selbst nach ihrem Tod. Bei ihnen hatte es sich jedoch viel schneller abgespielt, als bei den anderen.
Vielleicht liegt es daran, dass sie von einem menschlichen Zombie statt eines Dinosaurier-Zombies gebissen wurden.
Xander wusste es zwar nicht, war aber fest dazu entschlossen, es so bald wie möglich zu ergründen. Wenn er dies tat, wartete eine Menge Geld auf ihn – jene Art von Reichtum, auf der dauerhafte Imperien gründeten.
Dann drehte sich Schlüsselbein-Zombie wieder um, und Xander war untröstlich, als er ein grauenvolles Loch am Bauch der Kreatur entdeckte, aus dem das Blut fast in Sturzbächen floss – nein, vielmehr herausfiel zusammen mit der Eingeweidemasse. Das muss Zombie-Marcus getan haben! Die blassen Darmwindungen klatschten auf den nassen Boden, während sich der Mann – diese Beschreibung traf eigentlich nicht mehr auf ihn zu – zum Tisch schleppte. Bei jedem Schritt verzog er sein Gesicht wie unter grauenvollen Schmerzen. Einmal stolperte er über seine eigenen Eingeweide und stürzte vorwärts gegen die Tischkante, wobei seine Pistole gegen die Oberfläche knallte und losging.
Der Irrläufer traf den Zombie-Soldaten in seiner unverletzten linken Schulter. Langsam erhob er sich wieder vom Tisch, und die Arme hingen schlaff an seinem Körper hinunter, nun da die zerstörte obere Muskulatur sie nicht mehr bewegen konnte. Er ließ die Waffe einfach auf dem Tisch liegen, während er versuchte, in den Schacht zu springen. Weil er die Arme nicht mehr weit genug anheben konnte, war er außerstande, sich am Rahmen der Öffnung festzuhalten und hochzuziehen, weshalb er immer wieder zum Sprung ansetzte, weit mit dem Kopf darin verschwand und dann doch wieder zurück auf den Tisch fiel.
Xander ließ den zombiefizierten Springteufel, der sich nach dem warmen Fleisch am anderen Ende des Luftschachts sehnte, zurück.
Nachdem er sich endlich hatte losmachen können, verließ Dyson das Labor und schritt durch einen langen Flur mit Betonboden und gedämpfter LED-Beleuchtung, der einem Tunnel glich. Als er die Tür zum Aufenthaltsraum erreichte, schaute er durch deren kleines Sichtfenster auf Veronica. Sie hatte während der ganzen Fahrt im Jeep neben Marcus … neben diesem Ding gesessen, aber nein, dachte er, während er sie eine Zeitlang dabei beobachtete, wie sie auf ihrem Smartphone herumtippte. Sie sah gut aus, er hätte sie nach wie vor nicht von der Bettkante geschubst.
Xander steckte einen Schlüssel ins Schluss und öffnete, und Veronica schaute augenblicklich auf. Als er eintrat, wich sie vor ihm zurück, ehe sie ihm einen bösen Blick zuwarf, sobald ihr klar wurde, dass er sie offensichtlich gar nicht töten wollte, wenigstens vorerst nicht.
»Was zum Geier wollen Sie von mir? Und was geht da draußen vor sich?«
»Es ist sehr unterhaltsam, Veronica, wirklich sehr unterhaltsam!« Er ging rückwärts aus dem Raum, ließ die Tür jedoch offen. »Warum sehen Sie es sich nicht selbst an? Sie dürfen sich jetzt frei auf dem Gelände bewegen.«